UDK 781.24(430) Marko Motnik Institut für Musikwissenschaft, Universität Wien Inštitut za muzikologijo, Univerza na Dunaju Deutsche Tabulatur: gebreuchlich oder verdrießlich?* Nemška tabulatura: uporabna ali utrudljiva?** Prejeto: 19. avgust 2011 Sprejeto: 9. september 2011 Ključne besede: Tabulatura, intabolacija, vokalna polifonija, glasbila s tipkami Izvleček Intabuliranje in igranje vokalnih skladb sta v 16. in 17. stoletju sodili med pomembne dolžnosti organistov. To potrjujejo tako izrecna poročila kot tudi vsebina številnih tabulaturnih knjig iz tega časa. Received: 19th August 2011 Accepted: 9th September 2011 Key words: tabulature, intabulation, vocal polyphony, keyboard instrument Abstract Intabulation and playing vocal compositions were important duties of 16th- and 17th- century organists, which are corroborated both by explicit reports as well as by the contents of numerous volumes of tabulatures from this period. Der Quellenbestand mit der in die deutsche Buchstabentabulatur übertragenen Vokalmusik aus dem 16. und 17. Jahrhundert nimmt rein quantitativ betrachtet gewaltige Ausmaße an und ist trotz mehrerer Versuche bisher alles andere als vollständig erschlossen worden.1 Obgleich die ablehnende Haltung gegenüber diesen Quellen vonseiten der Musikwissenschaft heute überwunden zu sein scheint, konnten die Fragen nach Entstehungszweck und Funktion der intavolierten Vokalmusik noch nicht eindeutig beantwortet werden. Allein die Vielzahl an erhaltenen Handschriften - ihre Zahl ist Legion2 - mit ihren weit auseinanderliegenden Fundorten deutet unmissverständlich Der vorliegende Beitrag ist ein Auszug aus der Dissertation des Verfassers: Motnik, Marko. Jacob Handl - Gallus. Werk und l'Überlieferung. Univ. Dissertation, Universität Wien, Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, 2009. The present article is an extract from the author's dissertation: Motnik, Marko. Jacob Handl-Gallus. His work and His Legacy. Dissertation, University of Vienna, Institute of Musicology, 2009. Den umfangreichsten Katalog der in die Buchstabentabulatur übertragenen Vokalkompositionen bietet Cleveland Johnson in seiner Dissertation Vocal Compositions in German Organ Tablatures, 1550-1650. A Catalogue and Commentary. New York, London: Garland Publishing, 1989. (Outstanding Dissertations in Music from British Universities) Willi Apel, Geschichte der Orgel- und Klaviermusik bis 1700, Nachdruck 1967 (Kassel, Basel, Paris: Bärenreiter,,2004), 281. darauf hin, dass es sich dabei um Zeugnisse einer als wesentlich zu bezeichnenden Praxis der Tasteninstrument-Spieler im 16. und 17. Jahrhundert handeln muss. Die zeitgenössischen Berichte und andere außermusikalische Dokumente scheinen dies genau zu bestätigen. 1. Von den Pflichten der Organisten Die schriftlichen Belege, beispielsweise die für bestimmte Regionen erlassenen Kirchenordnungen mit Vorschriften zum Orgelspiel oder andere archivalische Dokumente aus dem 16. und 17. Jahrhundert, sind reichhaltig und bezeugen vielfach das sogenannte Motetten-Schlagen. So ist beispielsweise in einer 1582 publizierten Kirchenordnung für die Grafschaft Henneberg in Mitteldeutschland vermerkt, dass zum Beginn des Gottesdienstes erstlich ein stück oder moteten, nach gelegenheit der zeit oder sonst, gesungen, darnach, wo ein orgel vorhanden, dasselbe oder ein anderes geschlagen, oder aber erstlich auf der orgel geschlagen, und darnach figuraliter gesungen werden sollte.3 Um ein weiteres Beispiel anzuführen: Der Wernigeroder Organist wurde im Jahr 1626 verpflichtet, [...] mit dem Domino Cantore jederzeit in guter Correspondenz zu leben und alle Sonn- und Festtage zuvor sich mit demselben gründlich zu bereden, was er an Responsorio, Introitu, Hymnis, Psalmen Tonis, Muteten, Missen u. dergl. singen wollte, es sei choralis oder figuralis Cantus, was er nicht habe, zeitig genug vorher absetzen und solche Mühe des Absetzens sich im geringsten nicht verdriessen lassen, damit also ein fein harmonia und Gleichstimmigkeit zwischen den Orgeln und dem Chor erhalten und der liebe Gottesdienst mit desto mehr Zier und Andacht verrichtet werde.4 Und man lobte noch im selben Jahr in Wernigerode den Organisten Johann Becker, welcher auf gute, wolklingenden Muteten und Absetzungen derselben, sonderlich aber auf den Orlandum ziemlichermaßen beflissen gewesen sei.5 Die Vielzahl der in den Kirchordnungen verlangten Motetten, die bei den Gottesdiensten an der Orgel erklingen sollten, ist oft überraschend hoch und möglicherweise ist das umfassende Material an Intavolierungen gerade durch solche Forderungen zu erklären. Laut einer ausführlichen Agenda des Domstiftes Ratzeburg in Mecklenburg schlägt der Organist eine Mutete de festo bei den Vespern am Vorabend der hohen Kirchenfeste nach dem figuraliter gesungenen Eingangspsalm, welche der Cantor darauf [mit dem Chor] singet.6 In den Vesper- oder Nachmittagspredigten soll eine Motette nach Des durchlauchtigsten hochgebornen fürsten und