MUZIKOLOSKI ZBORNIK * MUSICOLOGICAL ANNUAL XL UDK 930.85(4-014) Peter Vodopivec Institut für die neure Geschichte, Ljubljana Institut za novejšo zgodovino, Ljubljana Mitteleuropa - Mythos oder Wirklichkeit? Srednja Evropa - mit ali stvarnost? Zusammenfassung Povzetek Der slowenische Dichter und Politiker Eduard Kocbek machte im Jahre 1940 auf die kulturelle und ethnische Vielfalt Mitteleuropas aufmerksam und stellte dabei fest, daß das multikulturelle und multiethnische Erscheinungsbild die besondere Qualität des mitteleuropäischen Raumes ausmache. Der ungarische Publizist Istvan Bibo vertrat zur selben Zeit ebenfalls die Meinung, daß das Hauptmerkmal Mitteleuropas seine Mannigfaltigkeit sei, sah jedoch im Gegensatz zu Kocbek in der Tatsache, daß es im mitteleuropäischen Raum keine starken Nationalstaaten gab, den Hauptgrund für das mangelnde Demokratieverständnis und die Rückständigkeit der mitteleuropäischen Gesellschaften und Nationen. Der Verfasser stellt nach der Schilderung der Standpunkte der beiden Autoren in der Entwicklung der mitteleuropäischen Idee vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum 2. Weltkrieg zwei Tendenzen fest: die erste suchte den Ausweg aus der Zersplitterung und der Rückständigkeit des mitteleuropäischen Raumes im föderalen Zusammenschluß einzelner mitteleuropäischer Staaten, während die zweite Mitteleuropa als Bestandteil des deutschen Kultur- und Wirtschaftsraumes interpretierte. Mit dem Nationalsozialismus siegte die Idee des deutschen Mitteleuropa, daher erschien sie nach dem Zweiten Weltkrieg völlig diskreditiert. In Wahrheit wurde die Idee „Mitteleuropa« in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts erneut aktuell, nachdem sie vor allem von polnischen, tschechischen und ungarischen politischen Dissidenten wiederbelebt worden war, verlor jedoch nach dem Fall des Kommunismus am Beginn der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts an Bedeutung. Der Autor ist trotzdem davon überzeugt, daß Mitteleuro- Slovenski pesnik in politik Edvard Kocbek je leta 1940 opozarjal na kulturno in etnièno raznolikost Srednje Evropa in ugotavljal, da sta multikulturnost in multinarodnost izjemni kvaliteti srednjeevropskega prostora. Madžarski publicist Istvan Bibo je v istem èasu prav tako videl glavno znaèilnost Srednje Evrope v njeni raznolikosti, vendar je v nasprotju s Kocbekom menil, da je dejstvo, da na srednjeevropskih tleh ni bilo moènih nacionalnih držav, glavni razlog za nedemokratiènost in zaostalost srednjeevropskih družb in narodov. Avtor po opisu stališè obeh avtorjev razkriva, da sta bili v razvoju srednjeevropske ideje od zaèetka 19. stoletja do 2. svetovne vojne dve težnji: ena, ki je iskala rešitev iz srednjeevropske razdrobljenosti in zaostalosti v federalnem povezovanju srednjeevropskih držav, in druga, ki je zastopala stališèe, da je Srednja Evropa sestavni del nemškega kulturnega in gospodarskega prostora. Z nacizmom je ideja nemške Mitteleurope zmagala, zato se je po 2. svetovni vojni zdelo, da je ideja kompromitirana. V resnici je v osemdesetih letih 20. stoletja, zlasti potem ko so jo obudili poljski, èeški in madžarski politièni disidenti, znova postala aktualna, medtem ko je po padcu komunizma v zaèetku devetdesetih let 20. stoletja izgubila na pomenu. Avtor je kljub temu preprièan, da Srednja Evropa ni bila nikoli le ideja, temveè vsaj od 18. stoletja poseben prostor med evropskim Vzhodom in Zahodom. Zanj je bil znaèilen poèasnejši razvojni ritem kot na evropskem Zahodu, ki ni dopušèal nastanka moènih državnih in politiènih ustanov. Posebnost Srednje Evrope sta tudi njeno mešèanstvo, ki se je zveèine povzpelo do mešèanskega statusa z izobraževanjem, hkrati pa jo povezuje podobna tradicija izobraževalnih in 29 MU2IKOLOSKI ZBORNIK • MUSICOLOGICAL ANNUAL XL pa zu keiner Zeit eine bloße Idee war, vielmehr bi- kulturnih ustanov, ki je daljnosežno vplivala na ldete es mindestens seit dem 18. Jahrhundert einen oblikovanje nacionalnih predstav, vedenjskih norm besonderen Raum zwischen dem europäischen in politiènih praks. Osten und Westen. Für diesen Raum charakteristisch war ein langsamerer Entwicklungsrhythmus als im europäischen Westen, der die Entstehung starker Staaten und politischer Institutionen nicht zuließ. Eine Eigenart dieser Region Europas ist auch sein Bürgertum, das größtenteils durch Bildung in den bürgerlichen Status aufstiegen war; aber auch die aus gemeinsamen Traditionen erwachsene Ähnlichkeit der Bildungs- und Kultureinrichtungen, die weitreichende Folgen für die Prägung nationaler Vorstellungen, Verhaltensnormen und politischer Praxen hatte. Eduard Kocbek schrieb im Jahre 1940 in der Einleitung zur zweiten Nummer der Zeitschrift »Dejanje«, unter dem Titel »Mitteleuropa«, daß Mitteleuropa jenes »konkret und in der aktuellen Lage am meisten leidgeprüfte Gebiet« des europäischen Kontinentes sei, auf dem »im historischen Prozeß alle wesentlichen technischen und menschlichen Probleme auftreten und wo schon durch lange Zeit der Kampf um profundeste menschliche Werte ausgefochten wird«. Nach Kocbek sollte der besondere, ja einzigartige Wert dieses etwas mehr als eine Million Quadratkilometer großen Raumes zwischen dem europäischen Osten und Westen, wo mindestens 15 verschiedene Nationen leben, in seiner ethnischen und kulturellen Vielfalt liegen, das größte Unglück hingegen in der Tatsache, daß es den mitteleuropäischen Nationen nicht gelang, diese Verschiedenartigkeit im erweiterten europäischen Kontext als Wert durchzusetzen - im Gegenteil, mit ihrer Zersplitterung wurden sie zur »Sphäre diverser Imperialismen und zum ständigen Brennpunkt internationaler Spannungen und Konflikte,« seien doch »die großen internationalen Auseinandersetzungen« gerade im mitteleuropäischen Raum ausgelöst worden.1 Mitteleuropa soll in der zeitgenössischen Geschichte - so Kocbek - schicksalhaft vor allem durch den deutschen Einfluß und die Nähe zu Deutschland gekennzeichnet worden sein. Die deutsche Romantik mit Herder an der Spitze habe das nationale Erwachen und die Bildung mitteleuropäischer Nationen stimuliert und ihre Anhänger in der Überzeugung bestärkt, daß die Nation ein organisches, historisches Gebilde sei, das durch die Grenzen eines »genuinen Volkes mit seiner Sprache« bestimmt werde, »wo das Schicksal jedes einzelnen Menschen eng mit der nationalen Gemeinschaft verflochten ist,« was wiederum »die Bedingung für ein freies persönliches Leben« bilde. Der positiv-vitale Einfluß der deutschen Romantik sei aber nur ein Aspekt der deutschen Nähe und der deutschen Nachbarschaft gewesen. Der zweite, viel gefährlichere und die letztlich zerstörerische Aspekt sei als Folge der deutschen 1 Edvard Kocbek, Srednja Evropa, Dejanje III/1940 , S. 89-92; vgl. auch: Peter Vodopivec, O Kocbekovem prispevku k razpravi o Srednji Evropi, Glasnik Slovenske matice, Nr. 1-2, DOV/1990, S. 60-62. 