FRIEDRICH WOLF: CYANKALI D a s n e u e Drama Band I 1. bis 10. Tausend CYANKALI §218 von FRIEDRICH WOLF 1929 INTERNATIONALER ARBE1TER-VERLAG BERLIN WIEN ZORICH F ii r Constanze Menz 48928 Den Biihnen gegeniiber als Manuskript gedruckt Auf- fuhrungsrecht durch den Chronos-Verlag Berlin W 9. Alle anderen Rechte, insbesondere die des Nachdrucks und der Uebersetzung, vorbehalten. Copyright 1929 beirn Internatio- nalen Arbeiter-Verlag G. m. b. H., Berlin G 25. Einband: Keilson. Einbandbild: Elli Markuš, Atelier fiir Photographie. Druck: Peuvag, Abt. Friedrichstadt-Druckerei, Berlin C 25, Kleine AlesanderstraBe 28. „Am Abend des 6. Juni warf eine Frau M. Pr. ihre ziveijahrige Tochter Marie and ihren halbjahrigen Sohn Reinhold in die Spree. Passanten verhinderten, da/3 den drei altesten Kindern das gleiche geschah.“ Dr. Aliče Vollnhals, die Leiterin der Schtvangeren- fursorge der Krankenkassen Berlins, kommt in einem Bericht uber diesen Fali zn dem Ergebnis: „Die Verziueiflungstat einer Mutter hat die Oeffent- lichkeit aufgeivuhlt; aber wie oft sind Mutter, gute, sanfte Frauen, ebenfalls am Rande eines Abgrundes! Gibt es da keine toirkliche Hilfe? Doch! Geburten- regelung im meitesten Sinn des Wortes, Zerstorung der Unmissenheit in diesen Dingen!“ („Berliner Tageblatt“ vom 26. Juni 1928.) „Hier starb unter auffallenden Umstanden ein 11 jdhriges Madchen innerhalb einer Stunde. Eine amtliche Untersuchung ergab einen unerlaubten Ein- griff zur Abtreibung der Leibesfrucht. Die Mutter der Verstorbenen ivurde unter dem Verdacht der Beihilfe in Haft genommen.“ („Schwabische Tag- wacht“ vom 21. Mai 1929.) . . dort lernte er die Kassiererin M. F. kennen. Als nun die F. toieder in andern Umstanden toar, machte er auf deren eigenes Betreiben einen Abtrei- bungsversuch. Dabei molite er von dem Sanitats- 5 sergeanten A. den Rat erhalten haben, er solle die Abtreibung mit C g an kali beiverkstelligen. Die F. ist dann an dem Gift nach schmerem Todeskampf gestorben.“ („Suddeutsche Arbeiter-Zeitung“ vom 1. Marž 1929, Bericht iiber die Verhandlung des Schmurgerichts Augsburg, Mordprozefi G.) Der 45. Deutsche Aerztetag in Eisenach schatzt die Zahl der jdhrlichen Abtreibungen in Deutschland auf cine halbe Million bis 800 000, darunter 10 000 Todesfalle (!) und 50 000 Erkrankungen. „Man rechnet in Deutschland jahrlich mit 50 000 Erkran- kungsfallen nach Fehlgeburten.“ (Berichterstatter Lonne im Preuftischen Landesgesundheitsamt.) „Ich uerstehe nicht, d a (J die armen, arbeitenden Klassen ein so schreckliches Leben fiihren miissen, mahrend die Reichen, die Kinder haben konnten, entmeder keine oder nur ein paar haben. Ich molite, ich konnte mich auf die Dacher stellen und den armen Frauen verkunden, mas sie tun mussen.“ (Brief einer Nemgorker Arbeiterin an die Fur- sorgerin von Nemgork, Margaret Sanger, aus „Zmangsmutterschaft“.) „Eine Schmangere, melche ihre Frucht vorsalzlich abtreibt oder im Mutterleib totet, mird mit Zucht- haus bis zu fiinf Jahren bestraft. Dieselben Bestim- mungen finden auf denjenigen Anmendung, melcher mit Einmilligung der Schmangeren die Mittel zur Ab¬ treibung oder Totung bei ihr angemendet hat.“ (§ 218 des Strafgesetzbuchs fiir das Deutsche Reich.) 6 PERSONEN: MUTTER FENT, Arbeiterwitwe HETE, ihre Tochter PAUL, Heizer PROSNIK, Hausverwalter KUCKUCK, Zeitungsverkaufer MAX, Metallarbeiter FRAU KLEE, Arbeiterfrau Dr. MOELLER, Arzt MADAME HEYE KRIMINALKOMMISSAR KRIMINAL WACHTMEISTER EINE DAME EINE ARREITERIN 7 I. Kuche bei MUTTER FENT: Tisch, Bank, Hocker, Herd. An der Ruckivand eine alte Chaiselongue; daruber V ergrofierung eines Photos von Vater F&nt mit Medaille „Fiir 25jahrige trene Dienste“. Aus- gange zum Flur and zur Kammer. Abend. Eine elektrische Birne brennt. HETE, 20 jahrig, kocht am Herd, nimmt dann drei bis vier Paar Kinderstiefel and beginnt sie za reini- gen. — FRAU KLEE, 30 jahrig, mit sackartig hoch- gebundener Schurze, sitzt auf der Bank. FRAU KLEE schnuppernd: Dachhase oder Hottehii? HETE: ’n Hammelstiick. FRAU KLEE: Wie vornehm du das sagst: ,,’n Ham- melstiick"; davon laufen einem ja allein schon die Appetitstrippen zum Munde raus! Hete, sag mal, spielt ihr in der Lotterie? HETE: Wir arbeiten. FRAU KLEE: Das klingt auch wieder so nobel, Hete; alles an dir ist nobel; bist ’ne Sondernummer: wo du jetzt ruffgerutscht bist vom Packraum iibers Sortierband zum Biiro . . . Mensch, dir steht noch 9 GroBes bevor! Das laB dir von der Minna Klee sagen, die es nicht so weit gebracht bat, sondern nur zu drei kleinen Ratten und zu 'nem Syfong von Mann, der sauft, weil ihm’s Elend zum Halse raus- hangt, und der keinen Kies bat, weil er stem- peln mufi. HETE: Hast du denn keinen EinfluB auf ihn, Minna? FRAU KLEE: „EinfluB auf ihn . . das klingt alles so vornehm, Hete! Aber du verstehst ja nichts vom Leben! Sieh mal, Hete, wenn du die Biiros flimmern darfst, so ist das ’ne absolut sichre Sache. Ob Streik oder Aussperrung, auf den Biiros ist immer Betrieb. Du bist also Dauerverdiener! Warum? Weil die Herren vom Biiro . . . HETE: Wen Zuverlassiges brauchen. FRAU KLEE: Ich sage: weil die Herren vom Biiro was Sauberes brauchen fiir die Pupille . . . HETE aufstehend: Ach Quatsch! FRAU KLEE: Tu dich nicht so, Madchen! So ’ne Visage wie deine, so ’ne Figur, das ist ’n Kapital! Aber du merkst ja gar nicht, was die Manner fiir Stielaugen machen, wenn du abends heimgehst. Du, mir wird ganz schwach . . . von dem Braten- parfong . . . HETE legt ihr ein Stuck mit ein paar Kartoffeln auf. Ah, das schmilzt einem direkt auf der Zunge . . . i[it mit ganzer Wucht, hat, ivahrend HETE sich herumdreht, schnell Brot- stiicke, Kartoffeln und ein Ei in den Schurzensack 10 gesteckt. GroBartig bei euch, Hete, der reinste Konsum! HETE: Weil der Paul fiir Mutter ’nen Braten ge- bracht? FRAU KLEE: Der Paul, ja der Paul, der ist knorke; bat wohl immer Schicht? HETE: Na, der ist doch gelernter Heizer. Die Oefen blasen sle so schnell nicht aus, auch wenn mal zwei Wochen gefeiert wird. FRAU KLEE: Habt ihr Dusel, Kinder! Wenn mein Oller nur so ware; aber nur saufen und Balger machen, und nun kommt schon’s vierte . . . Schrille, es kommt PAUL, ein kraftiger 25jahriger Arbeiter, mit Paket und Heizerrolle. Er wirft das Paket mit Wurst, Buchsenmilch, Zucker, Rollmopsen, Kakao auf den Tisch. FRAU KLEE: Paul! Mensch! Betriebsstoff! PAUL ivirft Sachen auf den Tisch: Los! Tanken, tanken, tanken! FRAU KLEE: Junge, Junge! Knuffig! Schlack- wurst, Edamer! Woher? PAUL: Kantine. Gibi ihr. Da, Minna, aber fiir die kleinen Ratten! Hau ab jetzt! Zu Hete: Was macht Mutter? Rollmopse, Bohnenkaffee, Buchsenmilch, . . . bin nebenbei Vertrauensmann im Werk ge- worden, Kantinenbulle! FRAU KLEE: So’n Schweinedusel! Jetzt wird wohl ausgeteilt, was wir ringezahlt! PAUL: Pause, Minna! Die Kantine ist uns anver- traut, halbe . . . halbe, da machen wir keinen Sau- stall draus! Da haste nočh was Zucker und Kakao. S t i in m e aus der Kammer: „Paui! Paul! Gib nicht alles weg!“ 11 Keine Bange, Mutter! Fiir deine vier bleibt auch noch genug! Los, Hete! Nimmt einige Sachen, mit HETE in die Kammer. FRAU KLEE will hinaus, bleibt unentschlossen stehen, nimmt dann schnell noch eine Dose Buchsen- milch vom Tisch: Fiir die kleinen Ratten, Paul, boršte! Schnell ab. HETE und PAUL aus der Kammer. HETE: Das bringt Muttern wieder auf die Beine. PAUL: Die ist ja vor lauter Hunger schlapp, weil sie fiir die Balger sich alles vom Munde abknappst. Vor der Bank, nimmt ein Paar kleine Stiefel. So vier Paar, und die Minna hat drei. . . . Du, Hete, es werden manche bald ihr Brot drei- und viermal durchbrechen miissen. . . . HETE: SchluB, Paul! Jetzt biste nicht in ’ner Ver- sammlung! PAUL: Richtig! Packt sie, setzt sich mit ihr. Du, Hete, unten bei den Stahhverken, da wackelt’s, die Gewerkschaft hat den Tarif gekiindigt . . . mir kann ja nichts passieren, keine Bange, ich bin Spezial- arbeiter, verstehste, „werkstandig“; drum haben sie mich ja auch in die Kantinenkommission gewahlt. — Du, kann ich die Stiefel runtertun? HETE: Klar. Fa/3t an. PAUL: Weg, lachend, Genossin! Zieht sie aus, streckt sich. Junge, das ist dufte, ... so auf Striimpfen, auf dem kiihlen Boden, fast wie auf Gras. . . . Geht auf und ab. Das richtige Ver- gniigen, wenn man den ganzen Tag auf den heiBen Stahlplatten geklebt hat . . . und der Radau von der 12 Fabrik, verstehste . . . hier ist mal Ruhe, Hete . . . Nimmt sie. Schritte. Man hort eine S ti m in e, die singt: „Wenn alte Voglein schweigen, dann ruft der Kuckuck immer noch: Tagblatt! Illustrierte! Das Magazin! Elegante Weltl Das groBe Los ist hier zu zieh’n . . Der KUCKUCK, ein 45 jahriger Mann mit einer Soldatenmutze, Litewka und Zeitungsmappe ist eingetreten. KUCKUCK: Da lachen selbst die Blattlause: Hurra! Der Kuckuck ist da! Ablegend. ’n Abend, fromme Gemeinde! PAUL: So friih, Kuckuck? KUCKUCK, auf seine Mappe: Ausverkauft! Leer- gepickt wie’n Ei! Stand auch was drin in den Blat- tern, wartet mal: In Mexiko die Aufstandischen bei Tampico eingeschlossen, USA.-Fluggeschwader an der Grenze massiert . . . Bird und Raillay haben neue Goldlager am Siidpol entdeckt, England erhebt Protest . . . HETE setzt ihm Kaffee mit Brot und Kartoffeln vor: Mahlzeit, Kuckuck! Wollen in die Klappe. KUCKUCK, essend: So eilig heute die jungen Leute, na ja . . . verstandlich . . . aber es kommen noch andere Sachen: Im Simplontunnel ein Zug in Brand geraten, Schreckensszenen, 15 Tote. ... Li da Gita bricht den 68 stiindigen Dauertanzrekord zwischen zwei Klavieren . . . Krupka, der Stier von Ham¬ burg, zieht Schonrath schon im ersten Gang Blut aus der Nase, schlieBt ihm im zweiten das linke Auge und schickt ihn mit einem klaten Kinnhaken ins Traumland! PAUL: Blode. 13 KUCKUCK: MuB wohl Paprika bringen! Liest essend: In Hull gigantische Gasexplosion, ganze StraBenziige eingestiirzt, bis jetzt 120 Tote gemeldet . . . was! . . . Uebrigens ist die Eckert mit ihren zwei Balgern ins Wasser gegangen, das dritte war unterwegs. . . . HETE: Die Eckert . . . wo der Alte stempeln geht? KUCKUCK: Was soli sie machen? . . . Willst du mit fiinf Maulern leben bei 20 Mark die Woche? Nicht fiir ’nen Wald voli Affen! Stille. Kuckuck steht auf, nimmt seine Mappe. Den „Sportbericht“, Paul? PAUL haut’s ihm aus der Hand: Scheifiblatter! KUCKUCK: Nicht solche Bogen gespuckt, Paul . . . Gute Pension, hier . . . eBt mehr Obst, habt mehr Durchfall; morgen wieder! Singt im Abgehen: „Wenn alle Voglein schweigen, dann ruft der Kuckuck immer noch: Tagblatt, Illustrierte, Das Ma¬ gazin, Elegante Welt, das groBe Los ist hier zu zieh’n. Da lachen selbst die Blattlause.