herrn, Georg Ernsten, graven und herrn zu Henneberg, etc. kirchen ordnung, wie es in s. f. g. fürstlichen graf- und herrschaft, beide mit lehr und ceremonien, christlich, und gottes wort ebenmessig, gehalten werden sol. Schmalkalden: Michael Schmuck, 1582. Zit. nach Emil Sehling, hg., Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, 2/1. Sachsen und Thüringen, nebst angrenzenden Gebieten (Leipzig: O. R. Reisland, 1904), 307. Zit. nach Georg D. Rietschel, Die Aufgabe der Orgel im Gottesdienste bis in das 18. Jahrhundert (Leipzig: Dürrsche Buchhandlung, 1892; Hildesheim: Georg Olms, 1971), 44. Zeugnis des Pastors Heinrich Burchardi an Johann Becker, 1626. Zit. nach Ed Jacobs, "Der Organist Joachim Mager in Wernigerode (1607 bis 1678)," Vierteljahrschrift für Musikwissenschaft 10 (1894): 172. Nikolaus Peträus, Kirchenordnung. Des in des heiligen Römischen Reichs Nieder Sächsischen Kreiße gelegenen Bischofflichen Stiffts Ratzeburgk. Agenda, oder Verrichtung des Gottes- und Kirchendienstes in öffentlichen Kirchenversammlungen. Zit. nach Heinrich Gebler, "Die Kirchenordnung des Domstifts Ratzeburg," Jahresberichte über das Gymnasium zu Ratzeburg (1894): 8. dem altematim mit dem Chor und Orgel aufgeführten Magnificat gespielt werden.7 Bei den Meßpredigten sind die Motetten zwischen dem Introitus und Kyrie, an bestimmten Festtagen auch an Stelle des deutschen Psalms nach der Lesung, ansonsten jedoch immer nach der Predigt und dem gemeinen Gebet, und wenn das Vaterunser gebetet, entweder vom Organisten zu spielen oder vom Chor zu singen. Außerdem singet der Cantor und schlägt der Organist eine Mutete auch während der Kommunion.8 Zum Ausgang steht es ihm frei, eine feine geistliche und sich zur Zeit schickende Mutete zu schlagen.9 Da die meisten derartigen Berichte vor allem aus den protestantischen Gebieten stammen, könnte angenommen werden, dass es sich in erster Linie um eine durch die evangelische Kirche geförderte Organistenpraxis handelt, doch stammen die überlieferten Intavolierungen gleichermaßen aus katholischen Gegenden. Darüber hinaus lassen sich zwischen den Quellen protestantischer und katholischer Provenienz hinsichtlich des Inhalts, der Intavolierungsformen sowie der notationstechnischen Merkmale keine gravierenden Unterschiede feststellen. Es ist geradezu bezeichnend, dass das Motetten-Schlagen meistens in Zusammenhang mit dem Gesang erwähnt wird, wobei aus den Formulierungen nicht immer eindeutig zu erkennen ist, inwieweit von der Begleitpraxis beziehungsweise vom solistischen Orgelspiel die Rede ist. Belege für das Spielen der Motetten als Ersatz für den fehlenden Sängerchor sind in den Quellen explizit nicht vorhanden. Diese von Liselotte Krüger 1933 geäußerte und zugegebenermaßen plausible These über die Hamburger Organistenpraxis hat sich in der Literatur inzwischen als Faktum durchgesetzt.10 Die Orgel und weitere Tasteninstrumente wurden allerdings nachweislich sowohl zum Begleiten als auch als Ersatz fehlender Stimmen oder ganzer Chöre (Subsidärpraxis) eingesetzt, sei es aufgrund von vielerorts bescheidenen kirchenmusikalischen Verhältnissen oder bei besonders feierlichen Anlässen.11 Es sei damit jedoch nicht gesagt, dass das Intavolieren ausschließlich den Kirchenorganisten, welche die Übertragungen aus dienstlichen Zwecken anfertigten, vorbehalten war. Dieses Repertoire wurde zugleich in privaten Adelsgemächern, Patrizierhäusern, Bürger- und Studentenstuben zum Lernen, Lehren, zum Vergnügen, oder auch bei den häuslichen Religionsandachten gepflegt.12 Die Vielfalt und die Anzahl der Tasteninstrumente, die in einigen privaten Sammlungen im 16. und 17. Jahrhundert bezeugt sind, sind oft beachtlich. Der Organist des Benediktinerklosters Kremsmünster in Oberösterreich hatte laut einem Inventar aus dem Jahr 1568 in seinem Zimmer beispielsweise, zwai Clavicordum, zwai Virginall vnnd ain Regall, sampt vier Harpfen, Ain Lautten samt 7 Ibid., 12. 8 Ibid., 14f. 9 Ibid., 25. 10 Liselotte Krüger, Die hamburgische Musikorganisation im 17. Jahrhundert (Leipzig, Straßburg, Zürich: Heitz & Cie, 1933), 110f. 11 Siehe beispielsweise die Beschreibung der festlichen Musiken anlässlich der Einweihung der wiedererrichteten St.-Getruden-kapelle 1607 in Hamburg. Ibid., 263f. 12 Als Beispiel seien hier die Tabulaturbücher von Christoph Leibfried genannt, welcher nachweislich kein beruflicher Musiker gewesen ist, sich jedoch aus Liebhaberei intensiv mit der Musik befasste. Siehe die Beschreibung der Handschriften F IX 42, 43, 44 und 51 der Universitätsbibliothek Basel, in: Kmetz, John. Die Handschriften der Universitätsbibliothek Basel. Katalog der Musikhandschriften des 16. Jahrhunderts. Quellenkritische und historische Untersuchung. Basel: Verlag der Universitätsbibliothek Basel, 1988. demFueterall [...] stehen.13 Die aus dem Umkreis der Klöster und Kirchen stammenden Tabulaturbücher müssen daher nicht zwangsläufig als Zeugnisse einer offiziellen und öffentlichen Musikpflege betrachtet werden. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass die große Mehrzahl der Schreiber oder Besitzer der Intavolierungen, sofern diese ermittelt werden können, keineswegs Kantoren, sondern eindeutig Organisten beziehungsweise Tasteninstrument-Spieler waren.14 2. Vom Gebrauch der Intavolierungen Die Mehrzahl der erhaltenen Quellen nördlich der Alpen weist nur wenige bis gar keine schriftlich fixierten Veränderungs- und Anpassungsformen zugunsten einer bequemen Spielbarkeit auf.15 Im Gegenteil, es handelt sich größtenteils um relativ getreue Übertragungen der Vokalmusik aus der Mensural- in die Tabulaturnotation. Mit diesen in unüberschaubarer Anzahl vorliegenden Übertragungen von Vokalkompositionen ohne jegliche instrumental-spezifischen Zusätze und Umformungen tut sich die Musikwissenschaft - gleichermaßen die Praxis - sichtlich schwer. Sobald in den Intavolierungen instrumental-idiomatische Elemente auftreten, gelten sie als Musik für Tasteninstrumente. Die unveränderte und aufgrund der hohen Stimmenanzahl schwer, unbequem bis völlig unspielbaren Übertragungen von Vokalkompositionen bezeichnet man dagegen gewöhnlich als Partituren in Tabulaturen. Inwieweit es sich dabei um Vorlagen für das Spielen beziehungsweise um andere Zeugnisse der Musikpraxis (beispielsweise Dirigiervorlagen) handelt, bleibt eine alte Streitfrage.16 Eine entfaltete und ausgeschriebene Verzierungs- beziehungsweise Kolorierungs-technik sowie weitere angewandte Mittel der clavieristischen Spielpraxis sind in der Mehrzahl der überlieferten Intavolierungen nicht vorhanden. Die Motettenkolorie-rungen eines Heinrich Scheidemanns oder des Braunschweiger Organisten Delphin Strungk stellen unter den unzähligen in Tabulatur notierten Vokalkompositionen wohl eher eine Ausnahme dar, zumindest was die schriftliche Überlieferung solcher Bearbeitungen angeht. Zweifelsohne wurde ein mit Heinrich Scheidemann vergleichbares Niveau nicht allzu häufig erreicht und dieses wurde, wie Michael Belotti bemerkte, womöglich gar nicht angestrebt, denn nicht jeder Hamburger Organist, der von Amts wegen mit der Intavolierung von Vokalwerken zu tun hatte, sah darin auch eine künstlerische Herausforderung}7 Die Kenntnis über die kunstvolle Kolorierungspraxis Scheidemanns verdankt man der schriftlichen Überlieferung seiner Motettenkolorie- Zit. nach Altman Kellner, Musikgeschichte des Stiftes Kremsmünster (Kassel, Basel: Bärenreiter,, 1956), 135. Es gibt freilich auch Ausnahmen. Stellvertretend seien hier die Tabulaturbücher des Breslauer Kantors Michael Büttner genannt. Vgl. dazu Barbara Wiermann, Die Entwicklung vokal-instrumentalen Komponierens im protestantischen Deutschland bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2005), 360f. Genau diese werden von Arnfried Edler als ein wesentliches Merkmal der Intavolierung bezeichnet. Vgl. Arnfried Edler, Gattungen der Musik für Tasteninstrumente. Teil 1. Von den Anfängen bis 1750 (Laaber: Laaber Verlag, 1997), 18. Otto Kinkeldey, Orgel und Klavier in der Musik des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der Instrumentalmusik (Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1910; Hildesheim: Georg Olms, 1984), 190ff. Michael Belotti, "Die Kunst der Intavolierung. Über die Motettenintavolierungen Heinrich Scheidemanns," Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis 22 (1998): 93. 15 16 rangen. Es ist allerdings kaum zu beurteilen, wie viele vergleichbare Bearbeitungen von anderen Organisten im Laufe der Jahrhunderte verloren gingen. Darüber hinaus lässt sich nur vermuten, welche Rolle die improvisatorischen Elemente, also die zusätzlich aus dem Stegreif angebrachten instrumentalen Ausschmückungen, bei der Wiedergabe der Vokalkompositionen auf den Tasteninstrumenten gespielt haben. Es muss nicht ausdrücklich betont werden, dass die Kunstfertigkeit eines auf dem Tasteninstrument erklungenen Vokalstückes letztendlich in starkem Maße von den Fähigkeiten des jeweiligen Spielers abhing. Einen aussagekräftigen Hinweis auf den improvisatorischen Zugang zum MotettenSchlagen enthält bekanntlich die sogenannte Organistenchronik von Johann Kortkamp, welcher darin das Probespiel seines ehemaligen Lehrers Matthias Weckmann für die Organistenstellen an den Kirchen zu St. Jakobi und St. Gertruden in Hamburg im Jahr 1655 schilderte: Auch muste er eine Motete des seel. H. Hieronymo Praetorio auß den Bass tractieren, 6 vocum und nachgehens auff 2 Claviir variiren.18 Der Proband sollte also in der Lage sein, eine sechsstimmige Motette aus einem bassopro organo zu begleiten und daraufhin eine kolorierte Fassung auf der Orgel mehr oder weniger aus dem Stegreif wiederzugeben. Interessant ist ebenfalls das Datum dieses Berichts, das diese Praxis weit in das 17. Jahrhundert bezeugt. Die Vielzahl der unverändert notierten Übertragungen der Vokalmusik lässt sich möglicherweise durch den Intavolierungsprozess selbst erklären. Bevor der Schreiber nämlich mit dem instrumentalbedingten