NOTATION UND IDENTITÄT BEMERKUNGEN ZUR GEGENSEITIGEN DURCHDRINGUNG DER TYPOLOGISCHEN STRUKTUREN DER NOTATIONSSYSTEME VOM GEBIET DER SLOWAKEI EVA VESELOVSKÄ Slovenska akademia vied Bratislava / Slowakische Akademie der Wissenschaften Bratislava Izvleček: Raziskava srednjeveških notiranih liturgičnih rokopisov s področja Slovaške dokumentira, analizira in vrednoti najstarejše pisne vire glasbene kulture iz obdobja od konca 11. do začetka 16. stoletja. Tipološke strukture notacijskih sistemov liturgičnih rokopisov odražajo zgodovinske, kulturne in verske procese ter spodbude. Prispevek izčrpno interpretira vzajemna prežemanja temeljnih struktur srednje -veških notacijskih sistemov z območja Slovaške v evropskem kontekstu in predstavlja najzanimivejše primere. Najnovejša raziskovalna spoznanja so dostopna preko nove podatkovne baze srednjeveških notiranih spevov iz Slovaške (Cantus Planus in Slovacia, http://cantus.sk). Ključne besede: srednjeveška glasba, notacija, Slovaška Abstract: This study of medieval notated liturgical manuscripts from Slovakia documents, analyzes, and evaluates the oldest written sources of musical culture from the end of the eleventh century to the early sixteenth century. The typological structures of notational systems in liturgical codices reflect their historical, cultural, and religious processes and stimuli. The paper offers a comprehensive view of the penetration offundamental structures of the Slovak medieval notational system into the European context and presents some of the most interesting examples. The latest findings are available from a new database of medieval notated historical pieces from Slovakia fCantus Planus in Slovacia, http:// cantus.sk). Keywords: medieval music, notation, Slovakia Die mittelalterlichen notierten Handschriften und Fragmente vom Gebiet der Slowakei enthalten Kirchenmusik, die den liturgischen Erfordernissen der mittelalterlichen Kirche diente, den sog. cantus planus. In der Slowakei sind nur wenige notierte Handschriften (15) und fast 700 Fragmente erhalten geblieben. Die meisten Quellen stammen aus dem 14. und 15. Jahrhundert aus Kirchenbeständen (Bischofs-, Kapitular-, Pfarr-, Kloster-, Schul- bzw. Stadtbibliotheken). Eine kleine Anzahl von Handschriften war Bestandteil von Privatsammlungen. Die auf dem Gebiet der Slowakei erhaltenen mittelalterlichen Kodizes und Fragmente bildeten nur einen bescheidenen Teil der hierzulande im Mittelalter * Die vorliegende Studie wurde im Rahmen des Projekts European dimensions of the artistic culture in Slovakia, ITMS 26240120035 und des Projekts VEGA Nr. 2/0031/13 bearbeitet. verwendeten liturgischen Bücher. Komplette Handschriften befinden sich heute in den Beständen in Bratislava (Preßburg), Spisska Kapitula (Zipser Kapitel), Martin, Kosice (Kaschau) und Presov (Eperies).1 Fragmentarisch erhaltene Quellen sind in Archiv-, Museums- oder Bibliotheksinstitutionen aufbewahrt. Die größte Anzahl der fragmentarisch erhaltenen Handschriften stammt aus den Einbänden von Amtsbüchern, Inkunabeln und Drucken vom Ende des 15. und aus dem ganzen 16. Jahrhundert. Für die geringe Anzahl der erhaltenen mittelalterlichen liturgischen Kodizes sind mehrere historische Faktoren verantwortlich. Die ältesten Quellen wurden wahrscheinlich in den kriegerischen Konflikten des Mittelalters, bei Feuersbrünsten und während der instabilen kirchenpolitischen Situation (Beginn der Reformation und anschließende Gegenreformation) vernichtet. Ein Großteil der unbenutzten Handschriften wurde vor allem im 15. bis 17. Jahrhundert als geeignetes Material für die Verfestigung der Einbände und Umschläge von städtischen Amtsbüchern und Handschriften aus jüngerer Zeit verwendet. Eine Vielzahl wertvoller Handschriften wurde außer Landes gebracht (Handschriften aus Bratislava, Levoca (Leutschau), Bardejov (Bartfeld), Leles, Kosice u. a.). Ein Teil der Kodizes ging