30 MUZIKOLOŠKI ZBORNIK • MUSICOLOGICAL ANNUAL XL Entwicklung entstanden, als sich im 19. Jahrhundert in der Staatsdoktrin eine Abkehr von Herder und eine Zuwendung zu Hegel und Bismarck vollzog und die Idee eines starken, einheitlichen, auf »ethnischen Grundlagen« begründeten Nationalstaates aufkam. Diese Entwicklung habe zumindest zwei extrem negative Folgen gehabt: einerseits den deutschen »Drang nach Osten« und - als Folge der Reaktion der anderen mitteleuropäischen Nationen - gegenseitige Abgrenzungen und die Formierung eigener »reiner« Nationalstaaten. Unmittelbar vor dem Beginn des zweiten Weltkrieges auf dem slowenischen und jugoslawischen Gebiet war Kocbek - ziemlich naiv -davon überzeugt, daß der Ausweg aus der beschriebenen (falschen) Alternative zwischen dem Denken Herders und dem Hegels im radikalen Umbau des mitteleuropäischen Raumes nach Prinzipien, die am ehesten an die Ideen der ehemaligen Austro-marxisten erinnerten, zu finden sei. Er meinte nämlich, daß das mitteleuropäische Gleichgewicht - bei gleichzeitiger Lösung der »deutschen Frage« - nur durch engere »Verkehrs-, Zoll- und Finanzverbindungen« und durch die Kooperation zwischen einzelnen mitteleuropäischen Staaten, die sogar zu einer Art »mitteleuropäischer Föderation« werden könnten, erreichbar sei. Eine solche würde die nationale und kulturelle Vielfalt als unumstrittene Werte und Qualitäten anerkennen, womit allen Nationen - den kleinen ebenso wie den großen - eine ungestörte nationale Entwicklung und »eine genau statuierte nationale Autonomie« ermöglicht werden würde.2 Ein vollkommen anderes und viel düstereres Bild der mitteleuropäischen Vergangenheit und Gegenwart als Kocbek malte im Jahre 1946 - also sechs Jahre nach der Veröffentlichung des Artikels von Kocbek und gut ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges - der ungarische Jurist und Essayist Istvän Bibo in seinem Buch Die Misere der osteuropäischen Kleinstaaterei? Die ost- und mitteleuropäische Entwicklung des 19. und des 20. Jahrhunderts sei, so Bibo, größtenteils von extrem konservativen, ethnozentrischen und nationalistischen Tendenzen oder - wie er es wörtlich ausdrückte - von »nationaler Engstirnigkeit und Aggressivität,« vom »Fehlen eines demokratischen Geistes« und einem Mangel an politischem Realismus, von wechselseitigen Haßgefühlen und von ständiger Bereitschaft, Eigennutz auf Kosten des Nachbarn zu profitieren, gekennzeichnet. Bibo meinte - seinerseits sehr naiv und unkritisch im Hinblick auf den europäischen Westen -, daß die erwähnten negativen Erscheinungen vor allem auf Ost- und Mitteleuropa zuträfen und in der Geschichte des europäischen Westens nicht vorkämen. Eines der bedeutenden Merkmale des europäischen Westens sei nämlich die relative Stabilität der zwischenstaatlichen Beziehungen und der innerstaatlichen (?) Ordnung, die aus der Langlebigkeit der alten Nationalstaaten und ihrer unstrittigen integrativen Kraft resultierte, die schon in vormoderner Zeit die sprachlichen Minderheiten assimiliert und die Landespartikularis-men ausgeschaltet habe. In Ost- und Mitteleuropa hingegen sei die nach dem Verfall der alten historischen Grenzen und Staaten in der Neuzeit erfolgte Aufteilung auf Nationen einer der Hauptgründe für die immer wiederkehrenden Gegensätze und 2 Ebd. 3 Istvän Bibo, Die Misere der osteuropäischen Kleinstaaterei, Verlag Neue Kritik, Frankfurt 1992. 31 MUZIKOLOŠKI ZBORNIK « MUSICOLOGICAL ANNUAL XL Konflikte. Bibo bedauerte demgemäß, daß die Habsburger, historisch betrachtet (wie er schrieb), Zeit und Energie zur Stärkung ihres schwindenden Einflusses im Deutschen Reich und in Deutschland vergeudeten, statt ihre ganze Aufmerksamkeit dem Ausbau eines eigenen starken, nach westlichem Vorbild und auf historischen Fundamenten aufgebauten Zentralstaates zu widmen. Die »kulturelle und nationale« Vielfalt, die Kocbek als Vorteil und als Wert bezeichnete, war also in den Augen von Bibo eine Tragödie. Kocbek glaubte daran, daß nationale und kulturelle Verschiedenartigkeit die Grundlage für die moderne mitteleuropäische Demokratie seien, Bibo hingegen war der Überzeugung, daß das traditionelle Fehlen einer starken Staatlichkeit einer der Hauptgründe für den Mangel an Demokratie in Mittel- und Osteuropa sei.4 Die Reflexionen Kocbeks und Bibos über Mitteleuropa offenbaren nicht nur zwei grundverschiedene Einschätzungen der »kulturellen und nationalen« Vielfalt, sie veranschaulichen auch zwei vollkommen verschiedene nationale und historische Erfahrungen - die ungarische und slowenische. Das einzige, was die beiden Autoren verbindet, ist ihre Überzeugung, daß die nationale und kulturelle Vielfalt eine der charakteristischen Besonderheiten Mitteleuropas ist. Beide führen diese Vielfalt darauf zurück, daß der mitteleuropäische Raum stets ein Durchzugsgebiet war und sich im Vergleich zum Westen wirtschaftlich und sozial langsamer entwickelte. Beide Faktoren sollen die Entstehung starker, zentralisierter und politisch sowie national integrierter Nationalstaaten, die sie als Vorbedingung für eine schnellere wirtschaftliche und politische Modernisierung betrachteten, verhindert haben. Kocbek war Dichter, Bibo Essayist und Moralist. Beide benützten aber, so wie auch zahlreiche andere Autoren, die im 19. und 20. Jahrhundert über Mitteleuropa geschrieben haben, die Idee und das Konzept Mitteleuropa dafür, um ihre Enttäuschungen über die Vergangenheit, ihre Unzufriedenheit