** — Stille. — PAUL ist nach links gegangen, kommt wieder zuriick. PAUL: Kommt heut niemand mehr? HETE: Nee. PAUL: Schlafen die Wurmer schon? HETE: Na klar, schon lange. PAUL: Schon stille ist’s jetzt hier. . . . HETE: Biste gern bei mir? PAUL: Ausgeschlossen! Ku/it sie. HETE: Paul, ich weiB ja; aber sag mir’s doch noch mal. . . . PAUL: Nicht fiir’n Groschen! Pr e [It sie an sich. Du . . . daB unsereins nirgends allein ist, iiberall tritt 14 man auf Menschen, auf Kinder, auf Werkzeug . . . das macht uns so schlapp und feige, daB wir uns alles stehlen miissen, alles. . . . HETE: Ich kann schon nicht mehr denken . . . mach’s Licht aus! PAUL: Ja. Geht zum Schalter. Nee, das merkt der drunten, der Prosnik; der sah mich raufgeh’n. HETE: Haste auch Moreš von dem Herrn Ver- walter? Leise: Du, Paul. . . . PAUL: Was ist denn? HETE: Paul, ich bin letzte Zeit so miide, so kaputt . . . dul! Es ist nicht mehr gekommen. PAUL: Wie? HETE, leise: Schon sechs Wochen ist’s wegge- blieben; das war noch nie . . . mir ist so schlecht. PAUL: Ausgeschlossenl HETE: So seid ihr! PAUL: Unsinn, Hete! Ich komm doch dafiir auf! HETE: Und wo soll’s hin? PAUL: In den Stali hier . . . HETE: Wo keine Luft, kein Platz, keine Ruhe, wo sie mit scheelen Augen auf jeden Bissen gucken? PAUL schiveigt, dann hoch: Viecherei auf dieser ScheiBwelt! Die andern haben Platz und Ruhe und wissen’s, wie man’s macht; aber uns hangt so’n ver- fluchter Balg . . . HETE halt ihm den Mund zu: Du solist es nicht verfluchen, Paul! PAUL schaut sie an: Heiliges Kanonenrohr, du hast’s wohl schon gerne? 15 HETE: Frag nicht so blode! Hor mal, Paul, ich glaube, wir kbnnen’s doch behalten, wo wir zwei beide jetzt verdienen. PAUL: Wo wir zwei „in gehobener Stellung“ sind. Schritte die Treppe hinauf. Beide horchen nach links. HETE reiflt sich los: Der Prosnik! PAUL: Verdammt. . . . K lop fen. Dann Stimme vom Flur: „Machen Sie aufl Ich weifi genau, wer bei Ihnen ist!“ — Stille. — Stimme vom Flur: ,,Ich rufe die Polizei!" — Stimme aus der Kammer: „Mach auf, Hete!“ — HETE offnet. — Von links kommt der Hausmeister PROSNIK, ein etwa 40jahriger, hinkender Mann; er bleibt stehen, hat seine Uhr gezogen und schaut in verhaltener Erregung auf PAUL. PROSNIK: Na? PAUL: ’n Abend. PROSNIK: Zehn nach Zehn! Um Zehn ist die Haus- tfir geschlossen! Verlassen Sie die Wohnung! PAUL: Sonst ist’s Ihnen wohl? Was wollen Sie denn iiberhaupt hier? HETE: Haben Sie die Kiiche gemietet oder wir? PROSNIK: GroBartig. Wie langes dir weh tut . . . Sie stehen raflos da. 32 in. Kiiche bei MUTTER FENT: Urn den Tisch sitzen: MUTTER FENT, FRAU KLEE, der KUCKUCK and HETE. Alle brocken schiveigend trockne Brot- stucke in ihre Kaffeetassen. FRAU KLEE: Ja, ja . . ., „schnell tritt der Tod den Menschen an“; ich sagte doch gleich, man solle die Witt nicht alleine lassen . . . die hatte ’ne ganz weiEe Nase, und in ihrer Pupille war ein Kreuz ... KUCKUCK: Nase hin, Pupille her, liebe Blattlaus . . . die Sache hangt mit den roten Blutkorperchen zusammen . . . wer die „Koralle“ liest, der weiB genau, daB der Mensch 5 Millionen rote Blutkorper¬ chen hat; fehlt aber davon ein Teil, sagen wir eine Million, so gibt zuerst die Leber ihre aufgespeicher- ten Blutzellen her . . . FRAU KLEE: Red keine Briihe, Kuckuck! Darum brauchte die Witt doch nicht 'ne Viertelstunde drauf aus dem 3. Stock ’nen Kopfsprung aufs StraBen- pflaster zu machen, daB man sie nachher zu- sammenrollen konnte wie’n Gasschlauch! KUCKUCK, brockt und trinkt: Minderwertigkeits- gefiihle. s 33 MUTTER FENT: Man soli ’ne Tote nicht be- schimpfen! KUCKUCK: Beschimpfen? Schiebt seine Tasse fort. Die Sache ist doch so: Wenn statt 5 Millionen Blut- korperchen infolge mangelnden Betriebsstoffes nur 3 Millionen da sind, so gibt zuerst die Leber ihre Vorrate her, das dauert so 2 bis 3 Wochen; dann in der vierten Woche kommen die Muskeln dran und schlieBlich der Herzmuskel, der wird dann immer diinner und schrumpft, weil die roten Blutkorper- chen . . . FRAU KLEE: Hdr auf mit deinen Blutkorperchen, olle Mistkrahe . . . Will der Geist entweichen schon, Trink die schwarze Volksbouillon! Gieftt Kaffee ein. MUTTER FENT: Wenn die Blutkorperchen aber nun immer weniger werden, dann . . . „schrumpft“ der Herzmuskel? KUCKUCK feierlich: Er schrumpft! MUTTER FENT unruhig: Hete, muBt du nicht aufs Bur o! HETE: Heut nicht. MUTTER FENT: Warum? FRAU KLEE: Den Morgen ist die ganze Direktion abgeriickt, als wurde sie schon in ’ner Stunde zu Hackepeter verarbeitet. KUCKUCK: Man konnte sich ’n Monogramm in den Hintern beiBen! Er legt den Kopf auf den. Tisch. ALLE sitzen da und briiten vor sich hin. FRAU KLEE und KUCKUCK, die ganz vorne 34 hocken, legen den Kopf auf die Arme, als wolllen sie schlafen; sie sprechen dann leise, ohne ihre Haltung zu andern. FRAU KLEE: Hast noch ’nen Brocken, Kuckuck? KUCKUCK gibt ihr aus der Tasche. FRAU KLEE: Zementsteine sind Butter dagegen. KUCKUCK: Nicht so schlingen, liebe Lerche! Har- tes Brot, macht Wangen rot! Gut im Mund herum- walzen . . . immer wieder von rechts nach links, von links nach rechts . . . sattigt enorm. FRAU KLEE: Kuckuck . . . mussen wir denn alle verrecken? KUCKUCK: Nicht alle . . . nein . . . hochstens ein Drittel oder die Halfte, verstehst du . . . und dann „verrecken“, das ist so eine eurer Uebertreibungen; die Organe trocknen ein bifichen ein, das Darmfett schwindet — soli iibrigens gesund sein gegen Gicht — und dann schrumpft die Leber und der Herz- muskel . . . FRAU KLEE: Und die Blutkorperchen! Springt auf; zu MUTTER FENT: Zur Kantine!! Zu Hessen will ich haben!! Wo sind denn die ali mit ihrer groBen Klappe, der Paul und der Maxe . . . HETE: Der Paul hat nicht so ’ne Revolverschnauze wie du; der handelt . . . FRAU KLEE: Jawohl, der handelt; der mimt Ord- nung, wenn uns die Rippen durch die Haut spieBen! Scheibenhonig alles, was ihr da quasselt! Es gibt nur eins auf der Welt, was kein Schwindel ist: Fressen, Pennen und Kinderkriegen ... KUCKUCK hat, um abzulenken, aus der Ecke die 3* 35 „Getvehrgeige“ geholt: ein Militargemehr 08, dessen Lauf entfernt ist: statt des Laufes sind von dem Schaft her iiber das Visier — iiber Kimme zum Korit — ein paar dicke Stahlseiten gespannt. Pause! Sammlung! Wie denken die Herrschaften iiber ein Lied? Stimmt die Geige. Praludium geschenkt . . - wahrend der Vorfiihrung bleiben die Saaltiiren ge- schlossen . . . also (singt): Der Heizer Christian Schulze, sonst ein rechtlicher Mann, Eines Tages er zn seiner Arbeitsstelle kam: Betriebseinschrankung! — Er ward nochmals ent- lohnt; Dann stand er auf der StraBe und guckte in den Mond. Wir miissen sparen und rationalisiern, Die Wirtschaft neuaufbaun und saniern, Klar, Mensch! Mit Christian Schulze der Neuaufbau begann, Morgen kommen auch du und ich daran, Bitte, nicht drangeln! ALLE, tvahrend der KUCKUCK mit bumsendem Kolben den Takt angibt: Mit Christian Schulze der Neuaufbau begann, Morgen kommen auch du und ich daran, Bitte, nicht drangeln! KUCKUCK: Der Heizer Christian Schulze nun stempeln ging, Achtzehn Mark die Woche ein Jahr lang er empfing, Achtzehn Mark die Woche fiir 5 Kinder, Weib und sich; 36 Eines Tags ’ne Grippe bei ihm sich einschlich. Da anderte er das Datum fiir das Krankengeld, Da ward er ob Betrugs vor Gericht gestellt, Klar, Mensch! Mit Christian Schulze der Neuaufbau begann, Morgen kommen auch du und ich daran, Bitte, nicht drangeln! FRAU KLEE: Mit Christian Schulze der Neuauf¬ bau begann . . . KUCKUCK: Na . . . was singt ihr nicht? FRAU KLEE: Morgen kommen auch du und ich daran . . . Du, das ist schon kein Lied mehr. HETE: Wir machen wohl doch noch ’nen Kaffee, Mutter! MUTTER FENT: Meinetwegen . . . wenn’s alle ist, ist’s alle. HETE beginnt Kaffee zu mahlen; ALLE sitzen schweigend da. — Auf einmal hort man Schritte. Langsam sieht einer nach dem andern auf. FRAU KLEE zu KUCKUCK: „Po- lente?" — HETE hat die Kaffeemiihle auf den Boden ge- stellt und ist nach links zur Tur gelaufen . . . HETE: Pauli! Von links PAUL und MAX; sie gehen langsam vor und bleiben stehen. PAUL: Kohldampf, Mensch! KUCKUCK: Herzlichstes Beileid! Unser Diner ist eben beendet; wir sind grade bei der Nachspeise: Fletschere mit Luftl PAUL: Los, Hete, zwei Schwerarbeiter kommen zum Schanzen! HETE: Nichts da. PAUL: Na was, Maxe? 37 MAX: So’n BeschiB! FRAU KLEE, hoch: Ihr miifit grad reden, ihrll LaBt euch als Betriebsrate wahlen, die Arbeiter- interessen zu vertreten, und jetzt, wo wir ausgesperrt sind, laBt ihr keinen an die Kantine, bis wir alte ver- recken, ihr Arschwedel! PAUL hat aus Rock und Hosen schnell Wurste, Buchsenmilch, Konserven hervorgezogen, haut FRAU KLEE eine Wurst uber die Schulter. Fangen wir mit dem Verrecken mat an, liebe Lerche! FRAU KLEE, zupackend: Wiirste! Milchl RolL mopse!! MAX zieht aus seinen Knickerbockers ebenfalls Wurste, Brotchen, Eier, Kaše: Jawoll, wir bringen was mit in die Ehe! KUCKUCK: Da staunen die Blattlause! Manna vom Himmel! Beginnt. FRAU KLEE springt auf, gibt MAX einen Kufi: Liebling! Herzchen!! PAUL zu FRAU KLEE, die mit Macht ipt: Lang- sam, Minna, du frifit dir ’nen Bruch! FRAU KLEE, mampfend: LaB mich, Herzchen, laB mich . . . KUCKUCK, ebenfalls mit breiten Armen uberm Tisch: So’n Rollmops, ’n wundervoRes Tier . . . Entbiichst, streicht Brotchen, mickelt Kaše aus. . . . ’n wahrer Lebensretter ... da sprudeln die Magensafte, da feiern die Blutkorperchen Hochzeit, enorme Vermehrung, mindestens 5 Millionen . . . da lacht das Herze und wird wieder gut ... Mutter, die Volksbouillon! 38 Der Kaffee wird herangebracht, HETE gieBt ein, ALLE haben sich um den Tisch gcsetzt, greifen sich, was grade vor ihnen liegt und beginnen stumm und mit ganzer Kraft zu essen; HETE versucht einen Bissen, legt ihn aber svieder hin und trinkt nur ab und zu einen Schluck Kaffee; sie sitzt wie unbeteiligt da. Die andern essen in machtigem Rhythmus; die folgenden Satze fallen nur wie Brocken ihnen aus dem Mund. MAX: Endlich! PAUL: War hochste Eisenbahn! MUTTER FENT, immer essend: Woher habt ihr das? KUCKUGK zu FRAU KLEE, die sich kauend zur Wand abgeivandt: Minna, frifi nicht so! Das ist un- fein und gibt Leberkrebs! Dreht sie dem Zimmer zu: sie hat in der einen Hand eine Wurst, in der andern eine Gurke und beifit abivechselnd hinein. Seht nur, ihre Augen sind geschlossen, ihr Gesicht ist ganz verklart! MUTTER FENT: Quassel nicht; aber ruhiger macht das. Immer essend zu PAUL: Ist das ausgeteilt? MAX: Jawoll, Mutter . . . „ausgeteilt“. PAUL: Aus der Kantine. MUTTER FENT: Wieder offen? PAUL, mit Geste: Klar. FRAU KLEE: Gekrampft, Herzchen, gekrampft! HETE: Gekrampft, Paul? MUTTER FENT: Eingebrochen?! PAUL: ’n SchloB ging schon hops dabei. Aber nun feste ran an die Mutter! Hete, ’ne Pfanne her, 8 Eier hineingeblattert untl Wurst driiber . . . MUTTER FENT steht auf: 50 Jahre bin ich ehrlich gewesen . . . 