Cathrin Nielsen BILDUNG ALS PLASTIKWORT In seinem Essay Plastikwörter. Die Sprache einer internationalen Diktatur 59 geht der Freiburger Sprach- und Literaturwissenschaftler Uwe Pörksen der Beobachtung nach, dass die Umgangssprache zunehmend durch eine kleine Gruppe von Wörtern beherrscht wird, die eine merkwürdig zersetzende Wirkung auf den lebendigen Sprachleib ausüben. Sie lauten, um nur einige zu nennen, Modell, Wachstum, Innovation, Konzept, Ressource, Zukunft, fitness, Information. Wir stoßen überall auf sie; am weitreichendsten jedoch zeichnen sie jenen Diskurs aus, der die Einrichtung unserer Gesellschaft in das sogenannte Wissens- oder Informationszeitalter, und damit in einem ganz wesentlichen Sinne auch die Bildungsdebatte, begleitet. Linguistisch wären diese Wörter, so Pörksen, am ehesten als „konnotative Stereotype" zu bezeichnen, als von einem Hof vager Impulse umgebene Schemata; sie sind dadurch charakterisiert, dass sie die Unbestimmtheit der Sache unter dem Mantel wissenschaftlicher Bestimmtheit verbergen und sich damit der kritischen Auseinandersetzung hartnäckig entziehen. Anders gesagt: Plastikwörter bleiben merkwürdig blass; in ihrer Allgemeingültigkeit gleichen sie Amöben, jenen fließenden und beständiger Formveränderung unterworfenen Einzellern, die sich durch Teilung zu quallenhafter Größe vermehren.1 Zugleich geht von ihnen ein unheimlicher, verpflichtender Sog aus, der alles, was sich ihm zu entziehen sucht, buchstäblich alt aussehen lässt. 1 Vgl. Uwe Pörksen, Plastikwörter. Die Sprache einer internationalen Diktatur, Stuttgart/Bad Cannstatt o. J., S. 21. 60 Ich möchte im Folgenden anhand von fünf Thesen versuchen, mich dem Charakter dieser Wörter und der in ihnen verborgenen Ontologie der Gegenwart zu nähern. Mit welchen Kriterien lassen sie sich identifizieren, was transportieren und zu was verpflichten sie? Meine (zum Teil an Pörksen angelehnten) Thesen lauten: 1. Plastikwörter haben keine Bedeutung, sondern eine Funktion. Sie besteht darin, Geschichte in Natur umzudeuten. 2. Die Natur der Plastikwörter ist eine liquidierte Natur und als solche das „Material der Zukunft". 3. Das Material der Zukunft ist die Zukünftigkeit selbst, die potenzielle Ressource, die auf ihren „Einsatz" wartet. Dies gilt auch für den Menschen und eine auf ihn bezogene Humantechnologie. 4. Die Plastikwörter dienen dem Ziel, substanzielle Wissensformen, die diesem Optimierungsprozess im Wege sind, zu verdrängen. 5. Die Verdrängung geschieht durch Verinnerlichung des Optimierungsgebots: Bildung heißt heute, sich für die ständige Umbildung offen zu halten. Zu 1. In den amorphen Plastikwörtern gibt sich zunächst eine Blickwendung zu erkennen, die das Verhältnis von Wort und Sache, von Bezeichnendem und Bezeichnetem und damit von Sprache und Wirklichkeit in ein neues Licht stellt. Dieses philosophisch seit jeher prekäre Verhältnis (adaequatio rei et in-tellectus) beginnt sich aufzulösen bzw. es beginnt sich zugunsten sprachlicher Schemata, die auf die offene Zukunft einer Sache ausgreifen, zu verschieben. Die neuen Begriffe wollen nichts mehr bergen, nichts mehr berühren oder treffen, sondern weisen in ihrem inneren Gestus weit über das empirisch Einlösbare hinaus. Der übersprungene empirische Bezug wird von einer Art Sprung aus der Geschichte begleitet (oder ist damit eins): Die in Frage stehenden Wörter