mit der Gegenwart und ihre Ängste aber auch Ziele vor der und für die Zukunft zum Ausdruck zu bringen. Die Überzeugung, daß Europa neben Osten und Westen, Norden und Süden noch seine Mitte habe, war in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als Kocbek und Bibo darüber nachdachten, bereits mehr als hundert Jahre alt. Wie bekannt, soll Europa nach der allgemein gültigen Teilung, die bereits die alten Römer kannten und die sich noch bis ins 17. und 18. Jahrhundert hielt, aus nur zwei Teilen bestehen: aus dem zivilisierten und entwickelten Süden, wo die mediterranen, vor allem italienischen Städte blühten, und dem »unkultivierten« barbarischen Norden. Mit der Entdeckung der Neuen Welt und dem Aufschwung des Überseehandels nahm die Bedeutung des Mittelmeerraumes und Italiens zwar ab und die sich dynamisch entwickelnden westeuropäischen Städte Paris, London und Amsterdam übernahmen die Rolle der neuen europäischen Finanz-, Handels- und Kulturmetropolen. Dennoch blieb die grundlegende konzeptuelle Teilung Europas in Nord und Süd bis zum 18. Bibo wird heute in Ungarn wegen seiner liberalen und demokratischen Ansichten und seines tragischen Todes in der kommunistischen Ära sehr geschätzt und ist ein oft zitierter Autor. Seine These, daß die widersprüchliche Berufung auf historische Rechte und zeitgenössische nationale Prinzipien, die notwendigerweise zu nationalen Spannungen und Konflikten führen und eines der Kennzeichen der modernen nationalen Bewegungen in Mitteleuropa und am Balkan seien, machte ihn auch außerhalb Ungarns berühmt. Die Arbeiten Bibos sind heute in zahlreiche europäische Sprachen übersetzt. 32 MUZIKOLOŠKI ZBORNIK « MUSICOLOGICAL ANNUAL XL Jahrhundert und bis zur Aufklärung bestehen, als die französischen Aufklärer mit Voltaire an der Spitze Osteuropa entdeckten und sich für die Aufteilung des Kontinentes in einer neuen West-Ost-Perspektive einsetzten (russische »Westler« bestimmten hingegen ihre Ostgrenzen).5 Diese Neudefinition des europäischen Koordinatensystems bestätigte nicht nur endgültig die seit dem 16. Jahrhundert bestehende Führungsrolle des europäischen Westens im europäischen Raum, sondern war auch die Folge der veränderten Verhältnisse im europäischen Osten, wo die Habsburger im späten 17. Jahrhundert die Türken aus der pannonischen Ebene vertrieben und sich Rußland gleichzeitig - nach den Reformen Peters des Großen und Katharinas IL - in Richtung Süden und Westen auszubreiten begann. Jetzt, als Europa seinen Osten und Westen hatte, begannen die Politiker und Diplomaten die europäische Mitte zu entdecken. Über diese »Mitte« herrschte bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts kein Zweifel: es war das Heilige römische Reich deutscher Nation. Dieses war zwar im Jahre 1806, als Napoleon es abschaffte, ein nur noch formales Gebilde ohne echte politische oder militärische Macht, das aber - wie sich sehr bald im Jahre 1815 herausstellen sollte — mit seinem Dasein und seiner Geschichte das trotz seiner Brüchigkeit und Unsicherheit wesentliche Gleichgewicht gewährleistete. Die Frage der europäischen Mitte und ihrer zukünftigen Organisation kam zum ersten Mal beim Wiener Kongreß auf, einerseits als Problem der zukünftigen Ordnung in Deutschland, andererseits als globale Frage der Stabilität im Raum zwischen dem autokratischen Rußland und dem nachnapoleonischen Frankreich. Der alte Meister Metternich überlegte in diesem Zusammenhang, als er gemeinsam mit den europäischen Mächten in Wien die europäische politische Karte neu ordnete, eine mitteleuropäische politische Allianz mit den Habsburgern an der Spitze, die neben der Habsburger Monarchie, dem Deutschen Bund und Teilen Italiens auch die Schweiz umfassen sollte. Für diese Idee erhielt er jedoch keine diplomatische Unterstützung.6 Die offenen Fragen im Hinblick auf die europäische Mitte betrafen auch im späteren 19. Jahrhundert vor allem Deutschland und seine Situation in Europa, das Verhältnis zwischen Deutschland und der Habsburgermonarchie sowie das Verhältnis zwischen den deutschen und den nichtdeutschen Nationen. Aus der Sicht der Slawen stellten sich besondere Fragen im Hinblick auf die innere Ordnung im österreichischen Reich und die Zukunft der habs-burgischen Slawen zwischen den beiden sprichwörtlich gefährlichen Nachbarn, den Russen im Osten und den Deutschen im Westen. Die Historiker der mitteleuropä- 5 Larry Wolf, Inventing Eastern Europe, The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford University Press 1994, S. 5 ff. Das Buch erhielt im Westen größtenteils lobende und zustimmende Kritiken, in Ost- und Mitteleuropa wurde es aber mit größerer Skepsis aufgenommen. Der ungarische Soziologe Csaba Dupcsik warf dem Autor vor, daß seine Feststellungen auf einer einseitigen Auswahl der Memoiren und Reisebeschreibungen der westlichen Reisenden in den Osten basierten, während er das Material, das darüber Auskunft geben könnte, wie sich die Bewohner des europäischen Ostens selbst sahen., nicht berücksichtigte. Außerdem nahm er Wolf übel, daß er nicht klarer auf den Unterschied zwischen Ost- und Mitteleuropa hinwies - es sollte doch bekannt sein, daß sich Polen, Tschechen und Ungarn zumindest seit dem 18. Jahrhundert nicht zu Osteuropa zählten und genau zwischen Ost- und Mitteleuropa unterschieden. Siehe: Csaba Dupcsik, Postcolonial Studies an the Inventing of Eastern Europe, East Central Europe -L'Europe du Centre-Est, Eine wissenschaftliche Zeitschrift, Vol. 26, part 1, Budapest 1999, S. 1-14. Jacques Droz, L'Europe Centrale, Evolution historique de l'idee de Mitteleuropa, Payot: Paris I960, S. 31-51. 