3/tä/, X'(/'< Studien über die innern Zustände, das Volksleben und insbesondere die ländlichen Einrichtungen Rußlands. Von August Frciherrn von Haxthaufen, Königlich Preußischem Gtheimtn ÄtcgicnmM-athr. iBIBl/fOTifEü/ Europa. Erster Theil. Hannover. In der Hahn'schm Hofbuchhandlmig. l«47. Gun. o.iiioio ücpera onicina,n> ki> 4pyrovty lift npnciira^iij. (Von einem ufcr abs,rfahr<'!! und »och inch! am andern gelandet!) Rußland. Cmjkv y Mond u w,Ay noro/ii,i. wnvtc auf drü Wind!» Echnst >md Druck l'u» (n dieser Begehung besondere Eigen- VI thünüichkeiten zeigt, so treten uns diese in einem höheren Maßstabe bei den beiden großen Völkerfamilien, den germanischen und den romanischen Volksstämmen, entgegen. Aber dennoch ist auch sehr viel Gemeinsames, Analoges, Aehnliches vorhanden. Eine seit einem Jahrtausend bestehende vielfache gegenseitige Durchdringung und Amalgamirung der Sitten, der Sprachen, der Interessen, des ganzen Volkslebens, die gemeinsame Kirche, die Ausbreitung des römischen Rechts hat diese Annäherung, Ausgleichung und Vermischung hervorgerufen und begründet. Dies letztere hat sich dann auch in den Sprachen ausgeprägt. Alle diese Sprachen haben Worte und deren Begriffe gebildet, die Eines und Dasselbe ausdrücken. Man kann in jeder von diesen Sprachen die obgedachten Verhältnisse nicht bloß des eignen, sondern selbst des fremden Volks beschreiben und darstellen, und zwar dergestalt richtig, daß der Gelehrte des fremden Volks nicht bloß dies selbst annerkennen wird, sondern wenn er etwa das Buch in seine Sprache übersetzen möchte, dasselbe als allgemein verständlich und richtig vom Publicum anerkennen läßt. Wenn man z. B. die Begriffe der Wörter: Gemeinde, Commune, oder: Pächter, Fa rm er, Fe r m i e r, zergliedert, so bedeuten sie in jeder der drei Sprachen im Wesentlichen dasselbe Lebens- und Rechtsverhältniß, und man kann in jeder Sprache dies darstellen, und wird auch vom fremdem Volke richtig verstanden werden. AnderS ist dies mit den slavischen Volksstämmen. Auf die Polen und Böhmen haben deutsche Sitten, Gebräuche, Begriffe, seit Jahrhunderten eingewirkt. Deutsche und römische Rechtsbegriffe und Verhältnisse sind adoptirt, die Gesetzgebung hat seit Jahrhunderten denselben Charakter, wie bei den germanischen und romanischen Völkern ausgebildet, so sind hier die urslavischen Verhältnisse bedeutend modisicirt, und das ganze Verfassungs- und Rechtslebcn dieser Völker ist dem der germanischen und romanischen Völker so nahe gebracht, daß auch im Allgemeinen von ihnen das Dbgedachte gilt, und wenn polnische oder böhmische Bücher die Rechtsverhältnisse schildern, so werden diese, in germanische oder romanische Sprachen übersetzt, diesen Völkern im Allgemeinen ganz verständlich sein, so VII wie auch ein Deutscher wohl über polnische und böhmische Rechtsverhältnisse in seiner Sprache zu schreiben vermag, was, ins Polnische übersetzt, den Polen völlig verständlich wäre. Der Umfang der Rechts- und Lebensverhältnisse, z. B. einer deutschen, einer französischen, einer polnischen Stadt läßt sich ganz gut in jeder Sprache darstellen, weil auf die Entwickelung der polnischen Städtevcrfassung deutsche und römische Rechtsbegriffe dominirend eingewirkt haben. Anders ist dirs aber mit den slavischen Völkern, die entweder noch gar nicht sich dem Ideen- und Culturkreise der übrigen europäischen Völker genähert, und dieselben in ihr Volksleben aufgenommen haben, wie die Serben, Bosnier, Bulgaren, oder wo dieß erst in neuern Zeiten der Fall gewesen ist, dergestalt, daß zwar die obern Schichten des Volks diese Cultur sich angeeignet haben, dieselbe aber nicht in die tieferen Schichten, den eigentlichen Kern des Volks, eingedrungen ist, und vor Allem die Lebens- und Rechtsverhältnisse der ländlichen Verfassung nicht wesentlich berührt und modisicirt hat, wie dies bei den Nüssen der Fall ist. Die Lebens- und Rechtsverhältnisse dieser von der neueuro-päischen Cultur unberührten slavischen Volkßstämme sind von denen dieser übrigen Völker so völlig und im ersten Princip, wie (in dessen Ausbildung) verschiedet,, daß wir in unsern Sprachen oft nicht die völlig und klar bezeichnenden Worte haben, um die Verhältnisse richtig zu benennen. Wir müssen beschreiben und umschreiben, um den richtigen Ausdruck zu finden. — Der Sprach- und Nechtsbegriff des Worts Gemeinde, Commune ist z. B. bei uns und in allen europäischen Sprachen scharf und so gleichmäßig ausgebildet, daß man in jeder Sprache, ohne Furcht, mißverstanden zu werden, es gebrauchen kann. Wie ungcmein verschieden ist aber hiervon der Begriff einer altslavischen und russischen Gemeinde! Dort ist es ein Aggregat, eine Eintheilung von oben herab, eine Abtheilung zufällig zusammenwolmender Menschen, deren Zusammenleben durch ordnende Sitten, Gebräuche und Gesetze geregelt ist. Hier ist eh» ein Familienorganismus, ursprünglich line erweiterte patriarchalische Familie, und noch jetzt wenigstens VIll eine singirtc, auf Gesammteigenthum gegründete Familie mit ihrem Haupte an der Spitze. Bei den von der Cultur völlig unberührt gebliebenen slavischen Stämmen, wie den Serben, Bulgaren ?c>, fällt dies zu sehr ins Auge, als daß nicht gelehrte und geistreiche Manner dies schon sollten längst gefunden, und daher den Fehler, ihre Zustände mit fremdem Auge aufzufassen, vermieden haben. Die Werke von Ranke über die Serben, von Cyprian Robert über die Slaven im Allgemeinen geben hiervon ein rühmliches Zeugniß, um so mehr als Ranke, so viel wir wissen, nie in Serbien gewesen ist und das Volksleben unmittelbar angeschaut hat. Anders verhält es sich mit den Darstellungen russischer Zustände. Nußland hat schon früh eine staatliche Einheit gebildet, es erhielt auch schon sehr früh staatliche Einrichtungen von Konstantinopel und selbst wohl durch germanische (wara-gische) Einwirkungen. Seit dem sechzehnten Jahrhundert, seit Abwerfung des Mongolenjochs, hat es sich entschieden Westeuropa genähert. Seit 140 Jahren aber hat es sich mit Energie der modernen Cultur zu bemächtigen gesucht. Die höhern Stände sind ganz auf europäische Weise erzogen und gebildet worden, alle Staatseinrichtungen sind denen Westeuropas nachgebildet. Die Gesetzgebung hat nicht bloß den Charakter, sondern selbst die Formen der übrigen europäischen angenommen, aber die Wirkung hiervon hat im Allgemeinen sich nur bei den obern Schichten des Volks geäußert. In die untern Schichten, in die Sitten und Gewohnheiten derselben, in die Familienverfassung, in die Verfassung der Gemeinden, des Ackerbaues, überhaupt in die ganze ländliche Verfassung, ist die fremde Cultur nicht eingedrungen, hat selbst durch die Gesetzgebung sie fast gar nicht, durch die Verwaltung nur wenig berührt. Aber durch diesen Zwiespalt zwischen der Bildung der obern und der untern Schichten des Volks hat daS Verständniß der innern Landcsverfassung selbst bei den ersteren unendlich gelitten. Sie, an fremde Sprache und Sitte gewöhnt, ihre Ausbildung nur aus die Kenntniß fremder Jurisprudenz, fremder Institutionen und Einrichtungen gründend, sahen auch alle vaterländischen Institutionen nur mit wenigstens entfremdetem IX Auge an, suchten sie aus den oberflächlich ähnlichen fremden zu entwickeln oder gar nach deren Muster, wo sie etwa auf die Gesetzgebung einzuwirken vermochten, auszubilden und umzumodeln. Erst in neuester Zeit, wo ein mehr nationaler Sinn sich auch in Rußland, wie in allen Ländern Europa's, zu bilden beginnt, wo in der russischen Gelehrtenwelt sich ein tüchtiges Streben, die vaterländischen Zustände in ihren Quellen und ihrer wahren Natur zu erforschen*), offenbart, beginnt es in dieser Beziehung anders zu werden. Aber auch noch jetzt steht die einmal eingeführte fremde Bildung, die gebildete Sprache der höheren Stände, welche einmal den russischen Worten in der Bezeichnung vaterländischer Institutionen einen von Fremden entliehenen Begriff aufgeprägt hat, überall hemmend entgegen. Wenn ich nun behaupten muß, daß selbst die geborenen und gelehrten Russen das Verständniß der ächtrussischen Zustände und Institutionen nicht mehr oder noch nicht wieder haben **), daß sie ihrer Sprache noch nicht den Geist haben aufzuprägen vermocht, um jene Zustände uns und sich selbst klar darzustellen, daß ihre Dichter erst jetzt beginnen (nachdem sich auch dort eine Walter Scott'sche und Irving'schc Dichtcrschule gebildet hat), das Volks- und Familienleben, seine Sitten und Eigenthümlichkeiten aufzufassen und zu schildern, so muß man dies natürlich noch in einem viel höheren Grade von Fremden und Ausländern behaupten, die über Rußland geschrieben haben. ') Man muß cs vorzugsweise deutschen Gelehrten nachrühmen, baß sie zu dieser Richtung den ersten Anstoß gegeben haben. Männer wie Schlo-tzer, Müller, Ewers, Gcurgi, Slurch n'., und in neuerer Zeit vor Allen Reutz, sind die Lehrer der jinigern russischen Gelehrten gewesen, nnd haben die Licbc zu dm vaterländischen Institutionen und den ssifei zn ihrer Erforschung zumeist geweckt. ") Ein merkwürdiges Beispiel hiervon war der jetzt verstorbene Alciander Turqcniew. Ausgerüstet mit einer ganz rüropliischin t'oömopolilischrn ^'ildmi^ v^ll der liefsim und glühendsten '^alill.nidouebe, mi< grusig Kllehrsamfri! in den historischen Wissenschaften scinro Vaterlandes, war ihm doch das Verständniß des eigentlichen russischen Volkslebens beinahe al'Iianden gekommen! X Wer nach Rußland reisen, die dortigen Zustände grünblich untersuchen, mit unbefangenem Auge das Volksleben anschauen will, muß zuvörderst Alles vergessen, was er in der Fremde darüber gelesen hat. Der Verfasser dieses Buchs ist nicht viel über ein Jahr in Rußland gewesen, er kann daher sich keineswegs rühmen, das russische Volksleben, die russischen Zustände in ihrer Tiefe vollständig aufgefaßt zu haben. Er ist aber, wie ihm sein Gewissen sagt, bei seinen Beobachtungen unbefangen und ohne Vorurtheil zu Werke gegangen; er hat dort, wie überall auf seinen Reisen, mit Liebe beobachtet, denn er hat von jeher die tiefste Ehrfurcht und Liebe vor allem wahren und ungcschwächten, nicht übertünchten Natur- und Volksleben gefühlt! Mehr als zwanzigjährige Studien und Reisen haben dabei eben für diese Art von Beobachtungen sein Auge geschärft, und so hofft er denn in diesem Buche nicht bloß manches Neue und völlig Unbekannte, sondern auch manches zum Nachdenken und Forschen Anregende und manches Brauchbare gegeben zu haben; ja er meint gewissermaßen für die Beobachtungswelse russischer Zustände eine neue Bahn angedeutet zu haben. Er verwahrt sich aber ausdrücklich dagegen als ob er etwas Vollständiges, Allgemeingeltendes, Unumstößliches hätte geben wollen oder können. Sein Buch enthält Studien, es ist keine kritische Arbeit, er will nicht verantwortlich für einzelne Unrichtigkeiten sein; aber er glaubt die Punkte angegeben zu haben, auf welche ein Jeder fußen muß, der es unternähme, die gegenwärtigen socialen Zustände Nußlands von innen heraus und ihrem volks-thümlichen Principe gemäß darzustellen, oder wo er dazu berufen und in der angemessenen Stellung wäre, sie wahrhaft national zu entwickeln, und nicht bloß formal und auf dem Papiere zu verbessern oder zu fördern. Mögen ausgeklärte und wohlwollende Männer seine Methode beobachten und seine gefundenen Resultate prüfen fer wünscht dies vorzugsweise auch von Seiten der russischen Regierung!); mögen sie ihm beistimmen oder ihn rectisiciren, er wünscht nur, daß das Buch Veranlassung zu Verbesserungen, Anregung zu Fortschritten gewähren möchte. XI Um das eben Gesagte auch schon hier im Vorworte einigermaßen zu belegen, will ich hier kurz einige Resultate meiner Beobachtungen und Forschungen andeuten. Während die übrigen Staaten Europa's in ihrem Ursprünge und ihrer Fortbildung als Fcudalstaaten zu bezeichnen sind, muß man Rußland einen Patriarchalstaat nennen. Dieser einfache Satz schließt unermeßliche Consequenzen in sich, und erklärt im Wesentlichen fast den ganzen staatlichen und socialen Zustand Rußlands. Die russische Familie ist der Mikrokosmus des russischen Bolksstaats. In der russischen Familie herrscht vollkommene Gleichheit der Nechte; so lange sie aber ungetheilt zusammen sitzt, hat sie ein Haupt im Vater, oder nach dessen Tode im erstgeborenen Bruder, dem allein die unbeschränkte Disposition über alles Vermögen zusteht, und der jedem in der Gemeinschaft stehenden Familiengliede das Nöthige nach eigenem Ermessen zutheilt. Die dann erweiterte Familie ist die russische Gemeinde. Der Grund und Boden gehört der Familie oder Gemeinde, der Einzelne hat nur Nutzungsrechte, und zwar auch in der Gemeinde jeder, der geboren wird, ganz gleiche mit allen übrigen Gcmeindegliedern. Der Grund und Boden wird daher unter alle Lebende gleichmäßig zur jeweiligen Nutzung getheilt. Ein Erbrecht der Kinder auf den Antheil des Vaters kann daher nicht cxistiren. Die Söhne fordern vielmehr von der Gemeinde aus eignem Recht als Gemeindeglieder ihren (allen übrigen gleichen) Antheil. Auch die Gemeinde hat ihren singirten Vater, den Alten, den Starosten, dem sie unbedingt gehorcht. Rußland gehört nach der traditionellen Volksüberzcugung dem in Gemeinden abgetheilten russischen Volke, als einer einzigen Familie unter ihrem Haupte, ihrem Vater, dem Ezar, an, dem daher auch allein dic Disposition über Alles zusteht und dem unbedingt gehorcht wird. Eine Einschränkung des Ezars ist dem russischen Volke völlig undenkbar. „Wie kann rin Vater anders als durch göttliche Gesetze eingeschränkt werden?" sagt der eigentliche Kern des Volks noch jetzt, wie bei der Erhebung der Romanows vor 2'lO Jahren. Alle damaligen wie späteren versuchten Einschränkungen der Machtvoll- Xll kommenhcit der Czarsgcwalt gingen ganz einfach und spurlos an jener tiefen traditionellen Ueberzeugung, jenem politischen Glauben des Volks unter! ^ Die staatsrechtliche Stellung des russischen Monarchen ist daher eine ganz andere, als die eines jeden andern Monarchen, wenigstens die des Czars dem eigentlichen russischen Volke gegenüber. Als Kaiser der russischen Monarchie ist aber seine Stellung die der andern Monarchen. — Da jeder Russe einer Gemeinde angehört und als Gemeinde-glicd zu einem gleichmäßigen Antheil am Grund und Boden berechtigt ist, so giebt es in Rußland keine geborene Proletarier. In allen übrigen Ländern Europa's wühlen die Vorboten einer socialen. Revolution gegen Reichthum und Eigenthum. — Aufhebung des Erbrechts, gleichmäßige Theilung des Grundes und Bodens ist ihr Schiboleth! In Rußland ist eine solche Revolution unmöglich, da jenes Utopien der europäischen Revolutionäre dort, im Volksleben völlig begründet, vorhanden ist! Der Liberalismus Europa's strebt, jeden organischen Unterschied zwischen Stadt und Land zu verwischen, die mittelalterlichen Institute der Gilden, Zünfte :c. überall zu vernichten, allgemeine Gcwerbefreiheit zu verbreiten. Dieser sociale Zustand war seit Uraltcrs in Nußland vorhanden, aber aller innere Fortschritt war dadurch gehemmt, und die Regierung hat durch Gesetzgebung entgegen zu wirken gesucht, Städte pri-vilegirt und angelegt, Gilden und Zünfte geschaffen, und bis jetzt noch wenig gelungene Anstrengungen gemacht, einen wirklichen Bürg erstand zu schaffen. Der Adel, ein vielleicht den: slavischen Volksstamme ursprünglich fehlendes Element, war vor Peter I. vcrhältnißmäßig wenig zahlreich. Er verdankte in allen Geschichtsepochen seinen Einfluß und seine Wichtigkeit mehr dein Zutrauen der Fürsten, als seiner Stellung im Volke. Peter I. hat einen Vcrdienst-adel geschaffen, der den alten Erbadel fast ganz in den Hintergrund gedrängt hat""). Die Laufbahn steht Jedem offen, und '> In allcn andern Läüdcrn wird dcr ^,'ldcl durch dic Gnad^ dcr /fürsim und nach dn'm Willkür riworlicn, selbst in dm wnsülulwnrllm. ^,n axtokraiischcn Rüßlcn!) vcrlcihl nicht dcr Kaistr willkürlich dcn Ädsl, XU1 Jeder aus dem Volke kann unter gewissen Bedingungen durch Verdienst den persönlichen und demnächst den eidlichen Adel erwerben. Dieß zeigt sich aber in der Erfahrung keineswegs als etwas Vortreffliches, und das Bedürfniß eines tüchtigen Landadels ist in Rußland unverkennbar. In neueren Zeiten hat Nußland ungeheure Fortschritte im modernen Fabrikwescn gemacht. Ein großer Theil deS Adels ist Fabrikunternehmer geworden. Moskau, der Mittelpunkt der Fabrikthätigkcit, ist aus einer Adclsstadt eine Fabrikstadt geworden. (5s ist sehr zweifelhaft, ob die Folgen hiervon überall als günstig zu preisen sind. Zum Theil in Folge hiervon ist der Taglohn in Nußland unermeßlich gestiegen. Im Vergleich und mit Berücksichtigung aller Umstände steht er in keinem Lande so hoch, wie dort. Die Rohproducte des Landbaueß stehen im Innern Rußlands, entfernt von den europäischen Kornmärkten und der nothwendigen Communicationsmittcl entbehrend, sehr niedrig im Preise. Da nun der Taglohn so hoch, überhaupt alle Arbeit unendlich theuer ist, so ist es klar, daß das am wenigsten lohnende Gewerbe der Landbau ist. Die Bodenrente ist auch wirklich, wenn mit gemietheten Leuten der Ackerbau betrieben werden sollte, völlig illusorisch. Die Folge ist, daß der Landbau in allen Zweigen ohne Energie und Fleiß betrieben wird und zurück geht, statt Fortschritte zu machen. Er würde noch mehr zurückschrciten, wenn in vielen Gegenden die Leibeigenschaft mit ihren Frohnden ihn nicht aufrecht erhielte. Die Fabrikthätigkeit ist daher cms dcr mächtigsten Hemmnisse gegen die Auflösung der Leibeigenschaft, die außerdem auch in Rußland allmählich eine Nothwendigkeit zu werden beginnt. Seit Uralters eMirt in vielen Theilen Rußlands eine Ge-werböthätigkeit, die, auf die russische Gemeindeverfassung begründet, eine Art von nationalen Associations-Fabriken bildet. Diese stellen in dcr That dar, was die saintsimomstischm Theorien als zur socialen Reform Europa's gehörig außgegrübelt sondern das Verdienst und das Gesetz! Und dmnoch giel't rS im Allgemeinen leinen schlechtem Adcl, cils diesen Verdicustadel sTschinownitadcl), XIV und als Muster aufgestellt haben. Das Gouvernement hat aus Vorliebe für daß moderne Fabrikwesen diese nationalen Asso-ciations-Fabriken biß jetzt viel zu wenig beachtet. Rußland geht in seiner innern Entwicklung einer großen Zukunft entgegen. Seine staatliche Einheit ist eine Naturnothwendigkeit; das Land ist von der Natur in vier kolossale Abtheilungen eingetheilt, die jede für sich, sobald sie einmal angemessen bevölkert sind, die Bedingungen einer wahren Selbst-ständigkeit nicht haben, sondern nur in ihrer Bereinigung einen mächtigen und unabhängigen Staat bilden. Der Norden hat nur Wälder, darunter z. B. einen zusammenhängenden Wald, der größer ist als das Königreich Spanien! Dann kommt ein Länderstrich von geringer oder mittelmäßiger Fruchtbarkeit vom Ural bis Smolensk, 18,000 ^Meilen groß mit mehr als l li Millionen Menschen, voll der ausgedehntesten und verschiedenartigsten Gcwerbsthätigkcit, der aber ohne die darüber liegenden Wälder des Nordens und die darunter liegenden unendlich fruchtbaren Landstriche gar nicht existiren könnte. Südlich unter diesem Landstriche liegt jener Landstrich der sogenannten schwarzen Erde, der an Fruchtbarkeit und Ausdehnung seines Gleichen kaum auf dem Erdboden haben möchte! Er ist zweimal so groß als ganz Frankreich! Hier wächst der Weizen 1W Jahre hinter einander auf demselben ungedüngten Acker. Fast nirgends darf gedüngt, an manchen Stellen nicht einmal gepflügt, sondern die Erde nur leicht zur Saat aufgeritzt werden! Stroh und Dünger dienen nur zur Feuerung, denn Wälder giebt es nicht. Südlich und südöstlich beginnen die ungeheuren Steppen, welche die Nomaden seit Jahrtausenden mit ihren Heerden durchziehen, die aber, größtentheils fruchtbar, jetzt allmählich von einer sich überall oasenartig ansiedelnden Colonisation aus dem Innern immer mehr cultivirt werden. Gelingt cs einst, diese am schwarzen Meere gelegenen Länder zu bewalden und dann angemessen zu bevölkern, so möchten sie zu den blühendsten Europa's zu zählen sein. Dieser ungeheure, dem übrigen Europa an Größe nicht nachstehende, zwischen 4 Meeren gelegene Landstrich wird von XV einem völlig homogenen, kerngesunden und kräftigen Volke bewohnt. Die Ruffcn theilen sich in zwei Stämme, Großruffen und Kleinrussen, die aber im Dialekt nicht so fern auseinander stehen, als Niederdeutsche und Oberdeutsche. Die 34 Millionen Großrussen bilden die zahlreichste und compacteste homogene Nationalmasse, die es in Europa giebt. In der Gesinnung des Volks ist nicht eine Spur von (Eifersüchtelei, Absonderungsund Trennungssucht, vielmehr ein Gcsammtgefühl der Einheit des Volks und der Kirche, wie in keinem andern Volke. Nur die Kleinrussen, sinniger und geistig begabter, bilden eine leichte Schattirung der Absonderung und des Gegensatzes zu den Groß-russcn, jedoch mit großer Festhaltung der Einheit Nußlands. Die obern Schichten dieses Volks haben seit einem Jahrhundert eine europäische, aber nicht nationale, nicht aus der Entwickelung des eigenen Volks hervorgegangenc Bildung erhal-teli. In Bezug auf Bildung findet man daher in Rußland zwei nebeneinander stehende Völker. Aber gegenwärtig regt sich bei den untern Classen, angeregt und gefördert durch die unermeßlich zunehmende Gewerbsthätigkeit, ebenfalls ein mächtiger Trieb nach intellektueller Bildung, und es wird eine der größten Aufgaben der Regierung werden, diesem Triebe und mächtigen Bedürfnisse die richtige Leitung zu gewähren. Diese Leitung kann nur die Nationalkirche übernehmen, aber der Cle-rus derselben bedarf selbst zuvörderst einer mehr praktischen Ausbildung, die ihn hierzu befähigt, und erst in neuester Zeit wird, angeregt vom Gouvernement, hiernach gestrebt. Wenn ich die staatliche Einheit und Unthcilbarkeit Rußlands als eine Naturnothwendigkeit behaupten muß, so muß ich von der andern Seite aber auch behaupten, daß es keine erobernde Macht sein kann und darf. Es hat erobert und mußte erobern, so lange es sich um den Gewinn einer innern Einheit und Unabhängigkeit und einer äußern soliden Stellung handelte. Es konnte nun einmal ohne die Meeresküsten des baltischen und schwarzen Meeres niemals ein compacter, in sich geschlossener und äußerlich mächtiger Staat werden! Aber jede fernere Eroberung ist ihm schon gegenwärtig mehr eine Last, als ein Vortheil und Zuwachs der Macht geworden. Wenn es XVl sich mit der Würde des Staats vertrüge, so thäte es besser, alle lästigen Eroberungen wieder aufzugeben! Jedes Dorf, das es aber gegenwärtig noch erobern möchte, würde eine nicht zu berechnende Vermehrung der Last und Schwächung der innern Macht sein. — Rußland hat mit der Eroberung seines Innern noch länger als ein Jahrhundert zu thun! Was helfen ihm eine Million unzuverlässiger Unterthanen in einem eroberten Lande, die es durch eine zahlreiche Armee bewachen lassen muß, während es durch Eroberung seines Innern in wenigen Jahren 10 Millionen zuverlässiger und homogener Unterthanen gewinnen kann? Inhalt. ScUc I. Abveise von Berlin nach Petersburg. Temperatnrvcrschiedenhcilen. Vis-aufgang der Newa. kharwoche und die Mitternachtßmrssr i>, der Post-lirche. Die russische Kirchenmusik. Daß t)!,rilU,,6 >v<^>l auf Ostrrn. Die große Parade vor dem Winterpalaiö. Abreise von Petersburg. Das Forstinstitut ^iszino und die Forstakadcmie in Petersburg. Nowgorod. Wüschnij Wolotschok. Torshok nnd die dortigen Lederarbeiter,. Twer. Bauer- und Gemeinde-Verfassung. Anlage nnd Bauart der Dörfer. Die Ischorzki. Der russische Bauerhof. Die Umzäumnngen. Nationaltracht. Sitten......l Das Forst- und Mchinstitut zu St. Petersburg. Waldrcichthum nnd Waldl'ttwüstung in Rnftand. Bcmeikungen znr Geschichte der russische,! Fm'stgeschgebung und Furswerwaltuna,. Von den gegenwärtigen Einrichtungen des Forstwesens. .......23 III. nnd lV. Muskau im Vergleich zu Petersburg. Das Volt der Großrnssm. Der Weg seiner Bildung. Die nationale Bedeutung Moslau's. Peter I. und seine dem Volke gegebene Richtung. Der Anblick don Moskau. > Vanart der Straßen, der Kirchen. Der Kreml, fein Baustyl, seine Gebäude, Ivan Wasiljcwitsch. Die Kitaigorod; der Nazar, russische Verkäufer. Stellung des weiblichen Geschlechts in Rußland. Bestandtheile der Bevölkerung Moskau's. Früher eine Adelsstadt, jetzt eine Ge-werbcstadl. Bauart der älteren adligen Höfe, die Hofdiener. Jetzige Bauart, die Fatmlarbeitcr. Politisches Gcwichl Moskau's als Centrum dcr Gewerbsamkeit. Ueber die Bildung eines Bütgerstandes, germanischer Corporationsgeist, russischer Associationsgeist. Russische Handwcr-^r, HandwcrkSgemcinden. In Rußland keine Protetarier! Oigmlhüm-1'chr russische Gestalten, Dcr Dwornik, Budoschml, Plotnik. , , lt!» V. Abreise von Moskau. Die Staarmnestcr (.^k^vnr?/,). Bauerntracktcn, Das Kloster Troitza Lawra, scinc Bedeutung und (^'schichte. Professor l^olubinsli. Besichtigung des Klosters. Der Mockenthnrm llspcnst,, Kathedrale, die Gräber der (,ä>tniß zwischen Adel und Leibeigenen, Anerboten, ?icue Einrichtungen des Grasen Kiffelrf. Maugel an nahm kleinen berichten. Nnssische Schneider. Die russische Aandverlhciluua. in den lHrmcindcn. Obrok- und Frohnde-»crfassung des Tjaglo. Zunahme der russischen Bevölkerung. Pc-Mische und (iultul Vcdcntung der ,'nssischm Gcmcindcversassling. Ncrglrichung mit deutscher «andwirthschaft, desgleichen mit englischer und französischer. Ncigleichspuntte mit den modernen Theorien. Der St. Simonismus. Achnlichkeitcn und Gegensätze mit russischen socialen Züsiändcu — Der Ackerbau bei Iaroslaw. — Abschied von Herrn von Karnowitsch. Der Durfpope. Lcinwandbleiche. Ncisc nach Nybinsf. Dessen Handelöbedeu-tung. Die Burlaki. Rückkehr nach Iaroölaw, Die Iatowlcfschc Fabrik. 96 VII. Allgemeine Betrachtungen über das GlNlvcnu'ümtt Iaroelaw, Dessen In-bilstrle und Ackerbau. Die gioften Güter und die Baiicniwiilhschaften. Die nationalen Associations-Fabrnationeu oder die (^civerbsgemcindrn und die modernen Fabrikm, deren Vortheile und Nachtheile. Ihrc mögliche nationale Organisation. Statistische Notizen über 5 kreise und Betrachtungen darüber. Der städtische Haushalt der Stadt Iaroslaw............172 VlII. Abreise nach Wolugda. Die Ssamowarsabriken in Danilow. Wologda, dessen städtische Einrichtungen, frühere nnd jehige Bedeutung. Die Filigranarbeiten. Ausflug nach Klibeuök. Torfvcrfassung, Die Fermc-Modele der Apanage-Bauern. Abreise von Wologda. Prinzip uralter russischer Kolonisation im Norden. Die Wälderrcgion. Der Iämtsä)il und seine Pferde. Russischer Volksgesang. Tolma. Chinesische Archi-tcklur. Der Maler Wagenow. Slatistische Verhältnisse. Ackerbau und Vichzuchl. Schulbildung. Dic Straße bis llssyug, Anblick und XIX Se,tc Inneres der Stadt. Die nordische Nacht. Wassrrfahrt nach Troitze. Besuch beim Starustcn in Pcstowo. Kleidertracht. Das Pfingstfest im Troitzc-KIosier. Der h. Ivan und der h. Stephan. Die Syrzanen. 22!! IX. Einige allgemeine Notizen über das Gouvernement Wologda, besonders in staatswsrthschaftlicher und ökonomischer Beziehung.....2ss!) X. Ueber das Iiolownikivcrhältniß l^er das Verhältniß der Bauern, welche .iuf halbem Ertrag gestellt sind, und sich in den Kreisen Nikolsk, Usstjug und Ssolwütschegobs! befinden.......234 XI. Iuriewetz. Notizen ülier das Gouvernement Kostroma. Dcr Kreis Kolo-griw; seinc wirlhschaftlichen Verhältnisse. Bäuerliche Verhältnisse. Barkcnbaucr. Der Kreis Wclluga. Die Industrie des Thecrschwclens und die Verhältnisse der Gutsherren dabei. Die Linbenbastfabrication. Abreise von Iuriewetz, Das Aftanagcndorf Dia Konskii. Volksschule. Handwcrtsschulc, Dorfwirthschaft. Ansehen nnd Zierralhrn an hiesigen Bauerhäuseri!, '.'l,!Nu!fi ,n ^ XII. Nishnij-Nowgorud. Der ^llul'ünnir. Das kaiserliche Schluß. Die Gu-lcilüjc. Volksbelustigung. Volkögcsang. Die rnssischcn Vulfötrachten iln Gegensatz zu den deutschen. Reichthum an Perlen. Ein Prodmzlal-theater. Aberglaube. Kleine Tour nach Arsamaß. Besuch in einem Ronnmklosier, Disciplin darin, Entstehung und Geschichte deS Klosters, Klosterrcgsln, Unterschied von andern russischen Klöstern. Andeutungen zu innern Refunnen des Klosterwcsens. — Malcrschulr in Arsamasi. Fabriken. Das Dorf Wiscna und seine Schuster-Association. Dors-un2 Abgabenvcrfassung. Ganscfämpfe. Rückfahrt nach Nishnij. Besuch des Gefängnisses. Wohlthätigkeit gegen Gchingme. Dic Burlacken. 30N Xlll. Nishnij-Nowgorod. Besuch einer Kirche der Irdmowerzcn. Das russische Scttmwesen. Aeltere Sectcn, die sich Verbrennenden, die Skoftzi, ^'hli-stowtschini, Beßlowestnizie, Tabalni!'!, Settrn aus dem Schisma unter d>m Patriaechcn ^likon hrroor,il,^i»>^n. Die Starowerzen, Altgläubigen, ihr Charakter, ihre Vedmttmg. Das Rcligionsgtspräch nach Ostern auf dem Kreml. Die drei Abtheilungen der Altgläubigen, Iedinowcrzrn, Tschusowennigr, Pumorane. Ihrr Lehren und Einrichtungen, ih> l^ottes-dicnst. Ihr grosieö Hospital in Moskau. Secttn seit 'Peter l. Die Malaklinm, ihre Lehren, Zusammenhang derselben mit dmm der Quäker. Dic Duchaborzrn, ihre Lehren, mein Besuch bei ihinn an der Ma-lotschna. Kapustin,, ihr (vhristiis Jesus. Ihr Dorf Terpenie. . , Z^7 XIV. Die Messe von Mstmii-Nowgorod im Jahre 184^. Reis, dalu,, vo>: Moskau. Die großrussischen Dörfer. Lage der Stadt lind deö Marktes. Makariew, Der äußere Markt. Die wichtigsten Meftartikcl, Der steinerne Bazar. Ncstanrationcn und andere Erholungen. Die unterirdischen Galerien. Hülfsgcschciftc des Handels. Die Barken. Die Kosakmwaclie. Zur ssharakleristik der Großrussen, BedeuNina. und Wichtigkeit der Messe......... l'^" XX XV. Abreise don Nishmi. Zweiter Besuch im Lager. Die Cantonistenkinder. Die Maschine auf der Wolga. Kosmobemiansk. Das Tschcremissen-dorf. Das Tscheremissmgehöft. Das Volk der Tschciennssm. Trachten. Wohnung. Volksvcrfassung. Volkscharaktcr. Ncligiöse Mbrauchc und Bcschauungcn. Abreise. Begegnung mit nach Sibirien Verwiesenen. Die Colonisation in Sibirien. Ihre Demoralisation durch die Gold-wäschcr. Die Tschuwaschen. Ihre Charakteristik. Ihre Religion und Aberglauben. Ankunft in Kasan. . .......432 XVI. Kasan. Brand von 1842. Staatsrath von Fuchs. Das von Osten nach Westen wandernde und vorrückende Ungeziefer. Die Universität. Die russische Schweiz. Professor Kowalewskij. Notizen über China. Der kasansche Adel. Besuch des tatarischen Gottesdienstes. Besuch im Hause zweier tatarischer Kaufleute, Hauscinrichtungen, Trachten, Körperbildung, geistige Anlagen, Charakter, Lebensart der Tataren. Ihre Volkspocsie. Russische Taufe. Heiligenbilder. Reichthum der russischen Sprache an Diminutiven. Die Culturfähigkeit der Tataren. Ihre politische Bedeutung, wenn sie Christen wurden. Die Knutcnstrafe der Kindesmörderin. Aufhebung der Knutenstrafc. Die Bodmerzeugnissc, das Klima, die Ackergeräthschasten, Fcldwirthschaft im Gouvernement Kasan. Das kasansche Nonnenkloster. Erziehungsanstalt der Popen-tüchter. Die Wichtigkeit einer Reform der Nonnenklöster/ um Erziehungsanstalten daraus zu bilden. Das Tatarendorf Iepan Aschino. Mi tatarisches Gehöft und seine Einrichtung. Dorfeinrichtuugcn, Stellung der Mullahs. Verhältnisse der Weiber. . . . . . 466 Abreise von Berlin nach Petersburg. — Tcmpcraturvcrschiedmheitcn. — ssisaufgang der Ncwa. — Charwuche und die Mitternachtsmesse in dcr Postkirchc. — Die russische Kirchenmusik. — Das ('Iirjzlos >vu»1— Das Forstiustitut Liszino und die Forstakadcmie in Petersburg. — Nowgorod. — Wüschnij Wolotschok. — Torshok unb die dortigen Lederarbciten. — Twer. — Bauer- und Gemeinde-Verfassung. — Anlage uud Bauart der Dörfer. — Die Ischorzki. — Der russische Vauerhuf. — Die Umzäunungen. — Nationaltracht, — Sitten. oHn den ersten Tagcn des Märzmonats 1843 reiste ich von Berlin nach St. Petersburg ab. In Berlin war cö in jenen Tagen schon Frühlingswetter, allein hinter Cösslin (ich reiste durch Pommern) war die Erde in den höheren Gegenden mit einer leichten Schneedecke überzogen, in den Niederungen wechselte Schlackerwetter mit gelinden Nachtfrösten ab. Dieselbe Temperatur blieb längs der Dstfecküste it: dem Striche von Danzig bis Königsberg, und weiter hin durch Litthaucn und Kurland biß Niga. Hier war die Düna noch mit Eis bedeckt, aber dasselbe war schon mürbe, und man passirte sie nicht ganz ohne Gefahr. Bald hinter Riga herrschte aber noch völliger Winter, alles Land war mit Schnee überdeckt, der hinter Dorpat so tief wurde, daß ich genöthigt war, den Wagen auf einen Schlitten zu setzen. Jedoch einige Stationen vor Petersburg verlor sich plötzlich der Schilee, wir mußten die Näder wieder anlegen und den Schlitten im Stich lassen. Dies Phänomen soll bei der eigenthümlichen Wärme dieses kleinen Landstrichs nicht ungewöhnlich sein. In St. Petersburg selbst lag Schnee, und statt der Droschken sah man nur Schlitten auf den Straßen. Ja es begann noch 1 2 cin ziemlich starker Nachwinter mit 8 bis 14 Grad Kälte, der sich bis zur Mitte Aprils hinhielt. Ich übergehe die Beschreibung meines Aufenthalts in Petersburg, da ich am Schlüsse meiner Ncise mich dort länger aufhielt, und Alles, was ich darüber zu sagen habe, dann zusammenfassen werde. Ich bemühte mich zunächst, die nöthigen Bekanntschaften anzuknüpfen, die nöthigen Empfehlungen für das Innere zu erlangen, die nöthigen Notizen zu sammeln, und mich in das russische nationale Leben und Wesen einigermaßen einzuleben. Nur von den letzten Tagen meines damaligen Aufenthalts will ich hier eine kleine Mittheilung machen. Ls war gegen die Mitte Aprils Frühlingswctter eingetreten. Ich wohnte bis dahin in Wassilij Dstrow auf dem rechten Newaufcr. Da ward mir an einem Morgen früh angekündigt, der Eisgang der Newa begönne, die Schiffbrücke würde in wenigen Stunden abgebrochen, und wenn ich nicht augenblicklich mich zum andern Ufer übersiedelte, so würde ich wohl auf mehrere Tage vom eigentlichen Petersburg abgeschnitten werden. Ich zog rasch hinüber. Von nun an verlor sich in wenigen Tagen der Schnee in den Straßen, die Schlitten verschwanden und in ihre Stelle traten die Droschken, zahlreicher und nothwendiger als je, denn die Straßen bildeten jetzt anfangs fast durchgängig einen Morast, der alle Fußcommunicationen beinahe unmöglich machte. Das Straßenpslaster Petersburg's ist ungemcin schlecht, und alle hohen Befehle haben noch kein auch nur mittelmäßiges erzwingen können, wiewohl man alle Arten des verschiedenen Pstasterns an einzelnen Punkten versucht hat. Der Grundboden und das Klima bieten zwar große Schwierigkeiten dar, aber wenn man an einigen auszubessernden Stellen eine Anzahl Arbeiter pflastern sieht, so begreift man doch nicht, wie man so elende Arbeit auch nur dulden kann. Am Sonnabend vor Ostern versammeln sich die Glider einer russischen Familie meist spät gegen Abend und bleiben bis zur Mitternacht vereint, um alsdann die Kirchen zu besuchen. Ich schloß mich einer russischen Familie auf deren Einladung an. Gegen halb zwölf Uhr traten wir aus der Hausthür. Alle Straßen waren hell erleuchtet auf die Weise, wie ich es nur in Petersburg und Moskau gesehen, nämlich, daß außer den z^atcr- .1 nen längs dcr Trotloirs auf beiden Seiten dcr Straße alle vier bis fünf Schritte Schalen mit brennendem Talg, mit Terpentin gemischt, stehen, wodurch eine sehr eigenthümliche magische Beleuchtung aller Gegenstände entsteht. Das Wölk wogte in den Straßen zu den verschiedenen Kirchen hin. Wir fanden unsern Platz in der sogenannten Postkirche, und zwar auf dcr Cmvor-tirche, so daß wir das ganze Innere übersehen konnten. Nach und nach füllte sich die Kirche mit Gläubigen, jeder eine noch unangezündcte Kerze in der Hand, aber Alles war still und dunkel, nur in der Mitte um das Grab Christi branntet: Kerzen. Um dreiviertel auf zwölf erschim zuerst ein Priester, bald mehrere, es begann der erhabene einfache Gesang dcr Litaneien mit dem stets im Chor sich wiederholenden vu5lil08» und der Antwort: >v<» i8lil><> >votckl'e8!,! (er ist in Wahrheit auferstanden!) Es mochte eben drei Uhr sein, alle Häuser waren geöffnet, jedermann alls, man ging liberall hinein und ward freundlich mit dem Ostergrußc empfangen, und zu den mit allen möglichen Eßwarcn bcladcnen und geschmückten Tischen geführt, wo zu- si vörderst geweihtes Brod und Käse Jedem gereicht wurde. Ich traf zuletzt mit einem Freunde, dem General v. M., vor dessen Hause zusammen, seine Dienerschaft empfing ihn auf der Hausflur, und er umarmte und küßte Jeden ohne Unterschied. Dann trat uns die Familie entgegen mit Umarmen und Küssen, es war, als ob man lange getrennt sich jetzt mit Freuden wieder fände. Erst mit Tagesanbruch suchte Jeder die Ruhe. Um elf Uhr ging ich, um die große Parade zu sehen. Durch freundliche Vermittlung erhielt ich unter dem Portal des Winterpalais eine günstige Stelle, um das Ganze übersehen zu können. Es war herrlich'cs Wetter, in unabsehbarer Reihe standen die prachtvollen Truppen aufgestellt. Da erschien zuerst der Großfürst Michael, an der Linie herabgaloppirend, und nut