39 FRAU KLEE, kauend: Und jetzt haste Hunger! PAUL zu ihr: Mutter, hor mal, wir machen’s doch wahrhaftig nicht zum SpaB oder um Kies draus zu schlagen . . . nee, aber kann man euch denn langsam hier verrecken sehn . . . die Sache ist doch nicht von heute oder morgen, die geht liber Monate! MUTTER FENT: Und wenn wir das hier verdrlickt haben, was dann? PAUL: Wird sich finden. KUCKUCK, ganz versunken mit FRAU KLEE essend: Zauberhaft, liebe Blattlaus, wunderbar . .. weiBte, Minna, mit 3 Millionen Blutkorperchen, da biste ’n hungriges Biest, ’n Verbrecher, mit 4 Mil¬ lionen biste einer, der stempeln geht, aber mit 5 Millionen Blutkorperchen, da bist du ein sittliches Wesen, ein Mensch. FRAU KLEE if)t mit ganzer Wucht: GroBartig, Herzchen, grofiartigl MAX: Minna, du schaufelst ja wie ’ne Bagger- maschine! Minna, Taubchen, denkst du auch an deine Kinder? FRAU KLEE fullt ihre Schurze mit Sachen: Klar, aber man muB doch erst wieder Betriebsstoff haben in der Untergrundbahn! MUTTER FENT: Das sind Grundsatze! KUCKUCK: Stili, Mutter! Verdirb nicht die Akustik! Zieht sie zu sich. Dein Wohl, Max, alter Rauber! Winkt ihm mit einer Wurst. MAX empfindlich: Rauber?! Wir haben Ordnung geschafft! FRAU KLEE steckt ihm eine Wurstecke in den 40 Mund: Stili, mein Junge, iB, Bruderherz ... mir ist so sanft jetzt, kein Streit! — Kuckuck, die Klimper- minna, die Hallelujakiste . . . laBt uns singen, liebe Andachtigen . . . KUCKUCK holt die Geivehrgeige und stimmt sie: So lustig heute die jungen Leute! Na ja, man ist ein andrer Mensch, wenn man was im Bauch hat. . . obschon man zu groBen Taten hungrig sein soli! Aber alle den Refrain jetzt mitsingen, wenn ich „peng“ mache! Singt: Der Heizer Christian Schulze, ein Betriiger von Rufe, Schnell sank er jetzt tiefer von Stufe zu Stufe: Er stahl, stach, schoB, bekam sehr schlechte Manieren, Drei Schupos killte er, hatte nichts zu verlieren; Sogar ein besseres Fraulein er in die Ewigkeit sandte, Bis ihn der Arm der Gerechtigkeit iibermannte, Gottlob! Mit Christian Schulze der Neuaufbau begann, Morgen kommen auch du und ich daran, Bitte, nicht drangeln! ALLE: Morgen kommen auch du und ich daran, Bitte, nicht drangeln! KUCKUCK: Der Morder Christian Schulze, ohne Špur von Qual Verzehrt er in Ruhe sein Henkersmahl: Kraut, Bralen und einen halben Liter Wein; Da spricht er: „Nun laBt uns einmal ganz frohlich sein! 41 Zum erstenmal in meinem Leben aB ich mich kniippelsatt, Nicht jeder in seinem Leben das Gliick je bat! —- Fertigl Los!“ Mit Christian Schulze der Neuaufbau begann, Morgen kommen auch du und ich daran, Bitte, nicht drangeln! ALLE ivild: Mit Christian Schulze der Neuaufbau begann, Morgen kommen auch du und ich daran, Bitte, nicht drangeln! FRAU KLEE aufspringend: Kuckuck! Geruhrt. Komm her, ich mufi dich lieben! Kuftt ihn. MAX: Aber diese Welt solite man in Klump hauen, wo man schieBen und krampfen mufi, um zu seinem FraB zu kommen . . . FRAU KLEE: Reg dich nicht auf, Maxe, mein SiiBer . . . solang nicht die Hose am Kronleuchter hangt, ist das alles . . . Kinder, mir ist so wohl, . . . ha, schau, die Mutter, wie sie stopft! Da schweigen alle Geigen! MUTTER FENT, essend: Man wird ruhiger . . - KUCKUCK: Oder verriickt . . . Hat seine Gewehr- geige genommen und tanzt mit ihr: Hullala, tirallala . . . Die Geige ist des Kuckucks Liebe, In ihr da schlummern ali seine Triebe, Hullala, tirallala . . . ich glaube, der Geist kommt liber mich! FRAU KLEE: Kommen lassen! Kommen lassen! Tanzt mit ihm. 42 PAUL, der mit HETE beiseite gestanden: Total be- soffen! MAX: Kannste wohl werden, vom bloBen Fressen kannste besoffen werden, wenn du ’ne Woche ge- hungert hast! FRAU KLEE sinkt erschopft auf ihren Platz: Dufte, dufte, Jungens . . . direkt ’n Gedanke mit Back- obst . . . Plotzlich: Aber jetzt mufi ich zu meinen Gdhren! Packt Essen ein; schnell ab. Die andern sitzen wieder um den Tisch; sie essen weiter oder legen den Kopf auf den Arm, um zu nicken. HETE ist zum Herd getreten; PAUL ihr nach. PAUL: Du hast ja keinen Bissen gegessen! HETE: Mir ist so iibel. PAUL: Wie siehst du denn aus? HETE: Sei doch stili! Wenn’s jemand hort! — Du, Paul, ist die Direktion wirklich abgeriickt? PAUL: Total vergast! HETE: Jetzt verdienen wir alle nichts mehr. PAUL leise: Du! Geh doch mal zum Arzt. HETE: Meinste wirklich? DrauBen S t i m m e n. FRAU KLEE mit PROSNIK von links. FRAU KLEE: Keine Geheimnisse, Herr Prosniki In diesem Palast zieht der Schmalzparfong durch alle Dielen und Ritzen! Tief atmen, Herr Prosnik; das alleine macht schon satt! PROSNIK: Gute Stimmung, scheinPs. KUCKUCK immer noch essend: Einfach himmlisch, Herr Verwalter; bitte sich zu bedienen; es ist reich- lich! 43 PROSNIK: Es soli eingebrochen sein. FRAU KLEE: Unglaublich! PROSNIK: Ihr fiihlt euch verdammt sicherl MAX, auf der Bank liegend, spielt Mundharmonika: Was kann uns schon passieren? PAUL, vor ihm: Verpfeift uns der Herr Verwalter, so tat’s mir leid um ihn! HETE, daztoischen: Pauli! PROSNIK: Ist wohl alles gekauft, was da liegt? PAUL: Gegen so’n krummen Hund bin ich mir zu schade! Dreht sich weg. PROSNIK wild: Aber nicht zu schade, ’nem Madel ’nen dicken Bauch zu machen! PAUL fahrt herum; ha.lt an sich; ruhig: Los, Max; hier tritt man auf Wanzen. Komm! MUTTER FENT: Was habt ihr nur? PAUL: LaB gut sein, Mutter! Leise zu HETE: Zum Abend! Mit MAK ab. PROSNIK auflachend: Guten Rutsch, meine Herren! HETE erregt gegen ihn: Was haben Sie? Was lachen Sie so! PROSNIK: Man wird sich doch noch seines Lebens freuen diirfen, Fraulein Hete! PAUL und MAX im Sprung herein. MAX: Polente! Hof und StraBe besetzt! FRAU KLEE gegen PROSNIK: Der Hund!! Lach doch! Lach doch! Gebt ihm zu lachen!! PAUL bei HETE: Bleiben? HETE: Uebers Dachl! 44 PAUL springt mit MAX rechts in die Kammer. Man hort Schritte und Rufe. FRAU KLEE zu MUTTER FENT: Mutter . . . auf den Flur, die Kerle anquasseln, und quatschen, quatschen, quatschen, bis die beiden vergast sindl! Zieht MUTTER FENT und KUCKUGK mit hinaus. Man hort drauBen erregte Worte und Rufe, die sich entfernen. Dann Stille. PROSNIK steht in einer Ecke. HETE raumt den Tisch ah. HETE: Weshalb stehen Sie noch da? PROSNIK: Weshalb nicht? HETE: MuB Paul Ihnen nochmal eine hinfunken? PROSNIK: Hat er Ihnen schon . . . HETE: Biest! PROSNIK: Vielleicht kann dir das „Biest“ mal niitzen, nachdem der Freund verschiitt ging. HETE: Der kommt wieder! PROSNIK: Zweifelhaft! Landfriedensbruch, Ein- bruch, Raub, Fraulein Hete. HETE: Ich bin nicht „Hete“ fiir Sie, verstehen Sie mich! PROSNIK: Ich vergreife mich nicht an dir, keine Angst . . . Rufe im Hof. HETE am Fenster: Lauf, Paul! Lauf, lauf! Sie laufen auf den Dachern! Duck dich! Halte dich! MUTTER FENT herein. MUTTER FENT: Verduftet! PROSNIK: Sie werden auch so noch geklappt . HETE: Sie . . . Schuft! PROSNIK: Es fragt sich, wer der groBere Schuft ist: der ein Madel hops macht, oder der ihm helfen willl 45 MUTTER FENT: Was heiBt das? PROSNIK auf HETE: Fragen Sie die! MUTTER FENT vor ihr: Dul Was ist?! HETE schiveigt. MUTTER FENT packt sie: Das ist nicht wahr!! HETE: Doch, Mutter. MUTTER FENT: Gelogen! HETE: Mutter, Mutter, Angst habe ich, vor dem was kommt, wenn niemand mir hilft und dem Kind, Mutter . . . Angst!! MUTTER FENT: Und ich? Und dein toter Vater?! HETE: Mein Vater, mein Vater, . . . meinem Vater, dem tut es nicht mehr weh, Mutter. Heftig. Aber mir tut es weh, mir, mir und dem Kind in meinem Leib und auch dem Paul, der tausendmal sauberer ist als alle, die ihm was anschmeiBen wollen! MUTTER FENT: Halt den Mund! Glaubst du, du kannst noch ’nen Fresser zu Tisch bringen, der nichts verdient! HETE: Mutter!! MUTTER FENT: Ach was: Mutter!! Hast du mich gefragt? Meinst du, du kannst hier niederkommen, daB die ganze Strafie mit Fingern auf mich alte Frau zeigt! HETE: Das glaubst du ja selbst nicht, Mutter!! MUTTER FENT: Red nicht so doof! PROSNIK nimmt sie beiseite: Ich will Ihnen mal was sagen: Sie sollten vielleicht doch anders reden, Frau Fent! Ich habe da unten bei mir ’ne Kammer, ’ne ruhige, stille Kammer ... sie wird da nicht 46 hungern und nicht frieren und vor Blicken ge- schiitzt sein. HETE: Sie sind verriickt! MUTTER FENT gibt ihr eine Ohrfeige: Auch noch frech ist die Schlampe! HETE steht starr; nimmt schnell ihre Mutze, rennt hinaus. PROSNIK: Wo wollen Sie hin? Ihr nach. MUTTER FENT steht ratlos: Mufi man dazu Kin¬ der haben? 47 IV. Sprechzimmer von Dr. Moeller: Schreibtisch, Instru- mentenschrank, Solluxlampe, Waschbecken, Stiihle. Zugange rechts und links. — Dr. Moeller hat eben eine Dame untersucht und beraten; er hat ein Zeug- nis geschrieben und kuvertiert es. DAME: Ich kann bestimmt auf ihre Diskretion rechnen, Herr Doktor? Dr. MOELLER: Aerztliche Schweigepflicht, meine Gnadigste! Stempelt den Umschlag und gibt ihr den Brief. DAME: Darf man wissen, Herr Doktor, ob das Zeugnis positiv ausfiel? Dr. MOELLER: Es unterliegt noch der Entschei- dung des ausfiihrenden Gynakologen, der den Ein- griff zu machen hat. DAME schnell: Dafiir garantiere ich. Dr. MOELLER: Sie unterschatzen unsere Verant- wortlichkeit! DAME: Was haben Sie zu riskieren? Bitte, ich ver- stehe! Aber soli ich mir wegen eines Zufalls einen ganzen Winter verderben lassen, jetzt, da ich in 48 bester Form bin! Mein Hockeyteam in Davos er- wartet mich dringend. Dr. MOELLER: Unser Gutachten griindet sich lediglich auf den sachlichen Befund. DAME: Herr Doktor, ich liebe es nicht, mich durch Nichtbeantwortung von Fragen demiitigen zu lassen: Haben Sie den Eingriff befiirwortet? Dr. MOELLER: Glauben Sie, ich schreibe sonst! Hilft ihr in den Mantel. DAME: Tausend Dank! Ich danke Ihnen sehr . . . DAME, vom Arzt geleitet, nach links ab. Dr. MOELLER geht umher, ordnet seine Instrumente, setzt sich an den Schreibtisch, macht eine Eintragung; geht dann nach rechts: „Na, bitte!