33 MUZIKOLOŠKI ZBORNIK • MUSICOLOGICAL ANNUAL XL ischen Idee suchen die Wegbereiter und Begründer dieser Idee zunächst in Friedrich List und Karl Ludwig von Bruck, die sich in den vierziger und fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit ihren wirtschaftlichen und politischen Plänen für eine große deutsche bzw. mitteleuropäische Wirtschafts- und Zollunion einsetzten;7 ebenso in den austroslawischen und föderalistischen Plänen zur Umgestaltung der Habsburgermonarchie, die im Jahre 1848 von Karel Havlièek Borovsky, František Palacky und dem Slowenen Matija Kavèiè vertreten wurden; schließlich auch bei den konservativen Verfechtern der großdeutschen Pläne, die die preußischen Tendenzen nach der Vereinigung Deutschlands im kleindeutschen Rahmen ablehnten und auf der Erhaltung des Deutschen Bundes mit der Habsburgermonarchie an seiner Spitze beharrten. Der vielleicht bedeutendste unter ihnen, der preußische Diplomat Konstantin Frantz, der zwischen 1850 und 1870 mehrere Publikationen und Abhandlungen veröffentlichte, in denen er das nationale Prinzip ablehnte und sich für die Bildung einer großdeutschen Konföderation in den Grenzen des alten deutschen Kaiserreiches einsetzte, verglich im Jahre 1871 das Bismarck'sche Kaiserreich mit dem altehrwürdigen Deutschen Reich: das erste erschien wie eine Kaserne im Vergleich zu einer »gothischen Kathedrale«.8 Die konservativen »Träumereien« eines Frantz hatten nach der Ausrufung des kleindeutschen Kaiserreiches Bismarcks in Versailles natürlich keine Bedeutung mehr, einige andere Überlegungen, etwa Palackys Furcht vor den Deutschen und den Russen, die sich als prophetisch erweisen sollte, wurden hingegen in tragischer Weise bestätigt. Im Jahre 1904 wurde im Deutschen Reich der Mitteleuropäische Wirtschaftsverein gegründet, der eine engere verkehrsmäßige und wirtschaftliche Verbindung nicht nur zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn, sondern auch mit der Schweiz, Belgien und Holland herstellen sollte. Der Verein war bis zum Ersten Weltkrieg aktiv und war, obwohl formal unpolitisch, bereits Bestandteil deutscher Planungen, nach denen sich die Deutschen in der Welt, die von wenigen großen Staaten dominiert erschien, einen eigenen wirtschaftlichen und politischen Raum aufbauen müßten. Und dieser Raum sollte - gemeinsam mit einem Gürtel von neutralen Staaten im Westen - der Raum Mitteleuropas sein.9 Die expansiven deutschen Ambitionen waren auch das Hauptmotiv für das Buch von Friedrich Naumann, deutscher Publizist und Reichsabgeordneter, der im Ersten Weltkrieg dem Begriff »Mitteleuropa« internationale Geltung verlieh. Das Buch erschien im Jahre 1915 in Berlin und wurde in einigen Wochen - mit mehr als 100 000 verkauften Exemplaren - zum wahren Bestseller.10 Naumann stimmte den Ideen, ein großes mitteleuropäisches konföderatives Staatsgebilde zu bilden, zu. Dieses sollte (nach dem Krieg) durch ein wirtschaftliches und militärisches Bündnis zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn 7 Der Ausdruck Mitteleuropa tauchte höchstwahrscheinlich in der Mitte des 19- Jahrhunderts gerade in den Abhandlungen im Umkreis des Karl Ludwig von Bruck auf. Siehe Arduino Agnelli, La genesa dell'idea di Mitteleuropa, Giuffre Editore, Milano 1973. 8 Jaques Droz, op. cit, S. 51-116. 9 Bogo Grafenauer, Srednja Evropa? Zakaj ne preprosto Evropa, Srednja Evropa (zusammengestellt und redigiert von Peter Vbdopivec), Mladinska knjiga Ljubljana 1991, S. 15-26. 10 Friedrich Nauman, Mitteleuropa, Berlin: Reimer, 1915. 34 MUZIKOLOŠKI ZBORNIK • MUSICOLOGICAL ANNUAL XL entstehen und im Raum zwischen Großbritanien und Frankreich einerseits und Rußland andererseits eine starke, von Ost und West unabhängige wirtschaftliche und militärische Gemeinschaft bilden. Naumann, vor dem Krieg ein liberal orientierter Befürworter des deutschen Kolonialismus, wandte nach dem Ausbruch des Krieges sein Interesse Europa zu und stellte die auch heute modern klingende Behauptung auf, daß »die Politik vom Geist der großangelegten Industrie und der übernationalen Organisationen beherrscht wird«. Das Große, das politisch und wirtschaftlich bessere sei im Kampf um das Überleben wirksamer und »schöner« als das Kleine. Die kleinen Nationen könnten in diesen Verhältnissen nicht »souverän« bleiben oder noch konkreter: eine tschechische Armee, ein kroatischer Befehlshaber des Generalstabs, ein ungarischer Außenminister, slowenische Wirtschaftspolitik und galizische Finanzen seien ebenso unsinnig wie unmöglich.11 Naumann war vom Prinzip der Selbstbestimmung natürlich weit entfernt. Es war ihm aber bewußt, daß die nationalen Bewegungen in der Habsburgermonarchie eine ernste Gefahr für seine Vision von Mitteleuropa darstellten und forderte daher, daß das mitteleuropäische Bündnis keinen deutschen, sondern einen übernationalen Charakter aufweisen müsse und keine zwanghafte politische, sprachliche und nationale Vereinheitlichung angestrengt werden dürfe. Seine Ideen spalteten die deutsche und die Österreich-ungarische öffentliche Meinung sehr stark. Seine Befürworter kamen aus den Reihen der Sozialdemokraten, wie etwa Karl Renner, und sogar slawischer (auch slowenischer) Intellektueller, gleichzeitig wurde er von Deutschnationalen, von Ungarn und von jenen slawischen Politikern, die eine föderative Umgestaltung Österreich-Ungarns befürworteten, angefeindet. Aber schon im Jahre 1917, als Fortuna den Mittelmächten endgültig den Rücken kehrte, gerieten die Polemiken um die Ideen Naumanns und seine Ideen selbst in Vergessenheit.12 Unter den österreichischen Kritikern, die Naumanns Ideen über Mitteleuropa zurückwiesen, war der interessanteste zweifelsohne Hugo von Hofmannsthal, Dichter und Schriftsteller, der schon vor Naumann über das geistige Mitteleuropa mit dem Zentrum in der Doppelmonarchie geschrieben und gesprochen hatte. Seine Vorstellungen über eine österreichische Alternative zu Naumanns Mitteleuropa faßte er im Vortrag »Österreich im Spiegel seiner Dichtung« zusammen, gehalten im Oktober 1916, in dem er versuchte, die österreichische (mitteleuropäische) Kulturidentität zu bestimmen. Hofmannsthal versuchte seine Ideen zu einem Mitteleuropa der Bildung und der Kultur auch in den zwanziger Jahren zur Geltung zu bringen; unter anderem wirkte er bei der Gründung der Salzburger Festpiele (1920) mit, verband aber seine -im Vergleich zu Naumann gewiss anziehenderen, aber auch naiveren Vorstellungen - mit etwas gefährlichen Ansichten, die den Ausweg aus der Nachkriegskrise in der »konservativen Revolution« und in einem neuen Reich suchten.13 11 John Neubauer, What's in a name? Mitteleuropa, Central Europe, Eastern Europe, East Central Europe, Kakanien Revi-sted 07/50/2003 (www.kakanien.ac.at). S. 5. 