Maria Iliescu Universität Innsbruck CDU 807.3-318 ALLGEMEINE TENDENZEN DES VULGÄRLATEINISCHEN WORTSCHATZES (ALS VORSTUFE DER ROMANISCHEN SPRACHEN) 1.0. Im allgemeinen tendieren die Sprachen zur Einfachheit und Regelmäßigkeit und gleichzeitig auch zur Ökonomie. Mit einem möglichst kleinen Aufwand versucht man mit der Sprache ein Maximum zu erreichen, und möglichst viel Informationen klar auszudrücken und zu verstehen. Die Ökonomie, der "effort minime" bezieht sich sowohl auf den signifiant als auch auf den signifié. Der Erste sollte mühelos auszusprechen sein, der Letztere sollte leicht zu verstehen und zu behalten sein. Gerät dieses Prinzip der Sparsamkeit in Konflikt mit jenem der Klarheit gleicht die Sprache diese Spannung aus. Die Wechselbeziehung zwischen Einsparung und Klarheit ist gewiss eine der wichtigsten inneren Ursachen der Veränderung einer Sprache, doch nicht die einzige. Zwischen Sparsamkeit und Klarheit steht noch ein anderes wichtiges Element: die subjektive Einstellung des Sprechers, mit anderen Worten der pragmatische, situative Kontext der Rede, abhängig von der Vielfalt der sprachlichen Varietäten. Dazu gehört auch die Expressivität (Hervorhebungen verschiedener Art, Assoziationen, Stilfiguren), die Kreativität mit sich bringt und nicht nur die gesprochene, sondern auch die geschriebene dichterische Sprache (man denke an die poetischen Lizenzen) charakterisiert. Die Norm, die in den kulturell entwickelteren Sprachgemeinschaften sich bemüht in die Sprache, und zwar in die literarische unmarkierte Hochsprache Ordnung zu bringen - im Sinne einer Regelung und Festlegung der verschiedenen soziolinguistischen und diatopischen Varianten - hemmt in einem gewissen Maße die natürliche Tendenz zur Einfachheit (sage Regelmäßigkeit) und zur Kreativität, indem sie den Sprechern gewisse Regeln auferlegt, die in viel höherem Maße für die geschriebene Sprache höherer Stilebenen und viel weniger für die gesprochene, familiäre und volkstümliche Sprache gelten. Lockert die Norm ihre Zügel - aus extralinguistischen Gründen - kommen die natürlichen, in der Volkssprache bestehenden Tendenzen wieder an die Oberfläche. Sie verändern zahlreiche Aspekte der Sprache, wobei externe Faktoren nicht auszuklammern sind. So geschah es, dass der langsame Zusammenbruch des römischen Reiches den Untergang der Norm, d. h. des lateinischen klassischen, literarischen Lateins weitgehend bewirkte. Die alten, volkstümlichen Tendenzen, die schon in den Dialogen der Komödien des Plautus, sowie, wenn auch in geringerem Maße in Cicero's Briefwechsel mit seinem Freund Atticus, im Satyricon des Petronius, in der Fehlerliste - die unter dem 263 Namen Appendix Probi bekannt wurde in Glossen, Inschriften und Graffitti - man denke an die Mauerkritzeleien auf den Wänden von Pompej - (den Kritzeleien in Schulen, Universitäten und Aufzügen nicht so unähnlich!) zum Ausdruck kamen, setzten sich nun allgemein in der gesprochenen Sprache durch. Ich komme noch einmal auf den Begriff "Klarheit" zurück. Was ist darunter in der gesprochenen Volkssprache, die uns hier interessiert, zu verstehen? Es geht nicht um die genaue Definition eines Begriffs, auch nicht um die eins zu eins Übereinstimmung eines Wortkörpers mit einer einzigen Bedeutung - ein Prinzip, das