sind nicht mehr geschichtlich in dem Sinne, dass sich in ihnen ein Tiefenraum der Erfahrung öffnet, dass sie aus Erfahrung sedimentierte Geschichte sind, die ihre Hemmschwellen und Schneisen, ihre Irrtümer, Dispositionen und Möglichkeiten mit sich führt. Es handelt sich vielmehr, so Pörksen, um „ahistorische Zugriffe auf die Welt"2. Nichts mehr an ihnen weist auf ihre epochale, lokale oder soziale Einbettung hin und damit auch auf ihre Einbettung in ein bestimmtes menschliches Maß. Die Sprache lässt vielmehr erkennen, wie ein „geschichtlicher Ort mobil gemacht und neu organisiert wird, wie aus 2 Ebd., S. 49. dem, was ist, eine verwandelbare ,Substanz' wird, und wie die Kontur einer neuartigen Kristallisation dieser Substanz [...] gezeichnet wird"3. Was Husserl also in seiner Krisis-Schrift als die Verselbständigung der neuzeitlichen Wissenschaft aus ihrem Boden, der „Lebenswelt", kritisierte, erfährt in den Plastikwörtern eine zusätzliche Wendung, insofern diese ins Gewand der Wissenschaftlichkeit gehüllt in den Alltag zurückwandern und sich hier zu ungebundenen, bedürfniserzeugenden Autoritäten entfalten. Es handelt sich nicht mehr um wissenschaftliche Termini im engeren Sinne, die eine klar begrenzte Bedeutung haben, sondern um leere Projektile der Positivität schlechthin. Sie versprechen keine Fortschritt der objektiven Erkenntnis, sondern Fortschritt per se, wobei das, wohin fortgeschritten werden soll, angesichts der weit ausholenden Geste des Fortschreitens selbst unerheblich wird. Zu 2. Wie die Wörter selbst von eigentümlich amorphem Charakter sind, ist auch das, worauf sie zugreifen, durch einen dynamischen und sich entdiffe- 61 renzierenden Zug ausgezeichnet. Dies lässt sich beispielhaft am Begriff der „Entwicklung" zeigen. Als Übersetzung der lateinischen explicatio verweist er zunächst auf ein Auseinanderwickeln dessen, was noch ein- oder zusammengefaltet ist. Dabei geht es stets um ein Ausrollen und Entfalten von noch Keimhaftem, Undeutlichen ins Deutliche, wie es seinen paradigmatischen und über Jahrtausende verbindlichen Ausdruck in dem aristotelischen Modell von dynamis und energeia gefunden hat: Dem aller Entwicklung zugrunde liegenden Übergang von der dunkel im Stoff schlummernden Möglichkeit einer Sache zu ihrer ans Licht tretenden Wirklichkeit. Das, was sich entwickelt, wird zunehmend klarer; es gewinnt an Umriss und Bestimmtheit und damit, nach griechischer Auffassung, an Sein. Im 18. Jahrhundert vollzieht sich eine folgenreiche Wandlung, gewissermaßen „auf Taubenfüßen" (Nietzsche): Sie liegt in dem unscheinbaren grammatischen Übergang von der transitiven Bedeutung „aus A entwickelt sich B" in die intransitive „etwas entwickelt sich". Jetzt steht nicht mehr die bestimmte Erscheinung im Blickpunkt, an der sich eine Entwicklung vollzieht, sondern das namenlose intransitive Veränderungsgeschehen selbst. Dieses hat nun die Neigung, in einen neuen Transitiv überzugehen. Der Prozess selbst wird gewissermaßen zum hypokeimenon, zum zugrunde liegenden und handelnden Subjekt. Die sprachlich vorbereitete Hypostasierung eines sich ursprünglich 3 Ebd., S. 76. 