12 Aber Naumann wurde nicht vergessen. Die deutschen Liberalen behielten ihn in Erinnerung als einen der Begründer des deutschen Liberalismus, und die deutschen Freien Demokraten (FDP) betrachten ihn noch heute als einen ihrer Vorväter. Nach ihm ist auch der wichtige kulturwissenschaftliche Fonds »Friedrich Naumann Stiftung« benannt. 13 John Neubauer, op. cit, S. 6. 35 MUZIKOLOŠKI ZBORNIK • MUSICOLOGICAL ANNUAL XL Von den nach dem Ersten Weltkrieg auf dem Gebiet der zerfallenen Habsburgermonarchie entstandenen Staaten gingen zwar einige in den zwanziger und dreißiger Jahren untereinander Bündnisse wie etwa die »Kleine Entente« ein. Diese Kontakte blieben aber größtenteils vollkommen pragmatische Verbindungen, die weit entfernt waren von jenen Vorstellungen, die diverse Befürworter von Kooperationen und Gemeinschaften im mitteleuropäischen- und Donauraum entwarfen. Die mitteleuropäischen (und andere) Vereinigungsideen, die in den letzten Kriegsjahren Anhänger unter den Tschechen und den österreichischen Sozialdemokraten hatten,14 fanden in den zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts glühende Befürworter unter den Ungarn und Slowaken, weniger jedoch bei den Slowenen. Ihre Initiativen waren ebensowenig erfolgreich wie diverse andere, paneuropäische Ideen, die in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg zum Schutz vor sowjetischen und deutschen Einflüssen und Pressionen einen Bund der »kleinen Nationen« zwischen dem Baltikum und Griechenland anregten. Die »neu gegründeten und formierten Staaten (in Mitteleuropa) zeigten viel mehr Phantasie, sich voneinander abzuschotten, als beim Anknüpfen freundschaftlicher nachbarschaftlicher Verbindungen«, stellte Ele-mer Hantos, Professor an der Budapester Universität, im Jahre 1932 auf dem Höhepunkt der großen Wirtschaftskrise fest. Hantos lehnte die Kleine Entente ab und rief zu einer Wirtschaftsunion »freier« Mitteleuropastaaten auf; er sah daß die »mitteleuropäische Integration« als zeitbedingte Notwendigkeit, wenn die kleinen europäischen Staaten nicht bloß »Spielzeug« in den Händen der starken Nachbarn sein wollten. Obwohl er ein ganzes Netz von Wirtschaftsinstituten - in Wien, Budapest, Brunn und Genf - gründete und nicht geringen Einflusses auf die öffentliche Meinung ausüben konnte, hatte Hantos praktisch keinen Erfolg in der Politik.15 Zur selben Zeit erlebte die Mitteleuropaidee - ganz anders, als Hantos sich dies vorstellte - in Deutschland eine Renaissance. In der Idee von Mitteleuropa, über die in den dreißiger Jahren deutsche nationalsozialistische Ideologen und diverse andere Theoretiker der deutschen wirtschaftlichen, politischen und militärischen Expansion in den Osten - von dem Geographen Albert Haushofer bis zu dem Historiker Heinrich v. Srbik - sprachen, war keine Spur mehr von Naumanns Bereitschaft zu einem Dialog oder einer Kooperation mit den nichtdeutschen Nationen zu erkennen. Im nationalsozialistischen politischen Vokabular wurden unter »Mitteleuropa« jene Länder zusammengefaßt, die sich unter deutschem Kultureinfluß gebildet hatten und daher untrennbar mit der deutschen Kultur verkoppelt werden sollten. Gleichzeitig wurde damit jenes Gebiet bezeichnet, das wegen seiner besonderen Lage und Geschichte nicht nur einen vitalen Teil des deutschen Lebensraumes, sondern auch Unter den tschechischen Initiativen wird in diesem Zusammenhang vor allem der Plan Massaryks für eine Föderation zwischen dem Baltikum und der Ägäis erwähnt, den er im Jahre 1917 den Westmächten unter dem Titel Neues Europa präsentierte. Siehe J. Droz, zit. Werk, S. 244. Unter den Sozialdemokraten überlegte auch Henrik Tuma - in der Überzeugung, daß den Slowenen die größte Gefahr von Italien drohte - im Jahre 1917 die Gründung einer »Staatseinheit Adria-Donau-Sudeten-Karpaten-«, die die »Selbstverwaltungseinheiten« der Tschechen, Polen, Romanen, Slowaken, Deutschen, Ungarn und Jugoslawen vereinigen würde. Siehe Branko Marušiè, Politiène koncepcije Henrika Turne 1918, Slovenske zamisli o prihodnosti okoli leta 1918. (Hg. von P. Vodopivec), Slovenska matica, Ljubljana 2000, S. 59. J. Droz, zit. Werk, S. 247-249. 36 MUZIKOLOŠKI ZBORNIK • MUSICOLQGICAL ANNUAL XL ein natürliches deutsches wirtschaftliches Hinterland bildete. Im Einklang mit diesen Ansichten und der deutschen Wirtschaftspolitik, die der Doktrin »Großraumwirtschaft« folgte, wiesen die nationalsozialistischen Anhänger der Mitteleuropaidee auf die besonderen Rechte und die spezielle Mission des Deutschtums in der europäischen Mitte hin und riefen zu einer engeren wirtschaftlichen und politischen Annäherung der mitteleuropäischen Staaten an Deutschland auf, die - nach vollzogenem inneren Wandel im korporativen Geiste - in der Mitte Europas ein Bollwerk sowohl gegen die schädliche Gesinnung des bolschewistischen Kommunismus als auch gegen die um nichts weniger schädlichen Einflüsse des westeuropäischen Individualismus schaffen sollte. Die Mitteleuropaidee wurde Mitte der dreißiger Jahre demnach zum Argument und zur Begründung für die Ausbreitung des deutschen wirtschaftspolitischen Einflusses nach Mitteleuropa und auf den Balkan und damit ein bedeutendes Instrument der deutschen Diplomatie, die seit 1934 mit Hilfe wirtschaftlicher und politischer Verträge zwischen Deutschland und den einzelnen mitteleuropäischen- und Balkanstaaten versuchtem ein neues System von Beziehungen und Abhängigkeiten aufzubauen. Im Raum zwischen Deutschland und der Sowjetunion sollte das Deutsche Reich an der Spitze dieses Systems stehen. Als der Krieg begann, diente »Mitteleuropa« nur noch als Erklärung und Rechtfertigung für die deutsche Wirtschaftsexpansion in den Osten. Im Jahre 1945 hatte es daher den Anschein, daß mit der Niederlage des Deutschen Reiches und mit der Entstehung des Eisernen Vorhanges auch das Ende der Diskussionen über Mitteleuropa gekommen war. Der Begriff »Mitteleuropa« war -besonders in seiner deutschen Form - als Bestandteil des nationalsozialistischen politischen Vokabulars kompromittiert. Aber auch der Raum in der europäischen Mitte existierte seit dem Entstehen der Grenzen