tausendstimmigem Hurrah empfangen. ^ Nach einer Weile trat der Kaiser aus dem Palais und ging zu Fuß zu den Truppen. Ein unermeßlich-jubelnder Zuruf empfing ihn! Er war in der Uniform der donischcn Kosaken, die seiner antik-schönen Gestalt besser steht, als die modernen Uniformen. Er stand in der Mitte vor den Truppen, da traten aus allen Regimentern eine Anzahl gemeiner Soldaten vor und umringten ihn. Er trat zu jedem Einzelnen mit dem Dstergruße, und umarmte und küßte ihn. Es ist ein eigenthümlicher großartiger Moment! In jedem Jahre an diesem Tage seit Uralrcrs erneuert sich der Jubel über die Auferstehung des Herrn, das Gefühl der Gleichheit vor ihm durchdringt das ganze Volk, Alle, hoch und niedrig, umarmen sich als Brüder, und selbst der Herrscher eines Wclttheils, das weltliche beschützende Haupt seiner Kirche, küßt den Niedrigsten aus feinem Volke und bekennt damit die Einheit seines Glaubens, seiner Liebe, seiner Treue eben nut diesem seinem Volke! Nachdem ich die Vorbereitungen zu meiner Reise beendigt hatte, trat ich dieselbe am 27. April a. St. («.). Mai) in Begleitung des l),. K., des Herrn v. A., deß Herrn ,W. v. S. und des Fürsten P. L. in zwei Wagen an. Wir hatten sogenannte Tarantasen") gekauft, ein sehr bequemes russisches Fuhrwerk, ') Man darf dk T >i r d „ t a sr mcht »nl dn Tc l r gc vmvcchsrl», D»> Tnrant^ft soll ursprünglich rm latansclM Fuhnvcrk sm,, und auch jchl noch fmdct man dir l'chgi'l'MU'tm in Kasim. Di,' Trlsgc ist mi cch« wo oil, moderner Chaiscnkastcn auf einem ächt russischen Untergestelle, nämlich zwei etwa zehn bis zwölf Fuß langen, vier Zoll dicken jungen Eichen, die über einen Untcrwagen von vier niedrigen Rädern gespannt sind, befestigt ist. Die Bewegung ist elastisch und schaukelnd, und ist angenehmer, als die auf Druckfedern. Ich hatte für die Tour von Petersburg nach Moskau beschlossen, Tag und Nacht durchzufahren und mich nur an den wichtigsten Orten einige Stunden aufzuhalten. Als wir aus Petersburg fuhren, war herrliches Wetter, allein schon nach einigen Stunden trat Schlackerwetter ein, das sich in der Nacht in dichtes Schneegestöber umsetzte. Der Schnee lag zuletzt einen halben Fuß tief, und erst zehn Meilen vor Moskau verlor er sich, und wir erreichten endlich am Mittag deö 3. Mai nn schönsten Sonnenschein die Thore der alten Zaarcnstadt. Peter I., der seine neue Residenz der alten Hauptstadt möglichst nahe rücken wollte, ließ durch einen Engländer Facphcrson eine qrade Linie zwischen Petersburg und Moskau feststellen, um so eine schnurgradc Straße zu haben. Cö wurden auch wirklich etwas über 100 Werst so gebaut, allein Wälder und Sümpfe boten unermeßliche Schwierigkeiten, und da alle bewohnten Städte und Orte außer dieser Linie lagen, so gab man den Plan auf, und nahm die bedeutenden Orte Nowgorod, Torshock, Twer :c. mit in die zu bauende Straßenlinie auf. Jetzt ist die Straße 728 Werst oder etwa 104 Meilen lang, während jene grade Linie nur 595 Werst gegeben haben würde. So wie man Petersburg aus dein Auge verläßt, wird der Weg gar traurig, besonders bei trübem Wetter; er führt fast nur durch Sümpfe und Wälder. Später nähert man sich den einzigen Berghöhen, die d«s europäische Nußland besitzt, dein so- russisches Fuhrwerk. Sic sindct sich schon brim Hciberstem (vil!, Abbildung auf der zweitcn Wandtafel) al'gsbildct. Sn' glicht einem Boot, auf rincm vierradrüim kinzcn Untermann gesetzt und sieht zierlicher aus, alö unsere Vauerwagm. Niemand wagt aber du- Behauptung, dasi man b«,uein darauf sihe, auch musi man beständig und mit Olsilucklichkeit darauf bulan^iren, will man nick't hrral'geschkndcrt wn'dm! ttcgen Hypüchondri^ würde m,r tägliche Spazierfahrt darauf grwis! nicht ohne 5>ngi (Kasanschc Stiefeln). Im Wirthshausc war eine Niederlage dieser Arbeiten, ich sand sie aber durchschnittlich sehr theuer. — Der Polizcimcistcr der Stadt führte uns in verschiedene Häuser, wo wir die Arbeiten selbst sehen und über die Arbeiter-Verhältniffe Erkundigungen einziehen konnten. Eine Frau oder ein Mädchen kann gewöhnlich in einem Tage 1 Nudel Banco (ungefähr 9'/2 Sgr.) mit Goldsticken verdienen, bei langen Sommertagcn und wenn sie fleißig ist selbst 2 Nubcl, Zu einem Paar Weiberstiefelchcn wird ihnen das Leder zugeschnitten vom Fabrikanten geliefert, oder sie kaufen es auch wohl für 1 Nubel Banco. Das Gold- und Silber-Material kaufen sie sich. Ein Solotnik Gold (fast '!. Voth preußisch) kostet 13 1 Nubcl 25 Kopeken Banco. Sic verbrauchen es durchschnittlich nicht ganz zn einem Paar Stiefclchcn. Die Arbeit wird nach dem mehr oder weniger schwierig auszuführenden Dessin für das Paar mit 35—50 Kopeken bis 1 Rubel Banco bezahlt. Alsdann laßt der Fabrikant sie sohlen, und sie kommen ihm demnach höchstens auf 3'/- bis 4 Nubel Banco daö Paar zu stehen; er verkauft sie aber hier im Laden zu 8—10 Nubel Bco. Die männlichen Fabrikarbeiter stehen im Contract mit dem Fabrikanten, die Kronbauern selbstständig, die Erbleutc (Leibeigenen) durch ihre Herren. Die Arbeiter gewöhnlicher Art erhalten nebst Essen und Arbeitölokal (im Winter erwärmt) täglich im Sommer 50 Kopeken, im Winter 30 Kopeken (4 Sgr. 9 Pf. und 2 Sgr. 11 Pf.) baar, jedoch Sonn- und Feiertage ebenfalls. Bessere Arbeiter erhalten auch mehr. Am Abend fuhren wir weiter, die Nacht durch, und erreichten -am andern Morgen Twcr. Hier passirte ich zum ersten Mal den mächtigsten Strom Europas, die Wolga, über den ich dann im Laufe meiner Ncise im Ganzen 12 Mal hinüber und herüber gesetzt bin! Twer präsentirt sich vortrefflich; es ist, seit es nach einem großen Brande 1763 neu aufgebaut worden, als eine der schönsten Städte Rußlands bekannt. Wer eS schön sindet, wenn die Straßen breit, schnurgrade, mit Reihen von modernen steinernen Häusern, an denen selten Säulenreihen und Balköne fehlen, besetzt sind, wenn große symmetrische Plätze, an denen viele Palast-ähnliche Häuser liegen, vorhanden sind, eine Menge sehr ins Auge fallender Kirchen mit unzähligen Kuppeln und Thürmen, der muß jenem Urtheile beistimmen! In einigen Straßen sind hübsche Lindenalleen. — Wo man einen freien Blick auf den Fluß hat, sieht man ein Gewimmel hin- und herziehender Schisse, deren jährlich gegen 4000 ankommen und abfahren sollen. Der blühende Handel und große Wohlstand zeigt sich auch in einem sehr regen Leben auf den Straßen. Da die Kirchen und öffentlichen Gebäude und eine lN'oße Zahl der Privatgebäude gelb angestrichen sind, so nennen die Russen sie „die gelbe Stadt."*) *) Twer irorodök Twer dir Stadl Moskri iicolök, Ist don Moskau rin Eckchm, sagt cm nissischrr Volkörmn. 14 Ich machte die Bekanntschaft des Chefs deö Domainenhofs der Krongüter, so wie des der kaiserlichen Apanagen. Von ihnen erhielt ich einige Notizen über den gegenwärtigen Zustand der Bauern in diesem Gouvernement. — Der Boden ist für den Ackerbau wcnig ergiebig, er gewährt durchschnittlich nicht viel über das dritte Korn; bei den schlechten Wiesen ist auch die Viehzucht gering; von Handclsgcwächsen werden Lein und Hanf ziemlich viel gebaut. Da der Landbau die Bevölkerung nicht vollständig ernährt, so wendet sich ein Theil derselben andern Beschäftigungen zu. Gegen 12,000 finden auf der Wolga als Schiffszieher (llurlnki) ihren Verdienst, und eine große Menge findet Arbeit und Brod in den verschiedenen Fabriken, deren es 1808 nur 31, 1832 schon 72 gab, jetzt mehr als 100 mit vielleicht 4000 Arbeitern giebt. Auch die uralte russische Gemeinde-Industrie, wo ganze Gemeinden, Männer und Weiber, denselben Industriezweig treiben, findet sich noch. So fabriziren z'. B. sämmtliche Einwohner des Dorfs Iurkinsk in der Wolost Ar-timwskes nichts als Schuhe und Stiefeln. Sie schicken alles nach Moskau, wo einige Bauern aus dem Dorfe wohnen und große Niederlagen haben, und die Fabrikate theils im Großen an die Kaufleute, theils im Einzelnen verkaufen. — Die Kron-Bauern und Apanage-Bauern haben dieselben Abgaben, die seit alter Zeit durch ganz Rußland die üblichen sind. Die Zahlungszeit für dieselben dauert für das erste Halbjahr bis zum März, und kann bis zum Mai verlängert werden, für das zweite bis zum Januar. Der erste Termin wird den Bauern schwer einzuhalten. Früher waren stets ungemcin viel Rückstände, die aber jetzt nicht mehr vorkommen. Die Gemcindeverfassung der Kronbauern hat in neueren Zeiten einige Veränderungen erfahren. An der Spitze jedes Dorfs stand von jeher und steht auch jetzt noch der von den Bauern aus ihrer Mitte gewählte Starost; unter ihm und zu seinem Beistände die Zehner, jedes Mal je von 10 Wirthen gewählt. Sie bleiben gewöhnlich 1 Jahr im Dienst, ungeachtet sie gesetzlich alle Monate neu gewählt werden sollen. In ganz kleinen Dörfern steht auch oft nur ein Zehner (l)j8«^l/ki) an der Spitze. Die Zehner erhalten keinen Gehalt, wohl aber die Starosten, und zwar nach der Scelenzahl bis zu 175 Rubel Banco. Hin und wieder bildeten schon früher meh- 15 rcrc Dörfer cine Gcscllschaftö-Geineinde (sc^i Odsdilsoii^l^o); das ist jetzt allgemein angeordnet worden, und bildet somit den ersten Kreis über den einzelnen Gemeinden oder Dörfern. Sonst stand der älteste Starost der Dörfer (der Kw^cllm») an der Spitze der Gescllschaftö-Gcmeindc, jetzt wird er von sämmtlichen Wirthen aller Dörfer dergestalt gewählt, daß je 10 Häuser 2 Wirthe wählen und diese dann den 8l.m-5Hiua. Dieser erhält jetzt einen Gehalt von .^—400 Rubel Banco. So viel Dörfer, daß etwa 5—600 Wirthe zu zählen sind, hat man gegenwärtig zu einer Gesellschaft-Gemeinde vereinigt. Die Gesellschafts-Gcmcmdc stellt jetzt die Rekruten, die früher durch allgemeine Abzählungen nach Tausenden bestimmt und ausgehobcn wurden. Den zweiten Kreis über den einzelnen Gemeinden oder der Inbegriff mehrerer Gesellschafts-Gcmeinden bildet eine Distrikts-Ge-Mcinde(>Vc,i0i>l). An ihrer Spitze steht als Haupt der liolonu. Auch dieser wird gewählt und zwar für ,j Jahre. Der Krcischcf muß über die Wahl seine Meinung schriftlich äußern, und der Gouverneur bestätigt sie. Er kann wieder gewählt werden, wenn keine Klagen über ihn vorliegen. Mehrere Wolosten bilden einen Kreis ^), denen cin wirklicher Staatsbeamter, der Kreis chef, der vom Minister ernannt wird, vorsteht. Er gehört zur 7ten oder 8tcn Nangklasse, und hat noch einen Gehülfen zur Seite, welcher der Ren Nangklasse angehört. Die Kreischefs stehen unter dem Lhcf des Domaincn-hofs in jedem Gouvernement. — In jeder Gemeinde ist cin Gemcindegericht, welches aus dem Starosten und 2 ebenfalls gewählten Gerichtsbeisitzern besteht. Es erkennt übcr Polizeivergehcn bis auf 25 Prügel und 5 Rubel Banco, auch über Mein und Dein, jedoch nicht über erbliches Eigenthum. Es übt keine Eriminaljustiz, sondern berichtet und meldet nur an, erläßt Verhaftsbcfchlc lind hat den ersten Angriff. Der Golowa, der Wolost und zwei ebenfalls gewählte Beisitzer bilden das Wolostgcricht (Wow^noi Ui^nvu). Es ist die Instanz des Gcmcindcgerichts, es kann aber die dort außgcspro- 'i "'lb imlM grht dic voiksthiimlichc OlMmsation; die d^iriibcr licgcndl'ü CmithlünmM, ds>' i!ms, dic Holivn'imimlls-Plilaic mid znlm das ?l' mainrnMiüisinillm ft»d poülischr odrr EtmiMmnchtumzm, / chenen Strafen nur mildern, nicht schärfen. Findet es die Strafe zu gelinde, so kann es darüber eine Vorstellung beim Kreischcf einreichen. Tritt dieser derselben Meinung bei, so berichtet er an den Chef des Domainenhofs, dein dann die Entscheidung zusteht. Die Anlage und Bauart der Dörfer auf dem Wege zwischen Petersburg und Moskau bietet dem Anblicke manche Verschiedenheiten. Auf der Strecke von Petersburg bis Nowgorod liegen nur Posidörfer, die sämmtlich von Peter I. angelegt worden sind. Auch auf dem übrigen Wege ist ein großer Theil der Dörfer aus jener Zeit. Auf jener ersten Strecke wurden Russen angesiedelt, auf der unterhalb Nowgorod viele gefangene deutsche, lettische und esthnische Lievländer, auch Schweden und Polen (Letztere in Waldai schon unter Alerei Michailowitsch). Man sieht aber von diesen sremden Nationalitäten kaum noch geringe Spuren, sie sind mit der Unterwerfung unter die russische Kirche vollständige Nusseli geworden. Ingcrmanland wurde gleich nach der Eroberung durch Peter l. völlig rufsifizirt) die Bevölkerung vom finnischen Stamme der Ingern und Karclen war überhaupt schwach und durch die Kriege großentheils zusammengeschmolzen. Peter colonisirtc Nüssen dorthin, verschenkte viel wüstes Land an russischen Adel, der dort Russen als Colonisten ansetzen mußte. Die schwedische Verfassung, die Privilegien Kareliens wurden aufgehoben und russische Versassung eingeführt. Ein großer Theil der sinnischen Bevölkerung, damals Lutheraner, aber noch fast halbe Heiden, trat zur russischen Kirche über, aber sonderbar genug, mehr zu den Starowerzen (Altgläubigen), als zur Staatskirche, wie dcim auch die Karclcn im Gouvernement Twer, mehrere Tausend an der Zahl, sämmtlich Starowerzen sind. Diese Finnen haben schon sehr viel Russisches angenommen, sprechen auch fast alle russisch neben ihrem Finnischen. Nur an der Ischora haben die Finnen sich in der Nationalität größtentheils erhalten, daher man auch alle Finnen in Petersburg Ischorzki nennt. Die Ischorzki wohnen in kleinen Dörfern, die selten mehr als 5 bis 10 Häuser enthalten. Die Anlage ihrer Dörfer, die Ballart ihrer Häuser, Lebensart, Stiten, selbst Ackerbau und Viehzucht unterscheiden sie noch wesentlich von den umwohnenden Nüssen. Die Anlage und Dauart der russischen Dörfer (ich habe hier 17 freilich nur die an der Landstraße gesehen) ist dieselbe, wie im übrigen Großrußland, bis zur Wolga herab ganz dieselbe, wie die in den nördlichen Gouvernements überhaupt, d. h. wie das nördliche Klima sie erfordert, der Reichthum an Holz sie erlaubt, die Sitten, der Geschmack, die Wohlhabenheit der Nordrujsen sie ausgebildet und verschönert haben. Südlich der Wolga nach Moskau hin ist dieselbe Anlage und Gestalt der Dörfer, aber der Bau der Häuser und Gehöfte ist viel ärmlicher und kleiner, und weniger zierlich. — Die russischen Dörfer, durch welche ich auf dieser Straße kam, bestehen alle aus einer breiten und langen, meist gradcn Straße, selten mit Nebenstraßen. Die Wohnhäuser liegen nahe neben einander, sehr häufig stoßen 2 Häuser unmittelbar zusammen, dann kommen links und rechts die schmalen Höfe der Häuser mit Fahrthoren, dann wieder ein solches Paar Wohnhäuser u. s. w. Eine polizeiliche Vorschrift soll dies nach und nach hervorgerufen haben. (Doch wird sich dies wohl schon auf eine alte Sitte gründen!) Jeder kann und soll so seinen nächsten Nachbar polizeilich überwachen und wird von ihm überwacht. Die Häuser liegen säst ohne Ausnahme mit der Giebelscite nach der Straße, die Hausthür befindet sich stets an der Seite im Hofe, und man geht zu ihr meist eine kleine am Hause her liegende Treppe hinauf, ungeachtet das ursprüngliche russische Haus seiner Strnctur autt aufeinander gelegten Balken nach keineswegs Russische Hä»s« von d« Strafte cniö. 2 15 mehrere Magen hat, so ist doch etwa 8 bis 10 Fuß über dcr Erde cine Balkenlage eingefügt/ wo sich die Wohnung befindet; deml der Russe wohnt in dieser Höhe. Der untere Naum dient zu Vichställen oder zu Vorrathskammern. Die so angelegte Wohnstube nimmt die ganze Breite der Giebclscite nach der Straße hin ein, und hat hier immer 3 Fenster. Darüber im Dache ist stets ein Fenster, hänsig mit einem kleinen Balcon davor. Das ist die Schlafkammer der Töchter oder Mädchen, deren so oft in den Volksliedern Erwähnung geschieht! Hinter den Häusern liegen auf den Höfen, meist hinter einander, mehrere Gebäude: Biehställc, Scheurcn, Kornmagazinc Rcihc der Gch!M'. Dorfslraszr, Nchc der GchM'. 19 (wiewohl diese auch häufig sämmtlich vor dem Dorfe in einer Neihe stehen). Den Beschluß macht die Niege (Dreschtenne) oder die Vadcstube. Hier ist dann zuweilen der Hof mit Planken geschloffen, aber häusiger ist er auch offen und geht unmittelbar ins Feld über, welches an dieser Seite meist mit Kohl bestellt oder ein Weideplatz für das Vieh ist. Gärten sieht man anfangs gar nicht, erst in der Nähe der Waldaiberge bemerkte ich eingezäunte, aber nirgends Obstbäume in denselben. Die Häuser sind selten farbig angestrichen, mir hin und wieder bei Wohlhabenden, und dann fast immer grün und das Schindeldach roth. Ein russisches Dorf liegt daher in der Landschaft stets in einem einfarbigen Grau. Wären sic in hellen Farben angestrichen, so würde sich das zierliche Schnitzwerk an den Häusern, die nach der Straße hin nie fehlenden und meist grün und bunt angestrichenen Fensterladen, die so häusigen Gal-lerien und Valcone, welche meist auf kleinen Holz-Säulen stehen, ungemein hübsch ausnehmen, und man würde in keinem Lande die Dörfer mit guten russischen, was das Aussehen in einer Landschaft betrifft, vergleichen können! Was Zierrathen, Schmtzwcrk, Gallerkn, Treppen, von außen angelegt, betrifft, so ist eine Aehnlichkeit mit den Alpen-, namentlich Schweizer-Bauerhäusern, unverkennbar. Die innere Einrichtung ist jedoch wesentlich verschieden. Auf diese werde ich später zurückkommen, da die vollkommensten und schönsten russischen Baucrhäuser nicht hier, sondern mehr nordöstlich sich befinden. Bis Nowgorod hinab sah ich die Art nordischer Einzäunungen der Felder u., die man auch in Finnland und Esthland findet und die ich daher wohl tschndische Zäune nennen möchte; Tschüdischo Zäum. dann kommen südlich solche (Plankenzäunc) vor, die man sonst auch wohl in Polen und Deutschland findet, wo Nadelholz und 2* 20 Großrussische Zmmc. Holzreichthum ist. Erst in Kleinrußland findet man aus Zweigen künstlich und dichtgcstochtene Zäune. Dort versteht man Klnnvussische Zminr. dies Flechten vortrefflich, da selbst die Wände der Vichställc und Heuschober in der Regel nur von Flcchtwerk sind. Die Bauern sieht man meist im Schafpelz, die Haarseite nach Innen, außerdem aber besonders im Sommer in Kaftancn, die bei den Acrmern von grauem oder braunem sclbstgewcbtcm wollenem Zeuge, bei Wohlhabcndcrn von blauem Tuche sind; letztere haben ihn dann häusig mit türkischen oder persischen seidenen bunten Schärpen (bei Kaufleuten mit ächten Shawls!) gegürtet. Auf dem Kopfe sitzt bis Twer hinab ein schwarzer, niedriger, nach obcn etwas breiter auölaufender, dann brcitkrüm-piger Filzhut, meist mit Band und Schnalle. Nach Moskau hin verwandelt sich dieser in einen schmalkrämpigcn, spitz zu laufenden , der mit einem bunten Bande in der Mitte umwunden ist. Der Dandy unter den Bauerburschen, besonders der unternehmende Iämtschik, hat dann noch eine Rose, eine Pfauenfeder, oder sonst eine Zierrath daran befestigt! In wärmerer Zeit trägt der Bauer Bastschuhe, die über den Fuß geschnürt werden, die Beine und Füße mit Lappen umwunden, kurze Pumphosen und das Hemd darüber gegürtet. Dieß war sonst von grober Leinwand, jetzt verbreitet sich immer mehr, bei Zunahme der Baumwollen-Fabriken, der Kai- 2l tun'''), lind auf der großen Straße sieht »nan fast nichts als bunte baumwollene Hcmdeli, deren Hauptfarbe stets roth sein muß, da roth und schön beim achten Nüssen identisch ist, wie denn auch die Sprache nur ein Wort dasür hat^). — Bei den Weibern fällt dem Reisenden auf dieser Straße in Torshok und Twer der Kopfputz auf. Während im übrigen Großrußland eine, oft mit Perlen besetzte, meist rothsammtene, goldgestickte, wie ein breiter Heiligenschein daß Gesicht umschließende Mühe gebräuchlich ist, die zum Hofcostüm erhoben (man sicht die Kaiserin häusig damit abgebildet) ungcmcin schön aussieht und kleidet, wird der Kopfputz hier vorn spitz und weit vorstehend, daß er fast wie ein auf den Kopf gcjHtcr Schuh aussieht; er hat beinahe einen Fuß Höhe und drei Fuß im Umkreise. Die Kopfbedeckung hat den Namen Kokoschnik. Die Bauerweiber haben für gewöhnlich Tücher um den Kopf gewunden. Ueber den Unterröckcn haben sie meist einen Ueberrock von wollenem Zeuge, bei ärmern von selbstgewcbtcm, bei wohlhabenden von blauem Tuche; er ist weit ausgeschnitten und hat keine Aermel, ist kurz bis zum Knie, aber auch wohl lang bis zu den Füßen herab, und heißt dann Sarafan. Darüber tragen sie im Winter einen kurzen nur bis über die Hüften hinab reichenden Pelz, der den hübschen Namen Seelenw ärmer chen trägt, und sich auch im übrigen Europa, besonders bei der Kinderkleidung eingebürgert hat. Während man in den Dörfern Männer und Knaben stets auf der Straße sieht, erblickt man fast nie ein Mädchen, und Frauen nur in Geschäften auf der Straße. Im Innern des Landes, da, wo ein Wagen und Fremde eine Seltenheit sind, stehen die Weiber und Mädchen meist dicht gereiht auf einer Treppe des Dorfs zusammen ; so bald man aber auf sie zugeht, verschwinden sie gleich ins Haus. — Das ist wohl noch ein Rest des Uebcrgangs zu orientalischen Sitten! — Nur wenn man sie bei ihren Tänzen auf den Straßen überrascht, sind sie so ernst und so vertieft in dieses wich- ') Doch führt schun Olcarms (1633) an, d>isi damals dir russischen Vaumvcibcr Hcmdcn v»n Kattun getragen. ") krn«ln,, ftin Vlllkslkdchm fänat an: Krasnii lize l5in rmhcs (schmus) <^,sichl Knigla lize (5m nmdrs Gchchl, 22 tige Geschäft, daß sie sich durch nichts, also auch nicht durch das neugierige Zusehen des Reisenden stören lassen; Tänzer, Tänzerinnen und Zuschauer ignoriren ihn vielmehr vollständig. Beim Ankommen der Reisenden auf der Station ist immer großer Zusammenlauf, Besehen des Wagens von allen Seiten, Kritisiren, Schwatzen, freundliche Hülfcleistungcn beim Umspannen ! Man sieht, die russischen Bauern haben viele müssige Stunden! — Doch kommt auch reelles Interesse dabei in Anschlag; oft sind auf den Stationen keine oder keine hinlängliche Pferde, dann giebt es zu verdienen durch Vorspann, den liebsten Verdienst, den der Russe kennt! — Ich verließ Twer am 1. Mai spät am Abend, passirte die Kreisstadt Kliehn an der Ssestra, dem alten Stammsitz des Hauses Romanow, und erreichte Moskau am Mittage des 2. Mai. Bevor ich aber in meinem Reiseberichte fortfahre, erfolgt zuvörderst der Aufsatz übcr das Forstinstitut ;c., wie er oben versprochen ist. ll. Das Forst' und McßiuNitlit z» St. Petersburg. ^ Wiildnich-thlim und Waldvnwilstuüg in Rlißlcind. — MimMmzM z»r C>k'schichtc dcr nissischni Fulsigrsttzg^'nng und ForflvcrwaKlüig, — Von dm Das großartige Gebäude des Forst- und Meßinstituts zu St. Petersburg licgt außerhalb der nach Finnland führenden Barriere von Pergola auf einer Anhöhe, sv daß man an den Fenstern der geräumigen Säle die ungeheuere Stadt am Horizont gleichsam hingelagert, die vergoldete Kuppel der Isaaks-kirche vor Allem hervorragend erblickt. — Dieses Institut ist zum einen Theile, was man bei uns eine Forstakademic nennen würde, zum andern Theile eine zur Bildung von Feld-m e sse r n und Ingenieure n (Topographen) bestimmte Schule. (5'ä sind also zwei Unterrichtsanstalten, jede gewissermaßen für sich mit ihren Zöglingen bestehend, die aber ohne Zweifel wegen deß praktischen Bedürfnisses örtlich und äußerlich mit einander verbunden sind, da die Forststatistik, also Vermessung der Wälder, einen der wichtigsten Gegenstände der Sorge der Negierung für Verbesserung des Forstwesens ausmacht. — Die Forstaka-dcmie ist aber nicht bloß zur Bildung der höhcrn Forstbeamtcn, sondern auch der Förster bestimmt, und selbst mit einer Untcr-richtsanstalt für Bus ch- oderWaldwä ch t c r verbunden, deren Zöglinge alls dem Bauernstände genommen werden und eine Mustercompagnic bilden, so wie die Zöglinge der eigentlichen Forstschule, außer der noch hernach zu erwähnenden Ofsi-cierclassc, eine sogenannte Forstcompagnie. Der Unterricht ist meistens nur theoretisch (obgleich auch eine Waldanlagc und eine Wanzschulc angelegt sind und für praktische agronomische Uebun- 24 gen ein Stück Land bestimmt ist) und wird für die Zöglinge der eigentlichen Forstschule in sechs Classen ertheilt. Es werden drei Sprachen (Russisch, Deutsch und Französisch), Geographie, Geschichte, Mathematik und Naturwissenschaften in den fünf unteren Classen, in der sechsten (höchsten) aber die eigentlichen forst-wissenschaftlichcn Fächer gelehrt. Die Zöglinge dieser Classe können zu Forstoffi eieren ernannt und zur praktischen Ausbildung in die Lchrforstei zu Lissino aufgenommen werden, aus welcher sie nach bestandener abermaliger Prüsung noch auf ein Jahr in das Petersburger Institut zurückkehren, um sich zur höhern Beamten-Laufbahn vorzubereiten. — Laut Berichts des Ministeriums der Rcichsdomäncn (unter welchem diese Anstalten stehen) sind im Jahre 1842 38 Cadettcn aus der Forst-Compagnie als Fähndriche in die lissinosche Anstalt entlassen. — Für die Waldwächtcr wird nur Unterricht im Lcstn, Schreiben, Rechnen, so wie in der Religion ertheilt; auch werden sie im Schießen geübt. Nach Beendigung ihres Lehrcursus werden sie in die bei der lissinoschen Lehranstalt bestehende Iä-gerschule zur praktischen Ausbildung übergeführt. Wir wurden von dem Director deö Forst- und Mcßinstituts und einigen sonstigen Angestellten in dem ganzen Gebäude mit großer Gefälligkeit umhergeführt, wobei uns besonders ein forstwissenschaftlicher Professor, Herr Bode, manche belehrende Mittheilung machte. Die große Reinlichkeit, die allenthalben herrschte, erstreckte sich auch auf das Local der bäuerlichen Zöglinge. Um an das Nationalrussische zu erinnern, fehlte auch das russische Dampfbad nicht! Die Anstalt ist nut zweckdienlichen Sammlungen versehen, als: einem chemischen und physikalischen Cabinctte, einer Sammlung von ausgestopften Thieren, einer, andern von verschiedenen Holzarten, auch Cabinetten für Agronomie, Mineralogie und Geodäsie. Zum Gebrauche des Meßinstituts insbesondere ist auch eine mechanische Anstalt oder Wcrkstättc für Feldmeßinstrumente, als Meßtische u. dergl. errichtet, welche unter der Leitung eines namhaften Technikers (Reisig) steht. — Ein gottesdienstliches Local fanden wir hier, so wie wohl in allen öffentlichen russischen Lehranstalten, welche ich gesehen habe. In der Mcsischulc fand zur Zeit unseres Besuches gcraoe eine 25 Prüfung (natürlicherweise in russischer Sprache) Statt, wobei die, auf einem Bogen verzeichneten Fragen oder Aufgaben durch'6 Loos unter die Zöglinge vertheilt wurden, so daß sie sich nicht besonders darauf vorbereiten konnten. Die Aufgaben, welche in unserer Gegenwart verhandelt wurden, betrafen größtentheils die Bodenabschätzung und die verschiedenen Katastersysteme. Das ganze Institut, welches im Jahre 1837 reorganisirt worden ist, kostet jährlich (wenn ich recht verstanden habe) etwa 500,000 Nubcl Banco, oder gegen 100,000 Nthl. preußisches Courant, welches nicht zu viel scheint, da der größte Theil der Zöglinge, deren außer der ungefähr 160 Soldatm und Osficierc zählenden Mustercompagnie der Waldwache, über 500 sind, auf Kosten der Krone unterhalten werden. Zum Forstinstitute gehörige Zöglinge wurden im Jahre 1841 außer 13 Officiercn 202 gezählt. — Wie ich vernahm, sind von den 720 Forstbeamtenstellen, die es für jetzt ungefähr im Reiche giebt oder geben sollte, noch viele unbesetzt. — Es sind Muster- und Versuchs-forsteien in verschiedenen Theilen des Reichs errichtet, wo völlig ausgebildete Zöglinge der Petersburger Anstalt Flächen bis zu 10,000 Dessätmcn (d. h. über 42,000 preußische Morgen) zur Vermessung, Taxirung und zur Ausarbeitung eines Wirthschaftsplanes angewiesen erhalten. Auch schickt man Zöglinge, welche man zur Leitung von Musterforstcien und zur Verbesserung der Forstwirthschaft gebrauchen, und als Professoren anstellen will, zu ihrer weiteren Ausbildung ins Ausland. Freilich muß die. Forstwirthschaft in Rußland, schon wegen der großen Flächcn-ausdehmmg von derjenigen andrer Länder sich sehr unterscheidet,. — In den nördlichen Theilen des Landes ist das Innere der Wälder noch wenig bekannt. Es finden sich Forstdistricte, die vielleicht größer sind, als ganze Königreiche! — Es giebt auch eigenthümliche anderswo unbekannte Forstculturartcn, z. B, Waldanlagen an den Seeküsten zum Schutze gegen Versandung (Bin-dungswäldcr). Wir schließen hieran die folgenden Bemerkungen, betreffend das russische Forstwesen überhaupt, welche, bei der Wichtigkeit des Gegenstandes auch für andere Länder von einigem Intrcssc sein dürften (wir benutzten dabei zuverlässige, aus authentischen Quellen herrührende Mittheilungen). Wenn man allgemein Rußland zu den waldreichsten Ländern 3li dcrn dcr Welt rechnen kann, so gilt dies doch jcht schwerlich mehr von dem Reiche im Ganzen, sondern nur von gewissen Gegenden desselben. Die Schätze der Natur, wenn sie auch unermeßlich scheinen, sind nicht so unerschöpflich, daß der Mensch sich der Sorge überheben könnte, sie wirthschaftlich zn behandeln. Diese von der neuern Nationalökonomie leider nur zu sehr vernachlässigte Wahrheit bestätigt sich durch Erfahrung am augenscheinlichsten bei den Waldungen. — Auch in Rußland hat man Jahrhunderte hindurch Wälder zerstört, ohne zu bedenken, daß Wiederherstellung eines einmal zerstörten WaldcS sehr schwierig, oft unmöglich ist'). Die anscheinende Nnerschöftflichkcit des Waldschahcs, der überhaupt wenig wirthschaftliche und in dieser Beziehung conservative Sinn des Volkes "), der frühere Mangel an Aufsicht abseitcn der Regierung, der Mangel an fidcicommissarischcn und ähnlichen Einrichtungen zur Erhaltung großer adlichcr Güter in den Familien: — Alles dies mußte beitragen zu ganz rücksichtsloser Zerstörung der Wälder, während die großen Ocfen, wic sie das Klima in jedem Baucrhausc fordert, so wic der Häuserbau aus lauter Balken, ferner die zahlreichen Barken (Flußschiffe), die man ehedem mcistenö nach einmaliger Thalfahrt am Orte ihrer ') In Etorch's Znlschrift: Nußland unttrAlmmdsr I. Vand ll. Is cr 1794 auf dn» ixnnIichl'N Nrgc >i!,ö Eil',!,^, nach „Pttllslmrg zuvückflhrll', fand rr li>s>: Waldui^glN dü^slall ans^noütt, „daß auch nicht rin Grstiäuch übiig gMubcn war, Vovli^c! ^'!l. l. z,3f5. s)." — V»il dcr bmiahe «ngliniblich^i ^aldv^N'iisllüUi in dn« (ttoM'cnu'Ml'nls Ilischuij-Now^orud, Pnisa u. s. w. sthc uniu Pallas südliche Rcisc Th. I. S. .'lkssi!in dcr Nnsftn filr dic ^ihaltung dcr Wäldrr äußnlln sich Kallas, Hcrrmann, Gcurgi, Storch, (>U,!d!»siädt, Laftuchin cinsiinü!!!^" — Storch ci. a. O. rühmt lwn dcn I)iordwincn, dast sic cinc alic« dcm HcibnUhumc stmmmndc ssnviffl' Ehrfurcht fiir altc und schönc Väumc hättl'n und dalu'r i>, ihrcn Bi'zittlil dic Forstrn a,n sorgfältigsten i'!' dicitti'. 27 Ankunft als Brennholz verbrauchte "y, und so manche holzverzehrende Gewerbe (zu denen auch z. B. die Verfertigung von Bastmatten und Bastschuhen gehört")), cm ungeheures Holz-bedürfniß zur Folge hatten und immer unterhielten. Herr-Mann (bei Storch a. a. O. Bd. IV. S. 193) schrieb schon im Jahre 1804, es werde eine Zeit kommen, und sie sei in einigen Gouvernements schon da, daß kein anderes Holz vorhanden sein werde, als in den Kronwäldern. Die Gcsammtmasse derselben im europäischen Rußland wird jetzt in den erwähnten Mittheilungen, zu einem Flächeninhalte von 500 Millionen preußischen Morgen angegeben. Das Verhältniß des Waldlandcs zu der ganzen ungeheuern Ländermaffe des russischen Europa (etwa 87,000 Quadratmeilcn) wird vom Baron von Brinkcn (der 12,022 Quadratmcilen Privatwäldcr und 8224 Quadratmcilcn Kronwälder annimmt) zu ^/inou berechnet. — Aber wie viel verwüstete Waldungen werden sich aus diesen Waldstächen befinden! — Wie viel Wald ist ferner der Lage wegen ganz oder größtcntheils unbenutzbar! Die Waldmasse ist nämlich höchst ungleich über das ganze Land vertheilt. Im nordöstlichen Theile des ausgedehnten Gouvernements Archangel, wo noch bis zum 67. Breitengrade Kiesern, Fichten und Tannen ein bedeutendes Wachsthum erreichen, finden sich die ungeheuersten Wälder, welche gar nicht benutzt werden, da das Land fast menschenleer ist. — Die waldreichsten Gouvernements sind demnächst Wologda, Wjatka, Perm, Dlenctz, auch Kostroma und zum Theil etwa Nowgorod in Großrußland, und Minsk, Grodno, Wilna und Shitomir in Litthauen; auch in allen diesen Gegenden kommen einzelne zer-streuete Flächen, freilich von geringer Ausdehnung vor, wo in großen Entfernungen von bewohnten Orten und Hüttenwerken, auf den breiten Wasserscheiden der Flüsse, von dem Urholzvor- ') Von Briukc n a. a, O, S. 33 sagt! „DicKa'lM, wclchc mit dn, Pro-dmlm dl's Nordcno dcin Südm besonders auf dcv Wolga zugchm, und dm Stcppmsiädtw als Mmnholz dicnm, bclaufm sich, sscrmg an^schla-ssm, jährlich auf I0M0 Stück. ') Jährlich sollen in Rußland a/gcn 4!) Millimim Basimatttn vn'scrligt wndcn, und zu 1N-20 Mattcn sol! mu Lindc nöthig scin. NDi, Bahr und von Hl'Imcl'scu Britt,,^ ^„ 5irm!tnisi drs rüssistbrn Ncichs, Pttcrsbm^ 18,;l>. ff, 3'd. lV, 28 rathe noch durchaus kein Gebrauch zu machen war. Wiederum macht sich neben diesem Ueberstusse schon nicht selten ein relativer Holzmangcl fühlbar, indem Hüttenwerke, Dörfer und Städtchen durch Rodungen, Waldbrand und sorglose Wirthschaft dahin gekommen sind, sich ihren Holzbedarf auf 5 bis 8 Meilen weit holen zu müssen. — Außer den genannten Gouvernements ist nur theilweisc Ucberstuß an Holz vorhanden; so in einzelnen Gegenden der Dstsecprvvinzcn, stlbst noch des Gouvernements St. Petersburg, ferner Weißrußlands, Klcinrußlands, auch der großrussischen Gouvernements Rjasan, Tambow, Nishnij-Now-gorod, Wladimir, sowie des Gouvernements Pensa und endlich der Krimm. Im Moskauischcn und Tambowschen findet sich stellenweise neben dem größten Waldmangcl der größte Ueberstuß (man hat ja auch in Deutschland berechnet, daß Holz nicht über 10 Meilen weit zu Lande transportirt werden kann, wenn die Transportkosten nicht zu groß werden sollen). Dagegen sind die Steppen des südlichen Rußlands, mit einigen unbedeutenden Ausnahmen, alles Holzwuchses beraubt. Auch hat sich der nördliche Steppenrand, von vortrefflichen Boden begünstigt und früh bevölkert, auf Kosten der besten Laubwaldungcn erweitert, und ist tief in die früher stark bewaldeten Ccntral-Gouverncments eingedrungen. Hier ist die Wiederbestockung schon durch die starke, bloß vom Ackerbau lebende Bevölkerung behindert. Auch soll sich der Holzanbau bei dem niedrigen Preise, worin dort die Holzwaaren stehen, nicht bezahlt machen. Dies mag zum Theil daher rühren, daß der Holzmangel dort (wie angegeben wird) nicht sehr fühlbar ist, da man Lehm- oder Erdgebäude hat, und Fcucrungssurrogate (Mistziegel, Stroh, Unkraut, Schilf) allgemein anwendet; aber es ist außerdem im Allgemeinen bekannt genug und durch Berechnungen Sachverständiger vielfältig nachgewiesen, daß der Waldbodcn jetzt noch einen zu geringen Rein-ertrag für seinen Besitzer abwirft, um, wenn dessen Privatvor-thcil allein entscheidet, sich gegen die Ausbreitung des Ackerbaues halten zu können. Dies Verhältniß kann sich auch im Allgemeinen nicht ändern; es wäre eine Aenderung nur dann möglich, wenn die Hvlzpreise so hoch stiegen, wie sie nie steigen können, ohne für die große Volksmasse unerschwinglich zu werden. Merkwürdig ist bei den Laubwaldungcn an dem jetzigen nörd- 29 lichen Stcppenrande die Erscheinung des Auöfricrcns schon reifer Bestände, welches an einigen Orten, seit erst wenigen Jahren und während besonders strenger oder schnceloser Winter, Statt gefunden hat. Sollte die Ursache davon nicht darin zu suchen sein, daß diese Waldungen durch ihre Lage schutzlos den Steppenstürmen und überhaupt den Einflüssen des Steppenklima's mehr als ehemals ausgesetzt sind? Was die herrschenden Baumarten betrifft, so sind diese in den oben bezeichneten nördlichen, nordöstlichen und westlichen Gegenden des europäischen Rußlands hauptsächlich Fichten, Tannen, und daneben im Osten Lerchenbäume, Weißtanncn und Ee-dern (Litthauen soll der Lerchen und fast der Tannen entbehren; die westlichen Gegenden des mittlern Nußlands haben vorzugsweise Fichten). Aber die Nadelholzwälder sind, mit etwaiger Ausnahme der nördlichsten Region, durchmischt mit Birken-, Espen- und Erlenwäldern, auch, wenigstens in den südlichern Ncgionen, mit Ahornen, Ulmen, Eschen und vorzüglich Linden nnd Eichen. Die letzten beiden Baumarten sind in einigen Gegenden des Ostens herrschend, namentlich besonders Eichen im Gouvernement Kasan, und Linden im Gouvernement Kastroma. Im asiatischen Nußland hat Transkaukasien Eichen und Buchen, und die sibirischen Gouvernements Tobolsk und Irkutzk enthalten unermeßliche Waldungen, die aber, so viel sich aus dem Bericht des Ministern der Ncichsdomänen vom Jahr 1842 ergicbt, noch nicht in Forstbczirkc eingetheilt sind, also auch wahrscheinlich nicht forstlich bewirthschaftet werden. Was die Benutzung der Forsten betrifft, so sind der Norden und Osten des europäischen Rußlands, so wie die litthauischen Gouvernements die Hauptsitze der großartigsten Holzgcwerbe, welche zum innern Vertriebe unberechenbare Massen von Bau-und Brennholz, Werkholz, Lindcnbastmattcn, Theer, Pech und Pottasche liesern, und die besten Sortiments dieser Artikel, so wie Schiffs- und