62 an der individuellen Form intim vollziehenden Geschehens zum namenlosen Gesamtsubjekt, dem die einzelnen Lebensformen untergeordnet werden, erfährt im 19. Jahrhundert durch die aufkommende Evolutionstheorie an Ausbreitung und Vertiefung. Statt eines teleologisch gegliederten Ordnungsgefüges gewinnt nun die Vorstellung eines ziellosen, durch die bloße Aufeinanderfolge von selektiven Prozessen charakterisierten Entwicklungsgeschehens die Oberhand. Evolution wird als solche zum Prinzip. Die bestimmten Lebensformen und Gestalten verwandeln sich zu immer weiter gelockerten transi-torischen Knoten, an denen nicht ihre dezidierte Gestalt, sondern das Prinzip ihrer Ablösbarkeit und Perfektibilität interessiert. Das, was sich da entwickelt, ist mit anderen Worten offen und als dynamische Hyle seiner ewigen Zukünftigkeit überantwortet. Eine ähnliche Verschiebung finden wir im Begriff der fitness. Auch wenn seine Herkunft etymologisch nicht sicher geklärt ist, weist er doch auf das griechische Wort arete zurück, die Tauglichkeit oder Bestheit einer Sache. Die Alten bezeichneten damit die Eigenschaft, wodurch jemand oder etwas, ein Ding, ein Tier, ein Mensch oder Gott, in seiner spezifischen Besonderheit hervortrat. So besitzt etwa das Schuhwerk seine arete in der spezifischen Tauglichkeit für den menschlichen Fuß, beim Pferd liegt sie in seiner Schnelligkeit und Wendigkeit. Auch wenn die arete der menschlichen Seele nicht in unmittelbarer Analogie zu den aretai der anderen Lebewesen oder gar Sachen gesehen werden kann, ist doch deutlich, dass das, worauf die menschliche Seele blickt, durch ein Maß charakterisiert ist, das sie aus der indifferenten, sich ewig übermächtigenden Naturzeit in die Umschlossenheit ihres Seins hebt. In diesem Sinne bedeutet arete die Gefügtheit in einen maßvollen Zusammenhang, der nach Platon bzw. Sokrates in direktem Widerspruch zur offenen Überfülle des Werdens steht, zum unendlichen Progress, also zu dem, was sie pleonexia (das Immer-mehr-haben-wollen) nennen. Fitness im evolutionstheoretischen Sinne meint dagegen die bestmögliche Anpassungsfähigkeit an die Umwelt, die dazu führt, dass sich das auf diese Weise taugliche Individuum in größerem Maße im Sein halten kann als andere. Genauer kann sich nicht dieses Individuum länger im Sein halten, sondern ein ganz bestimmter Aspekt an ihm, nämlich sein sogenannter Genotyp, seine genetische Ausstattung, die sich in den Genpool der nächsten Generation zu retten und dort geltend zu machen vermag. Das Sein dieses Individuums besteht also näher besehen aus seinem Zukünftigsein; es passt sich an umwillen seiner Zukünftigkeit, und doch ist dieses Anpassungsgeschehen eigentlich ein passiver Vorgang. Denn es ist nicht so, dass das Individuum selbst seine Ver- wirklichung bestimmt, sondern es ist das Evolutionsgeschehen als solches, das als das eigentliche, wenn auch blinde Subjekt solche Genotypen vorzieht, die an sich das größte Maß an Adaptionsfähigkeit aufweisen, die also ganz im Gegensatz zur griechischen Vorstellung so wenig wie möglich in die Bestimmtheit treten. (Natürlich handelt es sich hier um keine begriffsgeschichtliche Nachzeichnung im engeren Sinne, sondern lediglich um den Aufweis einer Tendenz. Es wäre aber lohnend, der Verwandlung von arete zu fitness - mit einer wesentlichen Station bei Nietzsche - einmal nachzugehen.) Zu 3. Der in sich als offene Evolution verstandenen Natur, die ihre Gebilde ständig zugunsten neuer und anderer überholt, ist eine Form der technischen Herstellung angeglichen, die ebenfalls offen, innovativ und richtungslos vorgeht. Auch der zentrale