zwischen den Blöcken nicht mehr. Nach dem Jahre 1948 und dem Bruch Jugoslawiens mit Moskau könnte man sogar sagen, daß der einzige relativ selbständige Raum zwischen Ost und West das Gebiet des titoistischen Jugoslawien war. Das sozialistische Jugoslawien vermochte diese Zwischenrolle langfristig nicht für sich zu nützen, blieb es doch gespalten zwischen den Anliegen des »Herzens« der politischen Eliten, das noch immer in Richtung Osten schlug, und den wirtschaftlichen Wünschen, die nach Westen wiesen. Ansonsten waren aber die Fachleute, die sich mit der Entwicklung und diversen Inhalten der Mitteleuropaidee in der Vergangenheit beschäftigten, überzeugt, daß »Mitteleuropa« als politischer oder sogar geographischer Begriff keine Gegenwarts-Bedeutung mehr haben und nur noch Gegenstand unangenehmer Erinnerungen, der Forschung und der Geschichtsschreibung sein könne. Im Gegensatz zu diesen Prognosen wurde Mitteleuropa aber schon in den sechziger und siebziger Jahren erneut zum Gegenstand öffentlicher Diskussionen und Überlegungen. Zuerst wurde es, sogar in der deutschen Form des Begriffes »Mitteleuropa«, in Oberitalien zum Leben erweckt, wo unter dem Eindruck der Gegensätze innerhalb Italiens der Gedanke auflebte, daß jene italienischen Provinzen, die vormals zur Habsburgermonarchie gehört hatten, auch nach mehr als einem Jahrhundert im italienischen Staat wirtschaftlich und kulturell Mitteleuropa näher stünden als Mittelitalien oder dem italienischen Süden. Von Italien breitete sich die Mitteleuropa- 37 MUZIKOLOŠKI ZBORNIK • MUSICOLOGICAL ANNUAL XL Diskussion nach Österreich aus. Gleichzeitig wurde die Frage der Europäischen Mitte am Beginn der achtziger Jahre (aus vollkommen anderen Überlegungen als die italienischen und österreichischen) eines der zentralen Themen der tschechischen, polnischen und ungarischen regimekritischen Intellektuellen. Mit Texten von Milan Kundera, György Konräd, Czeslaw Milosz und - in weniger konsistenter Form -Peter Esterhäzy bekam die mitteleuropäische Diskussion eine neue Dimension und Akzentuierung.16 Ihr Leitgedanke könnte kurz und etwas verallgemeinernd folgendermaßen zusammenfaßt werden: Mitteleuropa widerfuhr ein besonderes historisches Schicksal, das durch die relative Kleinheit seiner Nationen und seine ständige Gefährdung durch die großen Imperien geprägt wurde. Den mitteleuropäischen Nationen, eingeklemmt zwischen europäischem Osten und Westen, gelang es nicht - und das ist bezeichnend für dieses Schicksal - , die unerläßlichen staatlichen Einrichtungen und politischen Mechanismen für eine dauerhaftere selbständige und aktive historische Existenz aufzubauen.17 Überlegungen dieser Art befaßten sich weniger mit der Vergangenheit als vielmehr mit Gegenwart und Zukunft. Die antikommunistischen tschechischen, ungarischen und polnischen Dissidenten widmeten sich im Rahmen ihres Denkens über Mitteleuropa vor allem den Fragen der Möglichkeiten einer Welt, die durch den Bolschewismus und die Aufteilung Europas in Blöcke nach 1945 von der Landkarte getilgt worden war. Die Mitteleuropa-Bewegung hatte daher bis zu den großen Veränderungen, die in den Jahren 1989/90 die Grenzen der Blöcke niederrissen, eine ausgesprochen politische Sprengkraft.18 Die Mitteleuropa-Diskussion wurde nach dem Sturz der kommunistischen Regime im ehemaligen sowjetischen Osteuropa trotz Versuchen Österreichs, sich an die Spitze neuer mitteleuropäischen Vereinigungen zu stellen und trotz diverser Bündnisse, welche die in Selbständigkeit und Demokratie erneuerten mitteleuropäischen Staaten wirtschaftlich und politisch miteinander verbinden sollten, in die zweite Linie abgedrängt. Schon in den neunziger Jahren wurde überall »Europa« zum zentralen politischen Thema, das zum Synonym für die Europäische Union und für Westeuropa wurde. Gleichzeitig wurden in der Öffentlichkeit die Verfechter Mitteleuropas als eines besonderen historischen Raumes zwischen dem europäischen Osten und dem Westen, der durch zahlreiche Besonderheiten in seiner Entwicklung und in der Gegenwart bestimmt wurde, von ihren Gegnern überstimmt. Sie übernahmen die Meinung Eric Hobsbawms, der feststellte, daß Mitteleuropa nie etwas anderes war als eine Idee und ein ideologisches Konstrukt, das historisch betrachtet »eher zur Politik als zur Geographie und eher auf das Feld der Programmatik als der Wirklich- Wie John Neubauer schreibt, begann die Diskussion mit dem Einleitungsvortrag des polnischen Dichters Czeslaw Milosz an der Universität Harvard im Studienjahr 1981/1982. Besonders angeregt hat sie dann aber Milan Kundera mit dem Artikel Tragedija Srednje Evrope [Die Tragödie Mitteleuropas], der zum ersten Mal in New York Review of Books im Jahre 1984 erschien. Im Slowenischen: Milan Kundera, Tragedija Srednje Evrope, Srednja Evropa, Mladinska knjiga, Ljubljana 1991, S. 117-129. Der Artikel erschien in slowenischer Übersetzung zum ersten Mal in der Nova revija Nr. 30/1984. Die Mitteleuropaideen der polnischen, tschechischen und ungarischen Intellektuellen wurden natürlich auch scharf kritisiert. Einer der Hauptvorwürfe war, daß ihre Mitteleuropaideen ein ahistorisches Konstrukt seien, der primär aus ihrem Wunsch nach einer möglichst deutlichen Abgrenzung zu Sowjetrußland resultierte. Siehe Maria Todorova, Imaginary Balkna, Vita Activa, Ljubljana 2001, S. 219-248. 