in natürlichen Sprachen in einem antagonistischen Verhältnis zur Ökonomie stehen würde - sondern um eine möglichst handgreifliche, leichte kognitive Perzeption des Gesagten. Das heißt als allgemein Regel: "konkret gegen abstrakt". Dieses einfache Prinzip steht m.E. hinter der allgemeinen Entwicklung der indoeuropäischen Sprachen von synthetischen zu analytischen Strukturen, im Lateinischen z. B. hinter dem langsamen Wandel von synthetischen Kasus zu präpositionalen Syn-tagmen. Dasselbe Prinzip liegt in einem noch stärkeren Maße der Entwicklung des Wortschatzes zu Grunde. 1.1. Die Tendenzen, die sich bereits in der lateinischen Umgangssprache bemerkbar gemacht hatten und die teilweise die Struktur des vererbten romanischen Wortschatzes charakterisieren, betreffen zum einen die Wahl zwischen bereits vorhandenen Wörtern zur Benennung eines Referenten, mit anderen Worten eine Wahl zwischen vorhandenen Parasynonymen, zum anderen neue Benennungen eines bekannten Referenten. (Ich klammere im Folgenden die Bereicherung des Lateinischen Wortschatzes durch Fremdwörter und weitgehend auch die Bereicherung durch Wortbildung aus). Die Physiognomie des vulgärlateinischen Wortschatzes läßt sich, unabhängig von seinem Überleben in den romanischen Sprachen, durch eine Reihe von schwächeren und stärkeren Tendenzen, die wie P. Koch es in einem vor kurzem erschienen Aufsatz gezeigt hat, allgemein umgangssprachlich sind, charakterisieren. Sie können im Rahmen der allgemeinen Tendenz der oben erwähnten Bevorzugung des Konkreten, etwa wie folgt zusammengefasst werden: Regelmäßig, nicht unregelmäßig 2.1. Durchsichtig, nicht undurchsichtig (analytisch nicht synthetisch) 2.2. Markiert (konnotiert), nicht unmarkiert (neutral) 2.3. Prototypisch: weder (abstrakt) generisch noch (wissenschaftlich) spezifisch 2.4. 1.2.1. Es sei vorausgeschickt, dass diese Tendenzen nicht diskret erscheinen, sondern dass meistens zwei, wenn nicht mehrere gleichzeitig wirken, und sie aus verschiedenen, nicht immer klaren Gründen, auch nicht automatisch zum Tragen kommen. Ebenso lässt sich nicht immer erklären, warum ein bestimmtes Wort ins Romanische übernommen wurde, andere aber unter denselben Umständen keine 'Nachkommen' in den romanischen Sprachen haben. Wie es schon Gillieron zu Recht sagte: chaque mot 264 a son histoire, oder moderner "die unsichtbare Hand"," der Mann von unter dem Tisch" bewirkt diese 'Ungereimtheiten'. 2.1. Regelmäßig, nicht unregelmäßig Bei dieser ersten Tendenz geht es um die Flexion. 2.1.1. Nominalflexion. Die I. und die II. Deklinationen auf -A und auf -O, wurden schon zur Zeit des klassischen Lateins den anderen vorgezogen. Sie waren neuer, regelmäßiger und gleichzeitig durchsichtiger was das Geschlecht anbetrifft, so dass die meisten neuen Wörter in diese Deklinationen aufgenommen wurden (So z. B. ROSA, ASINUS, CATTUS usw.) Die III. Deklination war die unregelmäßigste, weil die meisten Wörter athematisch, viele auch ungleichsilbig waren, manche mit Akzentwechsel (IMPERATOR, IMPERATÖRIS). Dazu kam noch die Undurchsichtigkeit des Geschlechts. So wie später in den romanischen Sprachen hat sich diese Deklination den 'Luxus' der Unregelmäßigkeiten leisten können, da sie den Großteil des indoeuropäischen Kernwortschatzes, d.h. der