Zug der modernen Forschung und Technik liegt in der prinzipiellen Vorläufigkeit ihrer Produkte. Wurde ehemals die Arbeit um eines bestimmten Werkes willen verrichtet, scheint das technische Gebilde ein vorübergehendes Mittel zu sein, das dazu dient, den Produktionsprozess als solchen im Fluss zu halten. Die einstigen ,Zwecke' werden zu Mitteln in einem völlig neuartigen Sinn: Als vorübergehende Stationen vermitteln sie die Produktionsphasen miteinander; der transitorische Charakter der Gebilde übereignet sie stets der Neu-, Um- und Weiterbildung. Das bedeutet, dass das technische Herstellen analog zu dem als Evolution verstandenen Naturgeschehen alle Formen der Bestimmtheit in sich als unendlichen Progress hineinzieht. Während das traditionelle Herstellen den Weg von der dynamis zur energeia, von der im Stoff bereitliegenden Möglichkeit zur hervorgetretenen Wirklichkeit nahm, erscheint jetzt umgekehrt das Seiende erst dann als ,wirklich', wenn es die offenen Bruchstellen der reinen Möglichkeit im Sinne der Weiterver-wertbarkeit an sich aufweist. Die eigenschaftslose Materie als die potenzielle Möglichkeit schlechthin ist nun das Wirkliche, während die durch ihre Verbindung mit der Form zur Wirklichkeit gelangte Möglichkeit sich als weniger ,seiend' erweist. Seit dem 20. Jahrhundert weist dieser Prozess eine spezifische Wendung auf, die ins Herz der Bildungsproblematik zielt. Technische Herstellung ist nun immer weniger nur als Radikalisierung neuzeitlichen Verfügungswissens zu begreifen, das in der Hand des menschlichen Subjekts liegt. Natur und Technik, Objekt und Subjekt beginnen sich vielmehr selbst in diesen umfassenden Entsubstanzialisierungsprozess aufzulösen und ineinander zu verschlingen. 63 64 Der qualitative Sprung liegt darin, dass sich Wissenschaft und Technik zunehmend nicht mehr nur auf die Optimierung von Produkten konzentrieren, das heißt auf die Verflüssigung all dessen, was ist, zum Potenzialträger und Material, sondern, wie der italienische Philosoph Massimo De Carolis schreibt, auf die Produktivität selbst, also auf die der Wissenschaft bislang entzogenen inneren „Vermögen" des Menschen. Mit anderen Worten: Es zeichnet sich eine grundsätzliche Infragestellung des Verhältnisses zwischen verfügbarer Natur und der conditio humana ab, wobei die Letztere als eine dem wissenschaftlichtechnischen Zugriff bislang vorenthaltene Dimension zunehmend in die Ers-tere verschwindet, und zwar sowohl auf der theoretischen wie auf der praktischen Ebene.4 Das wichtigste Zeugnis für diese Entwicklung ist das Auftreten der sogenannten Lebens- oder Biowissenschaften, d. h. derjenigen Disziplinen - von der Künstlichen Intelligenz über die Hirnwissenschaften bis hin zur Genetik -, die sich aus einer rein naturalistischen Perspektive mit den spezifischen Fähigkeiten des menschlichen Lebewesens befassen. Der Begriffsapparat, dessen sie sich bedienen, erkennt den Schlüssel zur Wechselwirkung dieses mit einem seltsamen Zug zur Virtualität ausgezeichneten Tieres mit seiner Umwelt nun ausdrücklich in der Vorstellung der Anpassung und der Optimierung der Fitness, wobei unter Fitness seine nahezu unbegrenzte Adaptionsfähigkeit verstanden wird. Die „humanen Technowissenschaften" bieten, so De Carolis, „die Illusion, die ganze Bandbreite der menschlichen Vermögen - in ihrer Verflochtenheit von biologischen, kognitiven