Umformen der Satzstruktur und Hinzufügen von Verzierungen beginnen konnte, musste erst die üblicherweise in Stimmbüchern notierte Vokalvorlage als Ganzes erfasst werden. Dies gilt umso mehr für die jungen unerfahrenen Organisten, die oft als Verfasser von handschriftlichen Tabulaturbü-chern bekannt sind. Der Intavolator konnte sich mit der Umsetzung des Stückes auf dem Tasteninstrument erst befassen, nachdem ihm sämtliche Stimmen in einer leicht überschaubaren Form vorlagen. Die endgültige, dem Idiom des jeweiligen Instruments angepasste Fassung, die letztendlich erklang (wobei die Ausführung von Aufführung zu Aufführung variieren konnte), wäre demnach in den meisten Fällen schriftlich gar nicht fixiert. Nicht einmal die im Druck publizierten Tabulaturbücher enthalten immer fertige und spielbereite Fassungen. Im Tabulaturbuch Auff Orgeln vnd Instrument von Johannes Rühling sind zwar keine Werke mit mehr als sechs Stimmen enthalten, doch sind diese gleichermaßen (un)spielbar wie die in zahlreichen handschriftlichen Quellen. Der Herausgeber sieht einen Vorteil darin, die Werke so zu präsentieren, wie dieselben von den Autoribus im Gesang ohne Coloraturen gesetzt worden. Im Titel vermerkt er, dass jeder Organist solche Tabulatur auff seine Application bringen/ vnd füglich brauchen kann.19 In ähnlicher Weise erklärte Johannes Woltz in der Vorrede zu seiner Nova mu-sices organicae tabulatura von 1617: Dieweil aber ein jeder sein sondere application/ Coloraturen und Mordanten auff dem Clavier hatt; so hab ich diese stuck ohn alle 18 Johann Kortkamp Organistenchronik, Hamburger Staatsarchiv, Archiv St. Gertruden, Hs. 1702-1718. Zit. nach Liselotte Krüger, "Johann Kortkamps Organistenchornik, eine Quelle zur hamburgischen Musikgeschichte des 17. Jahrhunderts," Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 33 (1933): 206. 19 Johannes Rühling, Tabulaturbuch Auff Orgeln vnd Instrument (Leipzig: Johannes Beyer, 1583; Stuttgart: Cornetto-Verlag, 2002), Titelblatt. Coloraturen setzen/ vnd einem jeden seines beliebens solche damit zu adorniren frey stellen wollen.20 Die auf einem Tasteninstrument dargebotene Vollstimmigkeit der Vokalvorlage scheint durchaus erwünscht gewesen zu sein. Elias Nicolaus Ammerbach sieht in der vollkommenen und unzerstümmelten Harmonia,21 welche lediglich auf der Orgel und anderen Tasteninstrumenten realisierbar ist, geradezu ein Ideal. Gelegentlich sind in den archivalischen Quellen auch Beschreibungen zu finden, die diese These bekräftigen. So stellte man im Jahr 1645 dem Schweriner Hoforganisten Methusalem Neuhausen ein Zeugnis aus, in dem behauptet wurde, dass er [...] doch allem music-verstendigen unpassionirten ermessen nach in schlagung der moteten von 6. 8. biß 18 Stimmen, vnd anderen in Kirchen zu singen geziemenden newen Sachen, wie geschwinde selbige auch gesetzet seyn, guter maßen geübet ist.22 Obwohl es sich bei der letzten Stimmenanzahl wohl um einen Schreib- beziehungsweise Transkriptionsfehler oder zumindest um eine Übertreibung handelt, bekräftigt dieses Dokument eindeutig die Behauptung, dass die vielstimmigen Kompositionen auf der Orgel in irgendeiner Weise tatsächlich erklungen sind und dies von den Zeitgenossen als eine beachtenswerte Leistung bewertet wurde. Ungeachtet dessen, ob die Intavolierungen zum solistischen Spiel oder zur Begleitung der Sänger verwendet wurden, fand die spieltechnische Umformung der Vorlagen wohl erst unmittelbar auf dem Tasteninstrument statt. Die überlieferten Partituren in Tabulaturen wären demnach als alles andere denn starre Spielvorlagen zu betrachten. Das schließt gleichzeitig nicht aus, dass einige Tabulaturen auch zum Dirigieren,23 Komponieren, zum bloßen Studium der Musik oder noch zu weiteren Zwecken entstanden sind. Es sei jedoch erwähnt, dass im 17. Jahrhundert ebenfalls etliche Belege für die Verwendung einer Basso-continuo-Stimme beim Dirigieren zu ermitteln sind.24 Zweifellos handelt es sich bei Motettenintavolierungen um eine vornehmlich von den Organisten gepflegte "Gattung', welche in den Gottesdienstordnungen einen festen Platz innehatte. Bei der Begleitung des Sänger-Chors wurde für gewöhnlich nicht die große Orgel auf der Empore eingesetzt, sondern man zog kleinere Tasteninstrumente heran. Dies 20 Johannes Woltz, Nova musices organicae tabulatura (Basel: Johann Jacob Genath, 1617; Bologna: Forni Editore, 1970), fol. )( nj". 21 Elias Nicolaus Ammerbach, Orgel oder Instrument Tabulatur (Leipzig: Jacob Berwalds Erben, 1571), fol. )(iijv. Siehe Faksimile in Elias Nicolaus Ammerbach, Orgel oder Instrument Tabulaturbudh (1571/83), hg. Charles Jacobs (Oxford, 1984), LXIII. 22 Schreiben des Domstiftes zu Schwerin an den Herzog Adolf Friedrich von Mecklenburg-Schwerin vom 27. 12. 1645, Staatsarchiv Schwerin, Akten über die Organisten des Domes zu Schwerin. Zit. nach Walter Haacke, "Der Buxtehude Schüler F. Schaumkell und seine Orgel in Schwerin," Musik und Kirche 40 (1970): 111. 