anderes starkes Bauholz, Bretter und Stabholz, "! den auswärtigen Handel bringen. Wenigstens drei Viertel ^er jährlich verbrauchten Holzmcngc besteht in Sortimenten dcS üblichen Brennmaterials. — Es ist natürlicherweise, bei dem schwankenden Holzmacherlohne und den sehr verschiedenen Transportkosten, bisher nicht möglich gewesen, den durchschnittlichen .10 Waldpreis des Holzes zu bestimmen. (Ein Sachkundiger theilte mir zu Moskau mit, daß ein Saschen Holz, d. h. etwas mehr als ein Faden, der dort 20 Nudel koste, i«: einer Entfernung von 7t) Wersten, d. h. 10 Meilen, von da nur 2 Nubcl gelte.) — Der niedrigste Marktpreis des Brennholzes deckt kaum die Transportkosten; der höchste übersteigt nicht 2 Sgr. oder 6 Kopeken Silber für den Kubikfuß. Hölzer und Forstproducte, die in den auswärtigen Handel kommen, sind in den Seehäfen nur geringen Preisschwankungen unterworfen; da aber ihre Gewinnungskosten ohne Controls von den Holzhändlern getragen und sie aus den verschiedenen Entfernungen transvortirt werden, so ist es hauptsächlich der Ausgangszoll, welcher für diese Artikel dem Staate eine ziemlich beständige Einnahme gewährt. — Es ist behauptet worden, daß der Reinertrag der Forstverwaltung im Domäncnministerium (worin aber der Verbrauch der Marine und was unentgeltlich an Bauern abgeben wird, nicht mitbe-griffcn ist) nicht 400,000 Rubel Silber betrage. Der ossicielle Bericht desselben Ministeriums vom Jahre 1842 sagt: es sei in diesem Jahre für die Admiralität und zum anderweitigen Bedarfe der Krone, und den Bauern unentgeltlich Holz für die Summe von 1,802,058 Nubel 58 Kopeken verabfolgt worden, gegen Bezahlung aber für 480,213 Rubel 80 Kopeken. Die totale Einnahme von den verschiedenen Waldungen habe in demselben Jahre 752,252 Rubel 58 Kopeken betragen. Der Kostenbetrag ist nicht angegeben, auch nicht, ob Silberrubel gemeint seien, welches deshalb zweifelhaft ist, da die Regierungs-Behörden jetzt gewöhnlich nach Silbcrrubcln rechnen, nicht aber die Gewerbs-lcute. Wir kommen nun noch zu der russischen Forslgesehgcbung und Forstvcrwaltuna/'). — Vor dem Czarcn Alexei Michailo- ') Ul'bcr dksm mtt'N'ssantttt Gcgmstand cnthält, was dic Gcschichtc betrifft, S tu rch'S angeführtes N^rt (»iuMud unttr Alerander dcmFrstl',!) ,,u>h-n'« Abhandlung«!, als Vd. !l. Nr. XXI. Vd. IV. Nr. X. Bd. V. Nr. II. u. X. (Mcs vom Jahr 1804,) und endlich in der 22. Liefe-run,; Nr. III. (vom Jahr 1806). Nm ab« und zuglcich über dm a.c-gmwcirtigm Zustand bclchrmd ist W ran a, r I'ö (^schichte dcr Foisigch'h-gcbüiig drs nissischm Reichs, witsch findet man nur Strafgesetze zum Schutze dcr Waldungen, eigentlich wohl nur in Bezug auf die Jagd und das Privat-cigenthumsrecht. Unter diesem Czar ward zuerst der Versuch gemacht, einen Theil dcr Kronforstcn einer besonderen Verwaltung zu übergeben, veranlaßt durch die Sorge für die Erhaltung von hölzernen Festungswerken, welche an der südlichen Grenze des Reiches zum Schutze gegen die Einfälle der Tataren angelegt waren. Aber eine Forstadminisiration ward eigentlich erst unter Peter I. begründet^), und zwar zunächst, um für die Bedürfnisse dcr damals entstandenen Seemacht zu sorgen. Es ward zuvörderst bei den strengsten Strafen den Unterthanen verboten, gewisse Baumartcn, die zu Wasser- und Landbautcn tauglich sind, innerhalb einer bestimmten Entfernung von den Flüssen, es sei in Privat- oder Kronwaldungcn, zu fällen. So entstand dcr Unterschied zwischen verbotenen und unverbotc-nen Wäldern und Baumartcn. Was die unverbotenm betrifft, so blieb auf Pnvatgütcrn das Eigcnthumsvccht dcr Besitzer unbeschränkt, und in den Kronwaldungcn konnte man aushauen, so viel und wo man wollte. — Durch besondere nähere Bestimmungen ähnlicher Art ward noch vorzugsweise für das Bedürfniß von St. Petersburg gesorgt. — Es wurden Commissarien und Waldaufschcr über die verbotenen Waldungen gesetzt, und dem Eammer-Collegium (der Behörde für die Verwaltung der Abgaben und Krougütcr) befohlen, für die Erhaltung der Waldungen zu sorgen und, wo es nöthig sei, neue anzulegen. — Sodann, im Jahre 1722, erfolgte mit einer Instruction für den Dberwaldmcister, eine vollständige Organisation des Forstwesens, und wurden alle Waldungen des Reiches dem Admiralitäts-Collcgium untergeordnet, von dem der Obcrwaldmeister nebst den eingesetzten Unterbcamtcn (Waldmeistern) abhing. Die bemerkten Grundsätze über die verbotenen Waldungen wurden mit Rücksicht auf die verschiedenen Baumartcn und Flüsse näher bestimmt (das Fällen der Eichen ohne besondere Erlaubniß, war überall verboten). — Die verbotenen Forsten warm bestimmt: 1) zum ') Hch'ath Hcrrm a illl sagt lu'i Storch (a. a. O. Bd. IV. S. l!)l) : //WaldaduiinistnUion ist immcr Folgc dcs gesühltcn VcdiirfinssrS nnd spmmt '»mim- lim cm Iahrlnmdl'tt zu spat." 32 Schiffbaue, zu Canälcn, Schleusen, zum Gebrauche der Artillerie und zu besonderen Staatszwccken; 2) zum Bedarf der der Krone gehörigen oder privilegirten Fabriken; 3) zu sogenannten häuslichen Bedürfnissen, d. h. zu Bauholz und für vcrschiedenc-Hand-werke, als Tischler, Drechsler, Stellmacher u. s. w. Zum Schissbau wurden die besten Bäume genommen. — Für die Krone ward allenthabcn unentgeltlich Holz gefällt. — Zum Balle von Handelsschiffen sonnten, unter gewissen Einschränkungen, auch verbotene Bäume gefällt werden. Ueberhaupt aber durste das Fällen verbotener Bäume nur mit besonderer Erlaubniß des Adnn'ralitäts-Eollegiums geschehen. Diese Einrichtung des Forstwesens ist im Wesentlichen, mit Ausnahme eines kurzen Zwischcnzeitraums, bis zur Regierung der Kaiserin Katharina II. in Kraft geblieben. Katharina I. erklärte durch einen Ukas vom Jahre 1726 die Instruction der Waldmeister für zu drückend, und zur Erleichterung der Unterthanen schränkte sie die Bestimmungen über die verbotenen Wälder bedeutend ein, schaffte die Waldmcisterstellen ab und übertrug die Aufsicht über die verbotenen Forsten den Gutsbesitzern, Starosten und allgemeinen Verwaltungsbehörden. — Allein man fand nun bald, daß die Wälder ohne alle Schonung ausgerottet wurden. Es erscheinen daher unter Peter III. im Jahre 1729 wieder strengere Verordnungen, besonders in Betreff der Eichen. — Uebrigcns sing die Krone an, für die von ihr in Privatwäldern gefällten Bäume Zahlung an die Bescher zu leisten und verschaffte sich von ihren Waldungen dadurch eine Einnahme, daß sie einen Zoll auf ausgeführtes Holz legte ^). In den Jahren 1730—1732 brachte man eine schon früher angefangene Beschreibung der Wälder in den mittleren Gegenden Rußlands zu Stande, die aber den schlechten Zustand der Verwaltung darstellte, so daß die Instruction Peter's I. an den Dberwaldmeistcr in ihrer früheren Ausdehnung, mit einzelnen Abänderungen, wieder hergestellt ward. *) ssö scheint (nach Wrangel), dasi die Krone ihre Waldungen, scwiel die Nutzung betrifft, damals noch im Allgemeinen als Gemeingut betrachtete, und deßhalb von Bauern und anderen Privatpersonen fur gefälltes udcr z» Theer, Pech u. s. w. verbrauchtes Hol; leine Bezahlung nahm, wenn es nicht aus dcm Lande hinausgmq. Vom Jahre 1748 an beschrieb man auch cinen Theil der nördlichen Wälder, von der Dwina und ihren Nebenflüssen bis zur Stadt Ustjug. — Man ließ ferner deutsche Forstmeister kommen, um verbotene Wälder, besonders Eichenwälder, an passenden Stellen anzulegen imd Forstlehrlinge zu unterrichten. Wahrscheinlich waren es auch diese Deutschen, welche verschiedene Verordnungen veranlaßten, die alls eine forstmäßigc Behandlung der Bäume abzwcckten. Es wird aber geklagt, daß von ihnen in Anwendung gebrachte deutsche Forstregcln nicht auf das Klima und die örtlichen Verhältnisse Rußlands paßten, und daß überhaupt die Maßregeln der Regierung nicht vermögend waren, die Ausrottung der Wälder einzustellen. Unter Katharina II. wurden bedeutende Veränderungen in der Einrichtung des Forstpersonals vorgenommen, auch, in Folge der Generalvermessung, die ersten Forstkarten angefertigt (wobei die Grcnzbestimmung zwischen Privat- und Kroneigrnthum Schwierigkeiten verursachte), und seit dem Jahre 1780, neue Grundsätze in der Forstverwaltung geltend gemacht. Bisher war die Versorgung der Flotte als der Hauptzweck, und fast der einzige Zweck derselben erschienen; nun dachte man darauf, die Kronwaldungen zur Verbesserung der Finanzen zu benutzen, und sing an, von den in den Kronwaldungen und in denen der Oekono-miebauern gefällten Bäumen eine Abgabe zu erheben. Dagegen ward im Jahr 1782 den Privatwaldcigcnthümern völlig freies Vcrfügungsrecht über ihre Waldungen gegeben, so daß auch die Krone nur nach freier Uebcreinkunft mit ihnen Bäume in denselben fällen lassen sollte'). Auch ist in einem Ukas von Bedrückung der Bauern und der (unten zu erwähnenden) Laschmänner die Rede, welcher das Admiralitäts-Eomtoir zu Kasan abhelfen sollte. Der berühmte Pallas verfertigte in Auftrag der Kaiserin eine neue Forstinstruction, und eine vollständige Forst-Gesetzsammlung ward entworfen, aber außer einigen einzelnen Verordnungen (deren eine namentlich verfügte, daß der fünfte ") Wic Herrmann a. a. O. Bd. IV. S. 193. bemerkt, haben die Privatbesitzer von dieser Freiheit solchen Kebrauch gemacht, wic zu erwarte» war. Sie huben ihre Wälder theils misssehauen, theils verwildern lassen. 3 34 Theil der Kronwaldungen zur Versorgung der Flotte dienen sollte), nicht publicirt. Die Klagen über die Ausrottung der Wälder dauerten fort. Kaiser Paul suchte durch mehrere Verordnungen auf Verbesserung des Forstwesens zu wirken und insbesondere die Vervollständigung der Forstbeschreibung zu befördern. Er ordnete alle zum Schiffsbaue bestimmten Waldungen dem Admiralitäts-Lollegium unter und bestimmte die zum Schiffsbaue nöthigen Baumarten in den Kronwaldungcn. Ferner führte er eine Tare für daß auß den Kronwaldungcn gefällte Holz ein, bestimmte, daß die Bauern zum Baue eines Hauses 25 Stämme unentgeltlich fällen dürften*) (jedoch nicht in dem fünften Theile) u. f. w. Seine Verordnungen haben zum Theil der noch jetzt besiehenden Einrichtung des Forstwesens zur Grundlage gedient. — Unter Alexander ward im Jahre 1802 das Forstdepartement dem damals errichteten Finanzministerium übertragen und ein neues Forstreglement publicirt. Im Jahre 1893 wurden drei Forstcommissionen in den Gouvernements St. Petersburg, Olonetz und Kasan niedergesetzt, um die Waldungen genau kennen zu lernen, die Wälder der Krone von denen der Bauern und Privatgutßbesitzer zu trennen, den Bauern, die wenig Land besaßen, Waldland zuzutheilen, und dagegen von Baucrforsten den fünften Theil als verbotenes Gehölz abzutheilen, die SchiffSbau-waldungen zu bearbeiten u. s. w. Die verbotenen Gehölze waren in den den Häfen am nächsten liegenden Gouvernements zur Versorgung der Flotte bestimmt, in den übrigen aber zu anderen Bedürfnissen der Krone und im Nothfalle zur Unterstützung der Bauern selbst. — Schiffsbauholz sind, nach der jetzt geltenden Bestimmung, Eichen, Lärchen und große Fichtcnbäume, die sich ctzt eine Gcwerbestadt.— Bauart der älteren adligen Hofe, die Hofdicner.— Jetzige Bauart, die Fabrikarbeiter. — Politisches Gewicht Moskau's als Centrum der Gewcrbsamkeit. — Ucber die Bildung eines Vürgerstandes, germanischer ssorporationsgcist, russischer Assosialionsgeist. — Ruffische Handwerker, Handwerksgcmeinden. — In Nußland keine Proletarier! — Eigenthümliche russische Gestalten. — Der Dwornik, Vudoschuik, Plotnick. >3s ist eine oft gemachte Bemerkung, dasi man durch einen Aufenthalt in Petersburg noch keinen eigentlichen und richtigen Begriff von Rußland erlangt haben könne. Man hat Petersburg ein Schönfmsier genannt, welches Peter I. geöffnet habe, um nach Europa auszusehen, und westeuropäische Luft einzulassen! — Petersburg ist eine durchaus europäische Stadt, mit weniger nationalem Charakter als z.B. London und Paris, mit etwas mehr russischen als andern Kirchen, und von russischen Soldaten und Beamten, einigen russischen Bürgern, und ziemlich viel russischen Bauern, außerdem aber von Deutschen, Finnen, Franzosen, Engländern :c. bewohnt. Es liegt nicht einmal auf nationalrussischem Boden, sondern auf finnischem. Die Russen sind daselbst nur Colonisten, seit kaum 140 Jahren! Wie die Russen und Nußland ein Volk und demnächst ein Land geworden, liegt in einem Dunkel, welches sich schwerlich ganz aufhellen wird. Dcr stärkste Bestandtheil, die vorwiegendste Grundlage dcö Volkes ist der slavische. Die Klcinrusscn möchten am reinsten diesen slavischen Bestandtheil enthalten, sich am wenigsten 40 mit fremden Nationalitäten gemischt haben; darum sind sie auch nicht das herrschende Volk geworden! — Nie haben die reinen ungemischten Völker an der Spihe der Eultur gestanden und eine große dauernde Nolle in der Weltgeschichte gespielt. Sind die Griechen und Römer nicht Mischlingsvölker? sind die neuern europäischen Gestaltungen, die Italiener, Franzosen, Engländer, Spanier, selbst die Deutschen, ja auch die Türken, etwa Völker von ungemischter Race? — Den ungemischten Völkern, den Hindu, den Mongolen, selbst den Ungarn, fehlt es durchaus nicht an großen Geistesanlagen, es sind dabei Völker von hinreichend zahlreichen Massen; warum haben sie nie vermocht, einen großen dauernden Einfluß auf die Weltgeschichte zu üben? — Die einzigen Ausnahmen von dieser Regel sind die Juden und Araber. Aber die Juden sind in jeder Beziehung eine Ausnahme der Weltgeschichte, und selbst wenn man eine unmittelbar auf die Geschicke dieses Volks eingreifende Leitung Gottes nicht annehmen wollte, so ist eine mysteriöse Stellung desselben in der Weltgeschichte doch gar nicht abzuleugnen. Der Einfluß desselben auf die Weltgeschichte ist aber stets mehr geistiger als materieller Natur gewesen. — Die Araber haben nur den Anstoß gegeben zu einem großen Weltgeschicke, dem Muhamedanismus, dessen sich dann andere Völker, die Türken, die Perser :c. bemächtigt. Das Ehalisat blieb nur eine ganz kurze Zeit ein arabisches, das eigentliche Arabien versank gar bald wieder in die frühere weltgeschichtliche Unbedeutendhcit. So sind denn auch der eigentliche Bolkskern des russischen Reichs, die 3tt Millionen Großrussen, ein Mischlingsvolk. — So wie die Franken nach Gallien kamen, und sich mit Galliern und Römern mischten, und zu einer neuen scharf ausgeprägten Volks-gestaltung, den Franzosen, ausbildeten, so auch der sich allmälig über Nußland verbreitende slavische Stamm ill seiner Mischung mit den Ureinwohnern, den Tschuden (Finnen), zudem später noch germanische (warägische), tatarische, mongolische :c. Volkselemcnte hinzutraten. Die Russen sind einen andern Weg der Bildung und Eultur fortgeschritten, als die übrigen europäischen Völker. Die germanischen Völker haben zur Gewinnung ihrer Bildung große Vortheile und einen leichteren Weg vor den slavischen Völkern 41 vorausgehabt. Sie fanden in der weströmischen Welt, wo sie sich niederließen und mit den Ureinwohnern zu neuen Volksbildungen amalgamirten, überall eine hohe und alte Cultur, deren Sprache, die lateinische, nicht bloß in allen diesen Ländern verbreitet war, sondern auch als Kirchensprache mit dem Christcn-thume in den eigentlichen germanischen und skandinavischen Ländern Eingang gewann. Dabei war durch den germanischen Ursprung, die germanische Sprache, die germanischen Sitten ein innerer Zusammenhang unter allen diesen Völkern begründet, welcher sich dadurch selbst dann leicht erhalten konnte, als die romanischen Sprachen sich allmälig ausbildeten und Völkcrschci-dungen begründeten. Dazu kam noch ein sehr wichtiger Umstand. Diese Völker fanden einen natürlichen durch die Kirche begründeten Mittelpunkt in Nom, von dort waren ihnen die Elemente des Christenthums und der Cultur gekommen, auf dieser Basis schritten sie gleichmäßig fort. — Einigkeit und Disciplin in der Lehre hatte die orientalische Kirche sich ebenfalls erhalten, aber es war mehr der Staat, das orientalische Kaiscrthum, welcher diese Einigkeit aufrecht erhielt; im Occident war eine freiere Stellung der Kirche. Hier war nicht bloß Einigkeit, sondern Einheit, cm Ontrum üniwtis, vorhanden, auch äußerlich von der Staatsgewalt unabhängig, ja von dem Zcitgeiste gehoben und getragen, bald selbst eine große politische Macht. Nun ward die Kirche selbst die Trägerin der Cultur, die Lehrerin der Wissenschaften; ihre Einheit gab diesen Bestrebungen Gleichmäßigkeit, alle Völker, die das occidentalische Patriarchat umfaßte, wurden gleichmäßig davon ergrissen und angeregt. Dann kamen die Krcuzzüge, welche Europa vor der völligen Herrschaft und zu einseitigen Richtung der römischen oder lateinischen Cultur bewahrten, indem sie auch Elemente orientalischen Wissmß und orientalischer Beschauungen zuführten, und mit jener amalgamirten. Da entwickelte sich denn auch im staatlichen Leben der Völker im Mittclalter das Ritterthum und das Bür-gerthum, welche gleichmäßige Lebensverhältnisse und Lcbensan-schauungen durch das ganze occidentalische Europa verbreiteten. So kam es denn, daß im Occident die Cultur nicht das Eigenthum eines bevorzugten Volkes wurde, sondern aller Völker, daß diese sich einander ergänzten, daß jedes bestimmte Richtungen 42 vorzugsweise vertrat, aber daß sie nur zusammen die Vollendung, das Ganze, darstellten. Selbst die Kirchenspaltung des 10. Säculi vermochte diese Einheit der Cultur nun nicht mehr zu zerstören, und in dieser Beziehung bilden daher jetzt alle Völker Europa's eine große Völkerfamilic, mit dergestalt gleichartigen Lebenßvcr-ha'ltnissen und Lebcnsanschauungcn, daß kein staatliches Lebens-vcrhältniß irgendwo modisicirt, umgewandelt oder zerstört wird, ja daß fast kein Gedanke auftaucht, ohne daß alle Theile vibriren, und die Wirkung in deu entferntesten Enden und Ecken Europa's verspürt wird. Nußland hat diese großen Vortheile der germanischen Völker nicht gehabt. Der slavische Stamm, der sich im jetzigen Rußland niederließ, fand kein Culturvolk vor, mit dem er sich hätte amalgamiren, und eine alte Cultur und Bildung hätte übernehmen können. Vielmehr fand er spärlich Reste tschudischer Völker vor, die in Anlagen lind Cultur noch weit hinter ihm standen. Es erhielt das Christenthum von der orientalischen Kirche, zu einer Zeit, als diese bereits mit der occidentalischen, wenn auch nicht völlig zerfallen, doch schon in feindseliger Spannung lebte. Nußland hielt sich daher vom übrigen Europa fern, sogar mehr, als das griechische Kaiserthum, welches aus politischen Rücksichten den lateinischen Occident zu nöthig hatte, um je völlig mit ihm, und selbst nicht einmal mit dem Papste, zu brechen. Rußland stand selbst dem griechischen Kaiscrthum mehr feindlich als freundlich gegenüber. Es war nur die Verbindung mit dem Patriarchen, der es an Konstantinopel knüpfte, aber diese Verbindung war viel loser, als die der germanisch-romanischen Völker mit Rom. Hinzu kam, und das ist in dieser Beziehung unendlich wichtig, daß Rußland nicht den griechischen Cultus, sondern den slavonischen adoptirte. So ward dem russischen Klerus nicht die Nothwendigkeit auferlegt, die griechische Sprache zu erlernen. Wenn auch nicht die griechische Kirchenlitcratur, so blieb doch hiedurch die classische altgriechische Cultur Nußland großtentheilS fremd. Zwar war die altslavonische eine schöne reiche bildsame Sprache, die noch vorhandenen kaum übertrossenen Uebcrsetzungen der Bibeltheile durch die Heiligen Cyrillus und Methodius zeigen dieß. (Noch jetzt werden Worte, Wendungen, Ausdrücke ihr für die Sprache der höhern Poesie entlehnt!) Allein sie hatte keine Literatur, konnte daher nicht als Grundlage der Cultivirung dienen. Es war daher natürlich, daß Nußland nicht völlig qlci-chen Schritt mit den großen geistigen und staatlichen Entwickelungen des übrigen Europa zu halten vermochte. Doch ist es damals keineswegs völlig davon unberührt geblieben. Wir finden Vielmehr in Rußland vom 10. bis 13. Saculum dieselben Keime der Cultur und Volkscntwicklung, wie im übrigen Europa, und es möchte in dieser Beziehung wohl kaum den Ländern bedeutend nachgestanden haben, die das Christenthum auch erst später und beinahe gleichzeitig mit ihm überkommen haben, wie z. B. Skandinavien. Die Annalen Nestor's des Mönchs aus dem Höhlenkloster zu Kiew am Ende des 11. Säculi zeigen uns zu jener Zeit in Rußland eine Sprachausbildung, einen kirchlichen, socialen und Culturzustand, der eben nicht unter dem Niveau von Polen, Böhmen, Schweden und Dänemark sieht! ^ Ja wir finden damals entschiedene Spuren, daß selbst germanische Lcbensanschauungcn und staatliche Einrichtungen im russischen Volke Wurzel gefaßt hatten*), selbst die Gedanken und Gefühle des Nitterwesens sind deutlich zu erkennen. Man betrachte nur z. B. in dieser Beziehung den epischen Gesang des Zugs Igor's gegen die Polowzer aus dem 13. Säculum, und überhaupt den Cyclus der russischen Heldensagen. Auf diesem Punkte blieb nun aber damals Rußland stehen! Von Osten her zuerst auf das heftigste von den Polowzcrn bedrängt, so daß es, wiewohl vom Papst und dem konstantinopo-litanischen Kaiser aufgefordert, nicht an den für die Entwicklung der Völkercultur so wichtigen Kreuzzügen wesentlich Theil zu nehmen vermochte, kam denn bald darauf die Neberschwemmung und Unterjochung durch die Mongolen und Tataren, welche alle jene schönen Keime der Cultur erstickten, oder doch nicht zur lebendigen Entfaltung kommen ließen. Die Unterjochung durch die Mongolen hat die Entwicklung Ein flüchtige! Blick in das älttstc russische Nechtsdmkmal, dic Prawda Ruskaja aus dcm l2. Smulnm, gi^t mis hicrül'« iibcrzcligcndc Vrwnft, Der Krim dc« Feudalwfscns schcint mit dm Warägern hcrübcr l,>'w»,!„m, von ihncn rühr» wohl dcr Anfang cincs Fcudaladclö, dic Dnisl)'!ni (die Gefulgschaftm, vic Getrnun, dic ^ntniztinne« dcr Frankm) hn. 44 der Cultur gehemmt, allein für die politische Existenz Rußlands hat sie wichtige und wohlthätige Folgen gehabt. Durch die Waräger hatte die germanische Feudalvcrfaffung Wurzel gefaßt, das Geschlecht Rurik's theilte in Folge dessen das Land in viele kleine Fürstenthümer, die zwar unter dem Fürsten des ältesten Stammes, der als Großfürst in Kiew herrschte, nach Lehnrccht stehen sollten, sich aber säst unabhängig stellten und mit einander in ewigen Fehden lebten, wobei auch die Bojaren, die Drushina, selbst die Städte (die häusig ihre Fürsten ein- und absetzten, sich jedoch m ächter Feudalgesinnung sireng an Rurik's Geschlecht hielten) zu politischer Macht gelangten. Aeußerlich in viele Theile zersplittert, innerlich durch die selbstständige Macht von Adel und Städten politisch geschwächt, hatte Rußland alle Einheit verloren und siel daher ohne langdauerndcn Widerstand nach einigen blutigen Schlachten in die Hände der Eroberer. Drittchalb Jahrhunderte beherrschten alsdann die Mongolen Großrußland; Noth-rußland und Kleinrußland, mit Kiew, dem Sitze der Großfürsten, siel dann den Großfürsten von Lithauen und demnächst mit Lithauen Polen anheim. Die Mongolen machten sich nicht ansässig in Rußland. Wenn auch der Chan der goldnen Horde an der südlichen Wolga, in Ssarai, eine Stadt und seinen bleibenden Sitz hatte, so blieb sein Volk doch ein Nomadenvolk. Er ließ die Russen bei ihrer Verfassung, und forderte nur Steuern und Tribut von ihnen. Dreierlei erhielt damals Nußland. Das Gefühl der Nationalität, durch die gemeinsame Sprache getragen, ward nicht zerstört, umgekehrt, der harte Druck erhielt das Volk in Spannkraft und bildete das Gefühl zu einer tiefen, unauslöschlichen Energie aus, indem es im Hasse gegen die fremden Unterdrücker einen starken Widerhalt erhielt. Die Religion blieb von den Mongolen unberührt, ein Trost und ein Gemeingcfühl im tiefen Leiden, sie ward ein Theil, ein mächtiges Element der Nationalität, dem Mongolenvolk und dem Muhamedanismus gegenüber, ja das Christenthum erhielt dort dadurch fast den Charakter einer Nationalreligion, sein Cultus den eines Nationalcultus. Endlich drittens blieb der staatliche Organismus bestehen, das Volk blieb unter der Regierung seiner cingeborncn Fürsten, ja die Mongolen begingen selbst den großen politischen Fehler, daß 45 sie die Macht des Großfürsten den Theilfürsien gegenüber nicht bloß anerkannten, sondern selbst stärkten, wo dann der Druck des Volks von unten, so wie die sich kräftigende Obcrmacht der Großfürsten von oben zu einer nothwendigen Einheit führen mußte, die das Zerbrechen des Mongolenjochs am Ende des 15ten Jahrhunderts zur Folge hatte. Schon vor Beginn der Mongolenherrschaft hatte sich das altc Großfürstenthum in zwei Hälften gespalten. Neben dem alten Großfürstcnthumc Kiew bildete sich nämlich cm neues Großfürstenthum zuerst in Wladimir, welches später nach Moskau verlegt ward, und sich mit allen großrussischen Fürstenthümern von Kiew unabhängig machte. Kiew verschwand dann später ganz vom Schauplatze, indem es, von den Lithauern erobert, Polen einverleibt wurde, und so ward Moskau, nachdem auch Nowgorod gcdemüthigt sich unterwarf und allmählig in Unbedeutcndhcit versank, der einzige Mittelpunkt der Einheit Nußlands. Moskau hat für das russische Volk eine Bedeutung, wie keinc Stadt für irgend ein Volk! Sie ist der Mittelpunkt aller volks-thümlichen und religiösen Gefühle der Russen. Es giebt keinen Großrussen in dem unermeßlichen Reiche, in Archangel wie in Odessa, in Tobolsk wie in Nowgorod, der nicht von Moskau, ',der heiligen Mutter", mit tiefer Andacht, mit schwärmerischer Liebe spräche! Jeder russische Bauer, wenn er Hunderte von Meilen hergezogen zuerst die Thürme von Moskau erblickt, wird ehrfurchtsvoll seine Mütze abnehmen und sich segnen. Ja in Moskau selbst habe ich es oft gesehen, daß, wenn dcr lswostsolnk (Droschkenfuhrmann) am frühen Morgen bei ciner Biegung in eine Straße die Thürme des Kremls zuerst erblickte, er seine Mütze abnahm und sich mit dem Kreuze bezeichnete. Aber es ist nicht bloß dcr gemeine rohe Russc, dem diese tiefe Anhänglichkeit angeboren ist, ich habe sie fast ohne Ausnahme (einige bla-sute Petersburger mögen diese vielleicht bilden) bei allen Classen des Volks, bei Hoch und Niedrig, Gebildeten und Ungebildeten gefunden. Napoleon hat dies nicht gewußt oder gcahnct, sonst würde kl' seinen Zug nach Moskau vermieden haben. Hätte er statt dessen seine Armee nach Petersburg oder nach Südrußland di-l'girt, so würde er die Nationalität der Russen uicht in dem 4tz Grade geweckt haben, und es möchten andere Resultate eingetreten sein. Mit der Besetzung Moskau's ward es ein Krieg bis zum Messer und jeder Friede, so lange noch ein Franzose in Rußland war, unmöglich! In Moskau ist nach dem Brande von 1812 der größere Theil der Wohngcbäude nach modernem westeuropäischem Geschmack und Zuschnitt gebaut; das muß nothwendig und in vielen Beziehungen auf Sitte und Lebensart der Bewohner dieser Häuser einwirken. Es mögen etwa 8—10,000 Deutsche und Franzosen :c. dort wohnen. Dann könnten wohl auch etwa 13— 18,000 Einwohner dort leben, die eine mehr oder weniger europäische Bildung und Erziehung erhalten haben, Beamte, Ofsi-ciere, Edelleute, Ehrenbürger, Kaufleute erster und zweiter Gilde :c., alle übrigen, vielleicht 300,000 Menschen, sind noch ächte Russen in Gesinnung, Bildung, Sitten und Lebensart, unberührt vom Flitter der modernen Cultur. Das Vorherrschen des ächten Rufsenthums war in Moskau im 1 Men und 17ten Jahrhundert natürlich noch bei weitem mehr der Fall. Die Regenten Nußlands hatten aber schon lange das Gefühl, daß das Volk in Bezug auf Cultur weit hinter den übrigen europäischen Völkern, denen es doch nach Ursprung, geistigen und physischen Anlagen, Religion und politischer Stellung ebenbürtig war, zurück sei. Sie glaubten, es sei nothwendig, Nußland mit Westeuropa in nähere Verbindung zu setzen, die fortgeschrittene Bildung desselben nach Rußland überzuführen. Sie glaubten dies am leichtesten dadurch zu erreichen, daß sie so viel möglich Fremde ins Reich zogen, die Bildung der Ruffen, wo es anging, fremden Lehrmeistern übertrugen und westeuropäische Staatseinrichtungen einführten, oder die russischen nach ihnen modelten und umbildeten. Schon Ivan Wafiljcwitsch berief viele Fremde, besonders Deutsche, und suchte seine Kriegsmacht auf europäischen Fuß zu organisiren. — Die Regenten aus dem Hause Romanow folgten mit Eifer auf dieser Bahn. Niemand aber sah die Nothwendigkeit, sich mit der Bildung Westeuropas in Niveau zu setzen, tiefer ein, und that hiczu durchgreifendere und energischere Schritte, als Peter l. 47 Es lag nicht in der lebendigen und heftigen Natur Peter's, die Keime zu legen und zu säen, ohne auch ernten und Früchte genießen zu wollen. Er stieß bei Ausführung seiner Gedanken überall auf Hindernisse. Der natürliche Widerwillen des Volks gegen Neuerungen und gegen Fremdes trat ihm überall hemmend entgegen. Aber er war nicht der Mann, vor Hindernissen zurück zu schrecken, etwas halb zu thun! — Er fühlte, daß, so lange er in Moskau, dem Mittelpunkte des alten und ächten Russenthums, residire, jede durchgreifende Umwcmdelung, jedes energische und rasche Einführen des Neuen unmöglich sei. Er blickte sich wie Archimedes nach einem sesten Punkte außer der Erde um, um diese zu bewegen! Diesen sand er in der Anlage von Petersburg! — Er hatte durch einen glücklichen Krieg die Küsten des baltischen Meers für Rußland gewonnen, durch welche erst eine kräftigere und innigere Verbindung mit Westeuropa möglich ward. Sem genialer Blick erkannte die unermeßlichen Vortheile, welche die Lage von Petersburg für den ganzen Handel Rußlands mit Westeuropa darbot. Er glaubte, daß dieser Ort mit seinen schon von ihm projectirten Wassercommunicatio-nen des innern Nußlands einer der ersten Handelsplätze der Welt werden müßte. Der Handel aber bildet ja die natürlichste Communication unter den Völkern, ist die leichteste Brücke der Cultur! So beschloß er denn, St. Petersburg zu seiner Residenz zu machen, und von hier aus mit seiner ganzen Energie Nußland zu reformiren! Wer kann leugnen, daß es ihm ge- z lungen ist! Die Richtung, die er Nußland gegeben hat, ist noch die jetzt vorhandene, der Impuls, den er hineingelegt hat, lebt und wirkt noch im ganzen Staats- und Volksleben Nußlands. Es ist ein tiul, aocainsili, dessen Wirkungen durch keine menschliche Macht zu vernichten sind! und damit wäre doch wohl jede Untersuchung, ob jcne Richtung heilsam und nothwendig für Rußland gewesen sei, als unnütz abzuweisen. Daß Peter I. manches ächt und charak- ' lenstisch Nationale viel zu wenig geschont hat, daß er voreilig l viel mittelmäßiges, selbst schlechtes Fremde nach Rußland hat l verpflanzen wollen, ohne zu untersuchen, ob es Wurzeln schlagen konnte, ob es mit dem Vorhandenen, ob es mit der Nationalität 48 harmomre, wer mag daß leugnen?"') — Gegenwärtig handelt es sich aber um die Frage: soll man in jener Richtung noch kräftiger und umfassender fortfahren, oder soll man, mit den gewonnenen Resultaten jener Richtung zufrieden, die erworbene Wldung Westeuropas benutzend, eine andere mehr nationale Richtung einschlagen, das. Gute daheim, wo es sich findet, pflegend und erhaltend, alles noch vorhandene acht Volksthümlichc festhaltend und entwickelnd? — Ich werde später auf diese gegenwärtig wichtigste Frage der innern Politik Nußlands nochmals zurückkommen. Der Anblick von Moskau, wenn man in dessen Nähe kommt, ist außerordentlich, und ich wüßte keine Stadt Europas damit zu vergleichen. Am herrlichsten entfaltet sich dieser Blick von den sogenannten Sperlingsbergen aus. Diese unzähligen goldenen und grünen Kuppeln und Thürme (jede Kirche hat deren zum wenigsten 3, die meisten aber 5,, selbst 13, und es giebt gegen 400 Kirchen!) in einem Meere von rothen Hausdächern, in der Mitte der Kreml auf einem Berge, wie eine darüber schwebende Krone, mit seinen dichtgeschaarten 32 Kirchen und 170 Thürmen und Kuppeln! —' Hier hielt einst Napoleon zu Pferde, umgeben von der alten Garde, und erwartete, daß die Bojaren und Stadt-bchörden der Czarenstadt erscheinen und demüthig die Schlüssel der Stadt überreichen würden. — Niemand erschien, die Einwohner hatten die „heilige" Stadt verlassen und in der Nacht ') Peter I. rief übrigens zur Erziehung seines VoM holländische, deutsche, englische, schwedische, kurz germanische Elemente zu Hülfe, kr wollte so viel als möglich eine ernste, dem Nothwendigen und wahrhaft Nützlichen zustrebende Bildung begründen. Erst unter Elisabeth begann französische Lultni einzudringen. Französische Erzieher und Gouvernanten, das Eindringen französischer Sitten und Lcbensauschauungeu, haben in Nußland unermeßlichen Schaden gethan; sie haben Frivolität, Leichtsinn, Irreligiosität (mit Beibehaltung äußerer Formen), Ungründlichseil, unter äußerer Politur versteckt, in einem Maße unter den höheren Classen Nnßland's verbreitet, daß daran das ganze Staats- und Volksleben wie an einem Krebs kränrelt. Nicht Peter ist eS, dessen Ideen Nnsiland eine falsche Richtung gegeben haben; die späler ringcdrungenen französischen Richtungen haben geschadet, lind es wird nicht eher besser werden, bis sic ausgemerzt sind. 40 ging sie m Flammen auf; aber die Tage Napoleons waren ins Zenith seines Geschicks getreten, von nun an ging es abwärts! Kommt man erst durch die Thore Moskau's, so verliert sich der großartige Lindruck, den man von Außen empfangen; die Stadt ist dann wie eine andere, ja sie hat weniger ein historisches Ansehen, wie z. B. Nürnberg, Lübeck, Danzig, wo die Kirchen und Wohnhäuser aller Jahrhunderte, vom 10tcn Säc. an, tranlich neben einander stehen. Städte, die eine Geschichte haben, und wo die Gebäude aus den verschiedenen Jahrhunderten die stummen Erzähler derselben sind, wo in jedem Hause viele Generationen Lust und Leid getragen, dann sich zur Ruhe gelegt und den Kindern und Enkeln zum Beginnen eines neuen Lebens den Naum gelassen, haben für mich etwas Anziehendes, ja sie sind mir lieber, ich sinde sie sogar schöner, als solche moderne Städte wie Petersburg oder der größere Theil Berlin's, die aussehen, als ob sie über Nacht wie Pilze aus der Erde gewachsen, auf Befehl irgend eines Mächtigen der Erde! Diese langen, schnurgeraden Straßen, diese langweiligen Häuser wie Kasernen, alle nach einem und demselben gespreizten, prätentiösen Geschmack, und die im Grunde doch nicht einmal den Forderungen des ächten Geschmacks und der Kunst entsprechen, sondern nur den Spruch wahr machen: „ich wollte wohl, aber ich kann nicht," sind nicht das, was ich bewundere oder gar liebe! Ich will von einem Hause, daft es entweder« eigenthümlich, charakteristisch, malerisch mir erscheint, oder daß es sich als ein architektonisches Kunstwerk darstellt. Moskau ist nach 1612 ganz neu erbaut, durchaus in dem gewöhnlichen modernen Style, wobei nur nach der nationalen Liebhaberei der Russen Säulen und Balköne im Uebermaße angebracht sind. Alte, interessante und eigenthümliche Privathäuser findet man fast gar nicht. Nur in den Vorstädten, in den Nebenstraßen sind die Häuser durchaus national-russisch, Häuser von Balken zusammen gefügt, die Giebelseitc nach der Straße gestellt; daneben der Hof mit Bretterwand und Einfahrthür! — Man sicht. es cxistirt in Rußland ursprünglich durchaus kein Unterschied zwischen städtischer und ländlicher Bauart. 4 50 ,O>^ ächinijslschcll ^>ül^r in dcn Straßen Musk^u'l', Eine Ausnahme von diesem modernen, langweiligen Baustyl machen nun freilich die Kirchen. Wo man um eine Straße biegt, oder im Hintergrunde eines Hofes ist, treten überall dergleichen hervor und uns ins Auge. Sie sehen eigenthümlich genug aus, fast wie tropische Gewächse zwischen dem gemeinen inländischen Strauchwerk. Der Baustyl der russischen Kirchen*) ist, wie alles was sich auf den orientalisch-katholischen Gottesdienst bezieht, auf ziemlich feststehende Normen eingeschränkt, von denen man früher fast nie abwich. Die ältern Kirchen in Nußland sind daher sehr gleichartig und haben ctwaS Monotones, wiewohl der Styl eigentlich einfach und edel ist. Viele unserer sogenannten byzantinischen Kirchen in Westeuropa sind in diesem Style gebaut, und selbst der neuere italienische Geschmack, wie ihn die Peterskirchc in Nom uns in seiner Vollendung zeigt, hat eigentlich dieselben architektonischen Grundlagen. Auf dem fast viereckigen Schiff der Kirche ruht in der Mitte, von Säulen im Innern getragen, eine hohe Kuppel, die in den ältesten, z. V. bei der Kathedrale in Nowgorod, der Sophienkirchc in Kiew, wahrscheinlich nach dem ') In dem vortrefflichen Werte von Vlasius: Ncisc im curupäischcn Rußland in dcn Jahren 1840 —4 l, finden sich Zeichnungen einer großen Menge russischer Kirchen aus allen Zeiten imd in den der-schiedmstcn Bauformen. Möchte es dem Verfasser qefallen, über den VlNlstyl der russische» Kirnen nnd seine Geschichte eine mißMlnliche M Handlung zu gewäliren! 