oft benutzten Wörter enthielten. (Es genügen Beispiele wie PATER, MATER, FRATER, REX). Die IV. u. die V. Deklinationen, der Themen in -U und -E waren seit jeher schwach. So wurde eine Anzahl von Wörtern der III. Deklination durch regelmäßigere Parasynonyme ersetzt, die nicht nur vom signifiant, sondern auch vom signifié besser den Anforderungen der Umgangssprache entsprachen, indem sie eine konkretere, besser umschriebene Bedeutung besaßen und/oder sich auch mehr der Tendenz zur Prototypie näherten. Ein gutes Beispiel ist das Wort für den Begriff "Weg". Das alte athematische, ungleichsilbische Substantiv ITER, ITINERIS hatte in der Hochsprache mehrere Bedeutungen: 1. eine abstrakte, als Handlung "Weg, Reise, Fahrt" und 2. eine konkrete "Weg, Straße, in der nachklassischen Zeit auch "Straße in einer Stadt." Zuerst wurde das Substantiv nur in dieser letzten Bedeutung durch das regelmäßige, der I. Dekl. angehörige Wort VIA ersetzt, später blieb VIA als allgemein benutztes umgangssprachliches Wort. Während ITER sich in keiner romanischen Sprache erhalten hat, wurde VIA von allen romanischen Sprachen, mit Ausnahme des Rumänischen, das drum < gr. dromos als Bezeichnung für "Weg" genommen hat, weitergeführt. Auch das alte Wort der III. Deklination IGNIS "Feuer" in abstraktem und konkretem Sinn, wurde vom konkreten, regelmäßigen Substantiv der II. Dekl. FOCUS "Feuerstätte des Hauses, Herd > Feuer" ersetzt. Im Unterschied zu IGNIS, das von keiner romanischen Sprache geerbt wurde, wird FOCUS zu einem panromanischen Wort. IECUR, schon im Lateinischen mit zwei Varianten im Genitiv (IECORIS/ IECINERIS ) "Leber" wurde durch das, aus der Küchenterminologie stammende Wort FICATUM ersetzt. Das Wort (ein adjektivisches Derivat von FICUS "Feigenbaum" mit dem geläufigen Suffix -ATUS gebildet) wurde insbesondere im Syntagma FICATUM IECUR "Feigenleber", im Bezug auf die mit Feigen gemästeten Gänse, die eine 265 besonders feine Leber hatten, verwendet. Mit der Zeit wurde der generische Teil des Syntagmas eingespart und der spezifische wurde von allen romanischen Sprachen als generische Bezeichnung für die "Leber" geerbt. Das unregelmäßige IECUR war zu schwach gewesen, um überleben zu können. 2.1.2. Verbalflexion. Auch in diesem Fall ist das konsonantische, d.h. athematische Paradigma, hier die III. Konjugation, die unregelmäßigste. Diese Konjugation beinhaltete nicht nur suppletive Verben, sondern auch Verben mit den verschiedensten Perfektbildungen, u.a. auch das alte i.e. Perfekt durch Reduplikation TETIGI (zu TANGO, TANGERE, TACTUM "berühren"); TOTONDI (zu TONDEO, TONDERE, TONSUM "nehmen, abnehmen, erleichtern, scheren) oder gar CECINI mit Vokalabschwächung (zu CANO, CANERE, CANTUM). Zur Beseitigung dieser Unregelmäßigkeiten gab es zwei Möglichkeiten. Nur allein das Perfekt (durch Analogie) regelmäßig zu gestalten oder aber das 'ungute' Verb zu ersetzen. Zur ersten Lösung wurde bei TONDERE, durch Anpassen des Perfekts an das Partizip, gegriffen (*TONSI nach TONSUM statt TOTONDI cf. rum. a tunde aber tunsei, tuns oder it. tonsare), zur zweiten bei den Verben FERO und CANO. Das erste war von der Form her suppletiv (FERO, FERRE, TULI, LATUM), vom signifié her stark polysemantisch mit konkreten ("tragen"), und abstrakten ("ertragen") Bedeutungen. FERO wurde durch das regelmäßige PORTARE, das sich anfangs nur auf Lasten bezog, ersetzt. Für CANO (CANERE, CECINI, CANTUM) gab es eine einfachere Lösung: CANTO (CANTARE, CANTAVI, CANTATUM) ein regelmäßiges Verb der I. Konj. stand zur Verfügung. Das anfangs fréquentative Suffix -T- wurde mit der Zeit dese-mantisiert. CANTARE bedeutete nicht mehr "mehrmals singen" sondern einfach "singen". In den Glossen von Monte Cassino (X. Jh.) wurde es bereits notwendig die fréquentative Bedeutung des Suffixes -T- zu erklären: FUGITAT: FREQUENTER FUGIT. In der Romania har sich die alte Opposition +/- frequentativ vereinzelt, bei anderen Verben, unabhängig von einem Suffix (cf. rum. säri "springen" < SALIRE vs. sälta "hüpfen" < SALTARE), oder durch andere Suffixe (cf. fr. sauter "springen" < SALTARE vs. sautiller "hüpfen") erhalten.. Schwierigkeiten gab es auch mit den medio-passiven Verben, unabhängig von der Konjugation, der sie angehörten: zum einen waren sie in passivischer Form in den Zeiten des Infektum, zum anderen war der Inhalt der Medialität schon längst verblasst. Das brachte es mit sich, dass wichtige verba dicendi (FOR, FARI, FATUS SUM und LOQUOR, LOQUI, LOCUTUS SUM) aus dem Gebrauch verschwanden. Ersetzt wurden sie durch regelmäßige, durchsichtige, denominale Verben: FABULARE, anfangs umgangssprachlich konnotiert, "schwätzen, plaudern" < FABULA (aus derselben Wurzel wie FARI) "Gerede, Klatsch, Erzählung" (cf. sp. hablar, port.falar, occ. faular "sprechen" mit geschwundener Konnotation) und das späte PARABOLARE < 266 aus dem christlich-griechischen PARABOLA "Parabel > Erzählung" (frz. parier, it. parlare) ebenfalls mit Verlust der ursprünglich begrenzten Bedeutung. Ein ähnliches Schicksal hat auch METIOR, METIRI, MENSUS SUM "messen", ebenfalls ein medio-passives Verb, gehabt: es wurde durch das denominale durchsichtige MENSURARE < MENSURA "Maß" ersetzt.. 2.2. Durchsichtig, nicht undurchsichtig (d. h. motiviert, nicht unmotiviert) Dieser Grundsatz geht oft Hand in Hand mit dem allgemeinen Trend zu analytischen Formen. Die Motivation, ein Element, das dem Verständnis und besonders dem Gedächtnis zur Hilfe kommt, genügte, auch unabhängig von grammatischen Unregelmäßigkeiten Wörter mit 'klarem' signifiant anderen mit 'unklarem' signifiant vorzuziehen. Ein gutes Beispiel ist das Wort "Blutegel", das das unverständliche HIRUDO ersetzt hat (cf. Biville 1995, 197). SANGUISUGA wurde vom Französischen und Italienischen, so wie auch vom Sardischen und Dalmatischen geerbt (REW 7575). Dass der Name dieses Tieres, vom Romanischen übernommen wurde, erklärt sich auch durch seine medizinische Anwendung, die länger gedauert hat, als man annehmen würde. Das alte undurchsichtige Wort PUER mit nicht gut abgegrenztem, bzw. nicht spezifischem signifié - denn es bedeutete: "Kind", insbesondere im Plural aber auch "Knabe", "Jugendlicher"; "Sohn"; "Diener" - wurde nicht mehr verstanden und teilweise mit dem durchischtigen INFANTES "nicht sprechend" (cf. fr. enfant "Kind") ersetzt. Man liest in den Reichenauer Glossen: PUERI: INFANTES. Gut haben sich die klaren Zusammensetzungen mit MALE im Romanischen erhalten: so z. B. MALEHABITUS statt AEGER "krank an Körper und Seele" (REW 5267 frz. malade, it. (am)malato usw.). (Das Wort