“ — Von rechts kommt MAX. MAK tritt vor und legi seinen Krankenschein auf den Schreibtisch. Dr. MOELLER nimmt ihn und macht seine Ein- tragungen: Wo fehlts? MAK: Zwischen den Rippen, Herr Doktor. Dr. MOELLER: Fieber? MAK: Ich wei£J nicht. DR. MOELLER immer noch schreibend: Machen Sie frei! MAK: Ganz? Dr. MOELLER: Doch nur, wo Sie Beschwerden haben, Mensch! Schon acht Mann heut von eurem Betrieb! Streikfieber, was? MAK: Wie meinen, Herr Doktor? Dr. MOELLER: Ich meine, Krankengeld ist auch nicht zu verachten, wenn die Gewerkschaftskasse versagt und der Staat keinen Kies mehr hat, was? 4 49 MAX mit nacktem Oberkorper: Ich bin zur Unter- suchung gekommen, Herr Doktor. Dr. MOELLER mustert ihn scharf: Aha! Wo sitzt es denn, mein Sohn? MAX: Hier, zwischen den Rippen . . . Schmerzen beim Atmen. Dr. MOELLER mit Hdhrrohr horchend: Einatmen . . . aus! Einatmen . . . aus! Luft anhalten! Legt die Hčinde unter die Schulterblatter. Sagen Sie: Neunhundertneunzig! Siebenhundertsiebenundsieb- zig! — Prima! Immerhin, fabelhaftes System, das ihr da habt . . . unkontrollierbar, denkt ihr . . . Setzt sich ivieder cin den Tisch. Rippenfellentziin- dung, was? MAX: Moglich. Dr. MOELLER: Essig! Meinen Sie, mich zwickt’s nicht einmal bei dem Sudelwetter hier und da. Nein, da sage ich mir: Nacken steif! Zahne aufein- ander! Es ist der Geist, der sich den Korper schafft! MAX: Was fehlt mir, Herr Doktor? Dr. MOELLER: Etwas Harte gegen sich selbst, Verantwortungsgefiihl gegeniiber dem Staat . . . MAX: Wenn man sich nicht mal zwei Eier kaufen kann und einen Liter Milch! Dr. MOELLER: Aha! MAX erregt: Natiirlich! Fiir euch ist Hunger keene Krankheit!! Dr. MOELLER: Schlagworte! Phrasen! Auf den Menschen kommt es an, auf den Menschen! Auf seinen Glauben an FleiB, Redlichkeit, Tiichtigkeit! 50 Selbst eure Frauen streiken ja und wollen kelne Kinder mehr! Kein Tag vergeht, daB nicht eine den Gashahn aufdreht oder zu uns kommt mit ver- brecherischem Ansinnen! MAX: Soli es denn noch mehr Kinder geben, und Hungerkriippel, und Arbeitslose? Dr. MOELLER: Wollen Sie gegen das wichtigste gottliche Gebot handeln: Du solist nicht toten! MAX sieht ihn nar an. Dr. MOELLER: Ein Volk, das keinen Geburten- iiberschuB hat . . . MAX: Wird kein Kanonenfutter und keine Reserve- armee von Streikbrechern mehr liefern! Dr. MOELLER: Moskau!! Der Rubel rollt wieder! Meinen Sie, wir merken das nicht! ■ — Hier Ihr Schein! MAX blickt darauf: Gesund! Grabendienstfahig! Ich danke, Herr Doktor! Will nach rechts. Dr. MOELLER nach links iveisend: Dort! MAX links ab. Das fehlte mir noch im Wartezimmer! Wascht sich; nach rechts. Bitte! Herein kommt HETE, sehr zogernd. Dr. MOELLER am Schreibtisch: Bitte, den Kran- kenschein! Sieht auf. Hatten Sie die Giite, sich etwas schneller zu aufiern! Was fehlt Ihnen? HETE: Herr Doktor . . . Schtueigt. Dr. MOELLER erkennt jetzt: Es warten drauBen noch 10 Kranke, Verehrteste, die alle auf mich ein Anrecht haben; ich bitte, sich kurz zu fassen! HETE heftig, aber leise: Sie miissen mir helfen, Herr Doktor! 4* 51 Dr. MOELLER, obschon er es iveifi: Nochmals, worum handelt es sich? HETE in grofier Angst: Es ist kein Verbrechen, Herr Doktor ... es ist wirklich kein Verbrechen, wenn Sie mir helfen, Herr Doktor!! Ich muBte weg von Hans . . . wir haben ja fiir uns selber nichts . . . die Aussperrung nun schon vier Wochen, kaum Brot und Kartoffeln, sechs Menschen in einer Kam- mer . . . wie soli da noch ein siebentes herein! Sie sind doch Arzt, Sie sehen taglich ja das ganze Elend, Sie miissen mir helfen!! Dr. MOELLER aufstehend: Wenn ich recht ver- stehe, fordern Sie von mir eine strafbare Handlung! HETE: Herr Doktor, ich weiB nicht, was Sie da sagen . . . ich brauche ihre Hilfe, Herr Doktor . . - wir Arbeiterinnen wissen ja viel zu wenig von diesen Dingen, die wir vvissen miiBten, jeden Tag kommen sie an uns heran . . . und dann hilft uns niemand. Dr. MOELLER: Und ihre Mutter, was sagt die? HETE: Die redet . . . von Schande. Dr. MOELLER: Ist’s vielleicht ’ne Ehrentat! Aber eine Errungenschaft der „neuen Zeit“ ist es, da alle Bindungen und Ziigelungen zerschnitten! Oder nicht? HETE: Ja, ja ja, Herr Doktor! Sie haben recht! Aber ich brauche jetzt Hilfe, Herr Doktor, Hilfe! Es darf nicht kommen: es hat keinen Fleck zum Liegen, keine Windel, keinen Korb, keine Nah- rung . . . Dr. MOELLER: Und der Vater? 52 HETE: Oh, Herr Doktor (von Weinen geschuttell) ich kann nicht mehr . . . Dr. MOELLER jafH sie an der Schulter: Immer dasselbe, jede Sprechstunde . . . Streicht ihr iibers Haar. Fassen Sie sich doch! Die Leute nebenan boren das! Kommt denn niemand fiir das Kind auf? HETE: Doch, Herr Doktor, doch . . . aber er hat doch keine Arbeit. Dr. MOELLER: So driicken sich alle. HETE vor ihm: Der driickt sich nicht, der steht fiir das hin, der mir’s gemacht hat! Dr. MOELLER: Weshalb ist er denn nicht hier ... jetzt? HETE: Weil er tiirmen muBte. Dr. MOELLER: Ah so! HETE: Nein, nein, Herr Doktor, kein gemeiner Mensch, kein Dreckskerl! Ein Mensch, der hinsteht fiir die andern, der Paul! Er hat nur aus Not ge- handelt, fiir die andern, Herr Doktor! Dr. MOELLER: Aber Sie lafit er in Not? HETE erschlafft einen Augenblick, rei/St sich dann zusammen: Er wiirde hinstehen, auch fiir das Kind; aber Sie sehen selbst, daB er verfolgt ist; Sie sind doch auch ein Mensch, ein Mensch, ein Arzt, der helfen sofl . . . Dr. MOELLER: Wenn ich Ihnen helfen diirfte. Wie soli ich’s denn machen? Das Gesetz bindet uns Aerzten doch die Hande . . . Einen Augenblick schivankend; dann: Die Sache scheint Ihnen doch nicht ganz klar, meine Teure! Holt aus 53 dem Schreibtisch ein Bach. Hier, hier, im Strafgesetzbuch des Deutschen Reiches der § 218, bitte: ,,Eine Schwangere, welche ihre Frucht vor- satzlich abtreibt oder im Mutterleib totet, vvird mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren bestraft. Dieselben Strafvorschriften finden auf denjenigen Anwen- dung, welcher die Mittel zur Abtreibung bei ihr an- gewendet oder ihr beigebracht hat.“ — Bitte! HETE steht schiveigend da. Dr. MOELLER eifernd, fast begeistert: Nicht wahr, das klingt anders! Und dann: Der 45. deutsche Aerztetag in Eisenach und der ReichstagsausschuB haben bekundet, daB in Deutschland dennoch jedes Jahr mindestens 800 000 verbotene Abtreibungen stattfinden; liber 10 000 deutscher Miitter sterben jahrlich an soleh unsachgemaBer Behandlung durch Nichtarzte! Gegen 50 000 schwere Erkrankungs- falle kommen nach solehen schwarzen „Fehlge- burten" in Deutschland jahrlich zu unsrer Kenntnis! HETE sieht ihn an: Und da konnen Sie noch Arzt sein? Dr. MOELLER stutzt: Wie? Was soli das heiBen? Wollen Sie mir etwa die Schuld an diesen Zustanden zuschreiben? Gerade wir Aerzte, wir reden uns ja die Lungen lahm; aber wenn heute alle Bindungen und Pflichten fallen, wenn man lieber in die Kinos und auf die Sportplatze rennt und die ewige Wahr- heit verhohnt: „In Schmerzen solist du Kinder ge- baren . . .“ HETE geht stumm zur Tur. 54 Dr. MOELLER ihr nach: Was wollen Sie tun? HETE sieht ihn an: Dorthin gehen, wo man mir hilft. Dr. MOELLER: Machen Sie keine Dummheiten, Madchen! Gehen Sie nicht dahin, Madchen, wo man Ihnen Zyankali gibt oder mit Schmierseife spritzt, oder wo man Sie mit einem unsauberen Instrument verletzt,wo Sie dann im Kindbettfieber in Krampfen sterben; gehen Sie nicht dahin, ich warne Sie! HETE aufschreiend: Aber Sie . .. Sie schicken mich ja dahin!! Dr. MOELLER erschrocken: Ich? Ich schicke Sie dahin? Sind Sie toll? Ich habe Sie nicht gerufen und nicht weggeschickt! Soli ich ein Verbrechen begehen? Kann ich den Paragraph andern? HETE starrt ihn an: Soviele Aerzte seid ihr in Deutschland . . . tausende Aerzte . . . und so laBt ihr die Menschen sterben? H alt sich am Tisch. Dr. MOELLER: Setzen Sie sich doch . . . hier . . . Sie sind iiberreizt, seien Sie doch ruhig, nehmen Sie sich zusammen . . . Gieftt Hoffmannstropfen in ein Glas Wasser. Trinken Sie, es wird Ihnen sofort leichter . . . sehen Sie, sagte ich nicht . . . alles geht voriiber, mein Kind, alles . . . HETE steht auf. Dr. MOELLER: So, mein Kind, nun iiberschlaf das Ganze . . . morgen sieht das alles schon ganz anders aus . . . eine rein psychogene Sache, mein Kind, sehr typisch. fiir den zweiten Monat . . . 55 (jovial) und nun gehst du zu deiner Mutter, horst du, zu deiner Mutter; es wird alles wieder gut! Fuhrt ste nach links. WeiBt du, man mufi nur den Kopt' nicht verlieren, immer tapfer sein und den Nacken steif, Nacken steif . . . HETE hilflos links ab. 5(5 v. In einem Zeitungskiosk an einer Straflenecke. Ein Drittel des Raums links dient dem Verkauf; dort ztvei kletne Fenster mit Zahlbrett and Auslage. Der grofiere Teil des Kiosk ist als kleiner Wohnraum eingerichtet: Oefchen, Hocker und im Hintergrund eine Schlafpritsche, unter der Stofie von Zeitungen und Zeitschriften liegen. Die Schlafpritsche selbst ist durch ztvei Zeltbahnen, die hochgeschlagen toerden konnen, verdeckt. Der ganze Kiosk tvird von Hausern iiberragt. StrafSenlarm draufien. Am Schalter links verkauft KUCKUCK dauernd Zeitungen. Auf einem Hocker im Wohnteil sitzt MAX und sortiert. KUCKUCK, am Schalter: „BerIiner Ulustrierte**, ,,Die Morgenausgabe“, „A. L Z.“ . . . zwanzig Pfenirge, bitte! „The star of Oklahoma* 1 auf dem Weg zum Siidpol gesichtet. . . . Selbstredend schon in dieser Nummer! . . . Streikender Mob der Walzwerke demonstriert und notigt Polizei zum Eingreifen: neun Tote, 35 Verwundete. . . . Immer verkaufend. In Pforzheim zwei Elefanten von Sarasani ausge- brochen, rennen bei Tietz in die Herrenabteilung, 57 erheblicher Sachschaden, doch keine Menschenleben zu beklagen. ... Zn Mar: ,,Das Tagblatt", los! 'Nimmt, ivieder vorn. Sturmfahrt des „Graf Zep¬ pelin" iiber Mittelasien; der Luftriese wechselt einen Propeller bei voller Fahrt. . . . MAX: Schon zw61f? KUCKUCK: Halb; um zwolf wird’s erst schnaffte! MAX: Keine ,,Rote Fahne" heute? KUCKUCK: Beschlagnahmt! MAX: ScheiBe! Aber diese Dreckblatter, die immer grad uns mit Jauche bespritzen, die verkaufste! KUCKUCK: Leben^ fressen . . . fressen, leben, liebe Blattlaus! MAX: Ist das konsequent? KUCKUCK: Ware der Kuckuck konsequent, hatte keiner von uns ’nen Platz, wo er pennt! — Allright . . . weder du, noch ich, noch Paul . . . please! MAX: Zu blode, sie machen richtig Jagd auf ihn . . . auf der StraBe drehten sie schon ihre Koppe nach uns. KUCKUCK: Bist doch ein mickriges Wiirmchen, Max, daB du nicht mal auf das Madchen gewartet! MAX: Tiirme du mal drei Tage und Niichte herum, wenn dir alle auf den Schlips gucken . . . KUCKUCK: Was du dir nicht einbildest! Nur der Paul ist mit Namen genannt, weil er der „Radels- fiihrer" ist! MAX: Als hiitten wir unter Mutterns Rock Erbsen gepfliickt! KUCKUCK erregt: Aber nur einer ist doch der 58 „Radelsfiihrer“! Mensch, das ist doch ’n Begriff! Verkauft immer. MAX nach der Pritsche: Sei doch stille! KUCKUCK am Schalter: Zwanzig Pfennige, mein Herr, fiir die „Illustrierte“ . . . das weiB doch jedes Kind! Das ist doch ’n Begriff! Horen Sie nicht! Zwanzig! Haltet ihn, haltet ihn! Sie!! Sie Hoch- stapler!! Rennt links zur Tiir hinaus. MAX tritt an den Schalter: ,,Die Morgenpost“, „Ge- neralanzeiger", die zweite Ausgabe „Deutsche Zei- tung“ . . . Von der Pritsche blickt unter der Zelt- bahn PAUL hervor; er ist iibernachtigt und ver- ivahrlost. PAUL springt auf: Max, Mensch, biste blode! Weg vom Schalter, laB die Klappe runter! Zieht ihn fort; zeigt ihm eine zusammengekniiUte Zeitung mit einem Bild. MAX: Junge, das biste ja selbst! Puppe! Liest: ,,Paul Kriiger, der Radelsfiihrer der sabotierenden Arbeiter, ist wegen Einbruchs, Raub und Land- friedensbruch unter Anklage gestellt. Fiir die Er- greifung des Kriiger oder die Mitwirkung an seiner Ergreifung wird eine Belohnung von 1000 Mark aus- gesetzt.