5l Muster der Sophienkirche in Konstantinopel, im Innern der Kuppel einen die Welt segnenden Christus in Fresco zeigen. Das Innere ist dnrch die Ikonostase, einer dünnen Wand, von oben bis unten mit Heiligenbildern geziert und, 3 Thüren enthaltend, in 2 Haupttheilc getheilt, wovon der vordere dem Volke angehört, der hintere, in 3 Theile getheilt, nur sür die Priester bestimmt ist. Der mittlere Theil des letztem enthält den freistehenden Altar. Neben der Kuppel stehen auf dem Schiff der Kirche wenigstens noch 2 kleinere, in der Regel aber noch 4 kleine Kuppeln in jeder (5cke, ja es giebt Kirchen mit 13 Kuppeln. Das ist nicht willkürlich, sondern hat eine symbolische Bedeutung! Die 3 Kuppeln be-" deuten die Dreieinigkeit, 5 Kuppeln Christus mit den 4 Evangelisten, endlich 13 Kuppeln Christus mit den 12 Aposteln. Die Glocken hängen in der Negel in einem eignen, frei neben der Kirche stehenden Thurme, und wo ein solcher nicht vorhanden ist, in den Nebenkuppcln, die dann auch meist einen thurmartigen Ausbau haben, natürlich nie in der Hauptkuppcl, da diese einen Theil des Innern der Kirche bildet. — In den alten Kirchen giebt es eigentlich im Schiff der Kirche keine Fenster, nur hin und wieder findet sich hinter dem Altare eins oder einige sehr schmale. Da3 Licht fällt nur durch die Kuppel ins Innere. In allen ruffischen Kirchen ist daher ein magisches Halbdunkel. Das Tageslicht ist schwach, sie werden mehr durch die Wachs-lichter des Altars und der Ikonostase erleuchtet. Die neuern Kirchen Nußlands sind im Acußern meist dem Style der Peterskirche in Rom sich annähernd erbauet, so die Isaakskirche, die kasansche Kirche in Petersburg, die kolossale neue, noch nicht vollendete Kathedrale zum Erlöser in Moskau wird im byzantinischen Style vom Architekten Town aufgeführt und nähert sich schon wilder dem allrussischen Style. Aus der Zeit Katharina's II. findet man auch Kirchen ganz im neuern italienischen Style, dem sogenannten (verdorbenen) Ic-suitcnstyle, z. V. die Kirche des h. Andreas in Kiew *). Wenn der größte Theil der Straßen und Privatgedäude Mos-kau'ö durchaus modern erscheint, so ist dieß doch mit einem, wrnn MlM findtt >'!!,.' Al'l'ildm^ dcrsclbm bci Villsms, Th. ll, I'.^, 252, 4 » 7)2 auch verhältnißmäßig kleinen, Theile dcr ungeheuern Stadt nicht dcr Fall; es ist der auf einer ansehnlichen Anhöhe liegende mit einer hohen Mauer umgebene Kreml und zum Theil auch die daran stoßende Kitaigorod. Die Merkwürdigkeiten und Eigenthümlichkeiten dieses Theils sowie überhaupt von Moskau sind hinreichend und ausführlich in anderen Werken beschrieben, ich übergehe sie daher und gebe in dieser Beziehung nur einige oberflächliche Bemerkungen. Der Kreml nimmt den Flächcnraum einer mäßig kleinen Stadt cm, er hat etwa eine halbe Stunde im Umkreise, mit der Kitaigorod über eine starke Stunde. Der größere Theil der Gebäude im Kreml außer den Kirchen ist modern, d.h. seit Anfang des 18.Jahrhunderts gebaut. Nur Reste des alten Czarenpalastes und der nicht große Granawitaja-Palast, sowie die hohe Ringmauer mit ihren drei Thoren und Thürmen sind alter,doch übersteigen sie nicht das 16. Jahrhundert.— Won dcn Kirchen sind jedoch mehrere älter. Die Kirche 8pl»8 na liaru, die Kirche des Erlösers im Walde, ist auö dem 12. Jahrhunderte; sie befindet sich mitten auf dem Hofe des neuen Palais. Sie cxistirtc, als Moskau noch nicht Stadt war. Rußland besitzt nur wenige Ruinen aus dcr Vorzeit, weil es gar keine Sitte war, Gebäude von Stein aufzuführen. Aus der vorchristlichen Zeit finden sich gar keine Gebäude oder auch nur Ruinen mehr vor; vom Iltcn Jahrhundert herab sind nur einzelne Kirchen in berühmten Städten von Stein gebaut. Selbst die Mauern der Städte wurden ehemals ails übereinander gelegten hölzernen Balken errichtet^). Die Wohnungen dcr Menschen waren stets von Holz. Nach Olearius (1033) wohnte selbst der Czar damals noch in seinem hölzernen Palast im Kreml, ungeachtet ein steinerner Palast bereits vorhanden war, weil man solches Wohnen in Rußland früher für viel gesunder hielt. Die gezackte Ringmauer, sowie die 01 Thürme, welche bei den 3 Thoren des Kreml stehen, zeigen westeuropäische Baumeister. Sie sind aus einer Zeit, wo die sogenannte gothische Bauart bereits im Verfall war, sich aber noch kein neuer Geschmack scst- ") Die hülzcmcn Mauml d« Gclmml in dm ssythischcn Ländcm, wclchc Hcrodot lmfiihlt! gestellt hatte. Die Grundlage der Bauart ist hier gothisch, aber es ist eine starke Beimischung von ctwas neuerem italienischen Geschmack und von noch ctwaS, wofür der richtige Ausdruck schwer zu finden ist, von ctwas Orientalischem, ctwas Tatarischem, kurz einem Etwas, wobei die russische Atmosphäre auf dcn Geist der Baumeister instuirt hat. Eins der seltsamsten und wunderbarsten Gebäude ist die auf dem großen Platze, welcher dcn Kreml von dcr Kitaigorod trennt, stehende Kirche Wassil' y Blagennoi. Sie spielt in allen Farben des Regenbogens, und man könnte in gewisser Entfernung und beim Nebel sie für einen ungeheuren zusammcngckauertcn Drachen halten. Ivan Wassil'jewitsch ließ sie 155>4 zum Andenken der Eroberung Kasan's durch einen Italiener bauen. Als sie fertig war, soll er den Baumeister gefragt haben, ob er sich wohl getraue, dcn Plan zu einem noch wunderbarlicheren Gebäude zu entwerfen, und als dieser in seiner Eitelkeit es bejahet, ihn haben blenden lassen. — Ein Herr von etwas wunderlichen und unangenehmen Launen! Aber sonderbar! im Andenken und der Meinung des russischen Volks, nach dcn erhaltenen Volkssagen, war er ein frommer, gutmüthiger, leicht zu betrügender, hin und wieder zu Schwanken aufgelegter Herr"')! Der Attila (Etzel) ") Der Name Johann (Ivan) ist bei dm Nüssen wie bei dcn meisten Völ-Nrn ein symbolischer Name, er bedeutet die Nationalität, ihren b'haralter, ihre, Hauplrichtungen und Neigungen, vor allen ist es der Nationalschalk. So wir im Dculschen da« Häuschen, der Hanswurst, im Französischen der Iran Pota,^', in, «nglischen der John Bull, so ist der russische Ivan Ivanowitsch dl'l nationals ^lttmülhigo. phlcginalistln', schnlk-haste Narr. Dcr Nnssc nrnnt Icbm so, dess»n Namen er nicht wl'iß lind übrr den er sich lnstig machen will, dannn ist auch der b'zar Il'an WaffÜ'jewüsth der Schreckliche in der VoMsaqe durchaus gutmülhi^ völlig dem l»«ii rui Dn^ui)«,-!, des französischen Volksliedes ähnlich. Cr befiehlt seinem ersten Diener, seinem Obeikammetherru, der sich auf gut russisch ausgestreckt auf dem Ofen liunmelt: „Ivan Ivanowitsch komm hcml', zieh inir die Stiesel ans!" Ivan Ivanowilsch l,at aber feinc Lust, er liegt auf dein Vauche, hel't blos: den linken Fusi wie einen Wcrstpfahl in die Höhe, Na!sch< nnt der Hand an dm Ofen: „Ofen, ich befehle dir, lrag micl' ;nm«zar!" Der Ozar- „Aber Ivan Iva-nowitsch, der Ofen a,el,or,l,< dir nicht!" Ivan- „Das ist schlimm, o 54 der deutschen Nibelungensage ist ja auch eine fromme, gute Haut. So auch der Karl der Große unter seinen Pairs! — Die Sage berichtet immer anders als die Geschichte, und ist dennoch eben so wahrhaft! Was wir Geschichte nennen, giebt uns auch immer nur die Wahrheit von einer Seite. Gegenwärtig wird ein neuer großer kaiserlicher Palast im Kreml erbaut. Von der Moskwa aus gesehen, wo er in der ganzen Breite sichtbar wird, ragt er hoch über alle Gebäude hervor, macht mit seiner viereckigen Breite zwischen der Masse der zierlichen, herrlichen Thurmspitzen und Kuppeln einen höchst unmalerischen Effect und verdirbt das ganze Bild des Kremls! Von der Moskworctskoi-Brücke über der Moskwa ist die Ansicht des Kremls am herrlichsten. Als ich in einer schönen Mainacht aus dem jenseitigen Stadttheile um Mitternacht in einer Droschke über diese Brücke fuhr, überall tiefe Stille, nur das leise Rauschen der Moskwa unter mir, und nun der Kreml im magischen Mondlicht vor mir auftauchte, glaubte ich ein versteinertes Mahrchen aus Tausend und einer Nacht vor mir zu sehen! Auf der andern Seite des großen Platzes, welcher vor den beiden großen Thoren des Kreml liegt, beginnt die Kitaigorod, und daß erste Gebäude derselben ist das ungeheure Kaufhaus oder der Basar (auch (iaroä genannt). Ich glaube, man könnte eine Stunde gehen, ehe man diese unzähligen Gänge mit ihren Reihen von Buden auf beiden Seiten durchforscht hätte. (Es ist eine Jahr aus Jahr ein dauernde Messe!) Wer aber nicht Bescheid weiß, findet nicht ganz leicht, was er sucht, denn jede Waarengattung hat ihre eigne Budenreihe, hier Lederwaaren, dort Kattune, dort Leinwand u. s. w., und der Fremde hat es nur einem glücklichen Zufalle zu danken, wenn sein Umherkreuzcn ihn bald der rechten Richtung zuführt. Diese Basare findet man in allen Städten Rußlands. Sie sind offenbar orientalischen Czar, dann komm Du zu mir!" n. — Als ein IswoM zum crsim Mal den Dampfwagenzug mit der Lokomotive auf der Vistnbahn nach Iarskoi-Sselo sah, nrf er: „Schau, schau, das ist ja Idan Idanowilsch, der auf stiucm Ofen zum Czar fährt!" Jeder, der wie lin Bauerlblpci aussieht, aber auch jeder IswoschtM, wird „Ivan" oder im Dimmuliv „ Vanka" angerufen. 55 Ursprungs, adcr dem Associations-Geiste der Nusscn durchaus angeniessen. Der <>li8lmoi-Uwul °^) in Moskau ilbertrifft natürlich alle andern, und'unter demselben Dache möchte wohl in der ganzen Welt kein Waarenlager cxistiren, das an Mannigfaltigkeit wie Werth der Artikel dieses moskauische überträfe. Man kann hier Alles haben, was das Herz begehrt, natürlich für gutes und vieles Geld! Die Lockung und Verführung aber ist hier groß! In den meisten Buden sind Knaben von 12—15 Jahren in langen, in der Ziegel blauen Tuchkaftancn, die wie die vortrefflichsten Hühnerhunde abgerichtet sind, jeden vorbcipassirenden Fremden zu ap-portiren. Sowie man in dem Bereiche der Bude ankommt, umkreist uns der wohlgezogcne Bube und sucht mit den einschmeichelndsten Gebcrdcn und Worten uns in die Bude hinein zu manövriren. Er schneidet uns den Paß ab, stellt sich vor uns und weicht nur Schritt für Schritt, sowie wir drängend vorschreiten; an der Grenze seines Budenbereichs macht er noch eine verzweifelte Anstrengung, er vergreift sich körperlich an uns, verbeißt sich an unsern Rock oder Arm, und sucht uns mit Gewalt zur Bude zu zerren. Widerstehen wir aber auch dann noch, so läßt er uns plötzlich los, geht ruhig fort, um in gleicher Weise auf den nächsten Vorübergehenden Jagd zu machen. Wir aber fallen, seinem Bereich entronnen, nur in das Bereich des nächsten nicht minder eifrigen Stöbers. Man hat es jedoch nur immer mit Einem zu thun, wenn man nicht etwa in der Mitte zwischen 2 Buden steht, wo man natürlich von beiden Seiten angegriffen wird, denn Jeder von ihnen hält streng auf das Necht und die Grenze seines Bereichs. Nie sieht man in einem russischen Laden Frauen oder Mädchen als Verkäuferinnen. Selbst in modernen Putzladcn und Modewaarcnhandlungcn sieht man wohl Französinnen, Deutsche :c. als Directricen und Verkäuferinnen, aber keine Russinnen, wenigstens habe ich keine gefunden; unter den stickenden und nähenden Demoiscllen mögen sich wohl auch Russinnen sindcn, aber sie trete«: nicht als Verkäuferinnen vor, wenigstens nicht als Verkäuferinnen von Plchwaaren. ') In Pctcrsbm'ss, Nowgulod, Ilnosww, Wishni n. hcistt dcr Vasai ^o-«Unoi-Onn,, das Hauö drr Gäste. 7)6 Die Samt-Simomsten sind nach Egyptcn gereiset, un» das freie Weib aufzusuchen. Wären sie nach Nußland gegangen, sie wären vielleicht befriedigter zurückgekehrt!' Im constitutionellen Staate soll der König herrschen, aber nicht regieren, in einer wohlorganisirten Familie herrscht der Mann, aber die Frau regiert. In Nußland, wenigstens in Moskau, ist es umgekehrt; hier herrscht die Frau, und der Mann regiert! Das weibliche Geschlecht hat in Rußland eine eigene, von der im übrigen Europa abweichende Stellung. Sie ist jedoch nach den Ständen verschieden. Bei den Muschik, den Bauern, und es giebt ja deren in Moskau über 100,000, arbeitet das weibliche Geschlecht bei weitem weniger, als das männliche und als bei uns zu Lande; selbst die Hausarbeiten verrichtet in dcr Negel der Mann; er trägt Wasser und Holz herbei und macht Feuer*). Die Frau sieht zu, schlürft umher, trägt die Kinder u. s. w. Bei den Bürgern, besonders den Kaufleuten und Handwerkern, thut die Frau den ganzen Tag nichts, sie bekümmert sich nicht im mindesten um das Hauswesen. Von dem, was eine deutsche Hausfrau ist und leistet, hat sie gar keinen Begriff. Der Mann thut alles und ordnet selbst den innern Haushalt an. ") Man hat einen artigen russischen Volkswitz, der die Geduld und Sanft-mltth des Bauern und die rechthaberische Herrschaft seiner Frau in der Form eines Gesprächs recht gut ausdrückt: Der Bau ei: „Liebe Frau, wir wollen diese Gerste säen! " Die Frau: „Wann, c« ist keine Gersie, es ist Buchweizen!" D. B.: „Sei rö, ich will nicht streiten!" -D. B.: „Sieh, wie ist die Gerste so schön aufgegangen!" D.F.: „Gs ist keine Gerste, es ist Buchweizen!" D.N.: „Sei eS Buchweizen, ich will nicht streiten!" — D. B.: „Die Gerste ist reif, wir wollen sie ernten!" D. F.: „Es ist keine Gerste, es ist Buchweizen!" D, B.: „Sei cs Buchweizen, ich will nicht streiten!" — D. B.: „Die Gerste ist jetzt gedroschen, wie schön ist ste!" D. F.: „Es ist keine Gerste, eö ist Buchweizen!" D. B,: „Sei es Buchweizen, ich will nicht streiten!" — D. N.: „Welch schönes Gerstenmalz'. Wir wollen Bier daraus brauen!" D. F.: „Es ist kein Gerstenmalz, sondern don Buch weizm!" D. B.: „Sei es Nuchweizmmalz, ich will nicht streiten!" — D. B,: „Welch schönes Bier auö unserm Gerstenmalz!" — D. F,: „Es war kein Gersienmalz, sondern Buchweizcmnalz!" D. B. „Sei e9, ich will nicht streiten z aber ich habe doch nimmer sschört, d.!iß eg Vmhwcizmmalz stiebt und mau Bier daraus braut!" 7i7 Bei den Reichen wird das weibliche Geschlecht größtenthcils in den verschiedenen Instituten erzogen, und erhält dadurch eine innere und äußere Bildung, die der der Männer bei weitem überlegen ist, allein diese Institute bilden nur Modedamen und keine Hausfrauen. Bei den höheren Ständen ist dies noch mehr der Fall. Jetzt fangen freilich auch die Moskauer Haushaltungen immer mehr an, sich zu curopäisircn; in einer ächt russischen geschah früher und geschieht auch jetzt noch jedes Geschäft, jede Arbeit durch das männliche Geschlecht. Es giebt da keine Köchinnen, sondern nur Köche, keine Küchenmädchen, Stubenmädchen, Haushälterinnen ?c., alle Geschäfte derselben werden durch männliche Bedienung verrichtet, daher auch dies außerordentliche Ueberwicgen der männlichen Bevölkerung in Moskau, die fast daß Doppelte der weiblichen beträgt. Die statistischen Tabellen geben 1834 --- 214,778 Männer und nur ! 33,784 Weiber an! Auch ein großer Theil aller liegenden Habe ist in den Händen der Frauen. Vor jedem Hause in Moskau und Petersburg sieht der Name dc3 Eigenthümers angeschrieben. Geht man nun durch die Straßen, so kann man versichert sein, vor jedem dritten Hause den Namen einer Frau als Eigcnthümcnn zu finden. Mit dem ländlichen Grundcigenthumc verhält es sich auf eine ähnliche Weise; vielleicht ist '/5 bis '/. desselben in den Händen des weiblichen Geschlechts. Welch ein Ucbergewicht dieß den Weibern in ihrer ganzen Lebensstellung geben muß, ist leicht begreiflich. Die ganze Entwicklung des socialen Lebens hat hierhin geführt. Nirgends ist ein solcher Umschwung im Vermögen, als in Nußland, der Grund und Boden geht stets von Hand zu Hand; im Dienst, im Handel, in Fabriken, in Gewerben wird rasch großes Vermögen erworben, aber auch eben so schnell verloren. Betrügereien im Dienst werden entdeckt, das Vermögen des Schuldigen wird consiscirt, falsche Spcculationen (der Russe wagt überhaupt gern!) ruiniren den Kaufmann, dcn Fabrikanten'"); so wären denn in solchem Falle die Familien völlig rui- ") Aüf wic wcmsi solidem Flißc sclbst grosic Fabnsanlagcu stchci', kann man 58 nirt! — Allein diese Fälle treten zu häusig cm, man muß sie von vorn herein mit in die Berechnung der wahrscheinlichen Unglücksfälle ziehen, so sucht man denn der Familie ein Pcculium zu conscrviren; man verschreibt und überträgt einen Theil des Vermögens, namentlich Haus und Grundvermögen, der Frau, anfangs mehr zum Schein, allein nach und nach ist es voller Ernst und ein festes Rcchtsverhältniß geworden. Die russische Gesetzgebung begünstigt nun .dabei die Frauen in Bezug auf die Administration und die Disposition ihres Vermögens mehr als jede andre. — Das Vermögen des Mannes ist auf diese Weisc der mobile, das der Frau der stabile Theil des Vermögens geworden. Es verbleibt, wenn auch jenes in alle Winde zerstob. So wie Moskau seit dem großen Brande von 1812 ein völlig anderes äußeres Ansehen bekommen hat, so hat es auch in Bezug auf seine Bevölkerung eine große Umwälzung erlitten. Die Bestandtheile derselben sind gegenwärtig ganz andere, als früher. Moskau war einst die Stadt des russischen Adels, jetzt ist sie eine moderne Fabrikstadt! Noch vor 50 Jahren rechnete man, daß von den 836(1 Privathäusern gegen 6400 dem Adel gehörten*). Damals wohnte der russische Adel größtenthcilß, wenigstens im Winter, in Moskau. Dieser Adel war aber zu stolz, als daß er in seinen Wohnungen Andere neben sich geduldet hätte; auch war die ganze Einrichtung derselben der Art, daß nicht füglich (etwa im untern Stock) Kaufläden darin sein und Handwerke und Gewerbe getrieben werden konnten. Die Wohnhäuser lagen entweder im Hintergrunde eines Hofes oder an der Straße, hatten dann aber einen Hos mit einem Einfahrtsthore neben sich. Manche waren daraus abnehmen, daß mich große Fabrikanten, bic zugleich Gutsbesitzer warcn, versicherten: wenn man das bare Geld zu der Fabrifanlagc nicht liegen habe, so könne man leine unternehmen, falls man nicht sicher sei, daß sie gleich von Bcgimi ihr« Thätigkeit nn 30 big 35 Prozent vom Anlagceapital jährlich rentirc. — Nber freilich ist auch der ac-wohnliche Zinsfuß häusig 12 Prozent! — ') Die Züsse zu einem Gemälde von Muskau von Engelb. Wichclhausen, Berlin 1803. ?nss. 22N, 59 große Paläste von 2, auch wohl 3 Etagen, andere einstöckige russische Häuser von übereinander gelegten Balken, doch elegant und hübsch verziert. Straßen von unmittelbar an einander ge-reihctcn Häusern von 2, 3, 4 und mehreren Stockwerken, dcrcn unterstes etwa zu Kaufläden lc. eingerichtet ist, wie in unsern westeuropäischen Städten, kannte man in Moskau nicht. In jenen Häusern wohnte nun der Adel, dessen Familie und Leute (Hauslcibcigcnc) in einer Mischung von orientalischem und europäischem Luxus. Der Bauer arbeitete und zahlte dem Herrn, und dieser, seine Familie und seine Hausstlavcn verzehrten in der Negel alles in Moskau. Der größte Luxus bestand in der Zahl der Pferde und der Hautzdienerschaft. In Bezug auf den Luxus mit Pferden sah sich das Gouvernement mehrmals veranlaßt, Equipagen-Ordnungen zu erlassen; es ward festgesetzt, wer mit Sechsen, mit Vieren, mit Zweien fahren dürfe u. s. w. Von dem Luxus mit der Hausdienerschaft kann man sich in Westeuropa gar keinen Begriff machen. Man behauptet, in den größeren Palästen hätten 1000 und mehrere Haußleutc gewohnt; selbst unbedeutende und unvermögende Edelleute hatten dcrcn doch wenigstens 20 bis 30, und man konnte kein fauleres, trägeres und unordentlicheres Volk finden, als dieses! Es war ja auch unmöglich, diese Masse von Leuten hinreichend zu beschäftigen! Man sagte mir, daß es oft an das Lächerliche gestreift habe, wie die Geschäfte unter ihnen vertheilt gewesen: der eine habe für sein ganzes Leben nichts zu thun gehabt, als eine Treppe abzukehren, ein anderer nur daS Trinkwasser der Herrschaft zu Mittag, ein dritter daß zum Abend zu howi u. f. w. Die Kosten ihrer Erhaltung aber waren auch nicht groß. Sie lebten wie der russische Bauer von Brod, Grütze, Schtschi (Kohlsuppe) und Quaß (eine Art sauren Biers); ihre Tracht war die der Bauern und sie wohnten auf dem Hofe in den Isbas (Schwarzstubcn), die auf russischen Höfen nie fehlen dürfen"'). Der Adel und seine Hausleutc bildeten damals den Hauptbestandthcil der Be- *) Dm Russomamn, die eine besonders nahe nationale und Blutsverwandtschaft der Russell mit dcn Griechen bchaupttn, gefällig zu sein, bemerke ich, das, anch bei den altcn Hellenen die Iöba (Schwarzstube) sich fand. llo»no>. Ilills II, 414. 00 völkerung Moskau's, vielleicht 230,000 Köpft! Hicvon zog im Sommer die Hälfte, vielleicht 2/^ aufs Land, und Moskau war dann öde bis zum Winter. Seit 1812 ist dieß allmälig ganz anders geworden. Die adligen Wohnungen waren alle niedergebrannt, die adligen Familien hatten sich ins Innere des Landes zurückgezogen, sie hatten ungeheure Verluste gehabt, und hatten daher auch nicht die Kräfte und das Vermögen, ihre Höfe wieder herzustellen und ihr früheres träges und lururiöses Leben fortzusetzen oder neu zu beginnen. Der Adel blieb mehr auf dem Lande und fing an, den Winter in den Gouverncmentsstädtcn zuzubringen, die seitdem ungemcin aufgeblühet sind. Das Gouvernement begann um diese Zeit das Fabrik- und Gcwcrbewesen zu wecken und zu beleben, und bald ward Moskau der Mittelpunkt und Hauptsitz aller gewerblichen Thätigkeit. Fragt man jetzt: „Wem gehört jener Palast?" so erhält man zur Antwort: „Dem Fabrikanten N., dem Kaufmann O. u., früher dem Fürsten A. oder G." Seit dem Aufblühen dieser Gewerbsamkeit haben sich die Bestandtheile der Bevölkerung Moskau's völlig umgewandelt. In den beffern Theilen der Stadt sind die Häuserreihen jetzt geschloffen, Haus grenzt an HauS, selten sindet man hier noch die großen Höfe mit ihren Einfahrtsthoren, die nur in abgelegenem Theilen der Stadt noch vorherrschen. Die Häuser sind meist von zwei und drei, selten jedoch von mehr Stockwerken, und im untern Stock reihen sich Läden an Läden. Einzelne Straffen, wie z. B. die Schmicdcbrücke, können sich in dieser Beziehung mit den glänzendsten Straßen in den besten Städten Europas messen! — In die Stelle des Adels mit seiner ungeheuer zahlreichen, trägen Dienerschaft sind jetzt die Fabrikanten mit ihren eben so zahlreichen Fabrikarbeitern getreten. Eine große Zahl der Adeligen ist selbst Fabrikunternehmer geworden, und ihre früheren Hausleute arbeiten jetzt in den Fabriken gegen Lohn. Aber selbst der Theil des Adels, der nicht Fabrikant geworden und im Dienst oder von seinem Vermögen in Moskau lebt, lebt durchaus anders als früher. Der Lurus in Pferden hat sehr abgenommen, inan beschränkt sich auf das Bedürfniß, Die 61 Lebensweise in Bezug auf die Hausdicnerschaft hat sich ganz geändert, man hat ill den Häusern nicht mehr als man bedarf, und wenn man auch noch immer mehr Leute, vielleicht um das Doppelte mchr als z. B. in Berlin zur Bedienung hält (eine Familie, die in Berlin mit 2 bis 3 Domestiken ausreicht, hält in Moskau doch wenigstens 4 bis tt), so ist doch jener Schwall von unbeschäftigten Hauölcutcn gänzlich verschwunden. 20 bis 30 Leute im Hause zu haben, gehört schon sehr zu den Ausnahmen, und nur hin und wieder hört man, jedoch stets als etwas Besonderes, irgend einen russischen Großen einen alten Bojaren nennen, der noch auf alte Weise einige hundert Hauslcute um sich versammele; mir ward unter andern in dieser Beziehung ein Fürst Scrj. Golizin genannt. — Im Allgemeinen sindct es der Adel zu sehr seiner jetzigen Gewöhnung und Lebensweise, wie seinem Interesse angemessen, den früher so trägen Hauslcutcn jetzt (gegen eine ihm, dem Herrn, zu zahlende Abgabe) die Arbeit und Taglohn in einer der zahlreichen Fabriken zu gestatten; so sich selbst ernährend und oft einiges Vermögen erwerbend. Ja derjenige Theil des Adels, der ganz auf europäischen Fuß eingerichtet ist, hat zu seiner Bedienung gegenwärtig meistens gar nicht einmal die eignen Leibeigenen, sondern gemiethete Domestiken. Während seine Leibeigenen vielleicht ebenfalls in Moskau bei anderen Adeligen als Domestiken gegen Kost und Lohn dienen, hat er dagegen Leibeigene anderer Adeligen im gemietheten Dienst. So ist denn in den letzten 30 Jahren das äußere Ansehen wie der Charakter MoSkau's dergestalt ein anderer geworden, daß, wer die socialen Zustände vor etwa 50 Jahren untersucht hat, sie jetzt nicht wieder erkennen möchte und glauben könnte, in eine ganz andere ruffische Stadt versetzt zu sein. — Es ist bisher weder untersucht noch ausgesprochen worden, welches politisches Gewicht Moskau als Mittelpunkt der Gcwcrbsamkeit auf die Politik und die Entschließungen des Gouvernements übt. Bei der Liebe und Ehrfurcht aller Russen für die „weißummauerte heilige Mutter Moskau", und bei dieser unermeßlichen Bedeutung als Mittelpunkt der Gewcrbsamkeit und somit Repräsentantin der gewerblichen Region des Reichs, und bei der Größe dieses gewerblichen Landstrichs, der selbst die Ausdehnung eines großen Reichs und 16 Millionen Einwohner hat, muß das Gouvernement, namentlich in Bezug auf das System der Schutzzölle, die größte Rücksicht auf die Meinung Moskau's nehmen, so gern es aus andern, namentlich Gründen der äußern Politik, vielleicht in andere Bahnen einlenken möchte. — Man erzählte mir, daß, als vor einiger Zeit von einer vollständigen Incorvo-rirung Polens die Rede gewesen sei, eine Deputation von Moskau vorgestellt habe, daß dadurch die Gewcrbsamkeit des Innern und insbesondere Moskau's unermeßlichen Nachtheil erleiden würde, und in Folge dessen habe man die Sache vorläufig fallen lassen. Ich habe schon oben angedeutet, wie ich es sür einen der eingreifendsten Mängel der socialen Verhältnisse Nußlands erachte, daß es keinen geschlossenen Bürgerstand besitzt, der durch seine Erziehung und seine gesellschaftliche Stellung jenen municipalen und corporativen Geist, jene ehrcnwcrthe selbstgenügcnde, selbst stolze Gesinnung ausgebildet hat, die bei den germanischen und romanischen Völkern so viel zur Entwicklung der Cultur vom Mittelalter an beigetragen hat. Es ist, als ob geheimnißvolle Beziehungen in dem Charakter und der Geschichte der slavischen Völker vorhanden wären, die der Ausbildung eines Bürgerthums ungünstig sind, denn nicht bloß bei den Russen, sondern auch bei den übrigen slavischen Völkern findet sich nirgends eine kräftige Sclbstentfaltung desselben. Weder die Polen noch die Südslaven haben es entwickelt, und bei den Böhmen ist es eine von den Deutschen eingeführte und eingepflanzte Institution, ja die böhmischen Städte sind bis auf den heutigen Tag zum größeren Theil von Deutschen bewohnt. Seit länger als einem halben Jahrhundert hat das Gouvernement Anstrengungen gemacht, in Rußland ein Bürgerthum zu bilden. Katharina II. gab eine Städteordnung lind mehrere andere das Städtewcsen betreffende Gesetze in deutschem Geist, nach deutschem Muster. Man muß bekennen, daß diese Gesetzgebung eigentlich ein verfehltes Werk war, und durchaus nicht die Wirkungen gehabt hat, die man sich von ihm versprach. Der deutsche Corporationsgcist, worauf das Gesetz basirt, ist dein russischen Nationalcharakter, der einen starken Associations- - 63 sseist*) besitzt, durchaus fremd. Er widerspricht den Nationalsitten, den socialen Gewohnheiten und den Lebcnsanschauungcn des russischen Volks, und ich glaube eigentlich nicht, daß er jemals rechte Wurzel schlagen wird. Anders ist es mit dem seit 25 Jahren mit großer Kraft sich entwickelnden Gewerbe- und Fabrikwcsen. Daß dieses bei der ungeheuren Ausdehnung, die es gewonnen hat, auf die Ausbildung einer Mittelklasse einen entschiedenen und noch gar nicht zu berechnenden Einfluß üben wird, ist nicht zweifelhaft. Welche Gestaltung diese aber gewinnen wird, verbirgt uns die Zukunft noch vollständig. Der Russe hat zu Allem Geschick und Talent. Er hat vielleicht von allen Völkern den meisten praktischen Verstand, sich eine angemessene Lebensstellung zu erwerben. Aber das, was dem Deutschen so charakteristisch eigen ist, die Anhänglichkeit und Liebe für seinen Stand, sein Gewerbe, seine Arbeit, kennt der Nüsse gar nicht. Der ächte Deutsche liebt seinen Stand, er mag ihn nicht mit einem andern vertauschen; dem Handwerke oder Gewerbe, dem er sich einmal gewidmet hat, bleibt er treu, er treibt es mit Ausdauer, mit Liebe und einem gewissen Stolze, er sucht eine Ehre darin, sich in demselben zu vervollkommnen, er freut sich über daß gelungene Kunstwerk seiner Hände. Er glaubt in der auf solche Weise erworbenen Lebensstellung einen bestimmten Beruf der Vorsehung zu erkennen, dem er treu zu bleiben verpflichtet sei. Nicht so dcr Nussr; zumeist bestimmt der Zufall, welches von den vielen Talenten, die der Knabe besitzt, zunächst zur Ausbildung kommen soll. Der Gutsherr sucht unter den Knaben seiner Leibeigenen ohne große Wahl aus, wer Schuster, wer Schmidt, wer Koch, wer Schreiber u. werden soll. Sorgsame Gutsherren geben auch wohl, um bessere Handwerker zu erhalten, die Knaben bei Handwerksmeister durch auf 3, 4 bis 8 ') Ueber dm Gegensatz von Eorporaiion und Assoaalion, der ja gegenwärtig die Grundlage eines politischen Parteikampfes in Westmrofta, insbesondere auch in Deutschland geworben ist, wei'de ich mich an rinem andcm Orte mlsicr», wc, ich „«ich ijber das russische Slädtewesm ausführlicher auszusprcchen gedenk. 04 Jahre abgeschlossene Eontractc in die Lehre und zur Arbeitsvcr-wendung. Der Oberst des Regiments commandirt ohne Weiteres nnd nicht ängstlich wählend: So und so viel Mann sollen Sattler, so und so viel Schmiede oder Stellmacher, diese sollen Musiker, jene Schreiber in der Canzlci werden! — Und sie werden es, und fast immer mit Leichtichkeit und Geschick! Und aus diesen gehen dann in der Ncgcl die solidesten und besten Handwerker, Arbeiter und Künstler hervor, da sie, durch die äußere Macht bestimmt und festgehalten, bei dcm einmal ergriffenen Gewerbe bleiben. — Bei den Kronbauern hingegen erhält der Knabe den ersten Anstoß von den Eltern oder Verwandten, oder er sucht sich selbst eine Beschäftigung aus. Ergreist er ein Handwerk, so ist von einer Ausbildung, wie sie der deutsche Handwerker erhält, von bestimmten Lehrjahren bei regelmäßigen Meistern, einem Aufsteigen vom Lehrling zum Gesellen nnd endlich nach abgelegtem Probestück zum von seinen Kunstgcnossen anerkannten und bedeutender Rechte theilhaften Meister nicht die Rede; er lernt hier etwas, sieht dort diesem oder jenem etwas ab, versucht selbst etwas, erfindet etwas, und sucht nun seinen Verdienst, wie es eben gehen will. Von einer Liebe, von Pietät für seinen Stand, für sein Handwerk ist gar nicht die Rede. Er hat keine Grundsätze in Bezug auf den Preis seiner Arbeit, sondern nimmt, was er eben erhalten kann. Das Gefühl der Pflicht oder der Ehre, eine gute dauerhafte Arbeit zu liefern, kennt er nicht, er arbeitet nur auf den Schein, nur um die Waare anzubringen, und sein Ruf ist ihm ganz gleichgültig. Will es mit dem einen Handwerke nun nicht recht fort, so ergreift er gleich ein anderes oder ein Gewerbe irgend einer Art. Wie oft fängt einer als Schuster oder Schneider an, verläßt das Handwerk, wird vielleicht ein Kolatschiträgcr (der mit allerhand Gebackenem zum Verkauf in den Straßen von Petersburg oder Moskau sich den ganzen Tag herumtreibt), dann, nachdem er etwas erworben und sich Pferde und Wagen angeschafft hat, ein Fuhrmann, weit im ganzen Reiche umher ziehend. Dabei macht er kleine Spcculationcn, beginnt dann bald einen Hausirhandel, endlich fixirt er sich irgendwo, und wird, wenn ihm das Glück günstig ist, vielleicht cin mächtiger Kaufmann. Die Lcbcnslaufe 05, der meisten großen Kaufleute und Fabrikanten kommen, wenn man ihnen nachforscht, auf Aehnlichcs heraus. Wenn nun aber auch der Russe ein reicher Kaufmann oder Fabrikant geworden ist, so liebt er und hängt deshalb doch keineswegs an seinem Stande und seinem Gewerbe. Er sieht daß letztere nur als Mittel, reich zu werden, an. Hat er Kinder, so erzieht er vielleicht etwa eins für sein Gewerbe, allein lediglich um eine sichere und treue Hülfe in seinen Geschäften zu haben; den andern sucht er eine Erziehung zu gewähren, die sie für den Militair- oder den Civildicnst qualisicirt, und ihnen so Hoffnung giebt, den Adelsstand zu erwerben. Denn Geldsucht und dann Ehrsucht sind die Klippen, woran in Rußland jeder Charakter scheitert. Der gemeine Mann, dcr Bauer, ist liebenswürdig und von Herzen gut, aber so wie er Geld erwirbt, Spcculant, Kaufmann wird, ist er verdorben und ein arger Spitzbube! Das Gouvernement hat die Schädlichkeit dieser ungeheuren Fluctuation ins Auge gefaßt und verschiedene Versuche gemacht, sie einigermaßen zu hemmen. Es wünscht sich einen constantcn Bürgerstand heranzubilden, und das Gesetz über die Institution des Ehrcnbürgcrthums ist hicvon ein redender Beweis. Die erweckte Fabrikthätigkeit trägt dann allerdings auch einigermaßen dazu bei, daß mehr Stabilität in den Bürgerstand kommt. Der bloße Kaufmann, besonders der russische, dcr viel mehr Schacher- und Krämergrist als großartigen Kaufmannsgcist besitzt (daher sich auch selten, im Verhältniß der großen Anzahl, bei dem auswärtigen Handel des Reichs bctheiligt*), sondern diesen meist den in Petersburg ansässigen Deutschen und Engländern überläßt), kann leicht, wenn es ihm einfällt, seinen Laden schließen, sein Geschäft aufgeben. Nicht so dcr Fabrikant. Eine Fabrik bedingt eine gewisse Stabilität, sie ist fast wie ein Gutsbcsitz. Es steckt ein großes materielles, immobiles Capital von Gebäuden und Maschinen darin, dann auch ein eben so großes Capital von menschlichen Arbeits- und Geisteskräften. Demnach ist eine Auslosung des Ganzen schon viel schwieriger ') Nur dcr Thcchcmdcl mit China in Kiachla ist in d,n Händen russisch" Kaufleute. 5 06 mid stets mit großen Verlusten verknüpft. Dabei gehört ein viel umfassenderes Talent, ein größeres Studium, eine vielseitigere Bildung dazu, Fabrikant zu sein, als Kaufmann. Die Fortdauer und Stabilität der Fabrik erfordert es, daß der Fabrikant seine Kinder für sein Geschäft erziehe; bei dieser Erziehung sind gründliche Kenntnisse nöthig, und wo diese einmal vorhanden sind, erzeugen sie in jedem Menschen eine gewisse Liebe zu dem Geschäfte, wozu er sie in Anwendung bringt. So kann denn Rußland allerdings die Hoffnung hegen, daß ihm in dem Fabrikantenstande allmählich wenigstens der fruchtbringende Anfang eines höheren Bürgerstandes erblühe. Allein immer fehlt dann doch noch der eigentliche Kern, der untere oder geringere Bürgerstand. Der höhere wird in Nußland stets mit dem Adel früher oder später in eins zusammenfallen, für die Bildung eines chrenwerthen und zahlreichen niedern Bürgerstandes ist aber vorläufig gar keine Hoffnung vorhanden. Die Classen, welche denselben repräsentiren, die Handwerker, Krämer, kleinen Gewerdsleutc sind in Rußland durchgängig gänzlich dcmoralisirt. Diese Classen durch strenge Zunfteinrichtungen aus dieser Demoralisation zu reißen, halte ich deshalb für unthunlich, weil, wie gesagt, dem russischen Nationalcharaktcr der corporative Zunftgeist und das Zunftwesen durchaus fremd ist. Am besten haben auf diese Classen noch das Beispiel, Wetteifer und Concurrenz gewirkt. Fast in allen größeren Städten sind deutsche Handwerker, und wenn der Russe ein Handwerksproduct besonders rühmen und anpreisen will, so sagt er, es sei deutsche Arbeit; — sonach erzwingt auch die Concurrenz und das Beispiel hin und wieder, daß der russische Handwerker ebenfalls anfängt, solid zu arbeiten und rechtliche Preise zu halten. Leider hat man in neuester Zeit die Bemerkung machen müssen, daß die neu anziehenden deutschen Handwerker den alten Ruhm der Solidität und Ehrenhaftigkeit nicht haben aufrecht erhalten wollen, sondern zum Theil windbeutclig und unzuverlässig geworden sind! Die ächtrussische Form für Erzeugung der Handwerksproducte ist die fabrikartig organisirte Handwerksgemeinde. Ganze Dörfer und Flecken, oder vielmehr ihre sämmtlichen Einwohner treiben ft? ein und dasselbe Handwerk; es giebt Dörfer, die nichts als Stiefel, andere, die nichts als Tische und Stühle, wieder andere, die Töpfe n. s. w. produciren. Eine oder mehrere Familien arbeiten fabrikmäßig, mit Theilung der Arbeit unter einander, und haben ihre Niederlagen in den großen Städten und auf den Märkten. Diese Art Handwcrksthätigkcit findet sich überall im Reiche, und ist die ächt nationale. Die Russen sind überhaupt vortreffliche Fabrikarbeiter, aber schlechte Handwerker; sie lieben die Handwcrksassociationcn, aber nicht die Handwcrkscorporationen. 