und kommunikativen Vermögen - in potenzielle Ressourcen zu verwandeln, die nur auf ihren ,optimalen' Einsatz warten, der passend zu jedem neuen Vorkommnis auf dem Markt neu definiert werden kann." Gerade weil sich Subjekt und Objekt in diesem offenen Optimierungsgeschehen ineinander verschlingen, finden die kritischen Kategorien, die der Dichotomie zwischen Rationalität und Biologie, Technik und Natur, Täterschaft und passiver Hinnahme entsprangen, immer weniger Fugen zum Eingreifen, worauf auch De Carolis aufmerksam macht: „Es käme jedoch einer einseitigen Naivität gleich, sich auf diese entmenschlichenden' Aspekte der Technik zu beschränken, ohne auch auf das Faszinationspotenzial hinzuweisen, das damit zusammenhängt, dass den Einzelnen nun die Perspektive eröffnet wird, unbeschränkt auf sich selbst zuzugreifen, um völlig frei die eigene Identität zu konstruieren und zu modifizieren. [...] Es ist wichtig, auf diesem 4 Vgl. Massimo De Carolis, Das Leben im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Zürich/Berlin 2009, S. 9. Punkt zu insistieren, weil die unvorhergesehene Übereinstimmung zwischen den Interessen der großen biopolitischen Netze und den intimsten Leidenschaften der Individuen das kritische Denken [...] gleichsam übertölpelt hat."5 Zu 4. Wie ich oben mit Pörksen sagte, sind die amorphen Plastikwörter - Fortschritt, fitness, Konzept, Strategie, Effizienz, Projekt, Information usw. - durch eine eigentümliche Vagheit und Unbestimmtheit ausgezeichnet. Zugleich geht von ihnen ein starker autoritativer Sog aus: Sie unterlaufen die Wirklichkeit, berauben sie ihrer geschichtlichen Substanz und verpflichten sie als solche zu einer prinzipiell entgrenzten und planbaren Zukunft. Um an zwei historische Kategorien Reinhart Koselleks zu erinnern: Der „Erwartungshorizont", den sie transportieren, übersteigt um ein vielfaches den „Erfahrungsraum", den die Sprache üblicherweise in sich beherbergt. Kosellecks These lautet bekanntlich, dass sich in der Neuzeit die Kluft zwischen Erfahrung und Erwartung zunehmend vergrößert, ja, dass sich die Neuzeit gerade darin als „neu" erfährt, 65 dass sie von Erwartungen erfüllt ist, die sich von allen bis dahin gemachten Erfahrungen entfernt haben.6 Die Plastikwörter dienen gewissermaßen als Katalysatoren dieses entgrenzten Aufbruchs in die Zukunft. Noch einmal Pörksen: „Man könnte diese Wörter Alltagsdietriche nennen. Sie sind griffig, und sie sind der Schlüssel zu vielen, sie öffnen riesige Räume. Sie infizieren ganze Wirklichkeitsfelder und sorgen dafür, daß die Wirklichkeit sich auf sie, als ihren Kristallisationspunkt, zuordnet."7 Statt inhaltlicher Präzisierung werden sie flankiert durch einen unersättlichen Konjunktiv: Alles wird schneller, besser, höher, effizienter, die Forschung zur „Spitzenforschung" oder gar zur „Spitzenforschung von Morgen", die immer weniger an die geschichtliche Wirklichkeit gekoppelt ist als an ihre eigene inhärente Übersteigerungsstruktur. Wo der Konjunktiv derart vorherrscht, beginnt der Indikativ aus dem Blick zu geraten. Mängel, Pathologien und das sogenannte Normale fallen in ihrer prinzipiellen Optimierungswürdigkeit zusammen, wie es vor allem in den gegenwärtigen Tendenzen der Medizin, die zum Vorreiter menschlicher Bildsamkeit avanciert, deutlich wird. Der Begriff „Krankheit" erscheint obsolet, menschliche Unterschiede und Besonderheiten werden zunehmend zu einem 5 Ebd. S. 287f. 6 Reinhart Koselleck, ,„Erfahrungsraum' und ,Erwartungshorizont' - zwei historische Kategorien", in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1995, S. 349-375, hier S. 359. 