nach der Gründung der Tschechoslowakischen Republik im Jahr 1918 verloren, als viele mittelalterliche Handschriften in ausländischen Privatsammlungen endeten. Zum genauesten Indikator für die Einordnung der neu entdeckten Fragmente nach ihrer Herkunft wurde die paläographische Komponente der erhaltenen Quellen. Daher widmen wir den Fragen der Auswertung der historischen Ausgangspunkte und der Notationsidentifikation der mittelalterlichen Kodizes und Fragmente aus der Slowakei größtes Augenmerk. Im Mittelalter existierten in Ungarn mehrere Notationssysteme parallel nebeneinander. Die Verwendung der einzelnen Notationsarten erfolgte geordnet nach Institutionen, Organisationen und Kulturstätten. Über eine eigene Choralhandschrift verfügten nicht nur die zentralisierten Orden, sondern auch die Notatoren größerer Städte. Diözesen und Bistümer hielten an einem eigenen Notationsbild fest. Wertende Analysen im Bereich der Musikpaläographie haben mehrere grundlegende Punkte aufgezeigt. Viele Fragen zur Entstehung, Herkunft und Verwendung der notierten Fragmente in der Slowakei sind bis heute unbeantwortet geblieben. Der torsohafte Zustand mancher Quellen macht die genaue Festlegung wissenschaftlicher Schlussfolgerungen unmöglich. So wurden im Falle der Bruchstücke zum Beispiel für den Einband jüngerer Bücher oder städtischer Amtsdokumente, Rechnungen und Protokolle nur kleine Teile aus einem mittelalterlichen notierten Kodex verwendet (ein Folio, eine halbe Seite, ein anderes Mal wiederum nur ein ganz kleines Streifchen zur Verfestigung des Einbandrückens u. Ä.). Vor allem bei großformatigen Kodizes konnte nicht immer der genaue liturgische Inhalt des Bruchstücks identifiziert werden. Des Weiteren musste in Betracht gezogen werden, dass die Anonymität des Notators im Mittelalter ganz normal war. Selbst in komplett erhaltenen Handschriften war der Name des Notators meist nicht angegeben. Am häufigsten sind Angaben mit der Datierung der Handschrift bzw. mit dem Namen ihres Auftraggebers, Skriptors oder Illuminators erhalten. Erwähnungen über den Notator sind in mittelalterlichen Handschriften nur ausnahmsweise überliefert.2 Auch die geringe 1 Veselovska, "Choralnotationen." 2 Ein einzelner Vermerk über die Auszahlung des Lohns für die Notierung eines Antiphonars findet Differenzierung der inneren Elemente der musikalischen Schriftkultur ermöglichte nicht immer den Hersteller oder die Datierung einer Handschrift definitiv zu bestimmen, da eine Notenschrift in einem bestimmten geographischen Raum 500 und mehr Jahre in der gleichen strukturellen Form in Gebrauch gewesen sein konnte. Während auf dem Feld der Kunstwissenschaften die einheitliche Arbeit einer bestimmten Illuminatorenschule oder gar einer konkreten Werkstatt oder eines Meisterilluminators sehr genau bestimmt werden kann, ist in der Musikpaläographie die Analyse der jeweiligen Notationsstrukturen vor allem der Indikator der Herkunft (Provenienz) eines Notators. In manchen Fällen konnte die paläographische Identifizierung mit dem liturgischen Inhalt einer Handschrift nach der konkreten liturgischen Tradition übereinstimmen. Der gewaltige Anstieg von OnlineInformationen beschleunigte den Prozess der liturgischen Identifizierung (http://cantusda-tabase.org), der Erschließung und Auswertung fragmentarisch erhaltener Handschriften enorm. In vielen Datenbanken fehlen jedoch wesentliche und sehr grundsätzliche Daten zur Komparation der Quellen in Mitteleuropa. Vor allem im geographischen Raum der heutigen Slowakei, Ungarns, Österreichs (Österreichische Nationalbibliothek), Polens und Rumäniens ist die Zusammenarbeit auf dem Feld der Bereitstellung von Quellen in Form von Verzeichnissen, Katalogen oder Internetdatenbanken unverzichtbar. In der Slowakei wird daher gegenwärtig die Bearbeitung und Zugänglichmachung von mittelalterlichen notierten Kodizes und Fragmenten im Rahmen