6s giebt keine sogenannte kleine Leute in Moskau, wie sie in deutschen Städten, namentlich in Bcrlin in den Dach- und Kellerwohnungen leben. Kellerwohnungen habe ich in Moskau gar nicht gesehen, und wenn es vcrmicthete Dachwohnungen giebt, so ist es doch wohl nur eine Seltenheit. — Aber es gab auch früher gar keinen Pöbel in Moskau, und giebt auch jetzt nur einen geringen, wenig zahlreichen Anfang desselben! Geringe Leute gab es früher nur zwci blassen in Nußland; entweder gehörten sie zu den Bauern und einer Gemeinde an, dann hatten sie stets ein Recht auf den Besitz von Grundstücken, gleich jedem andern Gcmeindegliede, oder sie waren Hoföleute und gehörten einem Herrn an, der fur ihr Unterkommen, Kleidung und Nahrung zu sorgen verpflichtet war. Leute ohne Heimath, ohne einen Grundbesitz, oder ohne eine Herrschaft, die für sie sorgen Mußte, überhaupt Leute vi» a vi8 Vaunn! — s>0 angclcgenheiten hat er auch alle Reparatureil, die Beaufsichtigung der Schornsteine ?c. unter seiner Controle. An ihn wendet sich auch die Polizei in Allem, was die Miethslcute betrifft; bedürfen sie einer Aufenthaltskarte, eines Visa ihres Passes oder sonst irgend eines Attestates der Polizei, stets ist der Dwornik ihre Zuflucht. Er ist der Allerweltskerl, dessen weder der Eigenthümer, noch der Micthsmann, noch die Polizei entbehren kann. Die Letztcrc macht alls ihm ihren rechten Arm in jedem Hause. Die Stelle des Dwornik wird meist von alten Soldaten versehen, ungeachtet auch jeder Bauer gern die Stelle annimmt. ssi» Budoschmt in Moskau. Der nächste Vetter des Dwornik ist der Budoschnik. Wic der Dwornik der Hofwärtcr, so ist der Budoschnik der Straßen-Wärter! An der Ecke jeder bedeutenden Straße ist eine von Brettern zusammengeschlagene Bude, die Wohnung des Budoschnik, des untersten Dieners der Polizei, dem die nächste Aufsicht über die Straße anvertraut ist. Er soll darauf sehen, daß keine Unordnung vorfällt, daß die Straße rein gehalten wird; er soll alles beobachten, er soll wissen, wer in jedem Hause wohnt, bei Hm soll man über alles Erkundigung einziehen können u. s. w. In der Negel sieht der Budoschnik majestätisch und in vollendeter ttnthätigkcit vor scincr Bude, auf seine mächtige Hellebarde Nclchnt, und läßt die liebe Sonne auf den Schafpelz scincs brci- 70 ten Buckels scheinen. Fragt ihn nun ein Fremder etwa: „Wohnt der und der in dieser Straße, und in welchem Hause?" — so ist zuerst ein lakonisches „m'«l!" die Antwort. Plagt ihn nun der Fremde ferner, so wrist er auch wohl mit der Hand in die nächste Strasie zum dortigen Vudoschnik. Fährt aber der Fremde nun etwa in die Tasche, oder wiegt er gar gleich einen Gri-venik m der Hand, so kommt Thätigkeit in die träge Gestalt und man wird nun ganz gut bedient. Dann erwartet er aber auch die Nealisirung seiner gerechten Hoffnung und erinnert auch wohl bescheiden mit einem „Au^ulliin!" (zum Branntwein) den vergeßlichen Fremden an seine Schuldigkeit. — Ich kann hier nicht umhin, eine Nationalverschiedcnheit zwischen den Petersburger und den Moskauer Trinkgeld-Erwartenden oder Bittenden anzuführen. Daß in Nußland Jedermann ein Trinkgeld verlangt und annimmt, kann ich als bekannt voraussetzen*), aber der Petersburger bittet, schon geleckt von europäischer Cultur, geziert und lispelnd um ein Trinkgeld IXu I80I1M (Thee), der Moskauer aber ehrlich N» ^Votkie (Branntwein)! Vm Iöwoschtschik. Eine durchaus charakteristische Gestalt in allen russischen Städten, insbesondere aber in Moskau, ist der Iswoschtschik (der ') Als Gott die Welt erschaffen, wollte n sie bevölkern, und crschnf die verschiedenen Nationen, und staltet»! sie alle reichlich aus; so dann auch die Nüssen, denen er viel Land und darin MeS im Urbcrfluß a,al>. Dann ftaglc er jede Nation einzeln, ob sie auch zufrieden sei? Alle sagten, sic hätten zur Genüge z als aber Gott den Nüssen fragte, zog cr die Mühe und schmunzelte: „IVn ^volllic», Hrrr!" — (Russischer Volkswitz,) 71 Droschkcnlenkcr). — Der Großrusse ist eil, geborener Fuhrmann. Reiten ist eigentlich nicht sein Metier; man sieht den gemeinen Mann'(die Kosakenstämme ausgenommen) selten zu Pferde, aber im Talente des Fahrens übertrifft er alle andern Nationen! Die Blüthe und Krone des russischen Fuhrmanns aber ist der Iswoschtschik. — Einen liebenswürdigeren, höflicheren, schlaueren, gewandteren Spitzbuben als ihn, giebt cs nicht auf Gottes weiter Welt! Seine erste Schule macht er als Vorreiter auf der Equipage eines Adligen. Hier sieht man den Buben von 10 bis 12 Jahren den ganzen Tag, und in der geselligen Zeit auch den größten Theil der Nacht auf dem einen Vorderpferde sitzen; er ißt und trinkt, er spielt, er schlaft darauf, kurz er bildet eigentlich nur eine Einheit mit seinem Pferde. Wie oft habe ich bei 18—20 Grad Kälte solche Buben ganz süß auf dcm Pferde schlafen gesehen! — Und wie fährt cm solcher Bube schon! Wie fest sitzt er im Sattel, wie vorsichtig, wie richtig lenkt er seine beiden Pferde bei jeder Gelegenheit, und dabei immer in scharfem Trabe! Mit 17 bis 18 Jahren avancirt cr entweder zum wirklichen Kutscher auf dem Bocke, oder cr wird Iswoschtschik, zuerst bei einem Reicheren in Verding, bis er so viel sich zusammen gespart und zusammen spcculirt hat, daß cr sich selbst ein Pferd und eine Droschke, so wie für den Winter einen Schlitten anschaffen kann. — Von nun an lebt cr eigentlich nur auf seinem schmalen Vordersitze der Droschke oder deß Schlittens. Er und sein Pferd leben auf das Frugalste von dem Hel«, Hafer und Brod, welches er in der Droschke mit sich führt. In Moskau und Petersburg gicbt es außer den Tages-Droschken auch noch Nacht-Droschken, welche die ganze Nacht durch von 10 Uhr bis 5 Uhr auf dcn Straßen umherziehen. Gewöhnlich treten zwei Iöwoschtschiki in cine Association, sie haben zusammen 3 Pferde, und gebrauchen diese so, daß jedes Pferd immer am dritten Tage einen Ruhetag hat. Um 5 Uhr Morgens zieht der Nachtdroschkcnmann auf dcn Hof gewisser Kaba-chen (Wirthshäuser), dort finden sich auch die Tages-Iswoschtschiki, die dann aufstehen, ein, und trinken nun insgesammt gemüthlich ihren Thee, das einzige Warme, was sie dcn Tag über genießen. Daher findet man von 5 bis 7 Uhr fast keine Droschke auf den Straßen. - Die Wohlcrzogenheit, Geduld und Höflichkeit des 72 Iswoschtschik übertrifft die jeder andern Classe des Volks. Wein: ein wohlgekleideter Mann auf der Straße geht und sich nur einmal umsieht, so kann er sicher sein, ein halb Dutzend Droschkenführer auf sich zu fahren zu sehen, die auf das Höflichste ihre Dienste anbieten; es ist der größte Wetteifer unter ihnen, aber nie schimpft einer auf den andern oder auf den Begünstigten, nie werden sie sich berühren, anfahren, etwas verderben. Das Fuhrwesen ist in Petersburg und Moskau überhaupt polizeilich musterhaft überwacht; es herrscht dabei große unerbittliche Strenge; der Kutscher oder Iswoschtschik, der Jemand durch Ucberfahren tödtet, oder auch nur verletzt, einen fremden Wagen im Fahren beschädigt, wird augenblicklich arrctirt und im ersten Falle unerbittlich zum Soldaten abgegeben, in den andern Fällen aber mit körperlicher Strafe belegt; das Pferd aber verliert er stets; es wird nach der Polizei geschickt und verfällt an das Pompiers-Depot. Noch eine andere sehr eigenthümliche Classe des Volks sind die Plotniki (Zimmcrleute). Da die große Mehrzahl aller Gebäude in Nußland von Holz, und zwar fast lediglich von Holz aufgeführt werden, so sind die Zimmerleute in Rußland von einer Zahl und Bedeutung, wie in keinem andern Lande. Auf dem Lande ist eigentlich jeder Bauer auch zugleich Zimmcrmann. Jeder versteht ein Haus zu zimmern, zu richten und einzurichten. Die Plotniki in den Städten, insbesondere in Moskau, sind nun weiter nichts, als die Elite jener gewöhnlichen Bauern, keineswegs wie in Deutschland besonders zünftig ausgebildete Handwerker; aber dennoch sind sie von bewunderungswürdiger Geschicklichkeil! — Bei ihnen zeigen sich jener Nationalcharakter und jene Talente des russischen Volks, welche diesem eine hohe Stellung in der Weltgeschichte schon jetzt angewiesen haben und vielleicht künftig noch mehr anweisen werden, die Kraft des unbedingten Gehorsams, das richtige Gefühl für alles Maß und das praktische Talcnt für passende Einrichtungen, und endlich daß Talent, mit unbedeutenden Werkzeugen und geringen Hülfsmitteln sich nicht bloß augenblicklich zu helfen, sondern auch was Großes zu leisten, ein tüchtiges Werk darzustellen. Die Plotniki in Moskau bilden eine völlig und gut organisirte Gemeinde mit Gliederungen und Unterabteilungen, mit gemeinschaftlichen Haus-- 73 Haltungen, mit gewählten Häuptern, denen unbedingter Gehorsam geleistet wird. Die Ordnung und Zucht ist musterhaft, und alles dieses hat sich keineswegs durch Anordnungen und Gesetze von oben herab gebildet, sondern von unten herauf aus dem Bedürfnisse und durch die natürlichen Sympathien und die Ordnungsliebe dcö Volks. Ganz bewunderungswürdig ist das Augenmaß, die Leichtigkeit und Geschicklichkcit und der rasche Ucbcrblick, jeden Vortheil zu benutzen, bei diesen Leuten oder vielmehr dem ganzen russischen Volke. Der ächte russische Plotnik führt eigentlich kein anderes Werkzeug, als das Beil und den Meißel. Mit dem Beil im Gürtel durchzieht er das Reich nach allen Enden, und sucht und findet Arbeit. 6s ist unglaublich, was er mit dem Beile leistet; alle die mannigfaltigen Werkzeuge unserer gelernten Handwerker sind ihm völlig unbekannt, und dennoch ist seine Arbeit nicht schlechter, ja oft zweckmäßiger als die unserer doch bei Weiten: mehr ausgebildeten Handwerker. Man glaubt oft nicht, daß es möglich sei, mit dem plumpen Beile und einem einfachen groben Meißel so allerliebste Verzierungen und Schnitzarbeiten zu Stande zu bringen, wie man sie an Schiffen und russischen Häusern findet. Lykurg verbot den Spartanern, andere Werkzeuge als das Beil und die Säge anzuwenden, um jede Zierlichkeit als eine Verweichlichung der Sitten fern zu halten. Die russischen Plot-niki hätten ihm zeigen können, wie man dic natürliche Neigung zu Putz, Nettigkeit und Zierde nicht dadurch erstickt, daß man die Mittel, sie zu erreichen, den Menschen verkümmert. Der Mensch hilft sich dann so gut er kann mit den unvollkommncn Mitteln, und erreicht am Ende doch das Ziel. Der ächte Plotnik im Innern verachtet sogar dcn Gebrauch der Säge, deren sich jedoch der in Moskau arbeitende ganz gut zu bedienen weiß. Im Norden, wo das Holz noch im Ucbcrfwsi 'st, haut er, wenn cr ein Brett bedarf, einen ganzen Baum um, und nun diesen so lange von beiden Seiten all, bis nur noch das gewünschte Brett übrig bleibt. Da der gemeine Nüsse außerordentlich reiselustig und wan-dcrsüchtig ist; da jährlich Millionen von ihnen als Wallfahrer, 74 Fuhrleute, Hausirende Krämer, Handwerker, Arbeitern, das Reich nach allen Richtungen durchziehen; da man rechnen kann, daß bei der großen Liebe und Verehrung aller Russen für Moskau der Wunsch zu natürlich ist, die heilige Stadt wenigstens ein Mal im Leben zu besuchen, als daß nicht der größere Theil dieser Wandernden auch wirklich ihre Straßen einmal betreun sollte: so kann man die Nationalphysiognomien, das äußere Ansehen wie den Charakter der verschiedenen russischen Stämme so wie der Bewohner der verschiedenen Provinzen und Regionen im Allgemeinen nnd am besten in Moskau studiren und vergleichen. Die Bolksphysiognomien der russischen Volksstämme muß man nicht beim russischen Adel studiren wollen. Der dortige Adel ist seinem Ursprünge nach zum größeren Theile und seiner Bildung nach vollständig vom eigentlichen russischen Volke zu unterscheiden und fast geschieden. Ich werde weiter unten dies näher auseinander setzen und nachweisen. — Das reinste und unvermischteste Blut und namentlich das reinste slavische Blut möchte sich am Ende beim Pricsterstandc finden. Seit 8 Jahrhunderten bildet er einen erblichen Stand, der stets ziemlich streng auf ausschließliche Hcirathen in seiner Standcsabgcschlos-senheit gehalten hat und noch hält. Ein feiner Beobachter könnte vielleicht selbst die alten Scheidelinien der ältesten historischen slavischen Volksstämme bei den Priesterfamilien siudiren und erkennen, da wenig Umzug bei ihnen ist und sie wohl meist seit Jahrhunderten in derselben Gegend verblieben sind. Die größere Zahl der auf den Straßen Moskau's erscheinenden Leute sind Großrusscn, cm im Allgemeinen völlig constant allsgebildeter Volksstamm mit vorherrschend slavischen Elementen, welche sich jedoch im Norden und Nordosten nut finnischen, im Osten, Südostcn und Süden nut tatarischen und mongolischen, im Südwcstcn und Westen mit andern slavischen Stämmen, namentlich mit dem kleinrussischen und weißrussischen und endlich mit Litthaucrn stark gemischt haben. — Der großrussische Volksstamm ist von allen slavischen der zahlreichste, ja er ist nebst Deutschen und Franzosen der zahlreichste, eine und dieselbe Sprache sprechende Volksstamm Europa's. Er möchte A4- 36 Millionen, ja vielleicht noch mehr Individuen zählen! Die Großrussen sind im Allgemeinen ein derber Schlag Men- 75 schen, von starkem Knochenbau, mittlerer Größe, breitschultrig, schmal in der Taille, mit breitem starkem Halse. Der Hinterkopf bildet mit dem Nacken eine fast gerade Linie, daher ein vorherrschend kräftiger Geschlechtstrieb; die Muskeln treten nicht stark hervor, das Fleisch des Körpers hat etwas Aufgedunsenes, dennoch findet man sehr selten Dickbäuche; die Glieder, Hände und Füße, sind wohlgeformt, daher große Gewandtheit und viel Grazie in allen Bewegungen. Das Gesicht ist länglich, kurze vorstehende Stirn, starkes Haar, meist blond oder hellbraun; ich habe unter den Bauern fast keinen Kahlkopf gesehen; die Augen liegen meist tief, sind nicht groß, grau, blau oder hellbraun; kleine, aber grade Nase, hübscher Mund mit großen aber gut geordneten weißen Zähnen, die Ohren klein und anliegend, der Bart voll und lockig. Selten srifche Gesichtsfarbe lind rothe Wangen, meist bräunlicher Teint. Die Gebcrden sind lebendig, die Haltung des Körpers ungezwungen, der Gang leichter und zierlicher als bei den germanischen Völkern; der Ausdruck der Gesichtszüge ist klug, schlau, zurückhaltend, beobachtend, unstä't, gutmüthig, aber nicht offen. Gegen Osten und Südosten, wo tatarisches und mongolisches Blut hinzu gemischt ist, namentlich bei den Kosaken, findet man viel schwarzes Haar und schwarze Augen; hier treten die Backenknochen mehr hervor, die Nase ist aufgestülpt und dick, der Mund groß und die Lippen aufgewor^ sen. Im Ganzen sind die Großrusscn schöne Männer; ich habe namentlich alte Männer mit weißen lockigen Haaren und Bärten gesehen, die jedem Maler zum Modell dienen konnten; dazu die schöne, malerische Tracht, mit der man kaum irgend eine skandinavische, deutsche oder französische vergleichen kann. Nicht so günstig kann man über das Acußcrc der Weiber urtheilen, aber freilich schadet ihnen ihre in den meisten Gegenden ungemein häßliche Tracht. Der Kopfputz ist hübsch, aber die Taille bilden sie unmittelbar unter den Armen, und binden die Röcke statt unter dem Busen, über demselben fest. Die Füße haben sie entweder mit Lappen dick umwunden und in breiten Bastschuhen festgeschnürt, oder sie haben plumpe Stiefeln an. Man kann auf diese Weise über ihre Figuren kein Urtheil fällen: M der Negcl sind sie klein und haben viel Anlage, dick zu werben, welches übrigens in den Augen ihrer Männer für schön 76 gilt; die Wangen schminken sie sich meist roth, und die Zähne färbten sie sich ehemals häufig schwarz! Im Gouvernement Iaroslaw findet man jedoch viele ungemein schöne Mädchen und Frauen. Ich habe nie einen verwachsenen oder buckligen gemeinen Russen gesehen. Auch soll dies nach den Erkundigungen, die ich eingezogen, sehr selten vorkommen. Gesicht und Gehör sind ungemein scharf bei den Ruffen, und verlieren selbst bis zum hohen Alter wenig von ihrer Kraft. Die Nüssen sind nicht bloß abgehärtet, sondern überhaupt wenig empfindlich gegen Hitze, Kälte und Schmerzen, die sie bis zu einem unerhörten Grade standhaft ertragen können. Der Großrufse hat weder die Arbeitsfähigkeit noch die Arbeitskraft der Deutschen, aber im Ertragen von Hitze und Kälte, von Hunger uud Durst, von Schmerzen und Strapazen übertrifft er ihn bei weitem. Ich habe angeführt, daß die Bewegungen der Großrussen leicht und graziös sind; sie haben daher auch große Freude am Tanze. Die Tänze der Frauen unter einander oder mit Hinzuziehung der Männer sind aber meist gravitätisch und ernst, man hört keinen Laut der Freude; aber wenn die Männer allein tanzen, was besonders bei den Kosaken Sitte ist, so tanzen sie mit merkwürdiger Mimik und den eigenthümlichsten, lebendigsten Bewegungen und Sprüngen. Die Stimmen der Männer sind im Gesänge ungcmein wohltönend; sie haben oft kräftige Stimmen, aber schreien nie. Die Weiber singen viel seltener, als die Männer. Südlich von Moskau, im Gouvernement Kursk, wohnt ein sehr interessanter russischer Volksstamm, den man unter den andern Stämmen gar leicht erkennen kann. Ungcmein gedrungene Gestalten, der Kopf fast viereckig, die Dimension der Breite deö-selben stärker als die der Länge, niedrige breite Stirn, nußbraune Haare und Augen, kurze grade Nase, die Obcrlippengcgcnd lang, aber eigentlich nur, weil die Nase kurz ist; — herrscht unter dem Menschcnstammc in diesem Landstriche ein anderer Charakter, als in andern russischen Gegenden. Es möchten vielleicht die Nachkommen der alten räuberischen Drcwljani des Nestor sein! — Noch unter Katharina II. mußte die Regierung oft halbe Meilen 77 weit von den Landstraßen ab die Wälder niederbrennen nnd vernichten, um den Nänbereicn Einhalt zu thun; und während im ganzen übrigen Nußland tiefe Sicherheit herrscht, sollen hier noch jetzt häusig Räubereien vorkommen. Bon der Familie Woropani wußte seit vielen Generationen wenigstens immer einer wegen Räubereien nach Sibirien geschickt werden! Hier ist die Leibeigenschaft sehr milde, weil der Widcrstandstrieb ungemcin kräftig ist; sie geben nur Geldabgaben (Obrok), thun keine Frohn-den. Es ist ein jähzorniges, schlagfertiges, rachsüchtiges, selbst heimtückisches Volk, das mit Feueranlegcn und einem Schusse hinter dem Busche hervor gleich bei der Hand ist! Aber arbeitsam sind sie und daher wohlhabend; sie sind vortreffliche Gärtner für Obst und Gemüse. Die Klcinrussen bilden nach den Großrussen den zahlreichsten slavischen Stamm in Nußland; man möchte ihrer wohl mehr als t> Millionen zählen. Man sieht ihrer jedoch in Moskau nicht viele; sie bilden einen Gegensatz zu den Großrussen; für sie hat das alte Kiew den Heiligellschein, wie für die übrigen Russen Moskau. Ich verspare daher ihre Charakteristik, bis ich nach Kiew gekommen sein werde. Die Weißrussen sind wohl von allen russischen Stämmen die schwächste Nac,c, sie haben durchaus das Ansehen eines verkümmerten Volksstammcs! — Sie sind hager, haben lange schmale Gcsichlsformcn mit spitzer Nase, langen Hals, schmale Brust und Hüften, wenig Waden, sind blond (wo nicht die angesiedelten Tataren schwarze Haare hineingebracht haben), mit grauen und blauen Augen, haben schwachen Geschlechtstrieb, wenig Kinder, schwache kleine Weiber, dabei aber tiefe Anhänglichkeit und Treue an Heimath uud Kinder. Sie sind sehr fromm, gehorsam und ehrfurchtsvoll gegen jede Auctorität, selbst gegen ihre Herren, die sie sonst, da es meist Polen sind, als solche und als Katholiken bitter hassen! Auf dem Kopfe tragen sie einen grauen Filz ohne Nand, dann einen grauen Rock (3^villn), keinen Schafpelz wie bie übrigen Russen. Man sieht sie auf den Straßen nach Riga un Winter mit ihrem schmalen einspännigen Schlitten, der mit Hanf und Flachs beladen ist, langsam, still und traurig cinher-z'ehen, auf dem Schooße eine Scholle gcfrorncr Erde, worauf ei" kleines Kienfeuer brennt, woran sie sich wärmen! Ihre Nah- 78 rung besteht fast nur aus Buchweizengrütze, schlechtem Brode und Honig; Fleisch kommt bei ihnen fast nicht vor. Sie leben unter schwerem Druck harter Frohnden, um so schwerer, da sie nur schwach zu arbeiten vermögen, sind aber vorzüglich durch den Branntwein völlig demoralisirt und entnervt. Die Gutsbesitzer vermögen der mangelnden Communicationsmiltcl halber ihr Getreide nicht hinreichend zu verfahren und zu verwerthen, sic verwandeln es in Branntwein. Im Dorfe in der Schenke sitzt nun ein Jude als Pächter; sein Contract verpflichtet ihn, eine bestimmte Quantität Branntwein aus der Brennerei des Herrn zu nehmen, und nun wendet er alle möglichen Bcrfüh-nmgskünste an, um den Bauern zum Trinken zu vermögen. Oft ist die Ernte noch nicht reif, und sie ist schon zum größeren Theil Eigenthum des Juden! Die nächsten Nachbarn der Weißrussen, die man jedoch nicht sehr häusig in Moskau sieht, sind die Litthauer. Ein Gegensatz zu Jenen! Es ist ein starker, kräftiger Schlag. Die aus Sa-mogitien sind untergesetzt, starkknochig; die östlich von Wilna Wohnenden sind hoch, schlank, mit breiten Schultern, schmalen Hüften. Der Litthaucr hat einen hohen und oben breiten Kopf mit einem starken Hinterkvvfc. Der Schnauzbart ist nach Innen abwärts nach dem Munde gekrümmt, während der Klcinrusse ihn nach Oben, nach den Augen hin gekrümmt hat. Der Litthauer ist wollüstig; die Weiber sind hübsch gebaut und kräftig, haben meist auf der Oberlippe ein Bärtchcn. Daß Volk ist fanatisch, jähzornig, rachgierig, trinksüchtig, ohne aber dadurch entnervt zu sein. Sie sind sehr anhänglich unter einander, aber nicht gegen die Herren; ohne sonst diebisch zu sein, sind sie geborene und unverbesserliche Pferdediebe, weshalb sie auch oon den benachbarten Letten in Curland „Pferdediebe" gescholten werden, während sie diese „Schweincdicbe" schelten. V. Abreise von Moskau. Die Siaarmncster (Ä^vorLi). Vamnttrachlm. Das Cluster Troiha Lawra, seine Nedeutung und Geschichte. Professor Ho-lubinski. Vcsichtigung des Klosters. Der Glockcnthurm. llöpenski Kathedrale, die Graber der Czaren und Fürsten. Die Dreieinigkeits-kirche, merkwürdige Bilder. Die Bilder Christi im Schwcisituche, nach oendentalischrn und orientalischen Legenden. Die Lchrc vom Purgato-rinm. Die h. Sophia mit ihren 3 Töchtern. Der Kirchenschah. Wo häufen sich die Perlen? Die Zelle cinrS Mömhs. Das russische Mönchswesen. Das Nefeetorium. Das Hospital. Die Bibliothek, altslavomsche Musikzcichen, russische Mignaturcn. Die Arinenschulr. Die theologische Akademie. Bettler. Die Rabenrepublik. Abreise von Troitza. Percsilaw. Dorfer mit steinernen und Dörfer mit hölzernen Kirchen. Das Kloster deö h. Nikita. Drr See Pleschlschcöwo. Das Monument Ivans. Die Bauart der Dörfer im Gouvern. IaroSlaw. Nostow nnd sein Markt. Die Gärtncrdo'rser. Um 12. Mai fn'ch reiste ich init mcincr Gesellschaft von Moskau ab. Eö war herrliches Fnihlingswctter, und hinter uns sslänztcn die .qoldcilen Kllppeln der altcn Czarcnstadt i»n sä)ön-sten Morgenroth, und versanken nach und nach am Horizont, lvie wir uns mehr von ihr entfernten. Wir schlugen die Strasie nach Iaroslaw ein; anfangs ein chauffirter Weg, der aber, als Wir Moskau aus den Augen verloren, in eine gewöhnliche Sandstraße überging. Aber es war schon trocken geworden, und so ging es denn doch ziemlich rasch vorwärts. Auf erträglichen Wegen lassen einen die russischen Pferde nie im Stich! — Die ersten Dörfer waren armselig, die Häuser klein und schlecht, meist mit einer Scheuer unter demselben Dache verbunden. Neben "en meisten Häusern sieht eine hohe Stange, 3kvvn,-/i genannt, "n deren Spitze eine Art Korb hängt, damit Staare darin nisten sollen; cine anmuthige, freundliche Sitte, durch ganz Groß-rußland verbreitet, wahrscheinlich auf alten, Volksglauben und Volkssitte beruhend. — Uebcrall begegneten uns auf der Straße in kleinen Abtheilungen wandernde Männer und Frauen, meist arbeitsuchende Taglöhner, Fabrikarbeiter, Handwerker, mitunter auch Wallfahrer. Bei den Männern ist nach dem Grade der Wohlhabenheit dreierlei Tracht bemerkbar: der aus selbstgcwcb-tem grauem Zeuge verfertigte Nock, der Nock aus braun-gefärbtem grobem Tuch, der Kaftan aus blauem Tuch, womit stets Stiefel verbunden sind, während bei den ersten Arten der Nöcke mit Lappen geschnürte Beine und Bastschuhe sich finden. Die Weiber tragen ein weißwollcnes Ueberkleid, welches bis zur Mitte der Wade reicht. Fast alle hatten den Kopf mit einem Tuche umwunden, welches den untern Thcil des Gesichts ganz verhüllte, so daß man nur die Augen und die Nase sah. Dieß ist wohl der Nest einer tatarischen Sitte! Bei diesen wie bei den kaukasischen Völkerschaften ist es nämlich unanständig, daß man je den Mund der Weiber sieht! Die russischen Weiber verhüllen jedoch den Mund auf diese Weise nur, wenn sie über Feld ziehen. Auf der dritten Station erreichten wir gegen Mittag das etwa 10 Meilen von Moskau gelegene berühmte Kloster Troitza Lawra (Drcieinigkeitskloster). Dieses auch tief in die Geschichte Nußlands verflochtene berühmte Kloster ward 1330 von einem Manne aus Nostow, den die russische Kirche später unter dem Namen des heiligen Ser-glus mit dem Zunamen Nadoniejscky canonisirtc, und der noch jetzt die höchste Verehrung fast vor allen Heiligen genießt, gestiftet. Er lebte hier, wo damals noch eine tiefe Wildniß war, zuerst als Einsiedler. Bald sammelten sich um ihn andere Einsiedler, die sich zuletzt zu einem Convent vereinigten, dessen erster Archi-mandrit (Abt) er ward. Der Nuf seines heiligen Wandels verbreitete sich rasch, und bald nahm Alt und Jung aus der Nähe und Ferne in Bedrängnissen seine Zuflucht zu ihm. AlS der Chan der Tataren, Mamai, in Nußland einbrach, wandte sich der Großfürst Dimitri Ivanowitsch an den heiligen Sergius und bat um seinen Rath und sein Gebet; dieser sendete ihm zwei seiner Schüler und ermähnte ihn, nur tapfer dem Feinde entgegen zu gehen, Gott würde ihm den Sieg verleihen. — Es ward die Schlacht auf den Kulikowschcn Feldern am Don geschlagen, 81 wo zuerst die Morgenröthe der Befreiung Rußlands vom Mon-golcnjoche aufging, und dic dem Großfürsten den Beinamen Di-mitri Donskoi erwarb. — Die Legende erzählt, daß, während man am Don schlug, Scrgius 1oi«Ll>, ins Französische überseht und in Petersburg 184l gedruckt. Der Anl,i< mandril des Klosters schenkte mir ein Exemplar. 83 gcbenen Platz, an dessen Ende der große Kloster-Gasthof, der den Fremden freies Quartier bietet, liegt. Ich hatte einen Empfehlungsbrief an einen russischen Priester, der als Professor bei der theologischen Akademie in Troitza angestellt ist, Namens Födor Alcranorowitsch Golubinski, einen der gelehrtesten und geistreichsten Geistlichen, die ich in Rußland gefunden. Er hatte nicht bloß eine classische Bildung, sondern hatte auch die französische und deutsche Literatur gründlich stu-dirt; namentlich kannte er die deutsche Philosophie und ihre Entwicklung bis in die neueste Zeit hinein vollständig, und ich war nicht wenig verwundert, von einem russischen Popen Urtheile über Schelling, über Hegel, über dessen in zwei Hauptrichttmgcn divcrgirende Schulen u. s. w. zu hören, die im Laufe einer leichten Conversation höchst anspruchslos hergeplaudert, doch von selbstständigem Studium zeugten. Er erkundigte sich bei mir angelegentlichst nach dem Leben unserer deutschen Gelehrten, nach der Persönlichkeit Schlcicrmachcr's, Neander'S, Hegel's, Schel-ling's. Ich fragte ihn, welches sein Urtheil sei über Hegel und seine Philosophie. Er meinte, Hegel habe ungemcin viel geleistet für die richtige Auffassung, Aufklärung und Darstellung aller anderen philosophischen Systeme, seine Dialektik sei bewunderungswürdig, aber was er selbst als System aufgestellt, habe weder ihn selbst, noch sonst Jemand befriedigt. Um sein Urtheil über Schelling gefragt, sagte er: „Ot cidnLovu koi-o^l olstul <1» I^cllli^mu no in'islÄi," und als ich ihn fragte, was das heiße, sagte er: „Es ist ein russisches Sprichwort, und heißt: Vom einen Ufer abgefahren und noch nicht am andern gelandet!" — Er sprach vollkommen richtig deutsch, wiewohl, da er gewiß nur selten Uebung hat, sehr langsam. Daß er aber der Sprache völlig mächtig war, hatte er gezeigt, indem er den Katechismus der russischen Kirche, der vom jetzigen Metropoliten Philareth von Moskau herausgegeben war, ins Deutsche «versetzt hat (gedruckt bei Prcch in Petersburg 1840). Er ist neben seiner Gelehrsamkeit ein frommer, seiner Kirche treu an-hangmdcr Mann. Beim Umherführen hatte ich Gelegenheit zu bemerken, daß er sich auch streng allen Zeremonien und allen Devotionsbezeugungcn seiner Kirche unterwarf. Er hatte cm schönes, geistvolles Gesicht, ein sehr liebenswürdiges, anspruch- 84 loses, kindliches Wesen, und übernahm es mit herzlicher Freude, uns überall herum zu führen. Wir gingen demnach mit ihm nach dem Klostcrbezirk. — So wie der Kreml nicht ein kaiserlicher Palast mit seinen Nebengebäuden, sondern eine ganze Stadt ist, so ist auch Trocha nicht ein bloßes Kloster, sondern ebenfalls eine kleine Stadt mit einem kaiserlichen Palaste, einem Palaste sür den Erzbischof, 9 Kirchen, einem Hospital, einem großen Kaufhause ?c. Ungeheure, 50 Fuß hohe weiße Mauern, in angemessenen Entfernungen mit Thürmen besetzt, umgeben das Ganze. Wir besahen zunächst den vom Baumeister Grafen Nostrelli gebauten Glockcnthunn, dcr mitten auf einem Platze allein steht und 27)0 Fuß hoch ist. Er ist im Pcruquenstyl Ludwig's XV. gebaut, aber dieser Styl noch bis zum Acußcrstcn carrikirt! Schön ist ein solches Gebäude nicht, aber es sieht doch eigenthümlich genug aus, und vor allen Dingen nicht so nackt und langweilig, als die Bauten von 1790 bis 18l7i, die die vorherrschenden in den größeren Orten Nußlands sind. Dieser Thurm hat wahrscheinlich das mächtigste Glockenspiel, welches cristirt, nämlich ^5 große Glocken, darunter eine, die 1400 Zentner wiegt. Wenn sie zusammen geläutet werden, soll es der imposanteste Klang sein, den man hören kann. — Die Kathedrale von der Verklärung Mariae (Il5i»nu8lii XnUloäial«) ist cine der schönsten russischen Kirchen, die ich gesehen. Hier sind die Gräber vieler geschichtlich interessanter Männer, z. B. des Czaren Boris Gu-dunow und seiner Gemahlin, der Fürsten Ddojewsky, Galitzin, Trubetzkoi, Wolinski, Saltikow, Glinsky, Worotynsky, Schußkoi, Pojarski, Skopin, Mestschersky :c. — In höherer Verehrung steht aber die kleine niedere Kirche der Dreieinigkeit (Irmlx»), wovon das Kloster den Namen trägt und worin das an Gold, Silber und Edelsteinen ungemcin reich gezierte Grab des heil. Scrgius ist. Der Baldachin desselben allein soll 12 Zentner Silber wiegen. In der Kirche des h. Scrgius sind merkwürdige alte Fresken und alte Bilder, darunter das oben angeführte Bild, welches als nationales Paladium in so vielen Schlachten mitgeführt ist. Auch ein Bild, das Antlitz (5hristi im Schweißtuche abgedruckt, wobei ich über den Unterschied der Legenden der orientalischen und der occidentalischen Kirche Folgendes anführe. 85 Die Legende der occidentalischen Kirche erzählt: Als Christus unter dem Kreuze vor Schmerzen und Mattigkeit niedergesunken, sei ein mitleidiges Iudenweib hinzugetreten, und habe mit dem Tuche den Schweiß und das unter der Dornenkrone hervorquillende Vlut des heiligen Antlitzes abgetrocknet. Als man aber alsdann daS Tuch auseinander gefaltet, sei das vollständig ähnliche Bildniß des Herrn darin abgebildet erschienen. Dieses Bildniß, später vielfach nachgeahmt, hat sich als ein Typ stets in der Kirche erhalten, und führte den Namen: Voiuin ionn, d.h. wahres Bildniß. Den Namen des mitleidigen Juden-Weibes hatte die Tradition nicht aufbewahrt; man nannte sie „das Weib mit dem Vorum ieon", und daraus ist allmählig der Name „Veronica" entstanden, den man dann später ihr selbst beilegte*). Die Legende der orientalischen Kirche dagegen erzählt: Ein byzantinischer Kaiser (die Armenier nennen ihn einen armenischen König), ein sehr frommer Mann, habe die tiefste Sehnsucht gehabt, nur einmal Christum mit seinen leiblichen Augen zu sehen; da sei ihm der Herr im Traum in der Herrlichkeit der Verklärung erschienen und habe ein auf des Kaisers Bett liegendes Tuch auf sein Antlitz gedrückt, und als der Kaiser am Morgen erwacht, habe er das Tuch gefunden und das Bild Christi darin abgedrückt. Auch dieses Bild ist ein oft nachgeahmter Typ geworden und hat sich bis jetzt in der Kirche erhalten^). Es ist ein wesentlicher Unterschied und Gegensatz unter diesen beiden Bildern. Das Bild der Veronica ist der Christus mit der Dornenkrone in Schmerz und Trauer, das Bild des Kaisers ist der verklärte Christus mit dem Heiligenscheine in des Himmels Herrlichkeit. Ein anderes in Bezug auf die Dogmen der beiden Kirchen interessantes Bild findet sich in dem Vorhofe der hiesigen Peters- ') Die Volandisten lind der römische Heiligcnkalender kennen zwar cinc heilige Veronica, es ist dies aber eine Nonne, die im 15. Sämlu in Mailand lebte und auf jenm fmgirtm Namen getauft war. ") Auch in bcr lalrinischm Kirche findet sich dieses Vild, aber nicht als Ab-dnttü auf einen, Tucht, sondern als Portrait, Welches nach der Sasse vom I). Lucaö gemalt sein soll. 80 kirche. Es heißt das Bild der Versuchungen. Ein Sterbender oder Todter, umgeben von Teufeln, seine abgeschiedene Seele von ihren zwei Schutzengeln geleitet auf dem Wege zur Pforte deS Himmels. Auf diesem Wege, auf dem sie 40 Tage zubringt, treten die Erinnerungen aller ihrer Sünden ihr entgegen, und zugleich von allen Seiten Versuchungen unter allerhand Gestalten. Die orientalische Kirche hat die Lehre vom Purgatorium nicht so scharf ausgebildet, als die occidcntalische, wiewohl kein wesentlicher Gegensatz und Widerspruch vorhanden ist*). Worauf sich aber die vorstehende Tradition gründet, habe ich nicht erfahren können, weder in dem Katechismus des Peter Mogila noch dem des Philareth ist sie ausgesprochen. In der 8p»8ki- (des Erlösers) Kirche ist ein hübsches, in Rußland viel verbreitetes Bild: die heilige Sophia mit ihren drei Töchtern. Das hat aber eine hohe mystische und symbolische Bedeutung; es stellt die göttliche Weisheit (Sophia) vor mit den drei aus ihr geborenen Tugenden (Töchtern) ^'or», N9HL8H6«, I^'ubn^ (Glaube, Hoffnung und Liebe). Nach Besichtigung der Kirchen stellte unser Führer uns dem Archimandriten des Klosters, Antoni, vor. Ein Mann von 50 Jahren mit einem wunderschönen Kopfe. Er war im Hause des Fürsten Grusinski erzogen und früher Arzt gewesen. Er empfing uns in modern meublirten Zimmern und sehr freundlich, da er aber nur Russisch verstand, so war die Unterhaltung etwas stockend. Auf meine Bitte, den Schatz des Klosters sehen zu dürfen, führte er uns selbst in das eigens für denselben bestimmte Gebäude. Dieser Schatz, bestehend aus Kirchengewändern, Ornaten, ) Neide Kirchen nehmen einen Mittclzustand für die Seelen, „die zwar im Glauben gestorben, aber noch nicht der Vußc würdige Früchte lMten tragen können," an, nnd dciß Gcbclc und daS Meßopfer der Lebenden ihnen Frieden, Erleichterung und Freiheit gewähren. Das (Yanze zciqte sich auf dem Florentiner Cumilimn nur a>ö rin Wortstrciti die Griechen wollten das Fegfeuer nicht gellen lassen, aber wohl das Purgatorium, Vergleiche dm oben angeführten Katechismus des Phiwreth, ,»i»ß. 90. 