das im Lateinischen "kränklich" bedeutete u.zwar MORBIDUS hat eine andere semantische Entwicklung durchgemacht: "kränklicher (Mensch)" > "schwacher", "verweichlichter" (Mensch)" > "weich": cf. it. morbido.) Ebenfalls von Syntagmen stammen die Namen für die Jahreszeit "Frühling": PRIMUM TEMPUS (> frz. printemps) oder das schon bei Cato belegte PRIMA VERA (> it., sp., port, primavera, mm. primävarä).Wähxtnd PRIMUM TEMPUS ein Ersatz für VER ist, scheint nach Ernout-Meillet (s.v.), PRIMA VERA bloß eine Verstärkung desselben einsilbigen schwachen Wortes zu sein. Im Bereich der Adverbien wäre LONGE < LONGUS zu nennen, das das alte, nicht motivierte PROCUL ersetzt hat. Es ist bemerkenswert, dass es schon im Lateinischen eine ansehnliche Anzahl von derartig zusammengesetzten Wörtern gab (Biville 1959, 201), auch wenn nicht alle, von den romanischen Sprachen übernommen wurden. So z.B. lebt OSSIFRAGUS, OSSIFRAGA "Seeadler" ("das Tier, das die Knochen bricht") nur im Französischen (REW 6113: orfraie) weiter. Im technischen Bereich haben eine Reihe von zweiteiligen durchsichtigen lateinischen Syntagmen vom Griechischen entlehnte Wörter ersetzt. So z.B. werden FER- 267 RUM VIVUM "Magnet" statt des griechischen MAGNES, FOCARIS PETRA statt PYRI-TES "Feuerstein" verwendet. Einige dieser Syntagmen sind durch den häufigen Gebrauch zu einem Wort zusammengeschmolzen und wurden umso bequemer um griechische undurchsichtige technische Wörter aus dem umgangssprachlichen Gebrauch zu ziehen, wie man es aus Glossen entnehmen kann. So wird das ursprünglich zusammengesetzte Wort MULOMEDICI "Maultierärzte" statt des griechischen VE-TERINARII "Tierärzte" verwendet, und MALEFICUS "übel handelnd, boshaft" < MALE FACERE tritt statt MAGUS "Zauberer" < gr. mägos auf. Andere Komposita, haben im Laufe der Zeit das determinierte Wort, d.h. das genus proximum, das Klassem, als überflüssig empfunden, und sich mit einem Wort (die diferentia specifica) begnügt, das dann ein aus verschiedenen Gründen 'ungutes' Wort ersetzt. So z.B. steht das panromanische HIBERNUM/HIBERNUS "Winter" < HIBER-NUM TEMPUS für das archaische, einsilbige Wort HIEMS (s. supra). Im Fall von VIA STRATA (REW 8291 afrz. estree, sp., port. estrada) und VIA RUPTA (REW 7425 frz. route) handelt es sich nicht um den Ersatz eines schon existierenden Wortes, sondern um die Benennung eines Referenten, der noch keinen Namen hatte. In den Glossen sind häufig periphrastische Erklärungen unregelmäßiger und/oder selten benützter undurchsichtiger Wörter zu finden, ein Beweis, dass man sie im späteren Latein nicht mehr verstanden hat. Dabei geht es aber nicht um einen Ersatz, sondern um Erklärungen. So z.B. erklären die Reichenauer Glossen OPTIMUM mit VALDE BONUS; SEMEL mit UNA VICE, BINAS mit DUAS et DUAS. Die adverbialen und distributiven Numeralien wurden mit der Zeit durch Kardinalia ersetzt. Beispiele dafür findet man schon viel früher in verschiedenen Texten. 2.3. Konnotiert, nicht neutral (d.h.: markiert nicht unmarkiert) Wie jede Umgangssprache war auch die lateinische durch ihre subjektiv-affektivi-sche Seite von Emotionalität geprägt. Schon Hofmann spricht in einem Kapitel seines Buches über die "vom Affekt beherrschte Sprache" (apud Stefenelli 349). Diese Charakteristik findet ihren Ausdruck auf verschiedene Weise. 