“ Schaut ihn mit Hochachtung an. Mensch! PAUL: Na?, MAX: Sei nicht gemein! PAUL: Aber an den Schalter darfst du dich nicht mehr stellen, klar, Max! Wo sie uns doch friiher immer zusammen gesehn haben! Und dem Kuckuck kocht ja so schon ’s Wasser in der Hose! Liest der's, ist’s hier aus! 59 MAX: Verfluchter Mist! KUCKUCK stiirzt herein, PAUL hal sich schnell auf die Pritsche gehauen. KUCKUCK atemlos: Ist das noch Christentum! Ist das noch Menschentum! ’nen ar men Kolporteur um einen Groschen zu betriigen. Er saust mit der ge- klauten „Illustrierten“ los, ich hinter ihm her, er springt auf die Elektrische, ich gucke in den Mond; aus! Heftig. Seit zweitausend Jahren predigen sie, wie der Mensch leben soli! Aber wie lebt er? MAX: Dreckig. KUCKUCK erregt vor ihm: Aber wieso lebt er denn dreckig und kommt in zweitausend Jahren nicht ’nen Zentimeter vorwarts? MAX ruhig: Wieso kommt KuhscheiBe aufs Dach? Es klopft am Schalter. KUCKUCK springt hin, offnet: „Die Illustrierte", „Tagblatt“, „Generalanzeiger“ . . . Fdhrt zavitek. Mutter Fents Kopf im Schalter. MUTTER FENT: Ich sah dich laufen, Kuckuck. Kann ich mal rein? KUCKUCK: O je, die Mutter ... da staunen die Blattlause! Wahrend KUCKUCK links z ur Tur gehl, wirft sich auch MAX schnell auf die Pritsche; beide ziehen die Zelt- plane zu. MUTTER FENT tritt langsam ein. KUCKUCK zieht sie nach uorn: Schon von dir, Mutter, daB du auch mal den Pressechef besuchst . . . biBcheii eng, was . . . na, setz dich, bist wohl miide. Schiebt ihr einen Schemel hin. Sind die kleinen Blattlause gesund, na, ich meine doch nur so . . . was redste denn nicht, Mutter . . . Hier haste 60 noch ’ne Mark, kein Pensionsgeld, nur fiir Milch fiir die kleinen Wtir mer. MUTTER FENT steckt das Geld mechanisch etn: Hast du sie gesehn? KUCKUCK verlegen: Wen meinste? Ach so, ja, weiBte, ich komme aus meinem Kabuff hier auch nicht raus . . . nee, wirklich, ich habe sie nicht ge- sehen, die Hete . . . aber das ist kein schlechtes Zeichen, du! Die wird Arbeit suchen. MUTTER FENT starr: Hier auf der Hauptstrafie soli sie sein ... so um 6 Uhr . . . manchmal nachts, manchmal mittags . . . KUCKUCK: Da muB man dann aber scharf hin- sehen . . . um 6 Uhr abends bei dem Betrieb! MUTTER FENT vergrabt den Kopf in den Handen: Ich Aas! Ich Aas! Wenn sie umkommt, wenn sie schon im Dreck liegt! Springt auf. Ich glaube, du, ich hab sie vorhin gesehn, da an der Haltestelle; schon war sie weg . . . dann kamst du gelaufen, und ich glaub, auch du rennst hinter ihr her . . . wir liefen alle umeinander rum in dem Schlamassel . . . sie muB noch drauBen sein, Kuckuck . . . laB, laB mich!! Stiirzt hinaus. KUCKUCK steht stili da. Dann hebt sich die Zeltplane, MAX und PAUL kriechen vorsichtig heraus. PAUL: Was hat sie gesagt? Hinter den Lappen hier hort man auch gar nichts! KUCUCK: Na . . . sie hat nach ihr gefragt. PAUL: Wie kommt sie denn her? KUCKUCK: Hat mich drauBen gesehn; da dacht sie wohl, wo der Kuckuck rennt, da gibts Rosinen. 61 Die Tur links geht auf. Schnell ist HETE drin, zieht die Tur zu, bleibt stehen. PAUL, Sprung zu ihr: Hete!! HETE: Ist die Mutter fort? PAUL: Die Minute. HETE dreht den Schliissel herum: Kann ich sitzen? MAX bringt ihr einen Hgcker. KUCKUCK: Mensch, das ist ’n Fest! Mach mal Kaffee, Paul! Ji, Es klopft dauernd am Schajter; Stimmen: „Ist das ’n Be- trieb! Herr Kollege, Ihnen lilfben sie wohl hypnotisiert?“ Saubande! Springt zum Schalter. Sofort, meine Herr- schaften! Bitte sehr! Sofort! Zwanzig Pfennige! Zuriick- rufend: Zureichen, Maxe, Munition! — Jawohl, friscbgelegt, noch warm aus der Pre>sse! Das „Wochenblatt“, „Der Junggeselle", selbstverstandlich! Jedem das Seine, mein Herr! Eine Mark, bitte! Er verkauft, wahrend MAX, der nun auch ganz links steht, wie eine Maschine ihm zureicht; zwischendurch und spater werden Zeilungspacks „Der Mittag", „Die Abendausgabe" durchs Fenster geworfen, die MAX aus der Umhiillung schneidet und schnell ordnet. PAUL hat eine Kaffeemuhle genommen und beginnt zu mahlen. HETE steht auf, geht zu ihm, streicht ihm ubers Haar. PAUL halt inne. HETE nimmt seinen Kopf hoch: Du! PAUL steht auf, preflt sie an sich: Hete, ich bin ja so gemein! HETE halt ihm den Mund zu: Red nicht soleh Zeug! Das hat keinen Wert. Sag nur ... ob Du mich lieb hast, ob du mich immer noch lieb hast? PAUL: Du! Kupt sie. KUCKUCK am Schalter: Selbstverstandlich . . . ,,Die 62 eleganten Welt“, ,,Das Leben", ,,Die Schbnheit" . . . an diesem Dessin fehlt es nie bei uns, bitte . . . auch „Sport und Sonne" . . . eine Mark bitte! HETE, die zuriickgetreten: Bist du immer hier? PAUL: Sie sind mir auf den Hacken, Hete. Hier mitten in der Stadt sucht mich keiner. HETE: Weshaib bist du iiberhaupt noch in der Stadt? PAUL: Weil . . . du doch hier bist, siehste! Aber ich konnt nicht zu euch kommen, Hete, am Abend, was hatt das fiir’n Sinn, wenn sie mich gleich schnappten. HETE: Ich weiB doch. PAUL: Was guckste? HETE: Wie lang ist’s eigentlich her, daB die Polente kam? PAUL: Zehn Tage. HETE: Lange Zeit. PAUL: Verflucht lange. HETE: Haste auch gehungert? PAUL: Und ob. HETE: Und wo haste . . . gepennt? PAUL: Na, iiberall . . . bei Genossen, unter ’ner Brucke . . . auf den Biinken, wo man trocken liegt, durfte ich doch nicht, wo man mich sucht . . . auch mal Platte geschoben und mal auf 'nem Dach. HETE streichelt ihn: Siehst auch arg ruppig aus. PAUL, sie betrachtend: Na, dir hat’s nicht viel ge- schadet; bist ja ganz schnieke . . . hast wohl doch noch ’ne Stelle beim Direktor gefafit? 63 HETE sieht ihn an: Du Kind, du . . . Plotzlich: Hast du’s noch? PAUL faflt unter seinen Rock: Hier. HETE scheu: Zeig’s mal! PAUL sieht sich um, dreht sich dann mit det Schachtel der Riicktvand zu: WeiBt du’s jetzt? HETE zogernd: Ja . . . PAUL: Ist’s . . . gemacht? HETE: Nein. Faflt ihn. Nein, Paul! Keiner hat mir geholfen, keiner! Aber du muBt mir helfen, jetzt sind wir noch beisammen! Paul, ich kann’s nicht allein, ich tu mir was . . . Leise, heftig: Du muBt’s tun, gleich hier . . . PAUL: Gleich hier?! HETE: Hier! Hier! Da (auf Pritsche), dahinter ... da kann man liegen . . . jetzt ist Hochbetrieb da vorn, keiner merkt’s jetzt, keiner hdrt’s in dem Larm, wenn ich stohne . . . nein, nein, ich werd ganz stille sein, auch wenn’s weh tut, bestimmt Paul, sicher, keinen Laut . . . Paul, komm, komm doch!! PAUL hilflos: MuB ich’s nicht sauber machen? HETE: Ja, ja, da ist Seife und Wasser . . . die brauchste ja sowieso . . . Sie legt sich auf die Pritsche hinter den Zeltbahnen, schaut nochmals nach dem Schalter und zieht dann die Zeltbahn ganz vor das Lager. PAUL tritt hinter den Schirtn. — Links ani Schalter eifriger Zeitungsverkauf; MAX reicht an, KUGKUGK setzt ab. — Leiser Schrei: „Paul!“ Ein Instrument klirrt zu Bodeu. PAUL kommt verstort nach Tom. 64 PAUL leise: Verfluchter Dreck, wenn man’s nicht versteht! HETE, ihm nach, nach vorn: Ich schreie bestimmt nicht mehr, Paul . . . ich bin ganz stili, ich schwore dir’s . . . Will ihn nach hinten ziehen. PAUL unbeiveglich: Nee, nee, du . . . Blut! HETE: Hast du Angst? PAUL schiveigt. HETE plotzlich: Oder . . . du, ekelst dich? Ekelfs dich?! Ninami seinen Kopf. Du, sieh mich an, sieh mich doch an! PAUL steht da. HETE geht zur Tilr. PAUL halt sie; miide: Ich mach’s ja. HETE sieht ihn an: Armer Junge. PAUL heftig: Warum? HETE leise: Weil du dich ekelst, Paul . . . Weil du dich vor mir ekelst. PAUL rasch: Quatsch! Ich mach’s! HETE: Nein, Paul, nein, du solist es nicht machen, du solist dich nicht ekeln vor mir; dafiir hab ich dich zu lieb. PAUL: Das ist ja zum narrisch werdenl! HETE nimmt seinen Kopf, streichelt ihn: Mein Paul, Junge, es ist ja gar nicht so schlimm, sei doch ruhig! Das ist doch alles Unsinn . . . das wird ja alles gut, sei doch ruhig, Paul . . . geh jetzt, geh und sei heut abend Punkt zehn am Schlesischen, geh jetzt . . . 5 65 PAUL sieht sie an, nimmt das Instrument vom Boden. HETE sieht das Instrument, packt es schnell: Das laB mir! Nur, falls wir uns verfehlen . . . am Abend! Geh jetzt, Paul, geh! Sie schlieBt auf und schiebt ihn zur Tiir liinaus, dann schlieBt sie wieder ab. Stille im Pritschenraum; wilder Zeitungsverkauf und Larm links am Schalter. HETE hat das Instrument genommen, geht dann langsam hinter den Wandschirm. KUCKUCK links: Sie konnen alles bei mir haben, mein Herr . . . Von der „Deutschen Zeitung“ bis zur „Roten Fahne“. Wir sind vollig auf der Hohe H .. . Wirft MAX neue Kolli zu. Aufpacken, lieber Blatt- hengst! Dalli, dalli! Von sechs bis halb sieben, das ist die groBe Stunde des Pressemanns ... da saust der Frack, da zittert das Hemde! Tempo, Max, Tempo! Kurzer S c h r e i, der von dem Larm des Zeitungsausrufers und der StraBengerausche fast verschlungen wird. — HETE kommt hervor; sie hali sich den Leib und setzt sich auf einen Hocker. MAX von links mit Zeitungspacks; zu HETE: Du, das ist Sache hier, was! Hochbetrieb . . . na, schnur nur mal den Packen da auf und reich mir immer so ’nen StoB riiber . . . immer nur riiberreichen den Schvvung, kannste doch? HETE: Klar. MAX: Biste miide? HETE: Ach was. HETE reiBt das Zeitungspaket auf und reicht — svie eine Maschine — StoB um StoB die Blatter MAX heriiber. Links wilder Verkauf. 66 VI. Stube von Madame H ege: Tisch, ein paar Stiihle and ein kleiner Wandschrank mit Lysolflasche, Bor- saurelosung, Watte und in Tiicher gehiillten Instru¬ menten; das Ganze die Vertvirklichung der kleinen ziveizeiligen Annoncen: „Frauen und Madchen finden diskrete Aufnahme . . .