87 Gefäßen :c. ist von unermeßlichem Werth; cr übertrifft Alles, was man außerdem in Rußland und dem übrigen Europa, Rom, Lorctto:c. nicht ausgenommen, etwa früher gesehen hat und noch sieht. Man kann die Kunstfertigkeiten russischer Stickerinnen, russischer Seidenwebereien, Goldbordcnfabncationcn lc. vom 14. Jahrhundert an hier studiren, ungeachtet auch wohl viele ausländische Zeuge und im Auslande gearbeitete Kirchengefäße darunter sein mögen ^). Fast alle Czare und Czarinnen, mächtige Fürsten und Bojaren bis in die neueste Zeit hinein sind hierher gewallfahrtet und haben schöne und kostbare Geschenke hinterlassen. Die reichsten Geschenke sind von Boris Gudunow und seiner Gemahlin Maria, die hier auch begraben liegen, von den Kaiserinnen Anna, Elisabeth, insbesondere aber von Katharina ll, die die Einziehung der Kirchengüter, welche dieß Kloster ganz besonders hart traf, hiedurch scheint einigermaßen haben abbüßen zu wollen. In großen Glaöfchränken stehen die Kirchengcfäße, Kelche, Taufgcschirre, Monstranzen, Rauchfässer :c., Bischofsmitren und Stäbe, meist von reinem Golde mit herrlichen Edelsteinen geziert, Evangelien und Meßbücher, ganz in goldenem Einbande, dann Meßgewänder, bischöfliche Kleidungen, Altardeckcn, Grabdecken, buchstäblich mit Perlen übersäet"'*). Unter den Seltsam- ^) In Verfertigung schwerer seidener, buntgeblümter und golddnrchwirlter Kirchenzeugc haben es die Nüssen übrigens von jrhcr weit gebracht, und übertreffen noch jetzt Alles, waö ich, selbst die lyoncr Zeuge der Art nicht ausgenommen, sunst gesehen habe. ES wird auch nirgends der hohe Preis dafür bezahlt, wie in Nusillind! ") Die Zahl bcr Perle» au den Bildern, Gewändern u. in Troitza mochte schwer zu ermitteln sein; viel leichter wären sie scheffelweise zu messen! — Vei den Multcrgotteö- und Heiligenbildern sind in der Rcgcl mir das Gesicht und die Hände gemalt, die Kleider sind durch Goldblech angedeutet. Die verrhrtestcn Nilder sind siatt dessen mit dichten Kränzen von Perlen und Edelsteinen umgeben. — Vielleicht findet man in Troitza mehr Perlen, alö im übrigen Europa zusammengenommen'. — Ueber Haupt ziehen sich die Massen der Perlen allmählig und seil langer Zeit nach Nusilaud hin, wo sie theils in den Kirchen aufgehäuft und verwand! werden, theils als Schmuck dienen. Es giebt Gouvernements, z. B. Nishninowgurod, wo jedes Naucrwcib an ihrem Kopf- und Haloschmucke 88 keilen ward uns der Iagdrock Ivan des Schrecklichen gezeigt, dann das härene Gewand und der hölzerne Becher des h. Ser-gills, neben dem mit Perlen und Diamanten überreich von der Kaiserin Katharina II. selbst gestickten Mcßgewande und einem von Edelsteinen strahlenden goldenen Kelche. — Ein geschliffener Agat, in dessen Innern die Natur ganz deutlich das Bild eines Kreuzes, vor dein ein Mönch kniet, gebildet hat, wird als besondere Merkwürdigkeit gezeigt. Auch legte man uns einen eigenhändigen Brief des Kaisers Paul an das Kloster vor, worin er demselben die Geburt seines Sohnes Nikolaus anzeigt. Auf meine Bitte, die Zelle eines Mönchs besehen zu dürfen, ward ich in die dcs jüngsten geführt. Es war eine hohe, etwa 12 Fuß ins Gevierte haltende cinfcnsterige Zelle mit einer kleinen Schlafkammer, einfach nut einem Bctpulte, Bücherbrett, einigen Rohrstühlcn und Tischen meublirt. Das Ganze hatte nicht den Charakter dcr vollendeten Abtödtung und Armuth, wie etwa die Zelle eines Karthäusers oder Trappisten, das moderne Comfort hat schon eine Nitze gefunden, um einzudringen; sie hatte etwa das Ansehn der Zellen eines Bencdictinerö oder Jesuiten. — Uebrigcns hat das russische Mönchswescn noch immer den Charakter der ältesten christlichen Zeit, es ist noch der Uebcrgang des Anachoreten- zum gemeinsamen Kloster-Leben sichtbar. Jeder Mönch lebt noch fast ganz für sich, und stattet sich seine Wohnung aus, wie er will und kann, nur der Gottesdienst in den Kirchen ist gemeinschaftlich und die Mahlzeit. Die Abtödtung besteht vorzüglich in den strengsten Fasten; sie genießen nie Fleisch, nur an wenigen Tagen Eier und Milch, an den kirchlichen Fasttagen nicht einmal Fische. Sie leben von Brod, Grütze, Kräutern, Pilzen, alles nur mit Del und Salz bereitet. Man erkennt in Rußland im Allgemeinen an, daß das Mönchswesen dort schr versunken, daß es theilwcise seinen Charakter gänzlich verändert hat und daß es einer Reform bedürftig ist. Die Nonnenklöster zumal waren ganz zuchtlos geworden, und in neuester Zeit haben deshalb sirenge Bischöfe z. B. in Moskau sich genöthigt gesehen, wenigstens die äußere Disciplin wieder wenigstens 2—3lw, of! aber übn 1990 und , mehr ächtc Peilen »cr-WMdet hat. herzustellen. In den Mannsklöstern muß man zwei Arten von Mönchen unterscheiden. Eine Anzahl Männer tritt ein aus wahrer Frömmigkeit, um von der Welt zurückgezogen ein beschauliches Leben zu führen; für Andere ist es nur die Gelegenheit, in völliger Trägheit und Faulheit ihr Leben hinzubringen. Es sind träge, unwissende, zum Theil zuchtlose Menschen! Eine andere Art von Mönchen sind aber die gelehrten. Popcnsöhne und andere junge Leute bilden sich in den Seminarien und auf den theologischen Akademien zu einem gewissen Grade von theologischer Gelehrsamkeit aus, dann ziehen sie daö Mönchskleid an und lassen sich einem Kloster zuschreiben, ohne sich jedoch daselbst aufzuhalten; sie treten vielmehr in die Kanzleien der Bischöfe und Erzbischöfc, und umgeben diese zu ihren persönlichen und klerikalen Diensten. Daö Verhältniß wird dann ganz dem der Militairadjutanten bei den Generalen und der Civiladjutanten bei den Ministern analog. Aus ihnen gehen demnächst die Bischöfe, Archimandritcn, Aebte ic. hervor. Es ist eine Carriere, wie aller Dienst in Rußland! Manche mögen aus innerem Beruf diesen Stand erwählen, die meisten treibt der ungcmcssene Ehrgeiz, die Selbstsucht, die Berechnung und Eitelkeit, der Fluch der höheren Stände Rußlands! Der Mönch, zu den: wk geführt wurden, empfing uns demüthig und bescheiden. Er war der Sohn eines Generals Ku-lrbcckin und selbst Capitain gewesen, kaum 30 Jahre alt*) und ein auffallend schöner Mann. Was ihn vermocht hatte, die Welt zu verlassen und Mönch zu werden, erfuhren wir nicht. Das Ganze hatte allerdings den Anstrich, als ob eine romanhafte Geschichte dahinter lag. Dann besahen wir das ungeheuer große Nefectorium; es war einst für 5—600 Mönche eingerichtet, die hier aßen, jetzt essen hier kaum 100, und es wird dann wohl etwas nackt und verödet aussehen. Auch ein wohleingcrichletes Hospital für arme Wanderer und ') Im Hcibst lcnitc ich Mlf dcm Dmnpfschissc dls schwarzen MccrcS scnn» Vmdrr als AdjutlNitm drs OmcmlS von Nudbrrg kmmn, cinm höchst l^cndlgm, sscistvM'u, dievmirsuchtigm, abcr gulmülhigm und gcfälligcu Mann. 90 Wallfahrer sahen wir, wo die Kranken von den Mönchen ver-pstrgt werden sollen. Es ist, glaube ich, dcr erste und einzige Versuch in Nußland, dem Mönchswescn eine thätige und aufopfernde Richtung zu geben. Ich weiß nicht, aus welchen Gründen man diese Richtung nicht längst verfolgt hat. Dann wurden wir in die Bibliothek geführt, die aus etwa 6000 Bänden bestehen soll. Der Bibliothekar war kein Mönch, auch nicht geistlich. Ein merkwürdiger Pentateuch, hebräisch aus dem 12. Jahrhundert, viele alte russische Manustripte theologischen Inhalts :c., ein Psalter mit ruffischen Initialien und symbolischen Mignaturen, sehr hübsch von Großfürstinnen, wie man uns versicherte, gemalt, wurden uns vorgezeigt. Auch sahen wir 2 Manuscripte liturgischen Inhalts, wo über jeder Linie wunderliche Musikzeichen, Häkchen, Striche, Punkte u., standen, die ich sonst nirgends gesehen habe. Man sagte uns, daß man dergleichen bei den Roskolniks (den sogenannten Altgläubigen) noch häusig fände, daß sie dieselben noch abschrieben und danach sängen. — Man hat in Deutschland in der berühmten Abtei Cor-vcy ein uraltes Manuscript mit bis jetzt völlig unaufgeklärten Musikzeichcn gefunden. Sollten das vielleicht dieselben Zeichen sein und man durch diese altruffischcn Noten die Schlüssel zur Aufklärung finden*)? Ich habe daS Corvcyer Manuscript nie gesehen **). Als wir wieder ins Freie kamen, begegnete uns ein Schwärn» von Knaben, die aus einem Gebäude, einer seit 7 Jahren angelegten Schule für arme Kinder, kamen. Ueberall zeigt sich in Nußland das Bedürfniß von Elementarschulen, das Volk drängt sich zum Unterricht; es bedarf durchaus keines Zwanges, um die Kinder zur Schule zu treiben! — Die hiesige Schule mochte 80—100 Schüler zählen. *) DaS Evangclicnbuch, worauf in Rheims die Könige von Frankreich bei dcr Krönung den Eid ablegten, war mit Buchstaben geschrieben, die man ehemals nicht kannte und nicht entziffern konnte. Als baß Nuch Pcter I, gezeigt ward, erkannte cr cs glcich als ein altslavünischcö Manuscript mil glayolitischcr Schrift. ") Eine mir mitgetheilte Notiz besagt, daß cs eine Litanei sci aus Ludwig des Frommen Zeiten. Sie soll abgedruckt sein bei Mribom und Leibniz I, XVII, iiber den Streit der Theologie, 91 Das hiesige Seminar oder die theologische Akademie, wir man sie nennt, ward 1749 von der Kaiserin Elisabeth eingerichtet. Es waren etwa 100 junge Theologen vorhanden und für diese 15 Professoren, von denen 3 Mönche, 2 Weltgcistliche, die übrigen Laien waren. Die Schuleinrichtungen sind den Jesuiten nachgeahmt; das erste Biennium (2 Jahre) heißt Philosophie (die Humaniora der deutschen älteren katholischen Schulen), dns zweite Bicnnium umfaßt die eigentlichen theologischen Wissenschaften. Das Gebäude, worin diese Akademie eingerichtet ist, ist der ehemals kaiserliche Palast. Das jetzige akademische Auditorium ist ein Saal, den einst Peter I. bewohnt hat. Wie bei den abendländischen Klöstern ist auch hier das Gedränge der Bettler groß. Es werden ihrer täglich mehrere Hundertc im Kloster gcspeiset. Auf den herrlichen uralten Linden und Birken des großen Klostcrhofs hat sick) eine mächtige Republik von Krähen und Raben etablirt und constituirt. Der tiefe Frieden des Klosters schützt sie, nie belästigt sie ein Fcuergcwehr, und so sind sie denn zahm und frech wie nirgendwo! Wir verließen Troitza spät am Abend, gegen 1l Uhr, und erreichten am andern Morgen die Kreisstadt Pereßlawl-Salicsky im Gouvernement Wladimir. Die Dörfer, durch welche wir am Morgen fuhren, waren schlecht gebaut. Kleine Häuser, nach der Straße hin mit ganz kleinen Fenstern, meist 3, hin und wieder nur 1, selten mit den kleinen gewöhnlichen Verzierungen, lagen, Wie ich es bisher stets gefunden, in Höfen, worin die übrigen Gebäude zerstreut standen. Hin und wieder läuft eine Gallcrie Unter den 3 Fenstern her. — In den meisten Dörfern findet Mat; aber schöne neue steinerne Kirchen, nur in Nowoja sah ich zuerst eine alte hölzerne Kirche, wie sie früher in Nußland allgemein waren, von übereinander gelegten Balken aufgebaut, das Dach mit Brettern und Schindeln gedeckt. Diese hölzernen Kirchen nehmen immer mehr ab und werden durch steinerne ersetzt. Das ruffische Landvolk setzt eine besondere Ehre darin, im Dorfe eü«e steinerne Kirche zu besitzen. Aus einem Dorse mit einer steinernen Kirche in ein Dorf mit einer hölzernen Kirche ziehen, 9'lt für cine Degradation, ja man würde sich kaum auf eine Heirath mit Bewohnern oder Bewohnerinnen solcher Dörfer mit 92 hölzernen Kirchen einlassen! — Darum setzen diese letzteren alles daran, um so bald als möglich auch durch Erbauung einer steinernen Kirche zum Range jener Dörfer erhoben zu werden. Man sieht, wie der Nangstolz in jeder Form des Lebens und durch alle Klassen des Volks das Gemüth der Russen beherrscht! Im gegenwärtigen Falle bedarf es nun, um den gewünschten Rang zu erreichen, keiner Erhebung oder Anerkennung von Außen, sondern bloß einer Summe Geldes! Man erkauft sich den Rang, indem man eine steinerne Kirche baut! — Eine solche Dorfkirche kostet 10, 20, 30,000 Rubel Silber, aber es ist nichts leichter, als eine solche Summe herbei zu schassen. Ein Dutzend rüstiger Männer des Dorfs machen sich auf, vertheilen sich in alle Weltgegenden und betteln zur Erbauung der Kirche zusammen; sie stellen an allen Wegen einen Opferstock, einen starken Pfahl mit einem darauf befestigten Geldkasten, aus; sie verzehren nichts, denn überall werden sie gastfrei aufgenommen, und nach Jahr und Tag ist das Geld beisammen. Dann bitten sie um einen Plan und einen Architekten (jeder Bauplan muß zuvor in Petersburg genehmigt werden), und binnen einigen Jahren steht die stattliche in modernem Styl aufgeführte Kirche da, und das Dorf ist in seinem Range seiner eigenen lind seiner Nachbarn Meinung nach gestiegen! — So etwas geht in Westeuropa nicht, theils weil der auf äußere Bethätigung gestellte religiöse Sinn immer mehr sich verloren hat*), theils weil eine zu große Fluctuation der Ideen und ein zu schwaches Zusammen- und Festhalten der Gedanken bei den Völkern herrscht. Bei den Russen ist das anders; dieses Volk hat keine politische Ideen, aber es hat zwei Gedanken, die es von oben bis unten mit energischer Kraft durchdringen und beherrschen: ein tiefes Gcsammt-gefühl der Nationalität und eine glühende Liebe zur Nationalkirche! So wie diese beiden Gefühle die Gedanken des Russen ") Einst konnte ein kleiner deutscher Kirchcnfürst, ein Eizbischof don Küln, dm Niesmplan des Doms zu Köln fasscn und zur Hälfte ausführen; in jetziger Zeit hatte ganz Deutschland den Entschluß gefasit, ihn zu vollenden, abci wir bald ist der edle Nm,sch verflogen, und immer spärlicher fallen die Sammlungen und Spenden ans! Hielten nicht die Hönigc fest an ihrem Entschlüsse, beim Nelke wäre die, Sache längst antiquirt. 93 ergreifen, opfert cr willig und ohne sich einen Augenblick zu bedenken Gut und Blut! Man muß auch nicht vergessen, um solche große Sammlungen für irgend eine obscure Dorfkirche, und zwar meist nur un-tcr Bauern, zu begreifen, daß im Charakter des Nüssen das Geben eben so nahe liegt, als das Nehmen. Nirgends hängt alles Eigenthum an so losen Faden und wechselt mit solch rasender Schnelle, als in Rußland. Heute reich, morgen arm? Man erwirbt und vergeudet fast gleichzeitig, man betrügt und wird betrogen, man stiehlt mit der einen Hand und schenkt mit der andern. Der gemeine Russe hängt sein Herz an keine Art des Besitzes, cr verliert mit Gleichmuth, was er eben erworben, m der Hoffnung, morgen ein Anderes zu erwerben! Dabei ist der Russe von Natur gutherzig, mildgcsinnt, wohlthätig, freigebig. Der Krämer also, der vielleicht eben den Nachbar um 20 Kopeken betrogen hat, ohne im mindesten Gewissensbisse zu empfinden, schenkt im nächsten Allgenblicke zum Aufbau einer fremden Dorfkirchc einen Rubel. Pereßlawl hat in der Ferne durch die sich dem Auge darstellenden vielen Kirchen und Thürme das Ansehen citier großen Stadt, allein im Innern ist es ein völlig verödeter Ort, dem jene Kirchen nur noch als der Rest alten Glanzes verblieben sind! Es sind hier mehrere Klöster, darunter ein sehr berühmtes des h. Nikita, der wie der h. Sergius cm geborener Russe war. Auch dieses Kloster ist ein besuchter Wallfahrtsort. Auf dem neben der Stadt belcgcnen See Pleschtscheswo Machte Peter I. den ersten Versuch, Schiffe zu bauen; man bewahrt noch ein von ihm gebautes Boot hier als Reliquie auf. Zum Andenken an ihn wird jährlich auf dem See selbst ein Gottesdienst gehalten. Auch soll Peter den See mit Heringen besetzt haben, die, wie man sagt, sich erhalten haben. Wir kamen nicht weit von dieser Stadt bci einem steinernen Monumente von hübscher, halb gothischer halb russischer Stcin-wctzcnarbeit vorbei. Ivan der Schreckliche ließ es errichten, weil er an dieser Stelle die Nachricht von der Geburt seines Sohnes "hielt. Wir erreichten nun das Gouvernement Iaroslaw. Die Dörfer gewinnen hier ein anderes Aussehen, sie sehet, reicher und 9-1 stattlicher aus, einzelne Bauerhäuser haben das Ansehen von Edelhöfen oder städtischen Häusern. Die Häuser hängen nicht mehr straßenartig zusammen, wie in den Dörfern zwischen Petersburg und Moskau, sondern liegen in abgesonderten Hosen; hin und wieder kommen Nebenstraßen in den Dörfern vor. Russische VaucinlMsir in Dortmli zwischm Rosioff und Iaroslnw, In einigen Dörfern lagen die Häuser nicht mit der Giebcl-seite, sondern mit der Qucrseite nach der Straße, und der Giebel war im Hofe und in der Regel mit den auch in Norddcutschland und Skandinavien verbreiteten beiden symbolischen geschnitzten Pferde köpfen verziert. Sie sahen fast wie norddeutsche Bauer-Häuser aus. Wir fuhren die Nacht durch, zerbrachen aber in den abscheulichen Wegen allerhand an unsern Wägen. So kamen wir Nachts 2 Uhr beim Grauen des Tages nach Nostoff, und sahen daher von dieser interessanten Stadt nichts als das Aeußere. — Nostoff ist eine der ältesten Städte, ehemals der Sitz eines eigenen Für-sicnthums unter einem Nachkommen Rurik's, von dem die jetzigen Fürsten Nostossski abstammen sollen. Im Anfange der Fasten ist hier ein großer, A Wochen dauernder Markt, der oft von 40—60,000 Käufern und Verkäufern besucht wird, und wo ein Umschlag an Waaren von 10 Millionen Rubel Silber geschehen soll. In der Feldmark und 95 den umliegenden Dörfern wird ein ungemcin ausgedehnter Gartenbau getrieben, und die Leute ziehen als Gärtner im ganzen Neiche umher, pachten entweder Land (z. B. in Moskau, in Niga :c.), und bauen darauf mit vielem Geschick Gartcnftüchte znm Verkauf, oder vermiethcn sich als Gärtner. Am Morgen kamen wir bei herrlichem Sonnenschein durch das schölle dem Fürsten Tschcrmtscheff gehörige Dorf Semibra-torschma mit einer neucrbauten prächtigen Kirche nach dem Muster der Kasanschcn in Petersburg, wenn man sich die Colonnadcn hinwegdenkt. Dann erreichten wir Poritschi, ein dem Grafen von Panin gehöriges Dorf; hier bauen die Leute nichts als Apothckcrkräuter und treiben damit einen ausgebreiteten Handel. Am Nachmittage des 14. Mai kamen wir von den Höhen "or Iaroslaw herab, welches sich gar stattlich präscntirtc, an dieser Seite von einem sich hier zu einem See ausdehnenden Flusse, der sich vor der Stadt mit der Wolga vereinigt, umgeben. Als wir in dem Kahn über dieses breite Wasser setzten, hatten wir eine besonders pittoresk vortretende eigenthümlich schöne Kirche der Stadt vor uns, die ich hier in einer Illustration geben würde, wenn nicht das Werk von Blasiuö die Typen der lllssiichcn Kirchenarchitcktur in hinreichender Menge und Auswahl dem Publirum mitgetheilt hätte. VI. Iaroölaw. Das russische Wirthshaus, die Karadcmscrm und das Gasthaus, der Thee und der Samowar. Der Gouverneur, seine Gemahlin, kirch liche Devotion der Nüssen. Der ungeheure Stör. Gleise mit dein Präsidenten des Domainenhofs zu Herrn von Kanwwitsch. Gemeinde-vcrsammlling unterwegs. Ankunft, ä^eschrribrnisi des Guts Gorapia-tnizkaja. Das Innnc cincü VaurrnqchoftS. Eigmlhümlichc Composition eincr Vaucrnfamilie. kinc cinM'ichtltc Frrinc ucich modcincn Grundsätzen. Der Fkckm Wl'lift Silo. Dic liissische Llibligcuschast in ihriu Conflicten mit bei nnnrn Zeit, Der niffischc Adel, Veränderung in den Sitten desselben scit l8l^> der Tschinadel. Die Leinwaudfcibrifation l^oil Weliti Silo, cigcnthün,lichc ,^a„dv^ ll'll<'.ltt gu-ll'6 Essen und Abends Thee, und zahlt nach Vechältmsi für 98 Wohnung, Heizung, Licht, Essen und Trinken und Bedienung 25, 40 bis 50 Rubel Silber monatlich. Jetzt eristiren auch in allen Gouvernements-Städten Gasthöfe in vorstehender Art, hin und wieder von Deutschen eingerichtet und dann meistens mittelmäßig gut. Dort aber, wo sie von Russen eingerichtet sind und gehalten werden, sind sie noch immer eine Mischung und Zusammensetzung von einer Karavan-serai und einer asiatischen Restauration. Wenn man vor einem solchen Hause anlangt und hält, wird man von Niemanden empfangen; den Wirth bekommt man auch in der Regel niemals zu sehen. Man geht ins Haus und sucht die Schenke, die meist in der obern Etage ist und wo man mm eine Art Kellner findet, den man um Logis anspricht. Er zeigt uns die Stuben, meist mit schlechten Mcublcn und ohne Bett, statt dessen ein Ledersopha dient, worauf man sein eigenes mitgebrachtes Bett ausbreitet. Man muß stets dingen, die Hälfte bieten ?c., und wenn man einig wird, zieht man ein. In der Schenke werden Getränke (Wein, Branntwein ?c.) und kalte Eßwaaren feil geboten; daran stoßen einige Zimmer, eine sogenannte Restauration, wo man portionsweise essen kann. Fragt man, so werden als Speisen stets Coteletten und Beefsteaks genannt (diese beiden Wörter sind seit 1815 bis tief in Asien hinein verbreitet!); sie sind aber in der Regel von ausgezeichnet schlechter Qualität und abscheulich schlecht bereitet. Fordert man dagegen die ächtrussischen Gerichte, den Tschi (Kohlsuppe mit Fleisch darin), die Piroggc (eine Art Pastete mit Fischen oder Fleisch), so findet man wohlschmeckende gesunde Speisen. Das Weißbrod ist schlecht, das Schwarzbrod wohlschmeckend und gesund. Auch guten Thee erhält man überall in Biergläsern, ineist mit einem Zitronenscheibchen und ohne Milch. Der ächte fromme Russe trinkt ihn gewöhnlich mit Honig, wenigstens an Fasttagen, weil der Zucker mit Ochscnblut raffimrt wird. Nur, wie man mir erzählt, von einer national-russischen Zuckerfabrik, wo dieß nicht geschieht, genießt ein rechtgläubiger und strenger Russe auch an Fasttagen Zucker *). *) Es sieht ncht l'igmthnmlich aus, wenn man in lüssischm Nrstam'atwim' auf dm Vänkm längs dm Wändw dir ^uifkn^, mhtt Battiussm »nl <»9 Reisende haben meist ein kleines Kistchen, den Pogrobetsch, bei sich, das zweckmäßig eingerichtet bei russischen Kaufleuten in Moskau überall für 4 bis 12 Rubel Silber zu haben ist, und welches Theetopf, Zuckerdose, 2 Gläser, 2 Tellcrchcn, Löffel, Tinte- und Sandfaß, Raum für etwas Papier und einen kleinen Verrath von Thee und Zucker enthält. Im Gasthofe fordert der Reisende dann bloß einen Samowar, d. i. eine Thee-Maschine mit heißem Wasser, die er für 1 bis 2 Grivenik (3 bis s> Sgr.) erhält. — Diese Samowars sind eine Art kupferner, länglich runder Theemaschinen, wie sie vor 50 bis 60 Jahren überall in Deutschland Mode waren. Die Russen haben sie jetzt zu einem Nationalgeschirr erhoben. Man findet sie nicht bloß in jedem Wirthshause, sondern fast in jedem ordentlichen Bauernhause, da der Gebrauch des Thees eine ungeheure Verbreitung selbst unter den Bauern gefunden hat. In Rußland findet man in keinem Gasthofe reinigende und aufwartende Mägde, Alles geschieht durch Burschen. Diese sehen in guten russischen Restaurationen und Wirthshäusern hübsch aus. Man nimmt gewandte Burschen, deren gescheiteltes langes Haar auf der Stirn zuweilen durch ein um den Kopf geschlungenes schwarzes Band oder einen schmalen Lederriemen zusammen gehalten wird, welches auf der Stirn ein Schnällchen, ein kleines Knöpfchcn oder sonst einen Zierrath hat. Der Hals ist bloß; das Hemd, ohne Kragen, auf der Schulter mit ein paar Knöpfchen zugeknöpft, in der Taille mit einem Ledergürtel zusammengehalten, fällt bis auf die Knie über die Beinkleider herab. Wir finden diese sehr hübsche Tracht jetzt überall in Europa bei der Kleidung kleiner Knaben in den höheren Ständen nachgeahmt. Für den Reisenden in Nußland, der sich der Postpferde bedient, ist in sofern gesorgt, daß er auf jeder Station ein oder blauem Kastan, m einer Ncihe grabe und unbeweglich sitzen sieht, nur mit so viel Bewegung, daß sie das Glas Thee an den Mund bringen und wieder niedersetzen. So sitzen sie in Summertagen 4 - 0 Stunden lmig ohne ein Glied zu bewegen, ohne ein Wort zu spreche», ein M„s Thee nach dem andern hrrabschlürfend (sie trinken deren wohl 24 hinter einander!), wobei der Schweiß in Strömen am Gesicht herab tröpfelt. 7"° 100 mehrere im Winter geheizte, menblirte Zimmer, stets mit Sophas garnirt, finden kann, deren er sich unentgeltlich bedienen darf; er darf scinc Sachen hineinbringen, sein Bett auf dem Sopha ausbreiten, kann die Nacht da zubringen, sich Thee machen :c. Auf den großen Straßen, nach Moskau, nach Warschau ic., sind diese Stationshäuser fast luxuriös eingerichtet, im Innern Nußlands natürlich viel schlechter, doch herrscht überall ziemliche Ordnung und mehr Reinlichkeit, als in den Wirthshäusern. In Iaroslaw fanden wir nun ein solches russisches Wirthshaus, und richteten uns darin so gut ein, als es gehen wollte; und während Herr v. A. ausging, um die ersten einleitenden Besuche bei dem Gouverneur und dem Präsidenten des Domai-nenhofs zu machen, schlenderte ich bei dein schönen Wetter etwas in der Stadt umher. Es ist eine ganz moderne Stadt, und sähe man nicht auf den großen Plätzen die eigenthümlichen russischen Kuppeln, so glaubte man wohl kaum in Nußland zu sein! Die Stadt liegt malerisch schön auf dem hohen rechten Ufer der Wolga. Die meisten großen Flüsse Rußlands, deren Lauf nach Süden oder Südost gerichtet ist, haben auf ihrer westlichen Seite ein hohes Ufer (die Bergseite), auf der linken stäche, oft morastige Ufer (die Wiesenseite), das gehört zur ursprünglichen Terrain-Bildung des ungeheuren Landes, zur Erdformation! Von der linken Seite des Flusses nimmt sich Iaroslaw mit seinen 200 Thürmen und Kuppeln und seinen längs dem Ufer liegenden Palästen ganz grandios aus; man möchte sie für eine Stadt wie etwa Hamburg halten, und doch zählt sie kaum 25,000 Einwohner.' — Das ist das Bild aller russischen Städte, die äußeren Zeichen und Grenzen sind festgestellt, sie erwarten nur die innere Füllung! Kein Land und Volk macht im gegenwärtigen Augenblicke so den Eindruck des Keimens, der Entwickelung, des Fortschreitens, wie Rußland. Der Gostinoi Dwor, der Basar in Iaroslaw, ist lebhast; das Gewühl, das Schreien lind Lärmen erinnert an Moskau. Ich bemerkte in der sich hier umhertreibenden Volksinasse mehr dunkle Haare als bisher, auch wird es hinten kurz gehalten; die Gestalten sind stämmig, oft schön, die Gesichter lebhaft und hübsch. Die Frauen dieses Gouvernements hält man für die schönsten in Nußland. Wie man in Süddeutschland etwa von 101 der schönen Linz er in spricht, sv in Nußland von der schönen Iaroslawerin! Spät am Nachmittage machten wir dem Gouverneur und dem Präsidenten des Domainenhofs, einem Herrn von Hahn, der zugleich im Gouvernement Güter besitzt, einen Besuch, und fuhren mit ihnen nach einer Seite aus der Stadt, wo recht hübsche Parkanlagen, der Sommergartcn genannt, gebildet waren, an deren äußerm Ende ein Irrenhaus eingerichtet ist. Am andern Morgen erhielt ich den Besuch des Gouverneurs, des Generals v. Baratinski, und für den Mittag die Einladung zum Diner. Mit ihm und seiner Gemahlin, einer Fürstin Abamelek, einer Armenierin (eine ächt orientalische Schönheit!), fuhren wir bann zur Besichtigung der Kirchen umher, und später zu einem »eichen russischen Kaufmanne, der sich die Ehre ausgebetcn hatte, uns ein besonderes Kunstwerk zeigen zu dürfen. Es war dies aber weiter nichts, als eine gute Wiener Spieluhr, die eine Nenge Ouvertüren, Märsche und Symphonien hören ließ, und dem guten Manne nicht weniger als 30,000 Rubel Banco oder über 9000 Thaler gekostet hatte! Da man in Nußland gar keine umherziehende oder in den Städten zünftige Musikbandcn hat, wohl aber durch das sehr verbreitete Klavierspicl alle moderne Musik kennt und liebt, sv ersetzen im Innern die Spieluhren die Musikbanden. Dem Fremden ist die tiefe Devotion und der strenge Gehorsam gegen die kirchlichen Vorschriften und Gebräuche bei den vornehmen und gebildeten Nüssen auffallend. Schon in Moskau hatte ich Erfahrungen der Art gemacht; ein junger Fürst T., ein eleganter moskowschcr Dandy, führte mich in den Kirchen betz Kreml umher, und fast in jeder Kirche fiel er vor einem der besonders verehrten Heiligthümer, hier dem Sarge eines Heiligen, dort einem Marienbilde :c., auf die Knie nieder, berührte Mit der Stirn die Erde und küßte demüthig das Hciligthum. I" Iaroslaw machte ich dieselbe Erfahrung. Frau von Ba-latinsky und eine andere sie begleitende Dame führten mich '" den Kirchen umher, und kaum traten wir ein, so näher-"l sich Heide Damen einem Bilde der Mutter Gottes, warfen Uch, ohne die mindeste Rücksicht auf ihre Toilette zu neh-"'"', nieder, berührten mit der Stirn die Erde und küßren 102 das Bild unter Bezeichnung des Kreuzes. Und dieß waren Damen aus der höchsten Gesellschaft nnd vom feinsten Ton! Frau v. Baratinsky war Hofdame gewesen und die Zierde der ersten Petersburger Zirkel, hatte eine ungewöhnliche Bildung, kannte die französische und deutsche Literatur vollständig, und hatte noch eben vorher, als wir an dem Ufer der Wolga spazieren gingen, über die unübertreffliche Schönheit Gocthcschcr Lieder, dessen Fischer recitirend, sich lebendig und geistvoll ausgesprochen! — Selbst in den strengsten katholischen Ländern, in Belgien, Baicrn, Rom, Münster:c>, sieht man dergleichen öffentliche Dcvotionsbezeugungen nicht, oder doch nur als höchst seltene Ausnahmen bei Frauen, bei Männern nie. Die gebildeten Stände haben sich in dieser Beziehung von den untern Ständen geschieden. Selbst wenn sonst Frömmigkeit bei ihnen herrscht, halten sie doch so stark hervortretende Manifestationen derselben für nicht recht anständig, ja, wenn sie es auch nicht auszuspre-chcn wagen, sie schämen sich derselben einigermaßen! Anders in Nußland! Hier giebt es Freidenker, selbst Atheisten, vielleicht in demselben Maße wie in Westeuropa, aber selbst diese unterwerfen sich, wenigstens öffentlich und im Lande, den Gebräuchen der Kirche unbedingt und fast unwillkürlich. Es ist in dieser Beziehung durchaus keil: Unterschied zwischen dem vornehmsten und dem gemeinsten Russen sichtbar, überall domimrt die Einheit der Nationalkirche und des Nationalcultus; Dabei ist in der Kirche, sehr schön! nie ein Unterschied unter Vornehm und Gering im mindesten zu bemerken. In den protestantischen Kirchen hat Jeder seinen besondern Platz, abgeschlossene Stühle, oft kleine Stübchcn mit Thüren und Fenstern in der Kirche gebaut, die Vornehmsten in der Nähe des Altars oder der Kanzel, die andern nach dem Nangc näher oder ferner. Alle weltlichen Lappalien der Standes- und Nang-Unterschiedc und Absonderungen werden sebst mit in die Kirche gebracht! In katholischen Kirchen, besonders in den Kathedralen, ist das weniger der Fall, doch drängt sich die vornehme Welt meist auch nach einer Seite zusammen und sucht sich einigermaßen vom gemeinen Manne zu scheiden (in Norddcutschland hat man selbst hin und wieder die protestantische Sitte der abgeschlossenen Stühle nachgeahmt). In Nußland ist vollendete Gleichheit, wie cö in allen christlichen l«3^ Kirchen überhaupt sein sollte. Hier weicht der Gemeinste dem Vornehmsten nicht. Der Bettler, der Leibeigene stellt sich unbedenklich über und vor den Reichen, den Herrn; diese dagegen machen auch gar keine Ansprüche, drängen sich nicht vor n. Von abgeschlossenen Stühlen ist nicht die Rede; es giebt überhaupt keilte Stühle, nicht einmal Knicbänke in den russischen Kirchen. Alles steht oder kniet. Nur für das weibliche Geschlecht sind hin und wieder Sitze in Bereitschaft. Ich hatte von Moskau aus ein Empfehlungsschreiben an einen einige Meilen von Iaroslaw wohnenden russischen Edelmann erhalten, es ihm zugeschickt, und erhielt nun die Einladung, ihn auf seinem Gute zu besuchen. Am Morgen des 16. gingen wir zuerst zum Ufer der Wolga hinab, um einen ungeheuren Stör zu sehen, den man vor acht Tagen gefangen und in einen mit Pfählen und Brettern abgeschlagenen Behälter am Ufer des Flusses gesetzt hatte. Nur ein Strom wie die Wolga kann ein solches Ungeheuer beherberge!:. Es mochte 8—10 Fuß in der Länge und vielleicht eben so viel im Umfange messen! Niemand wußte sich zu erinnern, je ein Thier von dieser Größe gesehen zu haben. Ich ließ mir dann die Einrichtungen der Canzlei und Registratur des Domainenhofs so wie dessen Geschäftsordnung zeigen, und fand sie im Allgemeinen den deutschen, namentlich den preußischen analog. Nur ist der Controlen- und Tabellen-Kram noch unendlich viel complicirter und weitläufiger. ^ Das Bc-amtenschrcibwcsen hat in Rußland fast noch mehr überHand genommen als in Preußen. Aber das Essentielle, die Bcamten-bildung, Gründlichkeit, Fleiß und Rechtlichkeit steht der deutschen weit nach. Abends gegen 6 Uhr fuhr ich mit dem Herrn v. Hahn nach Gorapiatnihkaja, dem Gute des oben bezeichneten Landedclmanns Herrn von Karnowitsch, hinaus. Der Weg führte durch eine ziemlich gut angebaute Gegend, doch kamen wir auch über große Strecken von niederm Gestrüpp und Nicd, die theils der Cultur kaum fähig sind, theils dieselbe nicht hinlänglich lohnen möch-lcn. In einem Dorfe auf der Hälfte des Wegs hielten wir an, um die Pferde zu wechseln. Das ganze Dorf, welches vor Jahr und Tag abgebrannt und nun sehr hübsch wieder aufgebaut 104 war, versammelte sich, und da ohnedem einige Geschäfte abzumachen waren, so hielt Herr v. Hahn, um mir die Weise zu zeigen, wie eine russische Gemeindeversammlung gehalten wird, gleich eine solche als ein Impromptu ab. Auf der Straße stellten sich alle Männer in einem Kreise um unä her; der Golowa (das Haupt der Wolost oder mehrerer vereinigten Gemeinden), der Starost des Dorfs und die „weißen Häupter" traten zu uns, und nun begann eine ziemlich lebendige Discussion, von der ich, da sie russisch geführt wurde, kein Wort verstand, deren Gegenstände mir aber genannt wurden. Sie betrafen einige allgemeine Angelegenheiten der Gemeinde und einige kleine Streitigkeiten unter einzelnen Gliedern, die nach kurzer Umfrage bei den „weißen Häuptern" vom Golowa unter Zustimmung des Domainenchefs entschieden wurden. Es geschah Alles in großer Ordnung; nur der Golowa, der Starost und die „weißen Häupter" sprachen, unter den jungem im Kreise stehenden Männer»: herrschte tiefes Schweigen und Aufmerksamkeit. Jene aber redeten mit lebendigem Ausdruck und, wie es schien, klar und zusammenhängend, wenigstens schien keiner um Worte verlegen. Keiner schrie und lärmte, keiner unterbrach den andern, es herrschte die größte gegenseitige Höflichkeit. Das Verhalten gegen den Präsidenten des Domainenhofß zeugte für beide Theile; die Leute waren zutraulich, freundlich, anschmiegend, aber durchaus nicht sclavisch und niedrig-schmeichlerisch gegen ihn. Einer bat ihn unter Thränen und Wehklagen um Befreiung scincs Sohnes vom Soldatenstande. Er mußte es aus gesetzlichen Gründen abschlagen, tröstete aber den armen Vater liebreich und freundlich. Wir gingen alsdann noch unter Geleitung des Golowa, des Starosten und der „weißen Häupter" ins Gemeindehaus, wo der Gcmeindcschrciber dem Herrn v. Hahn allerhand Scriptu-rcn vorlegte, von denen ich natürlich nichts verstand. Man sieht aber daraus, wie die Schreibfertigkeit auch schon in die tiefsten Regionen des russischen Volkslebens einzudringen beginnt. Auf mein Befragen wurden mir folgende Notizen über das Dorf gegeben. Dasselbe bestand aus 23 Gehöften mit 82 männlichen Seelen. Ls war früher das Eigenthum eines Fürsten Koßlowski gewesen, die Bauern hatten sich aber selbst freigckauft, 10.1 und dem Fürsten für Grund und Boden und Inventar und für ihre Freiheit 50,000 Nubel Banco (--- 14,280 Nubel Silber) bezahlt, und zwar sogleich 30,000 Rubel, den Rest binnen 7 Jahren*). — Sie hatten demnach gegenwärtig keine andere Abgaben, als die Kopfsteuer und die Communalabgabcn. Es ist hier bis jetzt keine Landtheilung nach Seelenzahl, wie die allgemein geltende in Rußland, sondern nach der Summe, die jeder zum Kaufschilling eingeschossen hat. — Allein diese Theilung ist den Leuten so ungewohnt und unbequem, daß sie sich schon jetzt vorgenommen haben, bei der nächsten Revision die Summe als rein persönliche Geldschuld unter einander zu vertheilen, und dagegen die gewöhnliche Landtheilung eintreten zu lassen. >— Die Sonne begann schon zu sinken, als wir fortfuhren. Ein Bauer hatte um die Erlaubniß gebeten, hinten auf die zurückgeschlagene Kalesche sich stellen und mitfahren zu dürfen. Er begann bald ein lebhaftes und zusammenhängendes Gespräch Mit dem Präsidenten, welches ich nicht verstand, wovon mir aber mein Reisegefährte versicherte, es sei merkwürdig logisch und richtig ineinander greifend, und der Mensch habe so hübsch und gescheut namentlich über die Landthciluug gesprochen, daß man es allenfalls hatte drucken lassen können. Die russische Sprache ist dieselbe für Vornehme und Geringe, Gebildete und Ungebildete, es giebt kein Patois, deßhalb wäre auch die Verbreitung einer gewissen Art uud eines gewissen Grades der Bildung un-gcmein leicht! Dem gemeinen Russen ist die Büchersprache völlig verständlich. Da wir erst um Mitternacht bei Herrn v. Karnowitsch ankamen, so suchten wir bald die nöthige Nachtruhe. Ein herrlicher Morgen trieb uns vom Lager, und bald waren wir mit unserm Wirth in voller Beschäftigung, alle Zweige der Guts- ') <5s ist buch ein wunderliches Verhältniß, die russische Leibeigenschaft! — Dem Fnrsicn lloßlowöki gehörten nicht bloß die Familien deß Dorfs, so wir die Feldmarf desselben, sondern anch alle ihre Habe, folglich anch die 50,000 Nnbel, die sie ihm sin' ihre Freiheit zahlten; warum imhm ei dirs weld nun nicht gerade^, lind behielt die Lenlc in Leibeigenschaft? -^ Kein Oesch hätte ihn hieran uerhindm. ^ Aber die russischen Sitten verbieten eö, nnd diese sind mächtiger, n>s die besetze! wirthschaft zu untersuchen. Diese Wirthschaft ist keineswegs eine altrussische, in den althergebrachten Formen des russischen Lebens sich lediglich bewegende, aber sie ist auch keine westeuropäische, auf die Grundsätze einer rationellen Landwirthschaft eingeführte und gegründete, eß ist vielmehr eine in jedem landwirthschaftlichen Zweige verbesserte national-russische, mit Hinzuziehung und Benutzung von Erfindungen, Verbcsserungen :c., wie sie die europäische Wissenschaft bietet, und Praxis und Erfahrung hier an Ort und Stelle als bewährt gezeigt hat. Herr v. Karnowitsch ist ein wissenschaftlich gebildeter Mann, hat Deutschland, Frankreich und England kennen gelernt, sich überall vom Standpunkte der Landwirthschaft an Ort und Stelle unterrichtet, und ist zurückgekommen voll Eifer und Patriotismus, um im Vatcrlande das Gelernte anzuwenden und zu versuchen, und der Lehrer und das Borbild seiner Gegend zu werden. Er ist unverheirathet (ich glaube Wittwer), hat keine Familie und lebt mit einer ebenfalls unverheiratheten alten Tante stets auf dem Lande zwischen seinen Leuten. Er hat Vieles in seiner Wirthschaft versucht, Manches ist mißglückt, Manches gelungen; er hat mit dem Eigensinn und der Thorheit der Leute, mit der blinden Anhänglichkeit an das Hergebrachte, das Alte, mit dem Hasse gegen jede Neuerung zu kämpfen gehabt, allein er hat das überwunden und einen landwirtschaftlichen Zustand seines Guts erreicht, wie wenigstens ich ihn verhältnißmäßig nicht besser in Nußland gefunden habe, und wie er gewiß dort auch nicht häufig Übertrossen wird. Das Neue und Nationelle in seiner Wirthschaft war mir nicht neu, allein es war mir interessant, es hier in Rußland zu finden! Das Gut Goraviatnitzkaja liegt in einer für dieß sonst eben nicht allzu fruchtbare Gouvernement ziemlich fruchtbaren, angenehmen, von kleinen Hügelzügen durchschnittenen Gegend, welche ungefähr mit Licvland unter demselben Brcitegrade liegt. Der Boden ist vorherrschend Sandboden mit Gramtgcröllcn, hier mit guter Zumischung von Humus. Die Gegend ist wasserreich und hat hinreichend Bäche, Teiche, Seen