2.3.1. Erstens geht es um die Wahl zwischen mehreren Parasynonymen vom Blickpunkt der Expressivität. Ein gutes Beispiel bietet das semantische Feld "essen". Das neutrale und auch unregelmäßige Verb für den Begriff "essen" war EDERE, ESSE, EDI, ESUM. Es wurde nicht vererbt, im Unterschied zum regelmäßigeren und "intensiveren" COMEDERE "aufessen" > "essen" (REW 2077 port., sp. comer). Noch viel expressiver und auch durchsichtiger war das 'ordinäre', wenn auf Menschen bezogen, und fast von allen romanischen Sprachen (REW 5292) geerbte MANDUCO "kauen (von Tieren); fressen". Dazu kam noch das Wort MANDO "Vielfraß"., Auch "weinen" sagt viel über die Affektivität des Vulgärlatein aus. FLEO, FLERE "mit Tränen weinen" lies keine Spuren in den romanischen Sprachen. PLORARE "mit 268 lautem Geschrei, kläglich weinen" (REW 6606) und PLANGERE (REW 6572) "laut trauern" entsprachen besser der subjektiven Einstellung der "Traurigen". Das Pferd ist in den romanischen Sprachen nicht mit seinem noblen Namen EQUUS "Pferd, Roß" geblieben, sondern durch CABALLUS "Klepper, Gaul" ersetzt worden. 2.3.2. Zweitens kommt hier nicht nur das Vorgehen 'Wahl' in Betracht, sondern auch die 'Kreativität', d.h. einerseits die Bildung von Derivata und andererseits die Umbenennung von Referenten mit Hilfe von konkreten und plastischen Stilfiguren und Assoziationen. 2.3.2.1. Die Derivata betreffen insbesondere die Diminutiv- und Augmentativ-suffixe. Man kann mühelos eine große Anzahl von Wörtern finden, die mit ihrer Diminutivform, aber ohne Diminutivbedeutung in vielen romanischen Sprachen weiterleben. Hier nur einige Beispiele: UNGULA "Nagel" (REW 9071) < UNGUIS, GENU-CULUM "Knie" (REW 3737) < GENUS, *ACUCULA (REW 119) und ACUCELLA "Nadel" (REW 118) < ACUS usw. 2.3.2.2. Die Stilfiguren, Metaphern und Metonymien, bilden den Ausgangspunkt fur neue Bedeutungen eines signifiant, der so zu einem Parasynonym eines anderen signifiant wird. Zwischen den zwei Parasynonymen ist eine Wahl möglich. Der Name für Kopf stammt in den meisten romanischen Sprachen nicht vom unregelmäßigen CAPUT sondern von einer Metapher: TESTA "Deckel eines Topfes" > metaphorisch "Deckel des Kopfes > metonymisch "Schädel" (noch heute rum. teastä "Schädel") > metonymisch "Kopf." (REW 8682 frz. tête, it. testa usw.). So wurde im Lateinischen TESTA zu einem konnotierten Parasynonym von CAPUT. "Zahlen" payer kommt im frz. nicht etwa von (EX)PENDERE, (EX)SOLVERE sondern von PACARE "beruhigen, zum Frieden bringen", eine Metonymie vom Typ 'Ursache > Resultat'. RECENS war anfangs bloß ein Antonym von ANTIQUUS, mit der Bedeutung "erst vor kurzem entstanden" > daher "frisch", besonders in Verbindung mit AQUA "Wasser", CARO "Fleisch" aber auch mit DOLOR "Schmerz" usw. Von AQUA RECENS "frisches Wasser" > "kaltes Wasser" ( unter Weglassen des genus proximum, hier AQUA) stammt das rumänische Wort für "kalt": rece. "Geld" und "Besitz", Realia, die für jeden Menschen und in jeder Gesellschaft wichtig sind, werden in verschiedene Stilfiguren impliziert. Im Lateinischen selbst bekommt PECUNIA "Reichtum an Vieh" die Bedeutung "Geld". Rumänisch ist vitä (< VITA "Leben") das Wort für "Rinder, Vieh": der Besitz, der zum Leben notwendig ist. Dieselbe Bedeutung " Vieh(bestand)" wird im Surselvischen muaglia genannt, das auf MOBILIA "bewegliches Hab und Gut" zurückgeht. 