“ — Madame Hege sitzt in einem Lehnstuhl bei Wurst, Butterbrot, Ret- tich und einer Flasche Bier; sie mampft mit dem Genuf) eines Menschen, der sich unbeobachtet wei[i (spiefit mit dem Messer eine Wurstscheibe auf und sto/It sie sich mit grofier Kunst wie ein Degen- schlucker in den Rachen); dabei liest sie die Zeitung. Es klopft. MADAME HEYE stellt schnell das Vesper seitlich auf einen Stuhl und zieht ihren iveiflen Schivestern- mantel an: Ja! Von rechts konunt HETE; sie bleibt zogernd stehen. MADAME HEYE streng: Halb acht abends! Was gibt’s noch? HETE mit Zeitungsausschnitt: Bin ich hier recht? MADAME HEYE kniitlt den Ausschnitt zusammen: Haben Sie das jemand im Hans gezeigt? 67 HETE: Nein. M ADAME HEYE: Setzen Sie sich! — Sie sind miide. HETE: Ja. MADAME HEYE: Sie sind noch jung? HETE: Zwanzig. MADAME HEYE: Nicht volljahrig. — Reden Sie doch! HETE: Ich komme zu Ihnen . . . aber Sie wissen das ja alles, qualen Sie mich nicht! Leise: Sie miissen mir helfen, Sie!! MADAME HEYE: Richtig. Betrachtet Sie. Legen Sie Ihren Mantel ab! Etwas mitgenommen siehste aus. HETE sieht sie an: Lassen Sie das! Ich zahle. MADAME HEYE: Klar. — Warste schon mal beim Arzt? HETE: Nein. MADAME HEYE sieht sie an: Hast du’s selbst mal probiert? HETE: Nein. MADAME HEYE: Du siehst so elend aus . . . HETE: Was sagen Sie? MADAME HEYE: Hast du ’ne Mutter? HETE steht auf: Ich zahle doch! Bin ich denn hier beim Doktor?! MADAME HEYE aufhorchend: Wieso beim Doktor? HETE setzt sich, miide: Ich meinte bloB. MADAME HEYE mifltrauisch: Hat deine Mutter dir’s Geld gegeben, oder hast du so’n Kavalier unter- wegs . . . bleib nur, ich meine, du siehst gar nicht so aus wie ’ne Nutte . . . brauchst nicht hochzugehn, 68 das zieht hier nicht, wir sind reell und vrollen wissen, wen wir bedienen! — Wie heiBt er denn? HETE: Kein Klauenfritze, Siel! Nee! Wenn er auch tiirmen muBte wegen der Kantine . . . der bekommt schon wieder Arbeit, der Paul! MADAME HEYE: Ach so, der . . . der Kantinen- Paul, ach so . . . natiirlich kriegt der Arbeit, aber Tiitenkleben und Mattenflechten; der sitzt hinterm Gitter . . . HETE: Nein!! MADAME HEYE: Gestern haben sie ihn geschnappt; dem sind ein paar Jahre sicher. HETE geht nach rechts. MADAME HEYE vor ihr: Wohin, Kind! Keine Menkenken! So was kommt doch alte Tage vor! Nur nicht die Noble markiert! Haste denn Pinke? HETE: Nicht viel; wir sind doch arbeitslos. MADAME HEYE: Wieviel? HETE: . . . zehn Mark. MADAME HEYE: Du bist verriickt! Steckst du da- fiir deinen Kopf in die Schlinge? Und damit dir gleich ’ne Latiichte aufgeht: Hier biste in solidem Haus, in prima Bedienung . . . alles mit die Anti- sepsis und Sterilisation, verstehste, von wegen dem Kindbettfieber . . . (holt aus dem Schrankchen in Tiicher und Papier gemickelte Instrumente) und von wegen die Sepsis, die leicht den Uterus herauf- schleicht, verstehste, und wenn was darin zuriick- bleibt, das gibt dann die Sauerei mit dem Gericht und das Purperalfieber; jawohl, mein Kind, da staunste, Madame Heye hat da studieren miissen vor 69 20 Jahren von der Gynaeko — logie bis zur Dia- gnose, alles tipptopp . . . und nun von wegen dem Zaster: Jede Arbeit ist ihres Lohnes wert! 20 Mark gleich, 10 in ’ner Woche! HETE: Ich habe aber nur . . . Scluveigt. MADAME HEYE: Das habe ich gern! Den Ofen an- stecken, und nachher ist kein Koks da! Zehn Mark bei die Polizeibespitzelung heute, wo doch die ganze Moral uns auf die Hacken ist! Ausgeschlossen! Ser- vus! Packt Instrumente ivieder ein. HETE rnendet sich und geht nach rechts. MADAME HEYE schnell: Wenn man nicht so’n gutes Herz hatte! Komm mal her, du, wie heiBt du denn? HETE: Hete. MADAME HEYE betrachtet sie: Hete, Mensch, du bist doch ’n sauberes Stiick, Madchen . . . (betastet sie) die Arme, die ganze Figur . . . wer wird denn da herumlaufen mit schiefen Absatzen und zer- brochener Seele! Na was denn, Hete! Nase in die Luft! Weil du’s bist, Hete, ich weiB da einen Gonner, . . . ganz ungefahrlich, so’n 60jahriger Greis mit Silberhaar und rosigen Backlein und mit Finke in der Busentasche, na ja schon, der hat schon vielen geholfen, die so waren wie du, und die mit ’ner Empfehlung von mir kamen. HETE: Ich verstehe Sie nicht. MADAME HEYE: Wirste schon verstehen, wenn dir der richtige Knopf aufgeht, mein Kind! Nur Geduld, du wirst Madame Heye noch im Grabe segnen! Weil 70 sie so’n schwaches Herze fiir dich hat! — Wo haste deinen Kies? HETE holt 10 Mark aus ihrer Tasche, gibt es. MADAME HEYE steckfs ein, stohnend: Zehn Mar¬ ii er? Lacherlich! Es wird immer unreeller und liderlicher auf der Welt! — Was stehst du so krumm und verbogen da, was? Hast doch keine Schmerzen, wie? Das sag man gleich! HETE: Ich bin nur miide. MADAME HEYE: Geh nebenan! Fiihrt sie nach links. Da hinein, nicht so zimperlich, mach frei, leg dich hin! Sie krempelt die Aermel hoch, holt Instrumente und Lgsoform, das sie in Wasser ver- diinnt. Ich muB das hier fertig machen. HETE bleibt links stehen: Glauben Sie, es geht? MADAME HEYE: Red keine Briihe! Wo ich doch die diskretesten Manipulationen ausfiihre in meiner Praxis! Los, los! HETE .geht links in den Raum. MADAME HEYE schliefit die Zugangstiir ab, knipst das Licht aus und folgt ihr. — Stille. —■ MADAME HEYE schnell von links; sie knipst 'das Licht wieder an; hinter ihr HETE. MADAME HEYE erregt: Sieh mich an, du! Dich hat schon vorher jemand in Kur gehabt . . . Du . . . das muB ich wissen!! HETE sitzt gekriimmt auf einem Stuhl: Lassen Sie mich! MADAME HEYE: Nee, nee, du . . . das lassen wir gar nicht! Du willst wohl mit gelernten Leuten Quatsch machen? Deine Hand! Nimmt sie, zahlt den Puls. 71 HETE: Fieber?! M ADAME HEYE: Schrei nicht so, du! Hast wohl Madame Heye mit ’ner vermasselten Sache rein- legen wollen, wie! Nee, nee! Is nich! Daran ver- brenn sich ’ne andre die Finger! HETE: Nein, nein, ich gehe nicht, Sie; ich riihre mich nicht hier weg, . . . ich lasse mich nicht mehr fortschicken!! Ruf en Sie doch die Polizei, rufen Sie doch die . . . MADAME HEYE hali ihr entsetzt den Mund zu. HETE, sich befreiend, umklammert sie: Sie! Sie miissen mir helfen!! Sie wissen, was das ist . . . das Fieber, das Fieber . . . das verfault jetzt in mir!! MADAME HEYE: Nerven sind das, Kind, Nerven! Stili! HETE: Nicht stili, ich will nicht stili sein!! Ich lasse mir nicht den Mund zustopfen! Das Fieber . . . Auf- schreiend: Ich will nicht sterben, du!! Ich bin noch jung, du! Ich will nicht sterben! Paul!! MADAME HEYE: Du, man hort das! HETE: LaB sie’s doch horen!! Plotzlich ganz ruhig, ivie erivachend; sieht MADAME HEYE an: Ich lebe ja noch, wie . . . aber wenn mir niemand hilft, dann gibt’s doch nur eines noch . . . gradeaus, immer gradeaus . . . Packi MADAME HEYE: Aber . . . wenn man 100 Mark hatte, oder 200, oder 300, dann brauchte man nicht gradeaus! MADAME HEYE: Soviel gibfs ja gar nicht auf einen Haufen! HETE: Dann brauchte man nicht immer gradeaus, bis zum Kanal, bis zur Eckert und ihrem Kind . . . MADAME HEYE erschreckt: Bist du verriickt! Mach mir keine Zicken, Madchen, daB es nachher noch an mir hangen bleibt! Komm her, du! Hier hast du was . . . Geht zum Schrank, holt etn Flaschchen. Davon nur 5 Tropfen, einmal am Tag, boršte!! (riittelt sie), 5 Tropfen, nicht mehr, verstehste!! HETE nickt. MADAME HEYE leise: Das ist Gift, eigentlich . . . aber nur ’ne ganz schwache Losung, und in kleinen Mengen da hilfts . . . das Cyankali. HETE greift danach. MADAME HEYE: Nur wenn du mir versprichst, so- fort zu deiner Mutter zu gehn, nirgendwo anders- hin! Zu deiner Mutter! HETE schaut sie an. MADAME HEYE: Zur Mutter, horste! HETE nickt. MADAME HEYE gibt ihFs: Nur 5 Tropfen, du! HETE: Danke. Rechts ab. MADAME HEYE schlieflt das Schrankchen tvieder, zieht die 10 Mark aus der Tasche, betrachtet sie, steckt sie tvieder ein, streift die Aermel tvieder her- unter; iiber sich selbst geriihrt: . . . wenn man nicht so’n gutes Herz hatte! VIL Kiiche von Mutter Fent. Es ist Abend. Der Kuckuck und Frau Klee sitzen cim Tisch und brocken stumpf vor sich hin Brotrinden in ihre Kaffeetassen; der Kuckuck liest dazu aus einem Zeitungsfetzen. Mutter Fent schafft am Ofen und rnischt auf. KUCKUCK, lesend, vor sich hin: Wird noch ’ne Weltberiihmtheit der Paul, alle Nasenlang steht was drin von ihm . . . jetzt wo sie ihn liquidiert und auf Nummero Sicher haben, jetzt kommt erst das ganze Register zum Vorschein: hat vor seiner Verhaftung noch ’nen Kriminal durch ’nen KopfschuB umge- legt . . . FRAU KLEE singt: „Im Riidesheimer Schlofi steht eine Linde, Der Friihlingswind zieht durch die Blatter griin, Ein Herz . . Oh, ihr lieben Arschwedel, wenn nur einer von euch ’n Viertel so ware wie der Paul! KUCKUCK mit Blick auf MUTTER FENT: Pst! FRAU KLEE: Ach was, irgendwo mufi die Seele doch Luft haben! KUCKUCK beginnt, um abzulenken, zu singen- 74 ,,Der Heizer Christian Schulze, sonst ein rechtlicher Mann. Eines Tages er zu seiner Arbeitsstelle kam: Betriebseinschrankung! Er ward nochmals entlohnt, Dann stanci er auf der Strafie . . Bricht ab, verlegenes Schtveigen. FRAU KLEE: Uebrigens fangen sie drunten wieder an zu arbeiten; halbe Schicht! Gut sortiert! MUTTER FENT plotzlich: Hast du sie gesehn? FRAU KLEE: Ich, nee; aber der Maxe sagt, sie sei wieder im Viertel. KUCKUCK: Wo soli sie auch hin, wenn sie nicht . . . MUTTER FENT: Ins Wasser geht. FRAU KLEE: Mecker nicht, Mutter; heut friih bat der Kuckuck sie docb noch hier am Hans gesehn. MUTTER FENT packt ihn: Wo? KUCKUCK: Die rannte, wie sie mich sah . . . MAX, ziemlich elend, von links. MAX: Die Saubande fangt wieder an zu schaffen mit ’ner halben Amnestie! FRAU KLEE: Und du? MAX: Meinste, die mit dem Paul waren, die lassen sie wieder ran? Hete stand driiben auf der StraBe; aber wie ich zu ihr wollte, weg war sie! MUTTER FENT: Die wartet grad auf dich! Will nach links. PROSNIK tritt ein; er scheint sehr guter Laune, jovial, mustert in Ruhe die vier. PROSNIK: ’n Abend! Wieder Volksversammlung! Auf Max: Sogar alte Bekannte? 