und Moore; die Waldungen bestehen aus Nadelholz, Linden, Birken :c. Der Hof des Guts liegt auf einer Anhöhe an der Spitze eines kleinen Kirchdorfs, Er besteht aus einem viereckigen mit 107 Wirthschaftsgebäudcn eingefaßten Raume vor dem Wohnhause, hinter welchem ein in seinen sonst freundlichen Anlagen etwas vernachlässigter Garten liegt. Im Allgemeinen ist die Ansicht des Ganzen nicht eben verschieden von der eines lievländischen oder preußischen Gutsgchöfts. Das Wohnhaus ist von übereinander gelegten Balken, wie alle ächt-russischen Häuser, aufgebaut, aber, was sonst selten ist, von zwei Etagen, wovon die obere von der Herrschaft bewohnt wird. Nachdem wir uns auf dem Hofe umgesehen hatten, gingen wir die Höhe hinab, wo die Gutsfclder und auch einige Scheuren, Schafställe :c. lagen. Unser Wirth führte uns dahin, um bei einem Versuche, den er zur Winteraufbcwahrung der Kartoffeln gemacht hatte, die Ausführbarkeit und Zweckmäßigkeit desselben bezeugen zu können. Er hatte nämlich die Kartoffeln im Herbst im Freien in 20 Fuß langen, 10 Fuß breiten, 4 Fuß hohen Haufen auf einer trocknen Stelle des Bodens ausschütten lassen und diese mit einer einen halben Fuß dicken Schicht Stroh und diese mit einer 1'/, Fuß starken Erdschicht bedecken lassen. Sie hatten nun den Winter überstanden, und die Erdschicht wurde in unserer Gegenwart abgenommen. Es zeigten sich noch ("/i». Mai) gefrornc Schollen in derselben, allein die Kartoffeln waren vollkommen gut erhalten, wovon wir uns Mittags zu überzeugen Gelegenheit hatten. — In einer nahen Scheuer, die so wie die Nicge (Getreidedarre) ganz in der Art der lievländischen mit steinernen Fundamenten und steinernen Pfeilern aufgebaut ist, fanden wir eine eigenthümliche Dreschmaschine, die im Gouvernement Simbirsk sehr verbreitet sein soll. Da aber nichts zu dreschen vorhanden war, so können wir über ihre Zweckmäßigkeit nichts aus eigener Ansicht und Erfahrung sagen. — Auf dem Felde pflügten Leute zur Sommersaat, untcr Aufsicht eines Alten, der rüstig den ersten Pflug führte. Es war ein ungemein schöner alter Kopf mit langem weißem Haar und Bart. Ich schätzte ihn seiner großen Rüstigkeit wegen auf einige sechzig Jahre, er war aber 80 Jahre alt, und hatte noch ein Söhnchm voll 5—tt Jahren! Von hier gingen wir in cm nahe liegendes kleines Dorf und besichtigten ein Bauerngehöft. Die Gehöfte haben hier im Allgemeinen dieselbe Einrichtung, wie ich sie oben im zweiten 108 Abschnitt beschrieben habe; die Giebelseite des Wohnhauses nach der Straße gekehrt, daneben ein schmaler langer Hof mit einer Einfahrthür. Das Haus, welches wir genauer betrachteten, hatte den Eingang von der Straße her, was sonst nicht sehr gewöhnlich ist. Diese Thür lag links, während rechts noch eine kleine Thür für den untern Raum des Hauses, worin kleines Vieh steht, vorhanden war. Man steigt eine kleine Treppe hinauf, um in die eigentliche Wohnstube (lsda) zu gelangen. Sie hatte weiter keine Meublen, als eine rund umher laufende Bank, der Thür gegenüber in der Ecke stand das Heiligenbild, mit einer brennenden Lampe darunter, und an den Wänden waren einige Regale angebracht, um allerhand Geschirre und Geräthschasten darauf zu stellen. Spinnräder und Webstuhl waren Zeugen der in dieser Gegend sehr verbreiteten Leinenindustrie. Ein »nächtiger von Backsteinen aufgemauerter Ofen nahm ein Drittel der Stube ein; derselbe dient im Winter als Schlafstätte. Neben ihm führt eine kleine Treppe in den oben bezeichneten untern Raum des Hauses (pgtpolgo), der als Vorrathskammer dient und wo auch wohl kleines Vieh, Federvieh und Schweine, des Nachts ihren Aufenthalt nehmen. Im Winter melkt man hier auch die Kühe. An der andern Seite der Haustreppe lagen einige kleine Kämmerchm mit ganz kleinen Fenstern, die ebenfalls zum Aufbewahren von allerhand Sachen dienen; hier standen auch einige Kisten, für jedes Familienglied eine, zum Aufbewahren der Kleidungsstücke. Im Sommer schläft man meist hier. Der Ofen der Wohnstube dient zugleich als Herd, diese ist daher auch selbst im Sommer stets geheizt. Unmittelbar an das Haus schlicht sich der Stall, zu dem auch ein Eingang vom Hause her führt. Er stand unter zwei Dächern, so daß Haus und Stall drei Dächer hatten, immer das nächste etwas niedriger als das vordere. Hier stehen Pferde und Rindvieh, durch Abschläge, aber nicht durch Scheerwände getrennt, im Winter sehr kalt; aber daran sind sie gewohnt! Hinter dem Stalle und in einer Linie mit demselben stand der Sarai, ein Gebäude zur Aufbewahrung der Wagen und landwirthschaftlichen Instrumente. Hier wird auch der Salz-und Mchl-Vorrath hingestellt, und es hing daher ein mächtiges Vorlegeschloß vor dcr Thür. Einige Schritte entfernt, aber in 109 derselben Linie, kam ein überbauter Keller, um Kohl, Obst ic. aufzubewahren, dann ein kleiner Kohlgarten, an dessen Ende die Riege war, dann ein Platz, auf dem der Bauer sein Getreide, ehe es in der Niege gedarret wird, aufbanset, auch das Heu trocknet, und den Beschluß dieser Neihe von Gebäuden bildet immer die Badestube. Jeder Hof ist daher sehr lang und schmal, nicht wie in Deutschland rund und viereckig. Man sollte denken, die Wohnung sei sehr schmutzig, die Atmosphäre mcphitisch; Vieh unter sich, Vieh neben sich, eine heiße niedrige Stube! Aber dem war nicht so. Die Luft war besser als ich dachte, wozu das beständig lodernde Feuer und die offenen Fenster mitwirkten. Dabei war wenigstens hier die Stube so rein und sauber gehalten, daß es eine Freude war. Unser Wirth sagte uns, die Bauern lebten und wohnten hier reinlicher und besser, als die Leute in den Städten. Wir fanden die Leute in diesem Hause fleißig mit Spinnrad und Webstuhl beschäftigt. Gegen uns Eintretende waren sie freundlich, zutraulich, natürlich und gar nicht blöde. Sie gaben über Alles, wonach ich fragte, gern und redselig Bescheid. Es war eine höchst eigenthümliche Composition einer Familie! Das Haupt derselben, der Herr der Wirthschaft, war ein alter Mann, Wittwer seit mehr als 20 Jahren und kinderlos; ihm zur Seite eine alte Frau, nur entfernt mit dem Manne verwandt, ebenfalls Wittwe; sie hatte eine lebende Tochter, ein bildhübsches l4jährigcs Mädchen. Der Mann einer verstorbenen Tochter War wieder verheirathet und verrichtete mit seiner Frau und 5 Kindern die Hauptarbeiten der Wirthschaft. Die Familie war also durchaus nicht durch Blutsbande verbunden, nichts desto weniger herrschte unter ihnen, wie uns Herr von Karnowitsch versicherte, die größte Eintracht und Liebe. Ein solches Verhältniß ist gar nicht selten. Der Nüsse kann nicht ohne festes Familienband leben; hat er kcins, so singirt er eins! Hat er keinen leiblichen Bater, so sucht und wählt er sich einen, und hat für diesen dieselbe Ehrfurcht und Liebe, als für einen leiblichen ! Eben so wer keine Kinder hat, adoptirt welche. ^ Man fragt, warum der alte Mann die alte Frau nicht gehcirathet habe, wodnrch wenigstens ein äußeres Band, die Stiefoäterlich-keit, fundirt gewesen wäre? Allein die Sitte dieser Gegenden 110 duldet es nicht, und hält es für unanständig, daß ein Wittwer oder eine Wittwe nach dem fünfzigsten Jahre wieder hcirathe. Aber ein Mann bedarf dann mehr als je weiblicher Pflege, und so bilden sich dann obige Verhältnisse ganz natürlich! Herr v. Karnowitsch hat einen Versuch gemacht (den ersten in Nußland, wie man uns in Moskau versicherte!) zur Umwandlung des russischen Bauerverhältnisscs in ein Pachtverhältniß. Er hat außerhalb des Dorfes, etwa 1 Werst davon entfernt, eine Farme gebildet, Haus und Wirthschaftsgebäude gebaut, 12'/2 Dissätinc (50 Morgen) Acker und hinreichende Wiesen und Weiden dazugelegt, und eine Bauernfamilic hinein-gcsetzt. Die Bauart und Einrichtung des Hauses ist völlig von der russischen abweichend, sie ist mehr der dcr englischen Fanners nachgebildet. Die Bestellung dcr Aecker und deren Fruchtfolgcn war ganz nach rationellen Grundsätzen, und dem Klima, dem Boden und der Landesart angemessen. Acker- und Wirthschafts,-Werkzeugc waren untadelhaft. Er hatte die bewirthschaftende Familie zuvörderst eigens auf seinem Hofe erzogen und selbst in Allem praktisch unterwiesen, ehe er sie selbständig in die neue Pacht eingesetzt hatte. Er hatte einen Pachtcontract mit ihnen abgeschlossen, oder vielmehr, da dies vor Erlassung deß Ukas vom 2. April 1tt42 keinen rechtlichen Bestand haben konnte, eine VerleihungLurkunde ausgestellt, worin alle Verhältnisse bindend festgestellt waren*). Da diese Pachtung schon eine Reihe von Jahren besteht und die Ernten sich von Jahr zu Jahr bessern, so ist der Versuch als völlig gelungen anzunehmen. Ich äußerte mein Bedenken, daß er sich so gänzlich in Bezug auf Einrichtung des Hauses und der Wirthschaft, so wie der Ackerwerkzeuge, dcr Bestellung ?c. von der vorhandenen landüblichen nationalnissischen entfernt habe, meinte, das könne unmöglich eine Nachahmung und Nachfolge beim Volke erwecken, diese ganze Einrichtung würde also als eine vereinzelte erotische Pflanze dereinst ohne Wirkung und Folge wieder verschwinden. Eö würde mir natürlicher und folgenreicher erschienen sein, wenn *) Ich erhielt eine Abschrift und Ncbcrsctznng dicstr mtcresMlm Urkunde, allein sie ist unln mnric,, P^pin'cu, so sorgfältig ich l'is i^tzl nachqrsuchl habe, nicht wicbn luifzufmdm. Ill cr seine Einrichtungen unmittelbar auf vorhandene Verhältnisse, auf national-russische Sitte und Lebensart gegründet hätte, dann würden sie ein erreichbares Muster für die Umgegend gebildet haben. Er habe ja bei seiner eigenen Wirthschaft diese Grundsätze befolgt, und wohl eben hiedurch so viel erreicht! Er war nicht dieser Meinung. Er äußerte, seine eigene Gutswirthschast sei eine bereits vorhandene, eingerichtete und alte gewesen. Hier habe er allerdings nur allmählich fortschreiten, verbessern können, das Neue nur mit dem Alten amalga-miren dürfen; er habe Menschen, die eine durchaus andere Erziehung genossen hätten, an allerlei neue, ihnen fremde, ja von ihnen gehaßte Einrichtungen gewöhnen müssen; er habe daher nur Verbesserungen vornehmen können, keine Umwandlung des Ganzen durchzusetzen vermocht. Anders sei eö bei dieser kleinen Fanne; dieselbe sei von Grund auf eine neue Schöpfung, daher habe er nach rationellen Grundsätzen verfahren können und müssen; die Leute, denen er sie übergeben habe, seien vollkommen und hinreichend dazu erzogen und angeleitet. Aber es seien doch immer Russen! Würde man sie in ein Verhältniß eingesetzt haben, welches die nationale Grundlage beibehalten hätte, mit hmeingewcbtm Verbesserungen und Abänderungen, so würden sie, vielleicht von allen Seiten geneckt, durch Beispiel versührt, durch das Nationalgefühl, durch die Erinnerungen der Kindheit, die Erinnerung der Nationalsitten verlockt, gar bald zur Vernachlässigung des Neuen und der Verbesserungen gebracht und wieder in den rund um sie herrschenden alten Schlendrian verfallen sein. Jetzt wären sie dagegen bei diesen völlig neuen und von allen übrigen umliegenden völlig abweichenden Verhältnissen in eine Bahn geleitet, aus der sie gar nicht wieder ablenken könnten. Die Wirthschaftseinnchtungcn ständen so fest und sicher, sie hätten so wenig Aehnlichkeit und Uebereinstimmung mit den umliegenden nationalen, die Einrichtung des ganzen Hauswesens, durch den Bau und die Emthcilung des Hauses selbst bedingt, sei so völlig von jener verschieden, daß ein Ucbcrgang zu der nationalen Lebensweise, ein allmäligcs Versinken in dieselbe völlig unmöglich sei. Allerdings würde es schwer halten, die russischen Bauern 5ur Annahme dieser fremden Wirthschaftöverhältnisse zu ver- 112 mögen, allein seine Hofswirthschaft sei eine gute Lehranstalt für sie, dort bilde sich der Uebergang; dabei sei derNnsse von Natur gelehrig nnd habe das größte Talent zur Nachahmung. Endlich sei der Nüsse ungemein klug in Allem, was ihm Vortheil bringe. Sähe er erst, daß jenes Wirthschaftssystem und das Verhältniß der Farme entschiedenen Vortheil gewähre, so würde er sich nicht weigern, dem Beispiele zu folgen! Die Sache sei aber allerdings keine Treibhauspflanze, sie müsse sehr allmählich Wurzel fassen! — Vom Umhergehen, Sehen und vielen Sprechen hungrig geworden, kam uns das Mittagsmahl sehr erwünscht. Unmittelbar vor dem Essen ward schwarzer Kaffee und Liqueur herumgereicht; eine russische Sitte, vielleicht aber von den Schweden angenommen"'), wo man ebenfalls vor dem Essen mehrere Arten von Liqueurs und irgend etwas Pikantes, den Appetit Anregendes, Käse, Kaviar, Häring u., präscntirt erhält, was man stehend genießt, und dann erst zur Tafel geht. Unser Mittagsmahl war sonst westeuropäisch, wie in allen guten russischen Häusern, doch fehlten die Nationalgerichte und Getränke, die Pirogge, der Quas und zum Schluß die Nalicki nicht. Außer der Tante aß noch der Pope des Dorfs als täglicher Gast nnd innigster Freund des Hausherrn mit uns. Am Nachmittage (17. Mai) fuhren wir nach einem etwa 3 bis 4 Werst entfernten Flecken Wclikoie-Selo (wörtlich übersetzt: das große Kirchdorf), von 17)00 Seelen oder 3000 Einwohnern^'). Grund und Boden und Einwohner waren das Eigenthum von 7 Schwestern, von denen aber 2 bereits gestorben waren.. Sie wohnten nicht hier, hatten hier keine Dckonomie und daher die Bauern auf Obrock gesetzt. Allein sie hatten nicht das einzelne Taiglo (Familie) auf eine Abgabe gesetzt, sondern den Flecken im Ganzen in der Weise eines Tributs, mit Berücksichtigung ') Diese Sitte Hal sich vmi Schwcdm nach Lievlaud nnd dem chcmali.M schwedischen Pommern derpflanzt, wo sic noch herrscht, aber sireng auf die Grenzen der schwedische,, Herrschaft beschräntt ist. ") Nach einer Notiz im Journal des Ministerii des Inmm vm, 1839. Heft 6, pnff. 739, hat der Ort a/gen 270N Seeleu oder 5400 Einwohner, lmd nur 70l) Dissätimu Land. l l.'l der Zahl dcr Seelen, der Grösie und Güte des überlassenen Bodens von Aeckern, Wiesen, Waldungen und dcr im Flecken vorhandenen Industrie (hier eine ausgebreitete Leinenfabrication). Um die Höhe dieses Tributs zu berechnen und festzusetzen, waren demnach 3 Factorcn ermittelt: erstens die mögliche Pacht des Grund und Bodens; zweitens die Zahl der Hände, denen derselbe übergeben; drittens die besonderen Hülfsmittel, welche die Einwohner besitzen, ihre Gcschicklichkeitcn und ihre Thätigkeit, womit sie bestimmte Industriezweige betreiben. Die russische Leibeigenschaft hat seit dem Eindringen westeuropäischer Cultur und Industrie in vielen Gegenden des Reichs ihre ursprüngliche Natur und Form gänzlich geändert. Ursprünglich waren nur die sehr zahlreichen Haus- und Hofleutc (Kriegsgefangene und ihre Abkömmlinge) Leibeigene, oder vielmehr Sclaven. Die Bauern waren freie Pächter, die jeden Iuriews-Tag (Georgs-Tag) die Pacht aufgeben und abziehen durften. Da jeder Thcilfürst in Rußland aber verbot und nicht duldete, daß seine Unterthanen aus sein ein Lande zogen, so war der Kreis ihres Umziehens beschränkt. Als nun das Theilfürstenwesen aufhörte und Nußland zu einer Staatsemheit gelangt war, fielen natürlich diese Schranken und es trat eine unbeschränkte Freizügigkeit der Bauern cm. Der Russe ist von je her wanderlustig und unstat gewesen; cr hat eine mächtige Vaterlandsliebe, aber wenig Heimaths-gefühl; er treibt den Ackerbau nur aus Noth, nicht aus Liebe Wie dcr Deutsche; cr scheut schwere und besonders anhaltende Arbeiten. So entwickelten sich dann aus jener unbedingten Freizügigkeit große Inconvcnienzcn und Verwickelungen. Gegenden, wo dcr Ackerbau beschwerlich odcr wenig lohnend war, entvölkerten sich gänzlich und verödeten fast. In andern, wo leichtere Arbeit, lcichtcrcr Erwerb war, an Flüfscn, in Städten tt., häufte sich dagegen die Bevölkerung unnatürlich an; daher erließ dcr Czar Boris Gudunow am 2l. November 1001 cincn Ilkas, welcher die Freizügigkeit aufhob und alle Bauern an die Scholle fesselte, die sie am vergangenen Iuriews-Tage bewohnt hatten*). Von da an kam der Bauer unter die Polizeihcrr- ') Noch jcht llagni bu> nMchcn Volkslieds dm Im'n'wstaq "Is com« Un- 8 N4 schaft der Landhcrrcn, ward aber damals doch noch nicht leibeigen; dies ward er erst allmählich seit Peter l., fast durch Zufall, ja man kann kaum behaupten gesetzlich, wie anderswo naher nachgewiesen werben soll. So lange Nußland noch ein reiner Ackcrbaustaat war, war die Leibeigenschaft der eigentlichen Bauern wenig drückend, besonders in Großrußland, wo es ehemals wenige adelige Landgüter gab, wo also der Bauer keine Frohnden that, sondern wo der Herr seinen ganzen Grund und Boden seinen in einer Gemeinde vereinigten Bauern zur uneingeschränkten Benutzung gegen eine Rente übergab, wie dies noch jetzt häufig und bei den Krongütcrn überall der Fall ist. (So viel mir bekannt ist, besitzt die Krone auch nicht ein einziges Landgut, eine Ockono-mie mit Frohndenwirthschaft in ganz Großrußland!) Hier war die Höhe der Rente wie von selbst vorgeschrieben. Der Herr konnte nur den müßigen Neinertrag erhalten; wollte er drücken und mehr fordern, so verarmten die Bauern, ihr Vieh und Wirthschafts-Inventar verschlechterte sich, verkümmerte oder verschwand ganz, der Ackerbau ging zurück und es trat Unmöglichkeit, die Abgabe aufzubringen, ein. Von der andern Seite aber forderte der Staat mit Strenge, daß der Herr für die Abgaben der Bauern an den Staat selbst einstehe, und zugleich zwang er ihn, seine Bauern zu ernähren, wenn sie selbst nichts hatten. So zwang also schon das nackte Interesse den Herrn, mild, schonend und hülftcich gegen seine Bauern zu sein. Er mußte ihnen sogar einen gewissen Inventar- und Wirthschafts-reichthmn zu erhalten suchen, sonst konnte er nicht hoffen, daß er seine Rente richtig erhielt. Dabei lebte er nicht zwischen ihnen in ihrem Dorfe. Da keine Gutswirthschaften cristirten, so lebte er in den Städten. 6r vermochte daher unmöglich die Kräfte und das Vermögen der einzelnen Bauern zu controliren, glückstag an, als den Tag der verlorenen Freiheit! Und doch rmil'te " dem Volke nur die Freiheit des Wandcrns, des Umhcrschwcifenß, c6 blieb persönlich noch frei. Ueber den Verlust der persönliche,, Freiheit dnrch dic allmähliche Einführung dcr Leibeigenschaft haben die Volkslieder nie geklagt. — Das «olk hat dies immcr für ein geriügeö Uebel angesehen. Die Gefangenschaft wird beklag«, nicht der Zwang zur Arbeit für einen HrM'« 115 er konnte ihnen nicht, wie man zu sagen pflegt, in den Topf kucken, er mußte sich also begnügen, der ganzen Dorfgemeinde einen Tribut nach Kopfzahl aufzulegen, und so bildete sich denn diese ohnehin schon kräftige russische Institution der Gemeinden ihm gegenüber noch kräftiger aus. Eine solche russische Gemeinde war demnach gleichsam eine ungemein gut und organisch ausgebildete freie Republik geworden, deren ganze Abhängigkeit nur darin bestand, daß sie einen festen Tribut an ihren Herrn bezahlte. Dieß hat sich aber jetzt geändert, und droht immer mehr und in größeren Kreisen sich zu ändern und völlig umzuwandeln, und zwar, wie gesagt, durch das Eindringen westeuropäischer Cultur und Industrie, des Fabrikwcsens, des Luxus! ^ Peter I. und seine nächsten Nachfolger legten künstlich Fabriken an; sie beriefen fremde Fabrikanten, gaben Capitalien oder Vorschüsse, und wiesen ihnen Grund und Boden für ihre Etablissements an, überwiesen ihnen aber zugleich eine Anzahl Leute, meist ein ganzes Dorf, als Fabrikarbeiter, in dem Verhältnisse, wie das der Leibeigenen zu ihrem Gutsherrn, also daß diese in und für die Fabrik arbeiten sollten, wogegen die Fabrikhcrrcn aber für Ernährung, Kleidung, Wohnung verantwortlich gemacht wurden *). Daß hat eigentlich in Nußland zuerst die Idee geweckt, daß, da alle Arbeit des Leibeigenen dem Herrn gehöre, er diese auch zu jeder Arbeit, die dem Herrn Vortheil brächte, verwenden dürfe. Vorher kannte der Herr nur zwei Arten, seine Leibeigenen zu verwenden, entweder als Bauern zum Ackerbau, oder als HauS-leute zur persönlichen Bedienung. Als nun die Industrie in Nußland, vom Gouvernement angeregt, immer nn'hr wuchs und zunahm, als der Adel vom Gouvernement selbst aufgefordert wurde, überall Fabriken anzulegen, was seit 25 Jahren wohl viel zu sehr geschehen ist, benutzte!» die Herren ihre Leibeigenen als Arbeiter in denselben in der Weise, wie dies schon früher bei den sogenannten Kronfabriken geschehen war, zuerst ihre ') Es gicl't dei'sl'lbm mxh qrgmwällig in Rußland und ich wcrde wcittr nnlcn cmc m Iaroölaw l'Mi mir bchichtt btschl'cil'm. Si? l>n't!mmnn' mä blich. unbeschäftigten Hallsleute, die aber wenigstens anfangs schlechte Arbeiter waren, deßhalb auch bald von den Bauern, was nur eben überflüssig beim Landbau war, zuletzt selbst häufig mit Vernachlässigung und Aufgeben des Ackerbaues, weil der in schlechten und mittelmäßig fruchtbaren Gegenden weniger Rente gewährt als die Fabrik. Aber bald kam man hinter das Geheimniß, daß jeder Russe ein schlechter Fabrikarbeiter sei, sobald er zur Frohndc arbeite, daß er aber ein vortrefflicher Arbeiter sei, oder werden könne, wenn er für eigene Rechnung arbeite. So gab man denn seinem Leibeigenen die Erlaubniß, sich Arbeit zu suchen, wo er könne und wolle, und legte ihm dagegen eine Abgabe auf ^). Dies ist das jetzt am meisten verbreitete Verhältniß. Es hat sich ganz natürlich und consequent ausgebildet, und man kann nicht sagen, daß die Bauern oder die gemeinen Russen im Allgemeinen darüber klagen, es sagt vielmehr ihrer nationalen Natur durchaus zu. Wie gesagt, der Ackerbau ist nicht ihr Lieblingsgcschäft, gegenwärtig aber dürfen und können sie ihn verlassen, oder den Weibern, Kindern und Alten überlassen, sie dagegen ziehen, was sie stets am liebsten thaten, als Krämer und Kaufleute, als Handwerker, als Fuhrleute (die unermeßlich zunehmende Industrie hat natürlich diese Gewerbe ungcmein in Zahl und Umfang ausgedehnt), als Fabrikarbeiter umher, specu-liren, arbeiten sür eigenen Vortheil, und geben nur ein Bestimmtes an den Herrn ab, welches denn meist auch immer wie im Schacher bedungen wird! Für die Herren, für den russischen Adel, ist dieß Verhältniß aber ebenfalls sehr bequem und angenehm. *) Mir ist es seit langer Zcil als ein Staatsfehlrr erschienen, daß mai, vor 25 Jahren die Inbustlic nnd das Fabrikwesen so nugemcm m Rllß-land angeregt hat, ohne zuvur die Verhältnisse der Leibeigenschaft zu normiven und auf ein gesetzliches Maß zurück zu führe,,, wie dieß doch mißlich ist (in Deutschland ist cö ja wirtlich geschehen), oder ohne wenigstens vorher das künftige Verhältniß bcr Leibeigenen zu dm Fabriken ins Auge zu fassen und zu rrguliren. GZ wird dieß mit jedem Tagt nothwendiger und unabweislicher, aber cö ist auch jstzt diel schwerer als damalö, und wirb mit jcdein Tage schwieriger! 117 Seit 1812 hat der weniger reiche russische Adel (bei dem sehr reichen, dem Hofadel, war es schon immer der Fall) das übrige Europa kennen gelernt, seine Genüsse, seine Comforts, so ward er unzufrieden mit dem Leben zu Hause, er begann die nationalen Sitten zu verachten, er strebte, sich das europäische Lehen in die Heimath zu verpflanzen. Das wurde ungeheuer kostbar! Zum Luzus ist er schon von je her geneigt gewesen; so verschuldete er sich dann bald unermeßlich. Seine Güter kamen zum Verkauf und in die Hände von Parvenüs, die durch Spe-culationen oder im Staatsdienste auf die schlechteste Weise zu Vermögen gekommen waren. Da wurden denn die alten Bande der gegenseitigen von Geschlecht auf Geschlecht vererbten Liebe und Treue, die allein das Leibeigenschaftsvcrhältniß menschlich oder wenigstens erträglich machen konnten, zerrissen. Die neuen Herren sahen die Leibeigenen lediglich als Mittel, als Maschinen an, die ihnen Geld erwerben sollten! Durch das Tschinwesen (Staatsdicnstwesen) wurden immer mehr Parvenüs geadelt. Eine gewisse Art von flacher moderner Cultur, eine Abglä'ttung, zu jämmerlich, um als Fortschritt in der Bildung gelten zu können, aber hinreichend um alles 6'dle und Nationale im Innern des Menschen zu zerstören, und um sogar Haß und Widerwillen gegen das nationale Leben zu erzeugen und zu begründen, verbreitete sich in stets größeren Kreisen über Rußland, und jeder, der sich diese Abglättung erworben hatte, trat in den Staatsdienst über, und erwarb dadurch den Adel, wenn er ihn nicht schon vorher hatte, und da alles äußere Ansehen wie alle reele Macht sich in dieser gefährlichen Beamtenhierarchie concentrirte, außer ihr keine Ehre, keine Macht, kein Ansehen zu erwerben war, ja man nicht einmal außerhalb ihres Kreises dem Baterlande und dem Kaiser zu dienen vermochte, so trat auch alles, was selbst zum alten Adel gehörte, m die Reihen der Beamten, und ward hier mehr oder weniger von dem dort herrschenden Geiste von Verdorbenheit derselben angesteckt. So ist eS denn gekommen, daß der Adel in Nuß' land zu einem Volke angeschwollen ist, zu einem Volke der Herren, im Gegensatze zu dem altrussischen Volke der Knechte, durch eine fremde Bildung, durch fremde Lebensanschauungen, l l6 durch fremde Sitten und Kleidung von diesem Volke getrennt, und nur durch Religion und Sprache mit ihm vereinigt! Vormals als der Adel nicht so zahlreich, als er mit dem Volke der Leibeigenen noch ein Volk bildete, durch Sitten, Bildung, Lcbensanschauungcn wenig von ihm geschieden, als die Leibeigenschaft nur noch lediglich den Ackerbau umfaßte, als die alten Dorfgemeinden noch nicht durch die sie auflösenden und zerstörenden Theilungen gesprengt waren, sie, in denen ein mächtiges Princip wahrer und geordneter Freiheit liegt, da war die Leibeigenschaft kein unnatürliches, verderbliches und unangemessenes Verhältniß, vielleicht sogar für die staatliche Entwickelung Rußlands ein nothwendiges! Gegenwärtig ist sie ein unnatürliches geworden, und es wird immer klarer, daß es nach und nach unmöglich wird, sie im gegenwärtigen Stadium zu firiren, ja überhaupt sie ferner zu halten. Jeder Einsichtige in Rußland verhehlt sich dies nicht, aber wie sie auflösen und umbilden, ohne eine große sociale Revolution hervorzurufen und herbei zu führen? Das ist die große Frage des Tags! Gegenwärtig ist die Leibeigenschaft in Nußland ein umgekehrter Saintsimonismus. Dieser fordert bekanntlich, daß man die Menschen nach ihren Bedürfnissen und Capacitate« schätze, um ihnen danach zu geben und zuzutheilen, gleichsam als die Zinsen ihres Werthcapitalö! So ist es auch mit dem russischen Leibeigenen. Er wird förmlich von seinem Herrn austarirt. Dieser spricht zu ihm: „Du hast das und das Alter, bist von der und der Leibcsbeschaffenheit und Gesundheit, hast so und so viel Leibeskräfte, Arbeitsfähigkeit und Ausdauer, hast die und die Geistesanlagen, die und die Bildung, die und die Talente, die und die Geschicklichkciten; folglich hast Du einen Capitalwerth von so und so viel." — Statt nun aber wie Saint Simon weiter zu sprechen: „Weil Du einen solchen Werth hast, so kommt Dir so viel von den Gütern der Erde zu;" spricht dagegen der ruffische Herr zu seinen Leibeigenen: „Weil Du einen solchen Werth hast, so mußt Du so und so viel verdienen, das bringst Du nur als Zinsen des in Dir steckenden mir gehörigen Capitals ein, und zahlst Du mir also!" Nach dieser kleinen Auseinanoersetzung kehren wir zu den Verhältnissen des Fleckens Welikoic-Sclo zurück. Der Ort bat die l19 Bauart eines kleines Städtchens, auch einen Bazar, und einige gute moderne Häuser, die von Wohlhabenheit der Bewohner zeugen. 65 ist hier eine nicht unbedeutende Leinenfabrikation. Die Einwohner spinnen hier nicht selbst, sondern kaufen gleich das Garn. Der Weberlohn feiner Leinewand ist ,»l6 Arschin (große Elle) l)5 Kop. Banco, und selbst eine Fran, wenn sie geschickt im Weben ist, kann mit Leichtigkeit einen Tagelohn von 1 Rubel bis 1'/, Nub. Banco (0 bis 14 Sgr.) verdienen. Ein hoher Tagclohn! und in welchen Mißverhältnissen zu dem Preise der Producte des Ackerbaues, wo in guten Jahre,! der Preis eines Tschctwert (4 Scheffel Bcrl.) Nockens gewöhnlich bis auf 5 Rub. Banco --- 1 Thlr. l?Sgr. sinkt! Wie kann der Ackerbau blühen, wie kann man fordern, daß die Leute sich mit ihm fleißig beschäftigen, wenn er eine so schlechte Rente gewährt, und man bei jedem andern Gewerbe mehr Geld verdienen kann? Hier erwirbt eine Weberin so viel, daß sie für ein einfaches Tagclohn fast 1 Scheffel Korn kaufen kann; in Bielefeld, in Westpha-len vermag sie zum höchsten 5 Sgr. zu verdienen, womit sich dort kaum '/iu Scheffel Korn anschaffen läßt!— Der Ort besihr nne gut eingerichtete Schule, deren sich der Pope angenommen hatte. Ueber Gemeindevcrfaffung und Landtheilung erfuhren wir folgendes: Ein Theil der Einwohner hat durch Lcinwandwcberci bedeutendes Vermögen und bedeutenden kaufmännischen Verkehr gewonnen, ein anderer Theil beschäftigt sich mit Ackerbau, wenige Mit Handwerken. Die GutSherrschaft hat auf diese KaufmannS-Und Fabrikations-Geschäfte Rücksicht genommen und einen höheren Obrok festgesetzt, als durch den Ackerbau allein getragen werden könnte. Hätte sie nun auf die gewöhnliche Weise von jedem männlichen Kopf eine gleiche Abgabe gefordert, so würde sie die Ärmern gedrückt haben, während die Reichen unverhäW nißmäßig wenig gezahlt hätten. Da sie entfernt war, wurde es ihr zu schwer, jeden nach seinem Vermögen zu taxiren; sie hat es daher vorgezogen, da ohnedem der ganze Ort und sämmt-I'che Leute ihr Eigenthum waren, der ganzen Gemeinde eine runde Summe als Tribut aufzuerlegen, und dieser selbst zu überlassen, die Vcrthcilung auf die einzelnen Glieder vorzu-"chmm. !20 Die Gemeinde verfährt hiebei in Folge dieser Verhältnisse ganz eigenthümlich; sie hat die ganze Summe der Abgabe auf das Land vertheilt, dies aber keineswegs in gleichem Maße unter den Gemeindegliedern ausgetheilt, sondern die Reichen gezwungen, mehr Land zu nehmen, als sie gebrauchen können und als ihnen nach gleicher Theilung zukäme, und dafür höhere Sätze zu zahlen, als es möglicher Weise durch Ackerbau verwerthen kann. Diese, welche gar keinen Ackerbau treiben, können das Land also nicht benutzen, und überlassen es für geringe Pacht, die lange die darauf ruhende Abgabe nicht deckt, an die eigentlichen Ackerbauern, oder lassen es auch wohl ganz unbestellt liegen. Die Macht der russischen Gemeinde und der Gehorsam, den sie bei ihren Gliedern findet, tritt uns überall entgegen, und wir werden noch oft Gelegenheit finden, über ihre Eigenthümlichkeit Studien zu machen. In diesem Orte ist jährlich ein bedeutender Pferdemarkt, und doch sind im Drt gewiß nicht über 59 Pferde vorhanden! - Welikoie-Selo ist ein Baucrndorf, hat aber keinen Acker. Die Einwohner machen Leinen, bauen aber keinen Flachs; es ist hier ein Pferdemarkt, aber die Einwohner haben keine Pferde! — Auf unserer Rückkehr machten wir noch einen Spaziergang durch Garten und Feld, bei welcher Gelegenheit uns unser Wirth manche interessante Mittheilungen, namentlich auch über das Verhältniß zwischen Herren und Leibeigenen, zwischen Adel und Bauer»: machte. Im Allgemeinen ist der gemeine Russe außerordentlich gemüthlich, und wenn nur der Herr brav, rechtlich nnd wahrhaft wohlwollend ist, so bildet sich meist ein wirklich inniges liebevolles Verhältniß. So lebte hier in der Gegend ein vor wenige Jahren verstorbener alter Iunggescll, cin Herr v. Archakoff, der nicht bloß bei seinen Bauern, sondern in der ganzen Gegend in einer Verehrung stand, so geliebt ward, wie man es selten findet! Er lcbte in einem kleinen russischen Hause ganz zwischen seinen Bauern, deren Wohlthäter nnd Vater in jedem Sinne er war. Er war nicht reich, theilte alK'S mit seinen Leuten, dennoch besaß er bci scmem Tode dreimal mehr Bauern, als cr ansangs 12! gehabt hatte. Wenn ein Dorf in der Gegend verkauft werden sollte, so kamen in der Regel die Bauern desselben zu ihm und baten ihn, sie zu kaufen. Erwiederte er dann, sie wüßten ja wohl, daß er kein Geld habe, so antworteten sie: „Aber Ba-tuschka (Väterchen), wenn Du keines hast, so haben wir welches, wir wollen es Dir bringen, damit Du uns kaufen kannst." — Zu ihn brachte Jedermann sein Geld in Verwahr. Er war der Friedensrichter der ganzen Gegend, und alle Streitigkeiten wurden von ihm geschlichtet. Daß unser Wirth hier überall in gleicher Weise geliebt und verehrt wurde, sahen und hörten wir, wohin wir nur kamen, ungeachtet seine Bescheidenheit es nicht zuließ, sich dessen zu rühmen. Wer konnte auch nur in sein mildes freundliches Auge blicken, und nicht überzeugt sein, wie nur die reinste Menschenliebe sein Herz innig und glühend durchbcbte! Bei seiner feinen Beobachtungsgabe, und dem langjährigen Umgänge mit den untern Classen des Volks war jede seiner Bemerkungen schlagend; leider habe ich es aber versäumt, jeden Abend niederzuschreiben, was ich gehört, und so hat sich Manches im Gedächtnisse verwischt, Manches hörte ich auch anderswo und von andern wiederholt, und vergaß dann, daß ich es auch hier schon gehört hatte. Einige einzelne Bemerkungen ohne weiteren inneren Zusammenhang will ich hier folgen lassen. Ueber den Charakter der russischen Bauern äußerte er unter andern: „Der welcher ihm zu befehlen hat, der Herr oder Vorgesetzte, muß sich hüten vor Unbesti m m theit sowohl im Handeln als im Sprechen. Der Russe will stets eine bestimmte Entscheidung haben, vorzüglich bei Streitigkeiten unter ihnen. Sie falle nun günstig oder ungünstig sür ihn, gut oder schlecht, klug oder thöricht aus, er ist dann stets zufrieden. Bei Unbestimmtheit, Unsicherheit im Befehl, ist er gleich widerspänstig und dann schwer zu zügeln. Ein resolutes: Es ist befohlen! ist für ihn ein Zauberwort, dem er nie widersteht. So angenehm jeder Auctorität ein so strenger Gehorsam sein muß, so muß man ihn doch stets an die patriarchalische Idee knüpfen. Das Volk muß in jedem Befehl nur den Be-schl des Vaters sehen; der Befehl muß aus der väterlichen Fürsorge hervorgehen und der Gehorsam aus kindlicher Liebe, dann 122 schabet es nichts, wenn der Befehl auch hin und wieder einmal unzweckmäßig; thöricht, ja selbst ungerecht erscheint; die Ehrfurcht verbietet, die Befehle des Vaters auf die Wagschale zu legen. Die Tschinofniks (Beamte) aber verderben das Volk, sie ersticken jedes Nechtsgefuhl in ihm, ihre Befehle erscheinen überall als die Willkür kleiner Despoten, niedrige Habsucht oder stolze Ueberhebung blicken überall bei ihren Befehlen durch, nirgends väterliche Fürsorge, oder auch nur väterlicher strenger und unbedingter Wille. Darum erzeugt er nur den sclauischen Gehorsam, nicht den kindlichen! Der Domainenminister Graf Kisse-leff hat den großartigen Gedanken gefaßt, den Rechtssinn beim Volke, das Gefühl für Necht und Unrecht in ihm wieder zu wecken und zu stärken. Er fand, daß das Bollwerk des Selbstgefühls und einer geordneten Freiheit die russische Gemeinde sei. Die russische Gemeinde möchte er nun heben, in ihr eine möglichst unabhängige Selbstverwaltung des Volks legen, sie von der Despotie und habsüchtigen Selbstsucht der Beamten, des Isvrawniks :c. erlösen. Die Bauern sollten zu dem Gefühl kommen, daß sie zwar ihren selbstgcwähltm Obern, den: Golowa, Starostcn, den weißen Häuptern :c. unbedingt zu gehorchen hätten, daß diese ihnen aber auch Schutz gewähren könnten, und selbst Schutz fänden bis zum Minister, ja bis zum Kaiser hinauf. Anfangs haben in diesen Gegenden die Bauern geklagt, weil ihre directen Abgaben etwas, wiewohl für den Einzelnen unbedeutend, gesteigert worden sind, allein als sie eingesehen, daß die, alle directen Abgaben bei weiten übersteigenden Plackereien der Isprawniks :c. aufhörten, oder sich doch bedeutend verminderten, gaben sie sich zufrieden. Und immer mehr, und das ist bei weitem das wichtigste! verbreitet sich der Gedanke unter ihnen, daß man Schutz und Abhülfe gegen Unrecht finden könne. Die Klagen, selbst ost persönlich übcrbracht, gehen häufig an den Minister, und es folgt jedesmal schnelle und gründliche Untersuchung und häusig sehr strenge Bestrafung. Herr v. Karnowitsch meinte, ein großer Ucbelstand sei der Mangel an kleinen Gerichten, und der für die einfachen Verhältnisse des platten Landes zu schwerfällige und beschwerlich zu erlangende Rcchtsgang. Wenn man bei schlechten Wegen 40 - 50 Werst reisen müßte, um persönlich (Advocatcn giebt es 123 nicht) seine kleinen Klagen der Justizbehörde vorzutragen, dann lasse man lieber sein Nccht im Stich, ode^ suche sich durch Ei-gcnmacht, oder sonst zu helfen, wie man könne. Es fehle an einer Institution, wie die Friedensrichter in Frankreich, und es möchte nicht eben schwer sein, überall passende Subjecte für ein solches Amt zu finden, nur dürften sie nicht in die große Kette der Beamten eingcringt werden, es dürften nur Ehrenposten sein! Der verstorbene Herr von Archakoff habe dies Bedürfniß und die Möglichkeit, ihm Genüge zu leisten, gezeigt. In dieser Gegend lebe ein Herr v. Palozoss, der das Vertrauen der Leute fast in demselben Maße wie der verstorbene Archakoff genieße, und der auch schon manche