269 2.4. Prototypisch: weder (abstrakt) generisch noch (wissenschaftlich) spezifisch Zu diesem Grundsatz passt Horatius' Vers "aurea... mediocritas": die Volkssprache zieht das Durchschnittliche, im Rahmen des Greifbaren, dem Abstrakten, Generischen oder/und dem zu spezifisch Fachsprachlichen vor. Sie verzichtet auf eine präzise, differenzierte Wortwahl. Zusätzliche Informationen werden durch Situations- und Handlungseinbettung gegeben. Schon Hofmann (1951 §150; apud Stefenelli 1992 a) 356) hat diese Tendenz als eine allgemeine Charakteristik der Umgangssprachen wahrgenommen: "Allen Umgangssprachen, namentlich der unteren Schichten, eigen ist eine typische Denkträgheit, die jede Anstrengung, klare und scharfe, der jeweiligen Situation entsprechende Ausdrücke zu finden, aus dem Wege geht und sich mit einer indifferenten, für alle möglichen Verhältnisse passenden und erst durch den ganzen Zusammenhang näher präzisierten Bezeichnung begnügt". Stefenelli (ibid.) zitiert dazu das Kommentar der Herausgebers der italienischen Ausgabe von Hofmanns Buch (L. Ricottilli, La lingua d'uso latina, 21985, Bologna): "La 'pigrizia mentale' di cui parla (oggi si parierebbe di tendenza al minimo sforzo...". Es ist sicher korrekt, jene "Denkträgheit" mit dem Trend zum Einsparen in Verbindung zu bringen, doch heute ist sie gewiss eher mit der Tendenz zu Prototypie und mit kognitiven Vorgängen zu verknüpfen. Zwischen mehreren Parasynonymen mit unterschiedlichen spezifischen Semem, wählt der Sprecher entweder das Allgemeinste, d. h. das Prototypischste, oder aber er läßt eines der Wörter zum 'allgemeinen' werden, indem er auf die spezifische Bedeutung verzichtet (cf. supra "weinen"). Als Beispiele beschränke ich mich hier auf ein Verb und auf ein Adjektiv. Auf dem Gebiet der Bewegungsverben war das Lateinische fast so reichhaltig wie das Deutsche: ABIRE "weggehen", DISCEDERE u. PROFICISCI "aufbrechen", PERGERE "weitergehen" usw. Späte Texte und insbesondere Glossen zeigen, dass man für "gehen" die Verben VADERE, ein Wort der Umgangs- und Dichtersprache, und AMBULARE anfangs "um etwas herumgehen", ein Wort der familiären, später der Kirchensprache, vorgezogen hat. Dazu kommt noch das generische, klassische IRE "gehen", das sich trotz Unregelmäßigkeit durch seine Frequenz erhalten hat. Die Glossen beweisen, dass ABIRE und PERGERE nicht mehr verstanden wurden: ABIO: VADO; PERREXIT: VASIT, AMBULAVIT, IVIT). Ein anderes Beispiel bietet der Begriff "schön". Im Lateinischen konnte man sich sehr differenziert ausdrücken: FORMOSUS bedeutete "wohlgestaltet" (von Menschen), PULCHER bezog sich auf ästhetische oder moralische Schönheit, mit anderen Worten auf abstrakte Schönheit. (Nihil virtute pulchrius.). SPECIOSUS hatte die Bedeutung "stattlich, prächtig, blendend", mit anderen Worten "Schönheit durch äußere Erscheinung". VENUSTUS "liebreizend, anmutig, graziös" bezog sich insbesondere auf Frauen (Fuit voltu pulchro magis quam venusto), während BELLUS "hübsch" bedeutete. Das letzte umgangssprachliche Wort ist das geläufigste, neutralste, das Wort das man auch am leichtesten, fast unabhängig vom Kontext, damit am häufigsten 270 benützen konnte. BELLUS