38 MUZIKOLOSKI ZBORNIK • MUSICOLOGICAL ANNUAL XL keit gehörte«.19 Die Feststellung Hobsbawms ist natürlich vollkommen richtig, wenn er damit die Geschichte der Mitteleuropaidee meint, aber stimmt sie auch im Hinblick auf die historische Realität? Wie diverse zeitgenössische Forscher der europäischen Geschichte beweisen -und soweit nicht von Mitteleuropa die Rede ist, ist auch Eric Hobsbawm damit prinzipiell einverstanden20 - , war Europa in der Vergangenheit niemals ein einziges oder aus zwei Hälften (Ost und West) zusammengesetztes Gebilde, sondern bestand immer schon aus mehreren Großregionen, in denen eine je unterschiedliche wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklungsdynamik herrschte. Eine dieser Regionen soll zumindest seit dem 17. Jahrhundert die »europäische Mitte« gewesen sein, sei es im Umfang des habsburgischen Gebietes, sei es etwas größer, also mit Preußen, Polen und den süddeutschen Ländern. Aus der historischen Perspektive betrachtet, herrscht natürlich kein Zweifel darüber, daß über Mitteleuropa als einer besonderen, übernationalen kulturellen und geographischen Entität nicht gesprochen werden kann. »In dieser Region sind die Unterschiede zwischen den nationalen Kulturen größer als die Ähnlichkeiten, die Antagonismen präsenter als der Konsens und die Homogenität,« schrieb einleuchtend der serbische Schriftsteller Danilo Kis.21 In der historischen und anthropologischen Forschung wird aber in der letzten Zeit den Kategorien »Raum« und »Erbe« wieder mehr Bedeutung beigemessen.22 So gesehen können aber im mitteleuropäischen Raum seit dem 17. Jahrhundert mindestens drei verschiedene Enwicklungsspezifika verfolgt werden, die es ermöglichen, Mitteleuropa als eine besondere historische Region des europäischen Kontinentes zu bezeichnen. Und alle drei hatten Langzeitfolgen für die Entwicklung der mitteleuropäischen Nationen und Gesellschaften. Wie der britisch-kanadische Historiker Philipp Longworth23 überzeugend feststellt, blieben die mitteleuropäischen Länder traditionell hinter den westeuropäischen Regionen nicht nur in der Entwicklung von Wirtschaft, Gesellschaft und Bevölkerung zurück, sondern auch in der Entwicklung der Städte und des Bürgertums. Dadurch wurde eine langanhaltende politische und besitzmäßige Vorherrschaft des Adels ermöglicht ebenso wie die Abhängikeit des Bauernstandes und eine bis ins 19. Jahrhundert existierende Leibeinschaft. Eine raschere gesellschaftliche und wirtschaftliche Modernisierung und Integration wurde zudem durch die zunächst losen und im Vergleich zu West- und Osteuropa wesentlich schwächeren, in weiterer Folge aber zu starren und deformierten staatlichen, dynastischen und finanzwirtschaftlichen Institutionen verlangsamt und behindert. Diesen gelang es nicht, traditionelle Partikularismen abzuschaffen sowie die sozial schwächer strukturierten Sprachgruppen zu absorbieren und in einen modern organisierten, verwaltungsmäßig, politisch und Eric Hobsbawm, Outside and Inside History, On History, Abacus, London 1998, S. 1-12. E. Hobsbawm, The Curious History of Europe, ebd. S. 287-301. Danilo Kis, Variacije na srednjeevropske teme, Srednja Evropa, Mladinska knjiga, Ljubljana 1991, S. 107. Maria Todorova, The Balkans as Category of Analysis: Border, Space, Time, Annäherungen an eine europäische Geschichtsschreibung. Herausgegeben von Gerald Stourzh unter Mitarbeit von Barbara Haider und Ulrike Harmat, Verlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2002, S. 63-64. Philipp Longworth, Srednja Evropa: selektivne afinitete, Srednja Evropa, Mladinska knjiga 1991, S. 131-135. 39 MUZIKOLOŠKI ZBORNIK • MUSICOLQGICAL ANNUAL XL sprachlich einheitlichen nationalen Staat umzuwandeln. So verschwand Polen Ende des 18. Jahrhunderts als selbständiger Staat für mehr als 130 Jahre von der Landkarte, weil es - im Gegensatz zu Peter dem Großen und Katharina II. - nicht fähig war, eine wirksame Herschaft des Königs oder des Staates zu etablieren. Preußen brauchte mehr als hundert Jahre von Reformen, um sich an die Spitze der Vereinigung Deutschlands zu stellen. Danach war es jedoch wegen der zu starken Macht des Adels und der preußischen Konservativen nicht imstande - trotz einer mehr als erfolgreichen wirtschaftlichen Modernisierung - auch eine wirksame soziale und politische Demokratisierung herbeizuführen. Das gleiche gilt für die Habsburger, die schon unter Joseph II. erfolglos die Vereinheitlichung von Sprache und Verwaltung durchzusetzen versuchten, um später bei ihren Zentralisierungsbestrebungen eine neue Niederlage in der Ära des sogenannten Bach'schen Absolutismus zu erfahren. Das Scheitern war zwar die Folge der Opposition seitens der »alten historischen Nationen« -der Ungarn und in der Mitte des 19. Jahrhunderts auch der Tschechen und Polen- , schicksalshaft waren die Folgen aber auch für die kleineren, »nichthistorischen« Nationen, für die es noch am Beginn des 19- Jahrhunderts schien, daß sie keine Zukunft hätten. Diese entwickelten sich aber unter den besonderen Bedingungen der Habsburger Monarchie - trotz Versuchen der herrschenden Eliten, ihre nationale »Reifung« zu behindern oder zu verlangsamen - zu poltisch und kulturell »reifen« Nationen, die ihre nationale Eigenheit bewahren und strärken wollten. Die nationale und kulturelle Vielfalt Mitteleuropas und vor allem seines zentralen, zur Habsburgermonarchie gehördenen Teiles war demnach die Folge einer ganz spezifischen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklung, die die Formierung starker, zentralisierter Staaten nach westlichen Mustern ebensowenig zuließ wie die Bildung autokratischer Monarchien nach östlichen Volbildern. Gerade durch den langsamen, evolutiven Modernisierungsrhythmus wurde das Verschwinden und die Assimisation der sozial noch nicht ausgebildeten ethnischen Gruppen verhindert und ihre allmähliche Reifung zu moderenen Nationen ermöglicht (eine dieser Nationen waren ganz bestimmt die Slowenen). Das zweite Wesensmerkmal der mitteleuropäischen Entwicklung war sein Bürgertum. Der Großteil, bei einigen Nationen der überwiegende Teil erwarb bürgerlichen Status erst im 19. Jahrhundert und zwar nicht durch wirtschaftliche Tätigkeit oder geschäftliche Geschicklichkeit, sondern über die Absolvierung von Schulen und den Erwerb von Bildung. Die besondere Zusammensetzung des Bürgertums, in dem die durch die Bildung zu den bürgerlichen Eliten emporgestiegenen Personen dominierten und die nach abgeschlossenem Studium in den freien Berufen und in der Staatsverwaltung beschäftig waren, wirkte sich natürlich wesentlich auch auf die politische Orientierung und die Aktivitäten der bürgerlichen Eliten aus. Für diese war kennzeichnend, wie der deutsche Sozialhistoriker Hans Ulrich Wehler festhielt,24 daß sie sich parteimäßig vor allem nach ideologischen und weniger nach Interes-sensmaßstäben organisierten. Ferner waren so im Vergleich zu jenen Bürgerlichen, Hans Ulrich Wehler, Wie bürgerlich war das Deutsche Kaiserreich, Aus der Geschichte lernen, C.H.Beck, München 1988, S. 194. 