23 [...] wie ich dann unterschiedliche Directores gekennet/ die ihre Partituren in teutsche Tabulatur gesetzet/ und daraus gesungen/ und dirigiret. Andreas Werckmeister, Musicalische Paradoxal-Discourse, Oder Ungemeine Vorstellungen, Wie Die Musica einen Hohen und Göttlichen Uhrsprung habe, und wie hingegen dieselbe so sehr gemißbrauchet wird (Quedlinburg: Theodor Philipp Calvisius, 1707). Siehe Faksimile in Andreas Werckmeister, Hypomnemata musica (1697) zusammen mit Erweiterte und verbesserte Orgel-Probe (1698), Cribrum musicum (1700), Harmonologia musica (1702), Musicalische Paradoxal-Discourse (1707) (Hildesheim: Georg Olms, 1970), 72. 24 Siehe beispielsweise die Vorrede zu Triades Sioniae von Christoph Demantius (Frieberg: Melchior Hoffman, 1619), fol. 3v. Im Jahr 1626 beschrieb Nicolaus Gengenbach in seinem Traktat Musica nova den Basso continuo folgendermaßen: Ist eine sonderliche newe erfunden Stimme/ welche durch das gantze Stück das Fundament führet/ vor Organisten/Lautenisten/ etc. daß sie daraus/ gleich obs das Concert oder Moteta abgesetzt/ gar künstlich mit einschlagen (spielen) können. Item/ er ist gantz bequem vor Chori Directores, wenn er abgeschrieben wird. Nicolaus Gengenbach, Musica nova (Leipzig: Elias Rehefeld und Johann Grosse 1626; Leipzig: Kassel, 1980), 146f. ist beispielsweise für die Lüneburger St.-Johanniskirche dokumentiert, wo man um die Mitte des 17. Jahrhunderts ältere Schüler der Lateinschule als Regalisten beschäftigte. Die Bezeichnung bedeutet allerdings nicht, dass zwangsläufig auf dem Regal gespielt wurde. Laut einer Supplication des Kantors Michael Jacobi von 1652 soll ein guter Regalist den General Bass aufs Positiv richtig führen, diesen alle Wochen selbst durchstimmen und waß in absetzung vom Kantor dargereichet wird, zupapier bringen und allemahl bereit seyn.25 Die Handschrift Mus. ant. pract. K.N. 207/3 der Lüneburger Ratsbibliothek scheint laut Untersuchungen von Curtis Lasell von dem an der dortigen St.-Johanniskirche tätigen Regalisten Joachim Dralle zu stammen.26 Falls die Aufzeichnungen tatsächlich zu diesem Zweck entstanden sind, bekräftigen diese partiturartigen und dem Notenbild zufolge unbequem spielbaren Übertragungen von mehrchörigen Vokalwerken die Behauptung, dass sich die Umformung der Vorlage erst auf dem Instrument, nicht jedoch auf dem Papier ereignete. 3. Von der Beschaffenheit der Tabulatur Die Buchstabentabulatur blieb im deutschsprachigen Raum nicht ohne Grund durch das gesamte 17. und mancherorts gar bis ins 18. Jahrhundert in Gebrauch. Ihre Langlebigkeit lässt sich keineswegs bloß durch die Uneinsichtigkeit der konservativen Musiker erklären. Dieses Notationssystem gewährleistet nämlich die Bewahrung der Stimmführungen in einzelnen Stimmen, ist gegenüber den Partituren mit Liniensystemen jedoch beträchtlich platzsparender.27 Selbst Friedrich Erhard Niedt, der sich im ersten Teil seiner Musikalischen Handleitung von 1710 abweisend über die verdrießliche Tabulatur äußerte, griff damit nicht die Notation, sondern die Pappiernen Organisten an, welche nichts von den Fundamenta der Musik verstehen und bloß die aufgeschriebenen Stücke aus der Tabulatur zu spielen in der Lage seien.28 In notationstechnischer Hinsicht ist dieses System seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts mehr oder weniger normiert. Nichtsdestotrotz ist in jeder einzelnen Tabulaturquelle auch ein individuelles Herangehen des jeweiligen Schreibers festzustellen, welches besonders stark in der Darstellung des Metrums und des Rhythmus zum Vorschein kommt. Der Gebrauch der Rhythmussymbole ist in der deutschen Buchstabentabulatur weitgehend einheitlich: unabhängig vom Mensurzeichen wird mit dem Punkt immer die Brevis angezeigt, mit dem geraden Strich die Semibrevis 25 Michael Jacobi, Musicalische .Supplication (Konzept) vom 15. Dezember 1652, Stadtarchiv Lüneburg, Nachlass W Vogler, Nr. 106. Zit. nach Horst Walter, Musikgeschichte der Stadt Lüneburg. Vom Ende des 16. bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts (Tutzing: Hans Schneider Verlag, 1967), 173. 26 Vgl. Curtis Lasell, "Vocal Polyphony in the Lüneburg Tablatures: A Double Repertory of Solo Orgal Literature and Accopanimental Absetzungen," in Paul Walker, hg., Church, Stage and Studio. Music andIts Context in Seventeenth-Century Germany (London: Ann Arbor, 1990), 244 und 255. 27 [...] ein jeglichs Blätlein Papier ist genug/ eine Composition drauff zuzeichnen. Dernach/ was allhier eng/ vnd mit einem geringen spacio geschrieben wird/ muß dorten (verstehe in den Noten) drey oder viermal grösser spacium oder Raum von nöthen haben. Johann Andreas Herbst, Musica Poética, Sive Compendium Melopoéticum (Nürnberg: Jeremia Dümler, 1643), 33. 