ist auch das einzige fast panromanische Wort (REW 1027). FORMOSUS lebt heute nur teilweise in der Romania weiter (REW 3450). Mehrere Beispiele zeigen, dass auch Kollektivwörter, die von Natur aus eine gewisse Abstraktion beinhalten, von der Volkssprache eher gemieden wurden. So zieht das Vulgärlatein für den Begriff "Gestirn" den konkreten Plural von STELLA, dem generisch-kollektiven SIDUS oder ASTRUM und den Plural von NAVIS dem Kollektiven Militärterminus CLASSIS vor. Keines der drei spezifisch-technischen Wörtern ist in den romanischen Sprachen stark vertreten. F. Biville befasst sich in ihrem Artikel mit den Epitheta, die von den lateinischen Schriftstellern den allgemein gebrauchten "vulgären", nicht spezifisch-technischen Wörtern gegeben wurden. Sie lauten (Biville 1995,203): POPULARIS, COMMUNIS, PLEBEIUS, PROLETARIUS und VULGO, wie z.B. in 'garrulus 'proprie dicitur qui vulgo verbosus ["Schwätzer"] appelatur. (Isidor 10,14 apud Biville 1995, 200). Es erübrigt sich daraufhin zu weisen, dass das wichtigste Merkmal der Umgangssprache, gesehen von den Benutzern der Hochsprache das "Unwissen", "der Mangel an Kenntnissen" war. Unter vulgo war entweder zu verstehen, dass es sich um nicht markierte, gewöhnliche (d.h. nicht dichterische, erlesene) Wörter handelt, oder, im Gegenteil um markierte Wörter, die von der "normalen" Sprache abweichen. Hier stimmt die Volkssprache mit der dichterischen Sprache überein.. 3.0. Abschließend ist hervorzuheben, dass eigentlich die Kreativität, der Dyna-mismus der Volkssprache dem lateinischen Vokabular die Weichen in die Romania gestellt hat. Indem der Mann von der Straße den Wortschatz für den Gebrauch der lateinischen Umgangssprache mundgerecht gemacht hat, durch die Verbannung der unregelmäßigen morphologischen Formen und der unverständlichen, kognitiv unbequemen Wörter, so wie durch das Eindringen seiner gesprochenen pragmatischsubjektiven durch Stilfiguren konkreten und gleichzeitig kolorierten Ausdrucksweise und last but not least durch die Wahl der prototypischen, wenn auch nicht spezifischtechnischen Wörtern, hat er auch für das Überleben dieses Wortschatzes 'gesorgt'. Bibliographie Biville, F. 1995, Formes vulgaires de la création lexicale en latin, in Callebat 1995: 193-205. Callebat, L. (éd.) 1995, Latin vulgaire-latin tardif IV, Actes du 4e colloque international sur le latin vulgaire et tardif. Caen, 2-5 septembre 1994. Olms-Weidmann, Hildesheim. Zürich. New York. Coseriu, E. 1978, Das sogenannte 'Vulgärlatein' und die ersten Differenzierungen in der Romania, in Kontzi, R. (Hgb.) 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Povzetek SPLOŠNE TEŽNJE VULGARNOLATINSKEGA BESEDJA Ne glede na to, ali so se nekatere latinske besede v romanskih jezikih ohranile ali ne, je mogoče zajeti znake besednega zaklada t. i. vulgarne, govorjene latinščine v nekaj več ali manj izrazitih teženj, ki so vse značilnost govorjenega jezika: pravilno, nepravilno; prozorno, neprozorno (analitično, sintetično); zaznamovano (označeno), nezaznamovano (neoznačeno, nevtralno); izvirno - ne splošno-abstraktno, ne znanstvenotehnično specifično. Te značilnosti so karakteristika ustvarjalnosti latinske ljudske govorice, so pa obenem udarile pečat besedju nastajajočih romanskih govorov. 272