40 MUZIKOLOŠKI ZBORNIK • MUSICQLOGICAL ANNUAL XL die in den britischen Oxbridge-Colleges und den französischen Grandes Ecoles studierten, in ihren sozialen, wirtschaflichen und politischen Vorstellungen meist weniger radikal und eher zu Kompromissen bereit und auf das politisches Gleichgewicht orientiert. Diese Tatsache trug wesentlich zur Stärkung der Rolle des Staates in Mitteleuropa bei, als dieser mit dem Modernisierungsprozess die rechtlichen und politischen Rahmen bestimmte. Beide Traditionen, die Tradition des »Rechtsstaates« mit seinen Wurzeln in den absolutistischen Reformen des 18. Jahrhunderts ebenso wie die führende Rolle des Staates im sonst langsamen Prozess der Veränderung und der Modernisierung, die der österreichische Historiker Ernst Hanisch metaphorisch als »der lange Schatten des Staates« bezeichnete,25 überlebten die alte Monarchie und beinflußten die Entwicklung der Staaten, die nach 1918 entstanden. Das Bürgertum war größtenteils (vielleicht mit Ausnahme Böhmens) zu schwach und zu konservativ, um die Staaten effektiv in die Moderne zu führen. Zunächst schaffte es nicht, dem nazistischen Deutschland und dem Hitlerismus entgegenzutreten. In Jugoslawien überließ das bürgerliche Lager mit seiner Unschlüssigkeit und seiner Unfähigkeit, den Widerstand um sich zu sammeln, nach 1941 die Initiative den Kommunisten. Der ersten Katastrophe folgte die zweite. Einen großen Teil Mitteleuropas besetzte nach der deutschen Niederlage die Rote Armee, und überall dort, wo der Widerstand in den Händen der Kommunisten lag, rissen diese nach der Beendigung des Krieges die Macht an sich. Und drittens: Trotz zahlreicher Unterschiede entstanden in Mitteleuropa viele gemeinsame politische, kulturelle und Bildungsinstitutionen, die -wenn schon nicht mit ganz ähnlichen, so doch - mit vergleichbaren Erfahrungen das politische Verhalten sowie die sozialen und Verhaltensnormen und Vorstellungen der Bevölkerung tiefgreifend beinflußten. Generationen von Angehörigen der mitteleuropäischen Nationen wurden in ähnlichen Schulen und Universitäten mit ähnlichen Programmen unterrichtet. Auf diese Weise bildeten sie im Kampf um die nationale Durchsetzung und Emanzipation ähnliche Verhaltenskodizes und Werte aus, wobei der Sprache und dem kulturellen Schöpfergeist als unentbehrlichen Faktoren der nationalen Selbstbestätigung und Selbstverwirklichung eine zentrale Rolle zukam. Ähnliche Institutionen, Vorstellungen und Werte bewirkten auch die Entstehung transnationaler Netze und wechselseitiger Beinflussung, die die Entwicklung des mitteleuropäischen Raumes und der mitteleuropäischen Nationen in allen Epochen prägten: der Humanismus und die Renaissance, das weit verbreitete Barock, die auf kleine Elite beschränkte Aufklärung, die lebhafte Romantik - bis hin zur Moderne und zum fin de siecle. »Mitteleuropa« war demnach keineswegs nur eine Idee oder ein ideologisches Konstrukt, bloß ein Resultat verschiedener ideologischer, wirtschaftlicher und politischer Bestrebungen oder Aspirationen. Mindestens durch zwei hundert Jahre war es auch eine konkrete historische Wirklichkeit mit ihrer eigener Dynamik und ihrem eigenen Weg in die Moderne, die für die meisten mitteleuropäischen Nationen und 25 Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates, Österreichische Geschichte 1890-1990, Hg. von Herwig Wolfram, Überreuter, Wien 1994. 41 MUZIKOLOŠKI ZBORNIK ® MUSICOLOGICAL ANNUAL XL Staaten kennzeichnend war. Um kurz zu Kocbek und Bibo zurückzukehren: Multi-kulturalität und Multinationalität sind zweifelsohne nur ein Aspekt der mitteleuropäischen Vergangenheit und die Geschichte gab im Endeffekt Bibo eher recht als Kocbek. Denn der Nationalismus war in zahlreichen vergangenen mitteleuropäischen Epochen viel stärker als der Wille für das Miteinander, was besonders tragisch die Juden zu spüren bekamen, die als die einzigen echten Mitteleuropäer im Prozess der gegenseitigen Abgrenzungen und der ethnischen Säuberungen Opfer der blutigen nationalsozialistischen und antisemitischen Gewalt wurden.26 Mitteleuropa war auch nicht fähig, sich dem Nationalsozialismus und Kommunismus entgegenzustellen und machte mit zahlreichen Opfern seine schlimmen Erfahrungen mit beiden totalitären Systemen. Aber trotz dieser extrem negativen Erfahrungen der nationalistischen Intoleranz, des Antisemitismus und des politischen Autoritarismus treten Mitteleuropa und seine Nationen auch mit dem positiven Erbe des Föderalismus, der hochwertigen kulturellen Schaffenskraft und der ständig präsenten Bestrebung nach Anerkennung der Multikulturalität und der Multinationalität als Qualität und als Wert in das 21. Jahrhundert. Daraus geht wohl eindeutig hervor, daß Mitteleuropa nicht nur eine Sackgasse und ein Raum der wiederkehrenden Tragödien war, wie Milan Kundera meinte.27 Die nationalistische, antisemitische und xenophobe Gewalt gehören auch heute noch nicht der Vergangenheit an: »Der Kommunismus war eine Art Tiefkühlschrank« schreibt Adam Michnik. »Die bunte Welt der Spannungen, Emotionen und Konflikte ist mit einer dicken Schicht Eis bedeckt. Der Prozeß des Tauens dauerte lange: zuerst erblickten wir schöne Blumen, danach den Schlamm und das Unkraut. Zuerst herrschte der Pathos des friedlichen Falles der Berliner Mauer und der samtenen Revolution in der Tschechoslowakei. Danach eine Welle der fremdenfeindlichen Primitivitäten,.....der Zerfall der Tschechoslowakei.... die Stimmung gegen die Zigeuner in diversen Ländern...« Adam Michnik, Sje lepo, Mostovi 109, 1997 (www.mostovi.co.yu/arhiva/97/109/10905-l.hml) 27 Und die Zukunft? Der italienische Analytiker Giuseppe Russo meinte, daß Mitteleuropa in der Europäischen Union erneut zu einem, eng mit der deutschen Wirtschaft verflochtenen Raum und Bestandteil der Staaten der Ostachse mit dem Zentrum Berlin werden würde. Diese Achse wird aus den Staaten vom Baltikum über Polen, Tschechien, Slowakei, Slowenien, Kroatien und Ungarn bis Rumänien, Bulgarien und der Türkei gebildet. Siehe Giuseppe Russo, L'Europa ha und centro? Limes, Rivista italiana die Geopolitica 3/2003, S. 51-58. 42