28 Friedrich Erhard Niedt, Musicalische Handleitung Oder Gründlicher Unterricht, Erster Theil (Hamburg: Benjamin Schiller, 1710; Oxford: Clarendon Press, 1989), Einführung. und bei den kleineren Notenwerten kommen Fähnchen zum Strich hinzu. In manchen Tabulaturbüchern wurde ein Rastersystem erstellt, bei dem in ein Kästchen Notenwerte im Gesamtumfang einer Brevis, also zwei Semibrevis des geraden Takts (integer valor) eingetragen werden. Hier lässt sich vom Tempus-Abstand beziehungsweise von den Tempora sprechen, wie beispielsweise vom deutschen Musiktheoretiker Nikolaus Gengenbach im Traktat Musica nova von 1626 erläutert wurde: TEMPUS, bedeutet in der Musica zweene Tactus, als wenn ein Organist seine Tabulatur/ oder ein Componist seine Partitur in Tempora eintheilet/so machet er allezeit nach zween Schlägen einen Strich durch die Linien: Inmassen auch heutiges Tages der Bassus continuus in Tempora eingetheilet wird?9 Die Verwendung der Tempus-Striche ist nicht bindend. Sie fehlen meistens in den Gebrauchshandschriften, die ohne repräsentativen Anspruch erstellt wurden. Regelmäßig sind in den Quellen nach der Dauer einer Semibrevis jedoch mehr oder weniger deutliche Leerräume vorhanden, die den Tactus-Abstand anzeigen. Nicht uninteressant ist, dass in den Handschriften mit Liniensystemen aus dem deutschsprachigen Raum bei den Intavolierungen von Vokalmusik keine Tempora sondern Tactus-Striche verwendet werden (Abbildung 1). Abbildung 1: Iacobus Handl-Gallus, Alleluia. [Cantate Dominuo canticum novum], Bayerische Staatsbibliothek München, Musikabteilung, Signatur: Mus.ms. 4480, fol. 42r. Die Gruppierung von metrischen Einheiten variiert von Quelle zu Quelle und ihre Darstellung scheint stark vom Herangehen des jeweiligen Schreibers abhängig zu sein. Das Verfahren veränderte sich im Laufe der Zeit nicht. Die Abweichungen dieser Art sind in zeitlich weit auseinanderliegenden Handschriften zu konstatieren und die geographische Komponente spielt ebenfalls keine Rolle. Der individuellen Handhabung obliegt auch die Teilung der langen Notenwerte. Falls der Notenwert über die Dauer einer Tempus-Einheit hinausgeht, wird er entweder aufgeteilt und mit Bindebögen versehen oder auch entsprechend der Vorlage ohne Rücksicht auf die Gruppierung von metrischen Einheiten unverändert beibehalten. Gelegentlich werden die langen Noten aufgeteilt, jedoch nicht mit Bindebögen oder sonstigen Zeichen versehen. Es bleibt ungeklärt, ob hier das Nachschlagen der Tasten Gengenbach, Musica nova, 137. 29 gewollt ist und dies auf die Verwendung von besaiteten Tasteninstrumenten hindeutet. Es könnte sich auch um bloße Inkonsequenzen handeln. Da beinahe die gesamte Motettenliteratur des späten 16. Jahrhunderts in Alla breve (Tempus imperfectum diminutum) notiert ist, wird dieses übliche Mensurzeichen in den Tabulaturquellen häufig ohne explizite Angabe vorausgesetzt. Für mehr Unklarheit sorgt die Darstellung von ungeraden "Takten'. Diese sind in den Tabulaturen oft erstaunlich uneinheitlich und gar willkürlich übertragen. Die Notierungsart solcher Stellen variiert nicht bloß von Quelle zu Quelle, Abweichungen können oft sogar innerhalb ein und derselben Handschrift auftauchen. Auch hier spielt der geographische und zeitliche Aspekt keine Rolle und sogar ein und dieselbe Vorlage wird in verschiedenen Quellen unterschiedlich notiert. Die Intavolatoren weichen unabhängig voneinander an gleichen Stellen von der Vorlage ab, interpretieren diese Abschnitte jedoch auf verschiedene Arten und gelangen somit zu uneinheitlichen Lösungen. Es kommen allerlei Varianten und verschiedenste Interpretation der Dreier-Takte vor. Oft bleiben die Notenwerte unverändert, der Schreiber verwendet jedoch eine von der Vorlage abweichende Mensurbezeichnung. Immer wieder werden die Notenwerte aber auch halbiert oder sogar zweifach halbiert und sind entweder mit einem veränderten oder einem unveränderten Mensurzeichen versehen. Das eingesetzte Zeichen steht oft in keiner nachvollziehbaren Relation zu den verwendeten Notenwerten. Das Vorgehen lässt sich durch kein bekanntes theoretisches Regelwerk des 16. und 17. Jahrhunderts erklären. Die Gründe dafür liegen vermutlich gerade in der unterschiedlichen Auffassung der Mensuralnotation, deren Regelement sich bereits in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu lockern begann und im Verlauf des 17. Jahrhunderts offensichtlich völlig in sich zusammenbrach. Die notierten Mensur- beziehungsweise Taktart-Zeichen entsprechen weder der Mensurallehre noch sind sie als Taktarten im modernen Sinne zu deuten. Es scheint sich eher um völlig pragmatische Lösungen und Deutungsversuche zu handeln, denen womöglich nicht allzu viel Bedeutung beizumessen ist. Bei den offenbar völlig willkürlich tradierten Stellen lassen sich so auch die möglichen Auswirkungen auf die Ausführung nicht nachvollziehen. Um über diese Problematik jedoch endgültige Aussagen treffen zu können, wäre erst eine lückenlose statistische Auswertung der entsprechenden Stellen im Vergleich mit den originalen Vokalvorlagen erforderlich. 