der Internetdatenbank des Instituts für Musikwissenschaft der Slowakischen Akademie der Wissenschaften - Slovak Early Music Database / Cantus Planus in Slovacia (http://cantus.sk) als prioritäre methodische Lösung angesehen. Bislang sind dort Fragmente aus dem Staatsarchiv in Banská Stiavnica,3 Modra4 und aus dem Musikmuseum des Slowakischen Nationalmuseums5 bearbeitet und veröffentlicht worden. Wir hoffen, dass es uns auf Grund der Vergleichsforschung und der Vergleichsdatenbanken mehrerer europäischer wissenschaftlicher Institute (z. B. Österreichische Akademie der Wissenschaften: http://www.oeaw.ac.at/kmg/cvp; Ungarische Akademie der Wissenschaften: http://gradualia.eu) gelingen wird, größere Gruppen von Notatorenhänden und Skriptorenwerkstätten insbesondere fragmentarisch erhaltener Handschriften, die mit der mittelalterlichen Schrifttradition zusammenhängen, zu bestimmen. Auf dem Gebiet der Slowakei dokumentieren spezifische Elemente und strukturelle Zeichen drei mittelalterliche Notationssysteme: die Metzer, die böhmische und die Graner Notation. Die Metzer oder lothringische Notation6 war in ihrer ältesten adiastematischen und diastematischen Form im 10.-11. Jahrhundert im Nordosten Frankreichs im Gebrauch, vor allem auf dem Territorium des Erzbistums Reims und des Bistums Metz (Erzbistum Trier). Die Metzer Notation war ab dem 13. Jahrhundert ein außerordentlich expansi- sich in den Visitationen von Klosterneuburg. Bei der Herstellung des 4-bändigen Antiphonars (Cod. 65-68) wurde der Lohn an den Skriptor, den Illuminator und den Notator ausbezahlt. Für diese Information bedanke ich mich bei Dr. Alois Haidinger (Kommission für Schrift- und Buchwesen des Mittelalters). Haidinger, "Bemerkungen." 3 Veselovska, Catalogus e civitate Schemnitziensi. 4 Veselovska, Catalogus e civitatibus Modra et Sanctus Georgius. 5 Veselovska, "Stredoveke notovane fragmenty." 6 Hiley und Szendrei, "Notation, Plainchant"; Szendrei, "Staff notation." ves Notationssystem, das sich beinahe im ganzen mitteleuropäischen Raum etablierte. Verschiedene Formen und häufig außergewöhnliche Einzelvarianten des Metzer Systems tauchen in spezifischer Form in den Diözesan- (Kapitular-, Stadt-, Pfarr-)Skriptorien und den Prämonstratenser Skriptorien des heutigen Frankreichs, Deutschlands, Böhmens, Mährens, Polens, Österreichs, der Slowakei, Rumäniens, Sloweniens und Kroatiens auf. Trotz der relativ einheitlichen Beschaffenheit der Neumengrundformen (Eintonneume: Punctum, Zweitonneumen: Pes und Clivis, Dreitonneumen: Scandicus, Climacus, Torculus und Porrectus) beginnen sich einzelne Skriptorenzentren (Prag, Krakau, Olmütz u. a.) im Gebrauch spezifischer Versionen der Neumenformen zu unterscheiden. Über dreiviertel aller Handschriften und Fragmente vom Gebiet der Slowakei dokumentieren gerade das Metzer Notationssystem vom Ende des 14. und vor allem des 15. Jahrhunderts. Dank der Gotisierung der einzelnen Neumenstrukturen im Laufe des 15. Jahrhunderts wird diese von der Größe her kleine Notation zur Notenschrift der großformatigen liturgischen Kodizes, die in den ehemaligen Kapitularbibliotheken in Bratislava, Spisska Kapitula oder in den ostslowakischen Städten (Presov, Kosice) überliefert sind.7 Die Metzer Notation vom Gebiet der Slowakei weist eine klare stilistische Struktur auf, die territorial zwei großen Kreisen zuzuordnen ist. Der westliche Kreis der erhaltenen Denkmäler (Preßburger Domkapitel - Bratislava, West- und Ostslowakei: Banska Bystrica), neigt zur Schreibtradition der österreichischen und mährischen Notatorenwerkstätten (Preßburger Antiphonarien I, II, IV,8 Preßburger Missale "H"9 u. a.) hin. Der östliche Kreis um Spisska Kapitula (Ostslowakei: Spisska Kapitula, Levoca, Kosice, Presov; ein Teil der Mittelslowakei: Banska Stiavnica; z. B. Zipser Antiphonar Mss. Mus. No. 2,10 Zipser Graduale des Georgius aus Käsmark Mss. Mus. No. 1,11 notiertes