75 MAX mit gekreuzten Hdnden: Bitte abfiihren, Herr Spitzel! PROSNIK: Kein Interesse an Kleinvieh. — Der Ge- nosse Paul hal seine Laufbahn ja konsequent fort- gesetzt, sich zu 'nem richtigen Knallheinrich ent- vvickelt, brummt jetzt die nachsten Jahte im Kasten. MAX: Und Sie Arsch mit Ohren, Sie knistern die nachsten Tage vielleicht im Sarge! Mahlzeit! Schnell ab. PROSNIK: Letzte Zuckungen! —■ Es gibt wieder Arbeit, Minna, was! Der Konsum macht wieder auf! Die ,,Rote Fahne“ erscheint wieder, Kuckuck! KUCKUCK vor ihm: Darf ich mir gestatten, dem Herrn Verwalter ein Exemplar gratis und franko zu iiberreichen? Ab. FRAU KLEE: Warle, Kuckuck, ich komme mit. Ihm nach. PROSNIK steht unentschlossen da; MUTTER FENT raumt auf. Schweigen. PROSNIK: Haben Sie was von ihr gehort? MUTTER FENT: Ach was. PROSNIK: Ist Ihnen das gleich? MUTTER FENT: Lassen Sie mich in Frieden! PROSNIK: Wir hatten sie halten sollen. MUTTER FENT: Mocht wissen wie? PROSNIK: Sie haben sie geohrfeigt. Sie sprachen von Schande. Ich wollte sie zu mir nehmen. Lang sam ab. MUTTER FENT setzt sich erschopft auf einen Schemel. Sie ruht so eine Weile, dann horcht sie, steht auf, geht an 76 den Tisch, raumt ab. — HETE tritt leise von rechts ein. MUTTER FENT dreht sich um, steht einen Augenblick starr, fangt dann wieder an, .den Tisch abzmvischen. HETE: ’N Abend, Mutter. MUTTER FENT reinigt den Tisch. HETE: Mocht mich setzen. MUTTER FENT ivischt immer noch, schiebt mit dem Fufi einen Schemel hin. HETE: Den ganzen Abend hab ich draufjen ge- wartet. . . MUTTER FENT schiveigt. HETE: Ich wollt dich nochmal sehn. MUTTER FENT hat ihr Kaffee eingegossen und hingestellt. HETE nimmt fast unglaubig die Kaffeetasse, stellt sie mieder nieder, spricht dann vor sich hin: Die andern sind ja alle weg, nicht wahr . . da vvollt ich nochmal zn dir. . . MUTTER FENT stellt die Tasse auf eine Unter- tasse. HETE: Weil du mir doch noch ’n Wort vielleicht sagen konntest . . ach bin ich durstig, so heiB ist mir . . so den ganzen Tag. . . Sie trinkt gierig. So durstig. . . Setzt die Tasse hin; dann: Wie gehfs auch den Kindern? MUTTER FENT: Gut. HETE: Und dir? MUTTER FENT, ohne sie anzusehen: Gut. HETE steht auf, ivartet auf Mutter Fent, die arbeitet tind an ihr voriibergeht, als ivčire sie Luft; dami: ’N Abend, Mutter. Geht nach links. MUTTER FENT packt sie plotzlich, reiflt sie zu sich, prefit Hetes Kopf an ihre Brusi: Nicht wieder weggehn, Hete! Nicht wieder gehn! Wo warst du? Wohin willst du, Kind? Weshalb hab ich dich gehen lassen! Wie siehst du denn aus, Hete! Wer hat dir was getan, Du!? HETE scheint plotzlich ganz miide. MUTTER FENT: Setz dich, Kind, du bist ja ganz schwach . . . du hast Hunger, nicht wahr . . . komm, hier ist was Brot! Ninam, iB, du muBt jetzl zu Kraft kommen, du muBt essen, Kind! HETE: LaB, Mutter, ich mufi ja alles brechen. MUTTER FENT hat ihre Hčinde gefafit: Wie heiB du bist, Kind; du mufit mir gleich ins Bett, das ist ja Fieber! HETE nickt. MUTTER FENT: Das kommt vom spaten Draufien- stehn, wenn man sich erkaltet . . . ’ne Grippe! ’Ne richtige . . . Grippe. HETE sieht sie an. MUTTER FENT begreift plotzlich: Daher? HETE leise: Ja. MUTTER FENT: Kind, wer hat dir was getan? HETE, an sie geklammert: Mutter! Mutter! Ich mufi sterben, Mutter . . . niemand hilft mir, Mutter . . . das Fieber ist schon in meinem Bauch, Mutter!! MUTTER FENT, hart: Red kein Bledi, Hete! Er- schrocken. Ruhig, Hete, ganz stili, Du! Ich rute den Doktor. 78 HETE: Bist du verriickt, Mutter!? Bleib!! Der bringt uns doch ins Zuchthaus!! MUTTER FENT: Du hast es gemacht? HETE nickt. MUTTER FENT: Ist es fort? HETE: Nein, Mutter; ich konnt’s doch nicht allein, keiner half mir; jetzt bin ich krank, Mutter, weil ich’s nicht richtig wuSte. . . . Aufler sich. Ich hab mir was getan, Mutter, und jetzt hab ich das Fieber im Leib, Mutter, das Fieber, und dazu noch das tote Kind!! MUTTER FENT mili hinaus. HETE: Wohin? MUTTER FENT: Der Arzt muB her! HETE: Der hilft nicht! Ich weiB es doch! MUTTER FENT: Aber es muB doch einei - helfen!! HETE, umjafit sie: Du, Mutter . . . du muBt mir helfen, . . . stili, Mutter! Hier . . . das kleine Flasch- chen, das gab mir die Frau, und davon bloB fiinf Tropfen, siehst du . . . Holt es hervor. So’n Flasch- chen, siehst du! MUTTER FENT: Das soll’s schaffen? HETE, leise: Cyankali. MUTTER FENT: Das klingt ja wie Gift? HETE: Wenn man zuviel davon nimmt. Aber fiinf Tropfen blofi, das macht dann nur Krampfe; dann kommfs . . . und dann ist’s voriiber, die Angst, Mutter, die schreckliche Angst, das muB doch mal voriiber sein . . . wo’s vielleicht schon tot ist! Packt sie. Mutter! Nimmt den Propfen ab. Du gibst mir’s, 79 Mutter, du schickst mich nicht fort, Mutter, du bleibst bei mir, wenn's mir Kriimpfe macht. . . . MUTTER FENT: Aber wenn es Gif t ist?! HETE, verztueifelt: Es hilft, es hilft, Mutter!! MUTTER FENT: Stili, Kind; du hast Fieber, Kind! Sei einmal stili, hor einmal her, du . . . deine Mutter will dir helfen, hilft dir, laB sie erst zu Atem kommen . . . du bist doch mein Kind! Zieht einen Schemel heran, setzt sich. Du willst jetzt, daB deine Mutter dir zu trinken gibt, das willst du jetzt? HETE nickt. MUTTER FENT: Und wenn du Schmerzen hast, so willst du, daB deine Mutter dann bei dir bleibt? HETE nickt. MUTTER FENT ist aufgestanden und hat ein Glas mit Wasser gefiillt: Und da soli das jetzt herein? Und dann wirst du’s trinken und ganz ruhig sein, Hete, ganz ruhig. ■— Wieviel, Hete? HETE gibt einige Tropfen hinein, zogert: DaB es auch ja hilft! Gibt noch mehrere Tropfen hinzu. BEIDE sitzen dicht nebeneinander auf ihren zwei Schemeln, ganz vorne. MUTTER FENT hali das Glas. HETE schaul in groBer Angst vor sich hin. MUTTER FENT hat HETES Kopf an ihre Schulter gezogen: Ruhig, Kind, ruhig . . . das sind ja nur ’n paar Schliicke, siehste . . . stili, ich bleib ja bei dir, Kind; leg deinen Kopf an meine Schulter, ganz ruhig, so ... so war’s schon mal, als du ganz klein warst, Hete. . . . HETE, plotzlich in Heiterkeit: Du Mutter, als ich noch klein war, da gabst du uns mal zwei Pulver 80 fiir ’ne Brauselimonade, fiir fiinf Pfennige, weiBt du, ein weiBes und rosanes, die muBte man in ein Glas tun, zuerst das weiBe . . . und dann Wasser darauf, und dann das rosane . . . das ging dann hoch wie Selters. . . . MUTTER FENT: Na siehste, das ist doch alles nicht so schlimm, nicht wahr? Nimmt sie ganz an ihre Schulter ivie ein Kind. Komm! Gibi ihr zn trinken. HETE, plotzlich in grofier Angst iiber das Glas iveg: Ob’s mich nicht doch kaputt macht, Mutter?! MUTTER FENT driickt HETES Kopf fest an sich. 6 81 Vlil. Kiiche von Mutter Fent. Mitten in der Kiiche steht die Chaiselongue, als Bett hergerichtet, in dem HETE liegt. Sie ist sehr bla/3, sitzt halb auf und blickt auf einen Fleck. MUTTER FENT kommt mit einer Tasse Milch. — Heller Tag. MUTTER FENT: Du muBt was trinken, Kind . . . horst du? HETE sitzt reglos da. MUTTER FENT: Hete, Kind, ist’s hier nicht besser als in der Kammer? HETE: Mein Leib, Mutter! MUTTER FENT: Die Nachwehen, ja . . . die Krampfe; aber jetzt ist’s doch weg. HETE: Kommt der Doktor wieder? MUTTER FENT: Ja! Er sagt, du hast zuviel Blut verloren. HETE: Was sagt er noch? MUTTER FENT: Nichts, Kind, nichts! Was soli er denn sonst gesagt haben? Soviel Mensch wird er doch sein! FRAU KLEE von links. HETE: Die Angst ist weg . . . die furchtbare Angst. 82 FRAU KLEE: Na siehste! Zieht MUTTER FENT beiseite. Du! Man munkelt, es sei heraus; der Arzt hab es melden miissen! MUTTER FENT: Nein!! HETE: Was redet ihr da? Die Angst ist weg, die groBe Angst . . . das ist doch die Hauptsache, nicht wahr . . . aber miide bin ich und kalt, ganz kalt. Legt sich auf die Seite. MUTTER FENT: Ja, leg dich aufs Ohr, Kind, und schlaf mal rum! Deckt sie bis obenhin zu. FRAU KLEE: Die klappert ja mit den Zahnen? Plotzlich. Du! Mutter! Du mufit vvis»en, was du nachher sagst, wenn die kommen! Man bat Blut- spuren geseh’n von hier bis unten zum Abtritt und auch im Miilleimer. . . . MUTTER FENT: Wer hat das verpfiffen?! FRAU KLEE: Sie quasseln schon alle im Hause driiber. Der KUCKUCK schnell von links. KUCKUCK, leise: Dicke Luft, Herrschaften! Es wird untersucht! Die ganze StraBe ist’s rum; der Doktor hat ooch schon gequatscht. . . . Horcht. Also ich sage, Apfelsinen und Zitronensaft ist garantiert das Beste gegen das Fieber. . . . PROSNIK erregt berem. PROSNIK: Sauerei!! In meinem Hause!! FRAU KLEE: Sie miissen grad reden, Sie! PROSNIK: Mich schmeiBt der Herr Kommerzien- rat auf die StraBe, und Sie fliegen ins Zuchthaus! Da konnen Sie Ihrer Freundin ja Gesellschaft leisten! Schnell ab. 6" 83 FRAU KLEE, ihm rachrufend: Dann aber nicht alleene! — Kuckuck, ihm nach, daB der’s Gericht nicht beschmust, wenn sie gleich kommen! KUCKUCK, vertattert: Warum ich? FRAU KLEE: Weil du ’n Mann bist, Mensch, und ’n „Charakterkopf“! Packt ihn. Und iiberhaupt, Mensch, du solist hinstehen! Steh doch mal senk- recht da, driick mal die Knie durch und der Po¬ lente fest in die Pupille geguckt! Drau[ien Schritte. KUCKUCK tvird merklich kleiner and ivill abhaun. KUCKUCK: Soli ich jetzt runter? FRAU KLEE hčilt ihn: Nu bleib schon. Von links treten ein: der KRIMINALKOMMISSAR, ein 40jahriger, guadratischer Mann, mit ihm Dr. MOELLER und PROSNIK, dann ein KRIMINALWACHTM.EI.STER mil Mappe. KRIMINALKOMMISSAR: Bitte . . . Witwe Emmi Fent! MUTTER FENT tritt vor. KRIMINALKOMMISSAR: Frau Fent! Es sind im Laufe des gestrigen Tages Geriichte zu uns gedrun- gen, die sich zu einer Anzeige verdichtet haben: Es soli in Ihrer Wohnung ein Verbrechen wider den § 218, ein Verbrechen wider das keimende Leben begangen worden sein. Ich habe als Kriminal- kommissar den Tatbestand zu klaren. Da Ihte Tochter nicht transportfahig ist und Verdunkelungs- gefahr vorliegt, muB ich hier zur Vernehmung schreiten. Gegen die anderen. Wohl Hausbewohner? Zum Kriminalbeamten. DrauBen warten! 84 KRIMINALVVACHTMEISTER iibergibt dem K0MM1SSAR die Mappe; dann mit FRAU KLEE und KUCKUCK ab. PROSNIK redet leise auf KRIMINALKOMMISSAR ein. KRIMINALKOMMISSAR, zn PROSNIK: Schon vor- gesehen! Wird in zehn Minuten hier sein! Bille, sich ebenfalls drauBen bis zum Aufruf bereitzu- halten! Wahrend PROSNIK abgeht, aus det Akte zn MUTTER FENT: Frau Fent! Sie haben eine Tochter Hedwig? MUTTER FENT: Ja. KRIMINALKOMMISSAR: Ihre Tochter ist krank? MUTTER FENT: Ja. KRIMINALKOMMISSAR: Wie lange ist ihre Toch¬ ter bei Ihnen? MUTTER FENT: Seit drei Tagen. KRIMINALKOMMISSAR: Wo war sie vorher? MUTTER FENT: Das weiB ich nicht. KRIMINALKOMMISSAR, zn Hete: Fraulein Fent! Konnen Sie meinen Fragen folgen? HETE nickt. KRIMINALKOMMISSAR: Wo waren Sie vor acht Tagen? HETE schiveigt. KRIMINALKOMMISSAR, zum Arzt: Herr Doktor! Die Kranke ist doch in der Lage, meine Frage- stellung zu erfassen? Dr. MOELLER, fiihlt dcn Puls, priift die Pupillar- refleze: Bitte, folgen Sie mir mit den Augen, sehen Sie nach der Nasenspilze. Verstehen Sie, was ich jetzt frage? Wieviel ist dreimal neun? HETE: Reden Sie nicht solehes Blech! 