4. Exemplum: Tabulaturbuch Mus. ant. pract. K.N. 210 der Ratsbücherei Lüneburg Durch einen glücklichen Umstand blieb in der norddeutschen Hansestadt Lüneburg eine Reihe von Musikhandschriften aus dem 17. Jahrhundert erhalten. Die Lüneburger Tabulaturbücher waren zwar bereits des Öfteren Gegenstand musikwissenschaftlicher Abhandlungen, sie sind als Ganzes jedoch noch nicht umfassend untersucht worden.30 Von den zwanzig vornehmlich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entstande- 30 Die Dissertation von Curtis Lasell an der Princeton University in USA (Origins of the Lüneburg Organ and Clavier-Tablatures) ist aufgrund des vorzeitigen Todes des Verfassers nicht vollendet worden und seine Materialien sind der Öffentlichkeit leider nicht zugänglich. nen Handschriften unterschiedlichen Umfangs enthalten acht unter anderem oder ausschließlich Intavolierungen der Figuralmusik. Darunter sind sowohl kunstvolle Bearbeitungen als auch schlichte Übertragungen der Vokalvorlagen in die Tabulatur vorhanden.31 Dieser Quellenbestand erweckt den Eindruck, Lüneburg wäre ein Zentrum der norddeutschen Orgelkunst gewesen. Vor voreiligen Schlüssen ist allerdings zu warnen, da zumindest einige Teile dieser Sammlung offenbar später von außerhalb in die Stadt gelangt sind. Für etliche weitere Orte in Norddeutschland kann man von ähnlichen musikalischen Gegebenheiten ausgehen, obgleich hier das entsprechende Quellenmaterial nicht erhalten ist. Die Tabulatur K.N. 210 des langjährigen Organisten der Lüneburger St.-Johanniskir-che, Franz Schaumkell, ist eine retrospektive, 78 Kompositionen umfassende Sammlung, die Intavolierungen von über ein halbes Jahrhundert alten Vokalvorlagen beinhaltet.32 Die Handschrift wurde hauptsächlich von Schaumkell zu Beginn der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts geschrieben, sie enthält aber auch einige Eintragungen eines bisher nicht identifizierten Schreibers, möglicherweise eines Schülers von Schaumkell. Die Quelle ist in intavolierungstechnischer Hinsicht äußerst vielfältig. Neben genauen Übertragungen sind darin mäßig bis reich kolorierte Intavolierungen und einige freie Clavierkompositionen (zwei Fugen und ein kurzes Praeambulum) vorhanden. Die zwei kunstvollsten Stücke wurden nicht von Schaumkell selbst angefertigt, sie sind Abschriften der Motettenkolorierungen von Heinrich Scheidemann.33 Während der anonyme Schreiber den meist genauen Übertragungen der Vorlagen den Gesangtext unterlegte (bei den mehrchörigen Werken lediglich dem tiefen Chor) und es sich hier um Begleitpartituren für den Regalistendienst handeln könnte, sind die Intavolierungen von Schaumkell untextiert. Sie weisen in der Regel grifftechnisch bedingte Umformungen der Vorlagen auf, beispielsweise eine Auflösung der Schnittstellen bei mehrchörigen Kompositionen durch Pausen, was ein durchgängiges Spielen des gesamten Satzes ermöglicht.34 Die Dichte der hinzugefügten Kolorierungen variiert von Motette zu Motette stark und es stellt sich durchaus die Frage, warum diese an einigen Stellen akribisch ausnotiert sind, während der Schreiber an anderen darauf völlig verzichtete. Wie Curtis Lasell zeigte,35 sind solche Intavolierungen in K.N. 210 kaum als Dirigier- oder Begleitvorlagen zu sehen. Es handelt sich tatsächlich um Werke für das Solospiel. Es ist bekannt, dass Franz Schaumkell sein Einkommen durch die Erteilung von Musikunterricht aufbesserte.36 Beim Tabulaturbuch K.N. 210 könnte es sich im weitesten Sinne auch um ein Lehrbuch oder zumindest um eine Sammlung von Lehrexempeln handeln. Anhand der darin notierten Werke werden nämlich neben genauen Transkriptionen 31 Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Auflage, "Lüneburger Tabulaturen," Sp. 1513-1516. 32 Nicht nur in Lüneburg legte man um die Zeit einen konservativen Musikgeschmack zutage. Die Geistlichkeit ermahnte hier noch 1670 den fortschrittlich gesinnten Kantor Friedrich Funcke, dass er einen delectum der Moteten halten soll, und nicht so bald was neües eingeschickt wird. Zit. nach Walter, Musikgeschichte der Stadt Lüneburg, 109. 33 Nr. 18 und Nr. 42 (Zählung nach Johnson, Vocal Compositions in German Organ Tablatures, 89 und 91.) 34 Siehe beispielsweise die Intavolierung der Motette Maria Magdalena et altera Maria, K.N. 210, Nr. 34, transkribiert in Iacobus Händl - Gallus, Priredbe skladb zaglasbila s tipkami / Compositions in Keyboard Intabulation, hg. v. Marko Motnik, Monumenta artis music® Sloveni®, Nr. 31 (Ljubljana: ZRC SAZU, 2009), 31-40. 35 Curtis Lasell, "Vocal Polyphony in the Lüneburg Tablatures: A Double Repertory of Solo Organ Literature and Accompanimental Absetzungen," Church, Stage, and Studio. Music and Its Contexts in Seventeenth-Century Germany, hg. Paul Walker (London: Ann Arbor, 1990), 234-241. 