Brevier aus Dambno aus dem Jahr 137512 und Psalter aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts13 aus der Staatlichen wissenschaftlichen Bibliothek in Presov, Missale Clmae 92 aus der Szechenyi-Bibliothek in Budapest,14 Missale und Psalter15 aus dem 7 Gerade infolge der Gotisierung der einzelnen Formen im 14. und insbesondere im 15. Jahrhundert bezeichnet die ungarische Musikhistorikerin Janka Szendrei diese Notation als Metzer-gotische, da es sich um ein völlig anderes Notationssystem als die ursprüngliche Metzer Notation (adia-stematisch, diastematisch und auf einem Liniensystem) handelt. Szendrei, "Choralnotationen als Identitätsausdruck." 8 Bratislavaer Antiphonarien I-V (5 Antiphonarien; siehe Editionen der Quellen in der Bibliographie). 9 Clmae 94, Szechényi-Nationalbibliothek in Budapest. Notiert sind nur Exultet, Präfationen und Genealogía Christi. Die Metzer-gotische Notation dieses Kodex ist aber wahrscheinlich eines der ältesten Beispiele dieses Notationstypus direkt aus der Werkstatt eines Preßburger Skriptoriums. 10 Spissky antifonár (siehe Editionen der Quellen in der Bibliographie). 11 Herausgegeben als Spissky graduál Juraja z Kezmarku (siehe Editionen der Quellen in der Bibliographie). 12 Sopko, Stredoveké latinské kódexy, Nr. 197; Urdová, "Spevy prvej adventnej nedele." 13 Sopko, Stredoveké latinské kodexy, Nr. 196. 14 Clmae 92, Szechényi-Nationalibliothek in Budapest. Szendrei, A magyar kôzépkor, M 1. Güntherová und Misianik, Stredoveké knizná mal'ba, Nr. 6, 37-38. 15 Sopko, Stredoveké latinské kodexy, Nr. 161; Szendrei, A magyar kôzépkor, C 54. Vom Missale aus dem Ostslowakischen Museum Kosice sind nur die Präfationen notiert. Die Liturgie der Handschrift nähert sich schlesischen und böhmischen Quellen. Veselovská, "Stredoveké notované rukopisy." Ostslowakischen Museum in Kosice und Zipser Brevier D R II 46 aus der Bibliothek Batthyaneum in Alba Julia) nähert sich in Stil und Form einigen polnischen Handschriften und der polnischen Notationspraxis (vor allem Bruchstücke aus Banska Stiavnica nähern sich den Handschriften aus Krakau). Abbildung 1 Zipser Antiphonar, das neuentdecke Fragment (Slowakisches Nationalarchiv, sine Sign.; mit Erlaubnis). Tabelle 1: Maße der Kodizes und Fragmente des Zipser Kreises, aus Krakau, Prag und Preßburg.16 Kodex Masse (mm) Schriftspiegel (mm) Höhe des Liniensystems (mm) Zwischenraum (mm) Punctum (mm) Zipser Gradúale 600x380 435x270 30 6 6 x 5 Zipser Antiphonar 570 x 370 435x264 25 6 6-7 x 5 Clmae 92 320 x 222 220 x 142 11-15 4-5 2-4x2-4 Gradúale 638 BS 480x337 460 x 281 29 8 8 x 6 Antiphonar 11.901 Levoca 397 x 252 397x231 24 7 7 x 5 Gradúale Sign. 132 SNV 520x340 372 x 235 20 4 4 x 4 Gradúale MS 45 AKKK 455x338 385x248 26 6 6 x 6 Antiphonar MS 47 AKKK 590 x 398 414x270 24 8 8 x 6 Antiphonar MS 48 AKKK 610x410 434 x 270 32 8 10 x 7 Antiphonar MS 53 AKKK 488x345 398 x 274 16 5-6 6 x 4 Antiphonar PVI/1-3 APH 440 x 310 358x230 24 7 10 x 8 Gradúale PVII APH 520x362 359x230 24 7-8 12 x 10 BA IV SNA 2 545x365 412 x 256 24 7 6 x 5 16 Bei der musikpaläographischen Bearbeitung halten wir für extrem wichtig das Messen (in Millimeter) der Fragmente aber auch der ganzen Kodizes (Gesamtmaße, Spiegelmaße, Höhe des Liniensystems, Höhe des Zwischenraums, Größe der Grundneume - Punctum) zu realisieren. Tabellen 2a und 2b: Grundformen der Neumen des Zipser Kreises. Kodex Punctum Pes Clivis Scandicus Zipser Antipho AI VI JrJ f I Wk äüUB A A:l Zipser Graduale mmm K ' • Clmae 92 Graduale 638 BS nm Antiphonar 11.901 Levoca Kodex Torculus PoRRECTUS C-Schlüssel F-Schlüssel Zipser Antiphonar Zipser Graduale * C Clmae 92 M ■ Graduale 638 BS ■ Antiphonar 11.901 Levoca ■ ■ ■ 1 Tabellen 3a und 3b: Grundformen der Neumen des Preßburger Kreises. Kodex Punctum Pes Clivis SCANDICUS Climacus BA I R iNt 4k " - BA II SNA 4 ■ ä s BA IV £ Antiphonar BB 72 ■ 1 ■ ■ x Graduale Modra 3103 ■ 4: ♦