7 Pörksen, Plastikwörter, S. 17. prinzipiell neutralen Pool des Lebens zusammengenommen und dem Wunsch nach „permanenter Steigerung", „unabschließbarem Wachstum" und „Verbesserung" (enhancement) angepasst. Die Zielsetzung liegt in der fitness schlechthin, d. h. wörtlich der „Eignung" - doch man fragt sich: Eignung wozu?8 Zu 5. Kommen wir damit zur fünften und letzten These. Wenn es so ist, dass jede Gesellschaft ihre tatsächlichen Voraussetzungen und Motive verleugnen muss, um sich effizient, flexibel und dennoch stabil zu halten, wie Nietzsche gesehen hat,9 dann muss man sich fragen, welches Wissen in unserer Gesellschaft, die sich als Wissensgesellschaft begreift, in den Schacht des verbotenen Wissens verdrängt wird, und auf welche Weise dies geschieht. Damit ist eine gewisse Paradoxie angesprochen: Wahrscheinlich keine Gesellschaft vor uns hat in einer so überreichen Weise über Wissen verfügt, und keine vor uns hat diese Flut an Wissen oder „Information", wie man heute sagt, dem Konsum des Ein-66 zelnen, dem „Verbraucher", so rückhaltslos anheimgegeben. Jeder hat zu jeder Zeit und an jedem Ort Zugriff auf alles, oder sollte es doch zumindest haben; daran arbeiten die Informations- und Kommunikationstechnologien, die das flüssige Skelett dessen ausmachen, was wir als das „Recht auf Bildung" bezeichnen. Dennoch wäre es falsch, aus dieser durchgängigen Veröffentlichung des Wissens zu schließen, es gäbe keine Verbote. Sie äußern sich freilich nicht in offiziellen Restriktionen oder gar Zensur, sondern werden, wie Konrad Paul Liessmann schreibt, durch Verinnerlichung aufrechterhalten: „Wo es keine offiziellen Verbote im Bereich der Informationsannahme und Informationsweitergabe mehr gibt, müssen innere Instanzen diese Aufgabe übernehmen. Deshalb die übergroße Bedeutung, die der moralische Diskurs gegenwärtig einnimmt."10 Liessmann zielt mit dieser Bemerkung auf die Tatsache, dass gerade im moralischen Diskurs, zu dem man sich vor allem durch umfassende Information zu rüsten hat und der seinerseits wesentlich auf die Einebnung von Unterschieden zielt, jede Konfrontation des Menschen mit seiner eigenen Abgründigkeit und Geschichtlichkeit, seinen Affekten, geheimen Beweggründen und Verwurzelungen, d. h. mit seiner ganzen Kontingenz, all dem, was seinem Sein als reiner Potenzialität im Wege steht, unterbunden wird. 8 De Carolis, Das Leben im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 254. 9 Vgl. hierzu Konrad Paul Liessmann, Philosophie des verbotenen Wissens. Friedrich Nietzsche und die schwarzen Seiten des Denkens, Wien 2000. 10 Ebd., S. 19. Mir scheint jedoch gerade in Bezug auf die Bildungsproblematik ein anderer Aspekt noch wichtiger zu sein. Er liegt in dem durch die Plastikwörter vorangetriebenen Übergriff auf den abgründigen Möglichkeitscharakter des Menschen selbst. Dadurch, dass diese Wörter auf die ständige Überholtheit und Überholbarkeit dessen, was ist, hinweisen und den Einzelnen damit aus seiner generativen, pluralen, lokalen und geschichtlichen Verwurzelung und den hier gelegenen Dispositionen und Möglichkeiten herauskatapultieren, zerstören