36 Vgl. Walter, Musikgeschichte der Stadt Lüneburg, 123f. und kunstvollen Bearbeitungen auch etliche Zwischenstadien des Intavolierungspro-zesses veranschaulicht, die den Umgang mit unterschiedlichen Vorlagen auf dem Weg zu einer vollendeten Motettenintavolierung demonstrieren. In dieser Hinsicht ist der Quelle zweifelsohne ein besonderer Wert zuzusprechen. Das Tabulaturbuch K.N. 210 weist auch bei der Übertragung von ungeraden Takten in der ersten Hälfte des Buches äußerst unterschiedliche Verfahren auf. Hier findet man Gruppen von drei Semibreves mit dem Zeichen 3/2, Gruppen von drei Minimae mit Alla breve mit 3/2 beziehungsweise Alla breve mit 3, sowie Gruppen von drei Semiminimae mit dem Zeichen 3/2 und öfters mit 3 (siehe Beispiele in Abbildung 2).37 Abbildung 2: Auszüge der Intavolierungen in der Orgeltabulatur von Franz Schaumkell, Ratsbücherei der Stadt Lüneburg, Signatur: K.N. 210: 1. Hans Leo Hassler, A Domino factum est, f. 7v, 2. Hieronymus Praetorius, Domine Dominus noster, Secunda pars, f. 11v; 3. Iacobus Handl-Gallus, Exultate Deo, f. 60v. 37 In anderen Tabulaturbüchern ist noch eine Reihe von weiteren Varianten zu konstatieren. Im zweiten Teil des Buches setzt sich die letzte Übertragungsart (drei Semiminimae mit dem Zeichen 3) durch. Falls die Seiten des Buches tatsächlich sukzessive und fortdauernd ohne große Sprünge beschrieben worden sind - das ist in den zeitgenössischen Handschriften nicht unbedingt die Regel - könnte das bedeuten, dass der Schreiber im Laufe der Arbeit letztendlich einen für sich gültigen Modus für die Übertragung der ungeraden Takte gefunden hat. Der Schritt zum modernen 3/4-Takt ist ab hier nicht mehr weit. Schlusswort Bevor ich zu solchem Vermögen gelanget war, ließ ich mich auf dem Clavier unterrichten; gerieth aber zum Unglück an einen Organisten, der mich mit der deutschen Tabulatur erschreckte, die er aber so steiff spielte, wie vielleicht sein Grosvater gethan, von dem er sie geerbet hatte,38 vermerkte Georg Philipp Telemann in seiner Autobiographie, richtete damit seine Kritik jedoch nicht an die Tabulatur als Notationssystem. Auch Friedrich Erhard Niedt kritisierte, wie oben gezeigt, eher das Festhalten an der schriftlich fixierten Musik denn die Tabulatur als solche. Andreas Werckmeister sah sich trotz aller Skepsis noch im Jahr 1707 dazu verpflichtet, eine Vereinfachung der Tabulaturschrift vorzuschlagen.39 Selbst Michael Praetorius, der in seinen Syntagma musicum nicht müde wird die Vorzüge der Generalbass-Praxis zu rühmen, musste schließlich den Organisten zugestehen, die Kompositionen in die Buchstabentabula-tur - welche an jhme selber richtig/gut/ leicht vnd bequemer ist/ nicht allein daraus zu schlagen/sondern auch daruff zu Componieren - abzusetzen.40 Das Festhalten an der Tabulaturschrift mit all ihren Vorteilen und Unzulänglichkeiten ist eng mit der Pflege der auf die Tasteninstrumente übertragenen polyphonen Vokalmusik verknüpft und blieb interessanterweise ebenso lange in Gebrauch wie dieses Repertoire. Die neueren Forschungen zeigen allenfalls eindeutig, dass ebendiesem Repertoire in der Organistenpraxis des 16. und 17. Jahrhunderts ein weitaus höherer Stellenwert einzuräumen ist als bisher wahrgenommen. 38 Georg Philipp Telemann, Selbstbiographie, in Johann Mattheson, Grundlage einer Ehren-Pforte, woran der tüchtigsten Capell-meister, Componisten Leben, Wercke erscheinen sollen (Hamburg: In Verlegung des Verfassers, 1740; Berlin: Liepmannssohn, 1910), 356. 39 Werckmeister, Musicalische Paradoxaldiscourse, 70. Michael Praetorius, Syntagmatis musici, tomus tertius (Wolfenbüttel: Elias Holwein, 1619; Kassel: Bärenreiter-Verlag, 2001), 146 (recte 126). Povzetek Iz arhivskega materiala iz 16. in 17. stoletja je v nemško govorečih deželah jasno izpričano igranje motetov na glasbilih s tipkami (Motetten-Schlagen). Cerkvene odredbe pogosto zahtevajo, da organist v ta namen intabulira vokalne skladbe in jih igra pri bogoslužju v skladu s cerkvenim letom. Ta praksa je bila očitno tesno povezana s petjem. Orgle zbor spremljajo, oziroma organist naj kompozicijo solistično igra pred ali po vokalni izvedbi. Orgle torej ne delujejo samostojno in ne nadomeščajo pevcev. Večina intabulacij v številnih tabulaturnih knjigah je očitno nastala v ta namen, čeprav v teh prepisih pogosto ni zaslediti nobenih posegov v strukturo stavka. Večino intabulacij ni mogoče izvajati tako, kot so zapisane. Zdi se, da je organist vokalno predlogo za igro na inštrumentu priredil šele med igro samo in dokončna verzija torej ni zapisana. Tabulatura, ki namesto not uporablja črke (imena tonov), je notacijski sistem, ki se odlično prilega notiranju polnoglasnih vokalnih kompozicij. V uporabi je bila vsaj do konca 17. stoletja, torej prav tako dolgo kot dela tako imenovane vokalne polifonije. V posameznih virih vedno znova zasledimo notacijske posebnosti in značilnosti, ki odražajo individualno postopanje posameznih piscev s tem sistemom. To velja tudi za metrično notiranje tridobnih mest, ki so ne glede na čas in kraj nastanka vira pogosto nedosledno prenešena v tabulaturo. Eden izmed razlogov za to je morda razpad menzuralnega notacijskega sistema ob koncu 16. stoletja. V tabulaturah zapisane tridobne skupine torej ne ustrezajo več proporcionalnemu sistemu menzuralne notacije, khrati pa še niso taktovski načini v modernem pomenu.