85 Dr. MOELLER, zum KRIMINALKOMMISSAR: Die Kranke ist verhandlungsfahig. KRIMINALKOMMISSAR: Fraulein Fent, Sie hatten Umgang mit einem gevvissen Paul Kriiger? HETE schiveigt. KRIMINALKOMMISSAR: Wann sahen Sie ihn das letzte Mal? HETE schiveigt. KRIMINALKOMMISSAR: Sie wollen nicht ant- worten? — Herr Doktor! Welche Zeit mufi ver- strichen sein zwischen einem verbotenen Eingriff und der Infektion bis zum Ausbruch des Kindbett- fiebers? Dr. MOELLER: Etwa eine Woche. KRIMINALKOMMISSAR: Also miiBte vor zehn Tagen der Eingriff gemacht worden sein? Dr. MOELLER: Jawohl. KRIMINALKOMMISSAR: Und gestern erst der Erfolg? Dr. MOELLER: Vermutlich ein zweiter Eingriff. KRIMINALKOMMISSAR, im Jagdeifer: Komplizen! — Frau Fent! Nach der Untersuchung des Arztes handelt es sich bei Ihrer Tochter um den unsach- gemaBen Versuch der Fruchtabtreibung mit allen Folgen bis zum Eintritt des Kindbettfiebers. Der erste Eingriff muB vor etwa zehn Tagen geschehen sein, der zweite vor drei Tagen. Der erste Tater ist uns bekannt. Der zvveite eigentliche Tater muB ermittelt werden. Frau Fent, Sie genieBen einen ausgezeichneten Leumund. Sie werden uns Ibre Mithilfe nicht versagen. Wir miissen die Person 86 auffinden, die ein so schweres Verbrechen begangen, die Ihre Tochter auf den Tod geschadigt hat. Wer hat vor drei Tagen den zweiten Eingriff bei Ihrer Tochter vorgenommen? MUTTER FENT: Ich . . . weiB es nicht. KRIMINALKOMMISSAR, nach links: Den Haus- verwalter! PROSNIK tritt ein. KRIMINALKOMMISSAR: Herr Hausverwalter Prosnik! Die Blutspuren wurden erst gestern friih in Ihrem Hans beobachtet? PROSNIK, zogernd: Ja. KRIMINALKOMMISSAR: Fran Fent! In Ihrer Wohnung ist der zweite Eingriff vorgenommen worden! Sie sind eine ordentliche Fran! Wer war der Tater? Von wem war die Spritze? MUTTER FENT, nach kurzem Zogern: Das fragen Sie da den Herrn Verwalter und die andern! KRIMINALKOMMISSAR, nach ruckivarts: Die Hausbewohner! Der KRIMINALWACIITMEISTER laBt FRAU KLEE und den KUCKUCK herein. KRIMINALKOMMISSAR: Ihr wiBt, wer das Instru¬ ment geliefert! Wir haben es eben erfahren! Zn KUCKUCK: Heraus damit! KUCKUCK, sehr erschrocken: Ich das Instrument?! Ich?! Herr Kommissar, der Kuckuck — das bin ich — der hat nie ’ne Spritze gehabt, und die andern Blattlause auch nicht. . . . KRIMINALKOMMISSAR: Blattlause? KUCKUCK: Verzeihen Sie, das ist so’n Patentaus- 87 druck; aber der . . . der Herr Verwalter, der kann vielleicht Auskunft geben. PROSNIK: Sie sind alle toll, die Leute, Herr Kom- missar!! FRAU KLEE, heftig: Er soli sagen, ob er die Spritze hatte oder nicht?! PROSNIK, erregt: Der Paul, der bat sie mir doch geklaut!! KRIMINALKOMMISSAR: Das sind ja tolle Zu- stande! — Herr Verwalter! Sie geben also zu, eine solche Spritze gehabt zu haben! Zu welchem Zweck? PROSNIK, bricht ganzlich zusammen: Herr Kom- missar, ich babe alles nur fiir alle Falle dagehabt, nie ein Unrecht getan, alles nur nacb bestem Wissen und Gewissen . . . ich bin doch kein Verbrecher, Herr Kommissar. KRIMINALKOMMISSAR: So seid Ihrl! Erst groBe Reden geschwungen, und nachher will es keiner ge- vvesen sein! KRIMINALWACHTMEISTER von links. KRIMINALWACHTMEISTER: DerGefangene ist da! KRIMINALKOMMISSAR: Vorfuhren! PAUL wird hereingeluhrl. Er sieht elcnd aus, tragt Straf- lingskleidung und Handschcllen; er stutzt, stiirzt dann auf METE zu. PAUL: Hete!! KRIMINALKOMMISSAR: Kriiger! Kriiger!! Sie sind zum Verhor geladen! Nehmen Sie sich zu¬ sammen! — Sie kennen die Hedwig Fent und den Hausverwalter? PAUL: Allerdings. KRIMINALKOMMISSAR: Geben Sie zu, den Ein- griff bei der Fent gemacht zu haben? PAUL: Das geht niemand was an. Dr. MOELLER: Aber da£J das Madchen jetzt im Kindbettfieber daliegt, auf Leben und Tod, das riihrt Sie wohl nicht? PAUL, vor ihm: Das sagen Sie? Weshalb haben S i e es denn nicht gemacht, als das Madchen zu Ihnen kam, Sie . . . Arzt?! KRIMINALKOMMISSAR: Fordern Sie von dem Arzt ein Verbrechen? PAUL: Hilfe, Herr Kommissar!! Herr Kommissar, fragen Sie den Arzt, ob er noch nie einer Fran Generaldirektor oder auch der Fran Kasewaren- handler geholfen hat, wenn sie ihm dafiir . . . Dr. MOELLER, auf ihn zu: Liimmell! KRIMINALKOMMISSAR: Strafgefangener Kriiger, Sie haben nur auf Fragen zu antworten! — Waren Sie vor zehn Tagen mit dem Madchen zusammen? PAUL schiveigt. KRIMINALKOMMISSAR: Hat der Hausverwalter Ihnen die Spritze gegeben? PAUL: Lafit den miesen Hund docli laufen! Der ist doch genau sohi verpriigelter Koter wie wir alte! Zum Bett. Bist du denn wirklich so krank, Hete? KRIMINALKOMMISSAR: Das geniigt mir. Zum Arzt. Aber ungeklart ist der etwaige Eingriff vor drei Tagen. Spricht leise mit dem ARZT. HETE, leise zu PAUL, streicht liber die Fesseln: Tut das weh, du? 89 PAUL: Ach was. HETE: Wie lange muBte denn brummen? PAUL: Na, so’n biBchen. Du, Hete, wenn ich dann aber rauskomme. . . . KRIMINALKOMMISSAR: Kriiger, antworten Sie jetzt dem Herrn Doktor! Dr. MOELLER: Wie haben Sie das Instrument ge- braucht? PAUL schweigt. Dr. MOELLER: Von wem hatten Sie die Spritze? PAUL: Nicht von Ihnen! Dr. MOELLER: Mein Junge, die Schnauze wird Ihnen bald trocken werden! Wenn ihr wirklich im Recht waret, und wir paar andern waren im Un- richte, bitte, euer demokratischer Staat gibt ja den Millionen die Moglichkeit, ihre Stimmen zu erheben und den Paragraphen wegzufegen mit einer Volksabstimmung! ! Aber wo sind die Mil¬ lionen?! Wo ist das Volk?! PAUL: Richtig! Sie diirfen uns noch verhohnen! Noch tut keiner ’n Mux! Alle schlafen sie noch; sehen Sie doch nur, wie sie dasteh’n . . . die Mutter, die Minna, der Verwalter, der Kuckuck . . . wie’n Haufen Ungliick. . . . KRIMINALKOMMISSAR: Schweigen Sie!! PAUL: Ja . . . die schweigen noch, und vielleicht miissen noch ’n paar Jahre lang tausende Frauen am Fieber verrecken. . . . Dr. MOELLER: Wie wollen Sie das andern? PAUL, vor ihm: Geburtenregelung. Dr. MOELLER: Geburtenregelung! Und die uner- 90 wiinschten Kinder werden, wie in RuBland, von Aerzten in Kliniken beseitigtl! PAUL: Jawoll!! In Kliniken!! Aber nicht heim- lich!! KRIMINALKOMMISSAR: Das ist der Geist, der in jedem Jahr 800 000 deutsche Mutter gegen das Ge- setz sich vergehen laBt!! PAUL emport: Ein Gesetz, das in jedem Jahr 800 000 Miitter zu Verbrechern macbt, das Gesetz ist kein Gesetz mehr!! KRIMINALKOMMISSAR zu KRIMINALWACHT- MEISTER: Abfiihren!! PAUL: Wird dadurch etwas anders, Herr Kom- missar?! Wird dadurch etwas anders?! Wird vom KRIMINALWACHTMEISTER abgefiihrt. Dr. MOELLER: Moskau in Reinkultur! KRIMINALKOMMISSAR erregt zu den andern: DrauBen warten! Die Beamten werden Ihre Perso- nalien aufnehmen! Zu MUTTER FENT: Sie bleiben! PROSNIK, KUCKUCK und FRAU KLEE ab. HETE, wirft sich hoch: Paul! MUTTER FENT: Ich bin bei dir, Kind! LaB man! HETE: Mutter . . . KRIMINALKOMMISSAR: Fran Fent, wir konnen auf das Verhor nicht verzichten. Wenn Sie klar und prazise antworten, sind wir gleich zuende. Frau Fent! Was haben Sie mir liber den Verwalter noch zu sagen? MUTTER FENT schweigt. KRIMINALKOMMISSAR: Vollig falsche Riicksich- ten! 91 Dr. MOELLER: Oder Angst! Die kalte Angst liegt ja auf ali diesen Menschen; ich sehe das doch hundertmal in meiner Praxis; man spiirt das Ver- brecherische der Tat! MUTTER FENT: Das Verbrecherische?! Aufier sich: Wenn mein Kind zu mir kommt ... in Todesangst?! Dr. MOELLER: Dami fiihlen Sie sich berechtigt . . . MUTTER FENT: Dann tue ich, was ich fiihlel! Dr. MOELLER: Alles? MUTTER FENT: Alles!! Dr. MOELLER: Auch bei Ihrem Kindel! MUTTER FENT: Gerade bei ihml! KRIMINALKOMMISSAR: Sie tun ja gerade, als hiitten Sie’s selbst . . . MUTTER FENT, vor ihm: Jawoll, ich hab’s getan!! Immer vvieder wiirde ich’s tun!! Und alle sollten’s tun, eh wir alle dran verrecken!! KRIMINALKOMMISSAR erregt: Ich erklare Sie fiir verhaftet!! MUTTER FENT: Verhaftet?? Ins Gefangnis?! Ich gehe nicht von ineinem Kind! Dr. MOELLER leise zum KRIMINALKOMMISSAR: Lassen Sie die Fran noch cin paar Stunden hier; es sind die letzten fiir das Madchen! KRIMINALKOMMISSAR: Verdunklungsgefahr! Ich vermute noch Komplizen! An der Tur: Frau Fent! Ich mufi Sie bitten, sich bereit zu halten! Fiir Ilir Kind ist Pflege bestellt. KRIMINALKOMMISSAR, DR. MOELLER und KRIMINAL- WACHTMEISTER ab. — MUTTER FENT ist an Hetes Bett getrelen, slrcicht ihr iiber Schuller und Arine. — HETE liegt erschopft da. 92 MUTTER FENT leise: Sie nehmen mich ja nur mit zum Protokoli, Kind . . . morgen bin ich wieder da, sie konnen mich ja nicht dortbehalten, wo du so krank bist und mich brauchst . . . Der KRIMINALWACHTMEISTER ist eingetrelen, er bleibt an der Tur stehen. KRIMINALWACHTMEISTER: Sie miissen mir fol- gen, Frau Fent! MUTTER FENT richtet sich muhsam auf und folgt schwer und miide dem Kriminahvachtmeister. — S t i 11 e. — HETE, die den letzten Worten nur muhsam gefolgt ist, beginnt unter dem Druck der Stille sich zu riihren; sie richtet sich etwas auf. HETE: 10 000 . . . miissen . . . sterben (in Todes- angst) hilft uns . . . denn niemand . . . Sinkt nieder. 93 Von Friedrich. Wolf erschienen: Im Verlag Pie Schmiede, Berlin Das bist Du. Schauspiel Der Unbedingte. Schauspiel Im Chronos-Verlag, Berlin/Stuttgart Die schwarze Sonne. Komodie Der arme Konrad. Tragodie aus der Bauern- revolte 1514 Der Mann im Dunkel. Komodie Koritke. Schauspiel Kolonne Hund. Schauspiel Im: Freier Schulverlag, Berlin SO 36 Der arme Konrad (Schulausgabe). 15.bis 25.Tausend In der Deutschen Verlags-Anstalt, Stuttgart Kampf im Kohlenpott. Novellen Im Sponholtz-Verlag, Hannover Kreatur. Roman. 45. bis 55. Tausend Arbeiter-Tlieaterverlag, Berlin Kunst ist Waffe. Eine Streitschrift Pas neue naturarztliche Hausbuch Dr. med. Friedrich Wolf DIE NATUR ALS ARZT U. HELFER 640 Seiten Text mit 455 Abbildungen, 8 Farbtafeln, neuem Rezeptanhang und 2 zerlegbaren Modellen. In Ganzleinen RM. 25.—. 10.—20. Tausend. Einige Urteile: Mitteilungen der Vereinigung rheinischer Krankenkassen, Dusseldorf: Das Werk Dr. Wolfs miiBte eigentlich im Besitz jeder Familie sein, um so mehr aber in der Hand jeder Krankenkasse, denn dieses Buch gibt auch den Vorstanden, Ausschussen und Angestellten der Krankenkassen das notige Rustzeug, um das Heilwesen in neue Bahnen zu lenken. „Gewerkschaft“, Berlin: Das ganze Werk ist getragen von dem Geist sozialistischer Weltanschauung und dem heiBen Willen, der groBen Masse der Schaffenden Berater und Fiihrer zu sein. Jeder von uns solite sich dieses Buch anschaffen, os wird ihm Wegweiser sein. „Welt am Abend“, Berlin: . . . ein arztliches Hausbuch, das ein wichtiges Dokument unserer Zeit ist, das von einer ein- heitlichen Welt- und Lebensauffassung getragen wird, das in der klaren wahrhaften Sprache des Dichters wirklich ein Volksbuch werden kann. „Schweizerische Lehrerzeitung“, Ziirich: Ein Buch, das dazu angetan ist, fiir eine vernunftige Lebensweise zu begeistern, so stromt es iiber von Gesundheit und Freude. „Frauenwelt“, Berlin: Sein Ton ist so lebendig und lebens- froh, daB schon das Lesen allein genugen diirfte, um einem Kranken neuen Mut einzuhauchen. „Der Eisenbahnfachmann“, Berlin: Ein ganz groBer Wurf dieses Buch! DEUTSCHE VERLAGS*ANSTALT