sie die komplexe Zeitlichkeit des Menschlichen in ihrer geheimen Verkettung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie zwingen ihn stattdessen in die unablässige Konfrontation mit sich selbst als reinem Möglichsein. Das die tiefere, abgründige Plastizität des Menschen tragende Ineinanderspiel von Erinnerung und Erwartung mutiert so zu einer einseitigen Aufholjagd, die den Einzelnen einem prinzipiellen Gedächtnisschwund, und das bedeutet zugleich: Selbstschwund, überantwortet. Sich zu etwas bilden bedeutet heute: Sich bildbar halten, unendliche Formbarkeit, Proteusnatur. Dies findet schon in dem einfachen Verweis statt, sich keinen Gedanken mehr erlauben zu dürfen, den es bereits gab. Gewesen-zu-sein gilt bereits als Ausschlusskriterium für den Diskurs der Zukunft - nur, der Mensch ist immer schon zu einem großen Teil gewesen; „wenn wir den Mund aufmachen", so ein Gedanke Hofmannsthals, „reden immer zehntausend Tote mit". Dem ewigen Menschen von Morgen bleibt dagegen buchstäblich keine Zeit, sich in die Wirklichkeit einzubilden, mit der ganzen Zähigkeit und Gemessenheit wirklicher Bildungsvorgänge, und wiederum aus ihr das zu empfangen, was die Griechen als „Sein" bezeichnet haben. In einem solchen von der Last seiner Geschichte befreiten Dasein liegt zweifellos eine große verführerische Kraft; man sollte sich jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Begriff der Möglichkeit nicht zuletzt den Aspekt der prinzipiellen Verwerfbarkeit in sich trägt. Es wäre zu fragen, was Bildung im Horizont einer solchen verinnerlichten Verwerfbarkeit eigentlich für den Einzelnen noch bedeuten kann. Mit anderen Worten: Gerade die Plastizität des Menschen, die sein innerstes Vermögen, aber zugleich seine abgründige Konfrontation mit dem Unendlichen markiert, und die mit der Notwendigkeit eines Sprunges aus dem reinen Möglichsein in die Geschichte konfrontiert werden muss, scheint mir heute in einer durchaus attraktiven, aber einseitigen und gefährlichen Weise in Anspruch genommen zu sein. Statt der Doppelsinnigkeit, die das Wort Bildung eigentlich in sich trägt, nämlich zugleich das offene Geschehen des Sich-Bildens zu sein wie der gewachsene Umriss, das bestimmte Sein, die sich ausdifferenziert habende, „schuldige" Lebensform, weist das Wort zunehmend 67 Züge eines Plastikworts auf: es wird ebenso verheißungsvoll wie leer, amorph, eine „konnotative Stereotype", in der sich niemand mehr zu erkennen geben kann und die sich der kritischen Auseinandersetzung entzieht, zukunftslastig und ewig wandelbar. Worauf sonst zielt das die Bildungsdebatte durchherrschende durchaus merkwürdige Wort von der „Zukunftstauglichkeit"? „Fit für die Zukunft" zu sein, wie es uns allenthalben nahegelegt wird, das ist in der Tat die wesentliche Eigenschaft des Plastiks, jener scheinbar harmlosen und gefälligen Substanz, von der Roland Barthes in den Mythen des Alltags schreibt: „Auf der einen Seite der tellurische Rohstoff, auf der anderen der perfekte Gegenstand. Zwischen diesen beiden Extremen ist nichts; nichts als ein zurückgelegter Weg, der von einem Angestellten mit Schirmmütze, halb Gott, halb Roboter, bewacht wird. Das Plastik ist weniger eine Substanz als vielmehr die Idee ihrer endlosen Umwandlung."11 68 11 Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt a. M. 1964; zit. nach Pörksen, Plastikwörter, S. 21.