Streitigkeit als gebetener Schiedsmann beigelegt habe, und es gebe dergleichen braver Männer mehrere. Herr v. Karnowitfch erkannte auch an, daß das größte Uebel bieses Theils von Nußland sei, daß der Ackerbau zu wenig lohne, zu wenig Rente gewähre, daß daher Niemand Capitalien zur Verbesserung des Inventars, des Ackerbaues und überhaupt bcr Wirthschaft hineinstecke, weil diese keine Zinsen gewährten. Wer Capitalien oder bar Geld besäße, vergrößere seinen Grundbesitz, kauft an; es siele aber niemand ein, diesen intensiv zu verbessern. Die Verkäufe lehren, daß der Preis des Grundci-ssenthums im beständigen Steigen ist, allein nicht weil es verbessert wird, sondern weil der Andrang der Kaufcapitalien groß ist. Etwas steigen die Nevcnücn des Grundeigenthums, aber nur, weil man bei der steigenden Industrie Manches verwerthen kann, was früher keinen Preis hatte"'). Wir fanden in einem Bauerhause einen Schneider, der an einem Kaftan arbeitete, und hörten, daß es im Gouvernement eigne Dörfer gäbe, deren sämmtliche Einwohner Schneider seien. Diese zögen nun auf Arbeit umher in bestimmten Zeiten, meist im Winter. Kämen die Schneider in ein Dorf, so gingen sie von ') Vom Ettigm dcs Prciscs des Gnmdcigmlhums sollm die grösitm Beispiele auf der Siidküstc der ,Nrimm vorkommen. Wer dort vor 6N Jahren gekauft hat, kann jetzt brim Verkaufe das Füufzigfache cchaltm. Aber die Südküste dcr Krimm ist auch aus einer Wustc ein blühender 124 Haus zu Haus, arbeiteten überall, bis alles vollendet sei und das ganze Dorf in neuen Kleidern stecke; dann zögen sie weiter in ein anderes Dorf. Sie bekommen Essen und Trinken und erhalten Stückweise bezahlt, nicht in Tagelohn. Für einen grauen Rock zu nähen erhalten sie 50 — 70 Kopeken Banco (5 — 6 Sgr.) für einen blauen Kaftan 2, 3^4 Rubel Banco (1,8 Sgr. bis 1 Nhlr. 6 Sgr.). Ueberall fast fanden wir in den Bauernhäusern den Samowar zum Thee. Doch trinken die Bauern nicht eben alle chinesischen Thee, sondern häufig inländischen. Es giebt wiederum ganze Dörfer, deren sämmtliche Einwohner sich mit nichts als der Bereitung des inländischen Thees beschäftigen. Man begegnet hier wenig Leuten, die nicht ein baumwollenes Hemd tragen. Ueber die Landvertheilung in den russischen Dorfgemeinden wurden uns folgende Notizen mitgetheilt: Als Princip gilt, daß die ganze Bevölkerung einer Dorfgemeinde als eine Einheit angeschen wird, der die ganze Feldmark von Aeckern, Wiesen, Weiden, Waldungen, Bächen, Deichen :c. angehörig sei. Jede lebende männliche Seele nun hat einen Anspruch auf ganz gleichen Antheil an allen Nutzungen des Grund und Bodens. Dieser Antheil ist demnach dcm Princip nach stcts wechselnd, denn jeder, aus einer Familie der Gemcindegenossen ncugcborne Knabe tritt mit einem neuen Rechte hinzu, und fordert seinen Antheil, dagegen fallt aber auch der Antheil eines jeden Verstorbenen in die Gemeinde zurück. Die Waldungen und Weiden, Jagd und Fischerei bleiben ungetheilt, und jeder nimmt mit gleichem Rechte an ihren Nutzungen Antheil. Accker und Wiesen werden aber wirklich unter alle männliche Köpfe nach ihrem Werthe gleichmäßig vertheilt. Diese gleichmäßige Vcr-theilung ist aber natürlich eine sehr schwierige. Die Ackerfcld-mark besieht aus guten, aus mittelmäßigen, aus schlechten Grundstücken, diese liegen weit oder nahe, für den Einzelnen bequem oder unbequem. Wie ist das auszugleichen? — Die Schwierigkeit ist groß, dennoch überwinden die Russen sie mit Leichtigkeit. In jeder Gemeinde giebt es gewandte Agrimcnsoren, die traditionell ausgebildet, das Geschäft mit Einsicht und zur Zufriedenheit Aller ausführen. Zuerst wird die Feldmark nach der !25^ entfernten und nahen Lage, nach der Güte oder Schlechtigkeit des Bodens oder nach vorher gegangener vollständiger Bonili-nmg in Wannen abgetheilt, so daß jede Wanne einen einigermaßen in jenen Beziehungen homogenen Bestandtheil bildet. Dann wird jede Wanne in so viel Antheile in langen Streifen abgetheilt, als Antheilnehmer in den Gemeinden sind, und sodann unter diese verloset ^). Dieß ist das Allgemeine, aber in jeder Gegend, oft in einzelnen Gemeinden, haben sich Local-gebräuche, Abweichungen und besondere Arten festgestellt. Cß müßte sehr interessant sein, diese zu sammeln ^')! Im Gouvernement Iaroslow z. B. cxistiren in vielen Gemeinden eigne fast heilig gehaltene Vcrmessungsstä'bc. Die Länge derselben correspondirt mit der verschiedenen Güte und Qualität des Bodens der Feldmark, so daß z. B. der Vermessungsstab für daö beste Land, auch der kürzeste ist, der für etwas minder gutes, auch etwas länger, und so fort der für ganz schlechtes, der längste. Hier sind die sämmtlichen Landstriche daher von ganz verschiedener Größe, aber eben dadurch in ihrem Werthe ausge-glicheu und völlig gleich. Nir haben hier die freie russische Gemeinde im Auge gehabt, der die Feldmark eigenthümlich zusteht. Diese freien Gemeinden eMiren auch wirklich in großer Anzahl in Rußland. Alle Kosakengemeinden gehören z. B. dazu. Es macht aber 3ar kcinen Unterschied im Princip, ob die Feldmark den Gemeinden eigen thü ml ich gehört, oder ob sie bloß Besitzerin ') Nei dem Vertheilen des Landes und der Auslusung ist in der Regel die ganze Gemeinde, Weiber und Kinder versammelt, aber es herrscht die größte Ordnung und Stille. Nie kommt Streit dur, aber es herrscht auch dir größte Gerechtigkeit und Billigkeit. Glaubt man, das? der Antheil des einen etwa zu schwach ausgefallen sei» möchte, su wird ihm aus dem Reservefond zugelegt u. s, w. ") Der Minister Kisselcff hat im Gouvernement Woroncsch an einzelnen Orten eine Vermessung und Bonitirung durch wissenschaftlich gebildete Feldmesser und Taratoren vornehmen lassen, und die Vergleichung hat ergeben, daß die Vermessung nnd Nonitirung dieser Gemcindragrimen-soren mit jener nach wissenschaftlichen Grundsätzen vorgenommenen dis auf I bis 4 Prorente stimmtt, und wer weisi, wer hicdei am l!mdc Recht hatte! 126 wie bei den Krongcmeinden, oder auch nur Inhaberin wie bei den leibeigenen Gemeinden ist. Das Princip der gleichen Theilung nach Köpfen ist das ursprünglich slavische, es geht aus dem ältesten Rechtsprincip der Slaven, dem des ungctheilten Familiengesammtbesitzes und der alleinigen jeweiligen Theilung der Nutzungen hervor, und fand sich vielleicht bei allen slavischen Völkern, findet sich auch noch vielleicht gegenwärtig in Serbien, Kroatien, Slavonien :c., wo hin und wieder nicht einmal eine jährliche Theilung des Landes vorgeht, sondern wo die Bestellung des Landes von der Gemeinde unter Leitung „ihrer Alten" gemeinsam geschieht, und erst die Ernte unter die Gcmeindeglieder gleichmäßig vertheilt wird. Dies Princip gilt auch in Rußland selbst bei leibeigenen Bauern, die, wie früher in Großrußland allgemein, gegenwärtig aber doch noch in der Mehrzahl auf Obrok (Gcldabgaben) gesetzt sind. Es findet aber eine Modification statt bei solchen, die auf Frohnden gesetzt sind. Die älteste Form der Frohndcn-wirthschaft, und noch jetzt die, womit man in Großrußland gewöhnlich anfängt, wenn man, meist gezwungen, weil die Bauern den Obrok nicht mehr aufbringen können, eine eigne Gutswirthschaft anlegt, ist, daß man einen Theil der Feldmark, meist '/< oder V» des Ackerbodens, ausscheidet und für gutshcrrliches Land erklärt. Die Bauern behalten dann das übrige ^ oder ^ zu ihrer Benutzung und Ernährung, und müssen dagegen das gutsherrliche Land vollkommen frei bestellen, d. h. bedungen, pflügen eggen, besäen (wozu jedoch die Herrschaft die Saat giebt), einernten, zum Verkauf verfahren, alles auf ihre eigne Kosten. In dieser rohen Form hat der Gutsherr noch gar kein Wirthschafts-inventar, kein WirthschaftSpersonal, nicht einmal einen Verwalter (der Dorfstarost versieht gewöhnlich dessen Dienst), keinen Gutßhof, vielleicht nur eine Scheuer und eine Riege. Die Bauern geben in diesem Verhältnisse keine Abgaben, sondern thuen Frohnden, die durch die nöthigen Arbeiten jenes '/, oder '/4 des Bodens bemessen sind. Um Mißbräuchen zu steuern, hat das Gouvernement ein für allemal festgesetzt, daß die Frohnden in keinem Falle 3 Tage in jeder Woche übersteigen dürften. Diese Frohndenwirthschaft wirkt nun auch maßgebend auf 127 die Landtheilung in dcr Gemeinde. Bei der Obrokverfassung erhält, wie gesagt, jeder männliche Kopf gleichen Antheil (der Vater nimmt ihn für den unmündigen Knaben) an Grund und Boden, aber jeder männliche Kopf muß dagegen auch einen gleich hohen Antheil der Abgaben (deß Obroks) übernehmen. — Bei der Frohndemvirthschaft können natürlich die Knaben und ganz Alten nicht arbeiten, also auch nicht die Lasten tragen, d. h. nicht die Frohndcn thuen. — Diese können daher auch keinen Anspruch auf den Grund und Boden machen, der den Leuten als Aequivalent für die Frohnden überlassen ist. Es muß daher ein anderes Princip dcr Landtheilnng eintreten. Diese geschieht demnach hier nach Taiglos. Der Begriff des Wortes Taiglo steht nicht ganz fest, wenigstens läßt sich das Wort nicht übersetzen. Man kann nicht sagen, daß es bloß cm Ehepaar, aber auch nicht, daß es eine Familie bedeutet, der Begriff steht in dcr Mitte. Z. B., ein Bauer hat einen unvermögenden Vater, einen erwachsenen Sohn, und mehrere unmündige Kinder, so bildet das Ganze nur einen Taiglo, braucht nur eine einfache Frohnde zu leisten und erhält nur eine Landportion. Nun hcirathet aber sein Sohn, bleibt jedoch beim Vater in dessen Hause und Wirthschaft sitzen; dennoch bildet die Familie nunmehr zwei Taiglos, uuiß eine doppelte Frohnde übernehmen, erhält aber auch zwei Landportionen. Die Verhcirathung gehört demnach stets zum beginn dcr Bildung eines Taiglos, und zur Heirath drängen daher die drei verschiedenen Parteien, die dabei concurriren, nach ihren verschiedenen, oft verwickelten oder complicirten Interessen. Der Gutsherr hat in dcr Regel ein vorherrschendes Interesse, so viele Taiglos zu haben als möglich. Wenn jedoch sein Landbesitz gering ist, so könnte ihm eine Ueberfülltmg seiner Frohndegcmeinde lästig werden, er würde dann mehr Arbeitskräfte haben, als er zu consumiren vermag, und würde, wenn die Land' Portionen zu klein aussielen, dergestalt, daß sie nicht davon leben Und existiren könnten, Land zukaufen oder dem Neberschusse der Bevölkerung eine andere Lebcnsexistenz verschaffen müssen. Die->kr Fall wird jedoch gegenwärtig kaum eintreten, cr würde bei der überall verbreiteten Industrie die UcberzähUgen einem Fabrikanten als Fabrikarbeiter überlassen oder sie auf Obrok 128 setzen und ihnen Pässe geben, um als Arbeiter, Handwerker, Krämer, Fuhrleute lc. auszuwandern. Aber auch die Gemeinde kann Interesse für die Bildung eines Taiglos haben. Hat sie hinreichenden Grund und Boden, etwa mehr, als die bisherigen Gemeindeglieder mit eigenen Kräften und mit Bortheil zu bebauen vermögen, so ist jeder Zuwachs an Arbeitskräften, also an Taiglos, ein barer Gewinn für die Uebrigcn, deren Frohnden dadurch vermindert werden. Endlich haben die Familienväter selbst meist das größte Interesse, daß ihre Söhne heirathen und neue Taigloß bilden. Es ist nämlich russische Sitte, daß so lange der Vater, das Familienhaupt, lebt, die verheiratheten Söhne im väterlichen Hause keine besondere Familien, keinen abgesonderten Haushalt bilden^). Jede Heirath ist daher der größte Gewinn des Familienhaupts, er gewinnt dadurch einen neuen Landanthcil, und wenn er auch eine Frohnde mehr übernehmen muß, so wird dies völlig dadurch ersetzt, daß er in der Schwiegertochter noch eine Arbeiterin mehr erhält. Der Einzug einer Schwiegertochter ist daher, und wäre sie auch arm und hätte nichts als ihre gesunden Arme, stets ein willkommener Segen für die Familie. (Auch ein Moment mehr für die schon oben angeführte günstige Stellung des weiblichen Geschlechts, hier selbst in den tiefsten Schichten des russischen Volks!) Diese zusammen fallenden Interessen begünstigen deshalb *) Eine zahlreiche Familie ist nirgends ein größerer Segen, als bei den russischen Bauern! Die Sühne erwerben dem Familimhcmvte stets neue Landanthcile, die Töchter sind eine so gesuchte Waare, daß man kaum eine Mitgift verlangt, ja vielleicht noch dafür zahlen möchte. In Westeuropa ist für die niedern Stände die größte Last und Plage, viele Kinder zn haben, in Rußland bilden sie für den Vanern den größten Reichthum! Daher auch die grüße Zunahme der Bevölkerung in Nußland, die noch viel grüßer sein winde, wenn die Müder nicht durch große Verwahrlosung in, Essen, Trinken, Pflege und Aufsicht gleich in den ersten Jahren dem Grabe geopfert würden. Die russischen Ghcn sind ungemein fruchtbar, 10 bis 12 Kinder sind das Gewöhnliche, aber kaum ein Drittel erreicht das mündige Alter! 129 nngemcin das Heirathen, und Ehelosigkeit ist daher bei den gemeinen Nuffrn beinahe unerhört. Dieses Drängen zu frühen Heirachen hat bis noch in neueren Zeiten hin zu ^ganz eigenthümlichen Mißbrauchen Veranlassung gegeben. Die Knaben werden so früh vcrheirathct, daß Wichelhaus in seiner Beschreibung Moskau's erzählt, cr habe häusig kräftige Weiber uon 24 Jahren gesehen, die ihre angetrauten Ehemänner (oder Ehe-Männchen!) von tt Jahren auf den Armen umhergetragen "'), Das Gouvernement hat, wie ich hörte, in neueren Zeiten die Trauungen vor dem achtzehnten Jahre des Mannes definitiv verboten, und gegenwärtig scheint dieser Mißbrauch sich verloren zu haben. Die hier angedeuteten Verhältnisse bilden die Grundlage«: der russischen Gemcindcverfassung, eine der merkwürdigsten und interessantesten politischen Institutionen, die es giebt! Sie bietet unläugbar für die inneren socialen Zustände des Landes unermeßliche B.ortheile. In den russischen Gemeinden ist ein organischer Zusammenhang, es liegt in ihnen eine so comvacte sociale Kraft und Ordnung, wie nirgend wo. Sie gewähren in Nußland den unermeßlichen Vortheil, daß dort bis jetzt kein Proletariat ist, und sich auch nicht" bilden kann, so lange die Gemeindevcrfas-sung besteht! 6s kann jemand arm werden, er kann persönlich alles verschwenden, das schadet seinen Kindern nichts, die behalten oder erhalten deßhalb doch ihren Gcmc-indcantheil, denn sie leiten ihr Necht nicht von ihm her, sondern fordern ihn aus eigenem Necht vermöge ihrer Geburt als Geincindegon offen, sie erben also seine Armuth nicht. Von der andern Seite muß man aber auch cingestehcn, daß in den Grundlagen dieser Gemeindcvcrsassung, in der gleichen ') Bei diesen frühen Heiralhen, wo einem Knaben, einem Kinde, ein juw grs mannbares Weib angetrauet wurde, einwickelte sich meistens und fast in der Regel ein skandalöses Verhältnis!. Der Schwiegervater nämlich lebte dann mit der Schwiegertochter im ssmnnbinat. Da sich dieses von Generation zu Generation fortsetzte, so lann man eigentlich nichl sagen, das? cS Blutschande war, War der Knabe erwachsen, so war dic angetraute Frau längst ein alteS Weib, mit der cr dan» nicht lebte, sondern wie srin Vorgänger mit dem Weibe deß sechsjährigen Sohnes, stiner angttraulm Frau :e. 9 130 Landtheilung nicht die Bedingungen des Fortschrittes der Lan-descultur liegen, dieser Fortschritt wenigstens sehr erschwert wird. Der Ackerbau nnd alle Zweige der Landwirthschaft möchten doch wohl dadurch lange auf einer niedrigen Stufe festgehalten bleiben. Db wohl diese Verfassung bestehen bleiben wird, wenn die intellektuelle Cultur bedeutende Fortschritte unter dem Landvolke in Nußland machen sollte? — Wer vermag das zu entscheiden! Die intelligenten Landwirthe, wie z. B. Herrv.Kar-nowitsch, äußern sich in dieser Beziehung ungünstig und meinen, der Ackerbau könne, wenn das Princip streng zur Anwendung komme, nicht fortschreiten. Allein dies ist eben der Punkt, worauf es ankommt, das Prinzip kommt schon lange nicht mehr in seiner vollen Conscquenz in Anwendung, ungeachtet es keineswegs irgendwo aufgegeben ist, es unterliegt naturgemäßen, bequemen, und vorthcilhaftcn Modificationen. Die russischen Bauern haben in ihrer Totalität viel zu viel natürlichen und praktischen Verstand in dein, was die reellen Interessen betrifft, vielleicht mehr als andere Nationen! Sie haben längst eingesehen, welche Nachtheile und Inconvenienzen die strenge Befolgung des Systems mit sich bringe. — Als ich Herrn v. Karnowitfch die Fragen vorlegte, ob denn wirklich irgendwo jährlich das Land neu unter die Gemcmdcglieder vertheilt würde? verneinte er dies auf das Bestimmteste, und dies ward mir auch von vielen andern Seiten, wo ich diese Frage vorlegte, bestätigt. Es mögen mannigfache Modifikationen in den verschiedenen Theilen Nußlands vorkommen, in diesen Gegenden und wahrscheinlich im ganzen Gouvernement Iaroslaw wird auf folgende Weise verfahren. Bekanntlich werden nach gewissen Zeiträumen in Nußland Volkszählungen zum Behuf der Rcgulirung der Kopfabgabcn und Rekrutenstellung angeordnet. Sie heißen Revisionen, und es sind ihrer seit Peter I,, seit also etwa 1-i0 Jahren, acht gewesen. Für diese Zeitabschnitte gilt denn auch die Vorschrift, daß im Nevisionsjahrc eine neue Landvcrtheilung in den Gemeinden vorgenommen werden müsse. Wäre dies nicht Vorschrift, so würden die Bauern, wenigstens in dieser Gegend, selbst in solchem Jahre eine neue Theilung nicht vornehmen, denn wie unbequem sie ihnen ist, wie unvorthcilhaft sie ihnen 131 scheint, geht aus dem Beinamen hervor, den sie ihr beilegen, sie nennen sie nämlich 'l'8«K, Gartenmeliorationcn . . . 500 „ 7) Das Vieh- und Hofinventarmm..... l>000 „ K) Die Wirtschaftsgebäude....... «000 „ 4(i,000 ch Wenn hievon die Nummern 1, 2 und 3 im Werthe von 30,000 „^ jeden Augenblick mir genommen werden könnten, so riskire ich, die Positionen 4, 5 und 6 oder 4000 ,H gänzlich zu verlieren, und an den Positionen 7 und 8 im Werthe von 12,000 »f einen nicht berechenbaren Schaden zu erleiden. Solche Berechnungen finden in Rußland nicht statt, in den ^33 mittleren Gegenden des Reichs, in dem Lande der schwarzen Erde, ist die Fruchtbarkeit so groß, daß der Boden nie gedüngt wird, es wird nur einmal gepflügt, oft die Erde kaum aufgeritzt. Also fallen das Capital der Gaile und des Pstuglohnes beinahe ganz weg, und auch das der Einsaat ist, wenn man bedenkt, daß ein Berliner Scheffel Korn in wohlfeilen Jahren 12 Sgr. kostet, nur von geringem Belange. Wiescnmelioratio-nen und Obsibäume eMircn fast nirgends. Schäfereien cristi-ren bei den Bauern höchst selten, die Nmdvichzucht ist gering, die Pferde sind wohlfeil. Wenn man bedenkt, daß im Gouvernement Iaroslaw der gewöhnliche Preis für ein gutes Bauer-Pferd 50 bis 00 Rubel Banco (^- 13 bis 18 ^) ist, so läßt sich wohl überschlagen, welch geringes Capital im Wirthschaftsinventarium steckt. Die Häuser kosten dem russischen Bauern fast nichts. Das Bauholz hat er im Gemeindewaldc umsonst, jeder Bauer zimmert und bauet sich das Haus allein und vollständig auf, ein solches Haus kostet ihm nicht 5 ^ baar Geld! -— Wenn also in Deutschland bei WcrthsclMung des Grund und Bodens, außer dem nackten Boden noch ein nicht unbedeutendes Capital für Inventar und Meliorationen in Berechnung kommt, so ist dies im größern Theile Nußlands fast gar nicht der Fall. Es ist daher in Nußland die Stabilität der Benutzung des Grund und Bodens lange von der Bedeutung nicht, wie im übrigen Europa. Ueberhaupt hat der Grund und Boden in den meisten Gegenden Nußlands an sich nur geringen Werth. Er ist hier nur die Grundlage für den menschlichen Fleiß; daher lauteten bis vor wenigei» Jahren alle Kaufcontracte, Schenkungen, Testamente nur auf Bauerfamilien. Man verkaufte, vertheilte :c. so und so viel Bauern in dem Dorfe N. Der Grund und Boden war nur ein Annerum der Menschen! Ob der Grund und Boden an intensivem Werth gewinnen, Und deshalb im Preise steigen wird, ob, mit andern Worten, die Cultur des Ackerbaues fortschreite, ob dieser blühend werden ^nd, ist für Nußland eine Frage der Zukunft, ich fürchte aber, sle wird in der nächsten Zeit sich nicht günstig stellen. Ich l)abc schoi, oben angedeutet, daß in Rußland der Ackerbau und "le Fabrikgcwcrbe in einem disharmonischen Verhältnisse stehen. 134 Der Ackerbau wird nie blühen, so lange er cine solche geringe Rente gewährt, lind er wird so lange eine gringe Ncnte gewähren, bis man das künstlich hervorgerufene Fabrikwesen auf seine naturgemäßen Grenzen zurückgeführt hat, oder bis die Bevölkerung so gestiegen, daß ein Ueberfluß von arbeitenden Händen vorhanden ist. Im übrigen Europa consmnircn die Fabriken nur diejenigen Arbeitskräfte, die beim Ackerbau nicht mehr verwendet werden können und dort überflüssig sind. In Rußland wenden umgekehrt nur diejenigen Arbeitskräfte sich dem Ackerbau zu, die bei den Fabriken und Gewerben überflüssig sind, oder als unbrauchbar abgewiesen werden! Die russische gleichmäßige Landverthcilung unter die Gemeindeglieder ist demnach, nach unserer Ueberzeugung, dem ganzen socialen wie dem jetzigen Culturzustand durchaus angemessen, allein sie hat auch keine dem Fortschreiten an sich widersprechende Bedingung in sich. Man lasse nur die russischen Bauern gewähren, man zwinge sie nicht einmal im Ncvisionß-jahre zur „schwarzen Theilung!" sie wissen selbst am besten, was ihnen frommt, sie haben schon von selbst nützliche Modificatio-nen des Princips eintreten lassen, und werden ferner die nöthigen finden *)! Wenn man irgendwo vor zu vielem unnöthigem Negieren warnen möchte, so wäre es wohl hier. In Bezug auf den Besitz des Grund und Bodens sehen wir gegenwärtig in Europa drei Principe neben einander bestehen. Sie sind in drei Ländern scharf ausgesprochen, in den übrigen Ländern eristiren sie mit Modifikationen und Verschmelzungen. In England herrscht das Princip: Der Boden muß so wenig getheilt sein als möglich, und dem Ackerbau dürfen sich nur so viele Hände widmen, als unumgänglich nöthig sind, nur dann *j Ich fand, wie später näh«' angeführt werden soll, im Gouvernement Saratow die deutschn: (t,,'l»mm. Diese h,it die Vererbung des Grund und Bodens nach deutschen Gebräuchen und Rcchtsauschauungcn mit nach Nußland gebracht, sie war ihnen vum Gouvernement nicht bloß gestattet, sondern statutarisch vorgeschrieben worden. Sie habcn aber ft lange sollicitirt, bis man ihncn gestattete, das russische Prmrift der gleichen Landtheilung m den Gcmemdni anzunehmen, so überwiegend vor-«heilhast fiir ihre ssonservation fan, rs ihnen vor! 135^ wird man ihn nnt Kraft fördern und in Blüthe erhalten. Das ganze Land ist dahcr durch große (wenn auch nicht übergroße) Gutöwirthschaften angebaut. — Diese haben das Gute, daß sie allen dabei beschäftigten Händen das ganze Jahr hindurch Arbeit gewähren. Es geht kein Arbeitscapital von Menschen-kräftcn verloren! Nur auf größeren Gutswirthschaften können füglich und mit Vortheil Meliorationen mit Kraft und nachhaltig angelegt und erhalten werden. Die Folge dieses Systems ist, daß vcrhältmßmäßig mrgcnds eine so hohe Cultur herrscht, der Ackerbau so blühet, als in England. Nirgends ist ein vcrhältnißmäßig so. ffarkcr Wichstand, wird also so viel Dünger vroducirt und kötzicn die Felder zu so hoher Cultur hinaufgeschraubt werden, als hier. Kaum ein Drittel der Bevölkerung Englands beschäftigt sich mit Landwirthschaft. Aber nicht der zehnte Theil der Bevölkerung in England hat irgend einen Grundbesitz oder auch nur ein Haus. Viu der Bevölkerung sind demnach Proletarier, wenn auch sehr reiche Leute, selbst Millionaire, unter diesen sein möchten. Die Gefahren, welche diese Verhältnisse dem socialen Zustande Englands drohen, wird Niemand verkennen! Das zweite Prinzip wird von Frankreich revräsentirt. Es hat sich erst m Folge einer ungeheuren Revolution dort ans-gebildet und consolidirt. Es stellt als Grundsatz ans: Der Ackerbau ist ein freies Gewerbe, aller Grund und Boden muß daher theilbar sein, Jedermann muß ihn frei erwerben können, mit andern Worten: der Grund und Boden muß eine Waare sein, er muß wie Scheidemünze von Hand zu Hand gehen. — Das Land ist in Folge dessen in unzählige kleine Besitzungen zerschlagen. Wenn man in England etwa 400,000 Besitzungen rechnen könnte, so müßten nach dem Verhältnisse der geographischen Ausdehnung in Frankreich etwa 1,400,000 sein; es gab deren aber 1831 daselbst nicht weniger als 10,404,12!, also 26 mal mehr! Ueber V-, dcr Bevölkerung beschäftigt sich mit dem Ackerbau. In Beziehung auf die Folgen hievon will ich eine Anekdote anführen, die der englische Nciscnde Arthur Ioung "zählt, und die ihm selbst vassirt war. Es begegnete ihn, in Frankreich alts dcr Landstraße ein Bauer, der 4 Hühner trug; ">>f die Frage, wohin er wolle, antwortet dcr Bauer, er wollc nach der 4 Limes entfernten Stadt gehen, uin seinc Hühner zu verkaufen. Ioung ftagt ferner, wie viel er für die Hühner zu erhalten hoffe? Antwort: Vielleicht 24 Sous. Frage: Wie viel Tagelohn er denn erhalte, wenn er bei Jemandem arbeite? Antwort: Auch 24 Sous. Frage: Warum cr denn nicht lieber zu Hause bliebe, wo er doch 24 Sous verdienen und seine 24 Sous Werth habenden Hühner behalten und allenfalls selbst essen könne? Antwort: Er erhalte allerdings 24 Sous Tagelohn, wenn er arbeite, allein er finde keine Arbeit! In seinem Dorfe habe cm Jeder Haus, Garten und einen Streifen Land; das beschäftigtste kaum den vierten Theil des Jahres; sie hätten nur unMeutende Nebengcwerbe, Niemand hätte daher einen Arbeiter zur Hülfe nöthig und möge ein Tagelohn ausgeben!-^ Die Anekdote gewährt uns einen Blick in die Verhältnisse Frankreichs. Der zu geringfügige Ackerbau beschäftigt die Menschen, wenn sie keine Nebcngcwcrbe finden, das Jahr hindurch keineswegs hinreichend. Es ist dann ein großer Verlust an Arbeitskräften vorhanden. Der zu kleine Ackerbau gewährt auch zu wenig Kräfte und Vermögen, um bedeutende und dauernde Meliorationen hervorzurufen. Gartencultur (Spatencultur) kann blühen, der Ackerbau nicht; es fehlt an Vieh, folglich an Dünger, der Grundlage jedes Fortschritts. Darum sagt auch Arthur Ioung sehr richtig: In Frankreich bebauet man den guten Boden vortrefflich, den mittelmäßigen selten, den schlechten gar nicht. Vergleicht man nun Frankreich mit England, so kann es sich, trotzdem daß es durchschnittlich bessern Boden hat, in Bezug auf Ackerbau und Cultur durchaus nicht mit diesem Lande messen. Wenn in England fast die Hälfte des cultivirten Bodens dem Unterhalte des Viehs anheim fällt, ist dies in Frankreich kaum mit dem zehnten Theile der Fall. Welche intensiven Kräfte diese Zahl und Masse des Viehs der Cultur des Bodens gewährt, ist einleuchtend. Die ganze Consumtion aller Nahrungsmittel besteht daher auch in England zur Hälfte aus Fleisch, in Frankreich nur zu '/.. Nach dem Ministerialraftport von 1812 konnte man auf die Landbewohner in Frankreich swi-Kopf kaum IN Pfund Fleisch für das Jahr rechnen, in England aber rechnet man nicht weniger als 220 Pfund. England ist in Be,M auf Ackerbau und Landcultur viel !37 blühender als Frankreich, allein Frankreich hat weit weniger Proletarier. Die Proletarier sind jedoch in Frankreich bei weitem energischer und gefährlicher, als in England. In England ist eine strenge Schranke zwischen den Besitzenden und den Nichtbcsitzendcn; die Letzteren haben, so lange noch ein gesetzlicher Zustand besteht, keinen Anspruch und keine Hoffnung, einen Besitz zu erwerben. In solchem Falle beruhigen sich die meisten Menschen leicht; nach Unerreichbarem strebt man selten! In Frankreich ist die Bahn, einen Besitz zu erlangen, völlig offen und frei, es ist der Preis von Anstrengung/^Kühnheit, Glück, darum drängt sich ein Jeder dazu, und es HMißl beständiges Schwanken aller Verhältnisse sichtbar. In GWand steht Armuth und Reichthum ziemlich ruhig, wenn auch drohend neben einander, in Frankreich stehen sie im offenen Kriege einander gegenüber! Deutschland steht in der Mitte zwischen England und Frankreich. Es hat weder das System der völligen starren Gebundenheit und Untheilbarkcit des Grundbesitzes Englands, noch der losen Ungebundenheit und völligen Thcilbarkeit alles Grund und Bodens Frankreichs. Die größeren Güter sind hier meist untheilbar, theils gesetzlich, theils nach Gewohnheit. Bei dem kleinen Grundbesitz ist es nach den Gegenden verschieden; in einigen Gegenden ist er eben so ungebunden und thcilbar als in Frankreich, in andern ist er theilbar, aber nur unter den Gememdegcnoffcn; wieder in andern ist ein Theil thcilvar, ein anderer aber in geschlossenen Bauerngütern untheilbar, und abermals in andern (jedoch selten!) ist alles unthcilbar. Uralte Gewohnheiten, die verschiedenen Regierungsgrundsätze in den verschiedenen Ländern, die Beschaffenheit des Bodens, die Verschiedenheit des Anbaues, die natürlichen und sich allmählich bildenden Interessen haben diesen Zustand hervorgerufen und ausgebildet, und er ist im Ganzen ein günstiger zu nennen. Die Landwirthschaft steht nicht auf einer im Allgemeinen so gleichmäßig hohen Stufe, als in England, aber viel höher als in Frankreich. Proletarier giebt es nur in den Städten, auf dem Lande wenig. Das dritte Prinzip wird von Nußland repräsentirt. Frank-"'ch stellt das Prinzip der Theilbarkeit des Bodens auf. Ruß- -5 ^^ land geht viel weiter, es theilt ihn beständig. Frankreich stellt das Prinzip der freien Concurrenz auf, es will allen Grund und Boden als Waare angesehen wissen, die Jeder für Geld lc. erwerben kann; Rußland räumt jedem seiner Kinder das 3t echt ein, Theil an den Nutzungen des Grund und Bodens zu nehmen, und zwar in jeder Gemeinde ganz gleichen. In Frankreich ist der Grund und Boden reines Privateigcnthum des Einzelnen; in Rußland ist er Eigenthum des Volks und dessen Mikrokosmus der Gemeinde, der Einzelne hat nur ein Recht auf die jeweiligen Nutzungen gleich jedem Andern. Daß bei diesem Syüem nicht eine so hohe Stufe der Cultur des Grund und Boden? zu erreichen ist, wie in England oder selbst in Deutschland, ist einzuräumen; aber die Stufe, die Frankreich dagegen erreicht hat, kann es unserer Meinung nach erreichen, wenn einige andere Bedingungen der socialen Verhältnisse erfüllt und gewisse Hindernisse aus dem Wege geräumt würden, wie wir oben angedeutet haben. Faßt man die hier mehr angedeuteten als im Detail untersuchten socialen Verhältnisse Nußlands ins Auge, so müssen uns die merkwürdigen Verglcichungspunkte auffallen, die sich mit den erträumten Verhältnissen darbieten, wie diese sich die modernen politischen Secten, namentlich die Saint-Simonisten und Communistcn, als die höchste Entwicklung des menschlichen Geschlechts ausgedacht haben. Streng wissenschaftliche Männer verachten die diesen Doctrinaire« zum Grunde liegenden philosophischen Ideen als roh und stach. Praktische Staatsmänner nennen sie unreife Träumereien, die an jeder praktischen Ausführung scheitern müßten, aber allerdings dazu gemacht seien, um jugendliche oder bornirte Gemüther und Geister zu verführen und die Massen revolutionär aufzuregen, und in sofern gefährlich. Man habe also nichts zu thun, als sie mit Gewalt niederzuhalten. Wir sind nicht dieser Meinung. Das Hervortreten dieser Ideen liegt durchaus in der natürlichen Entwickelung des menschlichen Geistes, des Standpunktes unserer Cultur und der zeitlichen Bildung unserer socialen Zustände. Sie sind die äußeren Zeichen einer tief eingreifenden Krankheit dieser letzteren, aber keineswegs die Krankheit selbst, Die Natur der mensch' 1W lichen Gesellschaft fühlt diese Krankheit, möchte sich selbst helfen, tappt nach Heilmitteln umher, und da scheint ihr selbst Gift ein heroisches aber kräftiges Mittel! Die Ideen, welche von diesen Theoretikern, diesen vagirenden Staats-Heilkünstlern für gewöhnlich geäußert werden, sind allerdings so allgemein, so ordinair und platt, so durchaus nicht neu und frappant, schon in alten Zeiten und wiederholt geäußert; die Mittel, welche sie zur Heilung des Staatskörpers anempfehlen, sind so gewaltsam und doch so wenig angelnessen, so der gesunden Vernunft widersprechend, die hierbei gar leicht einzusehen vermag, daß, wenn man die Rathschläge befolgen wollte, alles Mögliche daraus eher sich bilden würde, als ein neuer, gesunder, socialer Zustand der Völker, daß man ihre zunehmend rasche Verbreitung und ihre beginnende große überwältigende Kraft auf die Massen der Völker nur mit ängstlichem Erstaunen anschaut! Woher diese Kraft und diese Macht auf die Gemüther? — Zurrst, weil, wie gesagt, die socialen Verhältnisse der Völker mit der Bildung und den herrschenden Gedanken in Disharmonie gekommen, völlig zerrüttet sind; dann aber auch, weil in den oben bezeichneten Doctrine« Wahrheiten verborgen liegen, die sich nothwendig Geltung verschaffen müssen! Nicht das Lügnerische, Schlechte, nicht einmal das den Sinnen und niedrigen Leidenschaften Schmeichelnde ist es, was diesen Doctri-ncn einen solch mächtigen Eingang verschafft, sondern das Wahre und Gerechte, das unter der Jämmerlichkeit und Schlechtigkeit verhüllt liegt und hervorbricht, ist es, was die Menschen verführt, hinreißt, bezaubert! Der Teufel verführt in seiner eigenen scheußlichen Gestalt Niemanden, aber wohl, wenn er sich in einen Engel des Lichts kleidet und Wahrheit predigt, aber aus falschen Principien hergeleitet, oder falsche Schlüsse darauf bauend. — Die Secten des 16. Jahrhunderts, wenn sie sich auf das politische Gebiet wagten und sociale Umwandlungen erstrebten, wie z. B. die Wiedertäufer, die Puritaner u., bencheten alle "uf mißverstandenen und falsch angewandten Lehren des Christenthums. Die modernen politischen Secten sind trotz ihrem hochmü-htgen Lossagen vom Christenthume, trotz ihrem neuerdings zur 1^0 zur Schau getragenen atheistischen Haffe gegen dasselbe doch im tiefsten Grunde nichts als Carricaturen eben dieses Christenthums! Ihre Hauptlehrcn, die Gleichheit aller Menschen, die Gemeinschaft der Güter :c., sind es nicht mißverstandene christliche Ideen? Wir wollen hier eine kurze Charakteristik derjenigen Doctrin geben, welche die Grundlage der folgenden geworden, und deren philosophische Grundsätze, wiewohl mit verschiedenen und mannigfachen Consequenzen, alle neueren Doctrinen durchdringen, nämlich die Lehre Saint-Simons. Das letzte Philosophen» des vorigen Jahrhunderts, das der Jakobiner, hatte die vollkommene Gleichheit aller Menschen in Bezug auf den Rechtsanspruch an die Güter der Erde behauptet. Sie verwechselten das christliche Gesetz für Jenseits, die Gleichheit vor Gott, mit dem Gesetze für Diesseits. Sie vergaßen, daß schon der allermatcriellste Anspruch an das irdische Gut, der verschiedene Appetit zum Essen und Trinken, die Verschiedenheit und Ungleichheit der Ansprüche nachweiset; dann, daß der Werth der verschiedenen Dinge, z. B. Land und Geld, Früchte und Thiere :c., nur etwas Conventionelles ist; daß ferner, da sie das Eigenthum des Einzelnen und also den Erwerb nicht abschaffen wollten, die Ausführung einer gleichen Theilung schon dadurch unmöglich gemacht ist. Die Auflehnung der jakobinischen Lehren gegen die von Gott gegebene Ordnung der Natur, gegen das Gesetz der Ungleichheit ist aber mehr negativer Art; sie leugnen nur das Bestehen dieses Gesetzes und wollen die Natur corrigirm. In eine viel tiefere Opposition gegen Gott und das Naturgesetz traten die Saint-Simonisten. Wenn die Lehre des Christenthums sagt: die Welt, die Erde ist das Eigenthum Gottes; nicht aus eigenem Rechte also, sondern nur als Kinder Gottes haben die Menschen den Nießbrauch der Güter dieser Welt, aber nach von Gott in die Natur gelegten Gesetzen und der sich durch die Weltgeschichte ausspre-chendcn Leitung Gottes; wenn die Jakobiner sagen: das, was Ihr Naturgesetze und Leitung Gottes in der Weltgeschichte nennt, ist nichts und wesenlos, und nicht zu beweisen, so wenig wie Gott selbst; die 14 l Ungleichheit unter den Menschen beruht nicht auf solchem un-mviesenen Naturgesetze, sondern ist bloß durch die Willkür einzelner Menschen (der Tyrannen) entstanden; wir aber wollen jetzt das wahre und ursprüngliche Gesetz, wonach alle Menschen unter einander gleich sind und gleiche Ansprüche auf die Güter der Erde haben, wiederherstellen; so sagen dagegen die Saint-Simomsten: die Lehre der Jakobiner ist völlig falsch; der erste Blick in die Natur zeigt das Gesetz der vollkommenen Ungleichheit. Allein die Erde gehört dem Menschengeschlechte als einem Ganzen, als einer ewigen Corporation. Jeder Mensch hat daher durch sein Dasein, durch sein Leben eine bestimmte Actie in dieser Corporation, ein Capital, von dem er die Zinsen genießen sollte. Diet, Capital wird gebildet durch seine Persönlichkeit, seine Fähigkeiten, seine Genußkräfte :c. Erhält er diese Zinsen nicht vollständig, so kann dies zweierlei Ursachen haben: entweder ist in dem Kreise, wo der Einzelne lebt, überhaupt nicht Capital genug vorhanden, und jeder Einzelne muß sich dann die Herabsetzung seiner Zinsen (seiner Ansprüche) gefallen lassen, oder die Zinsen sind willkürlich vertheilt, und da geschieht dem Einzelnen ein großes Unrecht. Die Erde ist also nach dieser Lehre nicht getheilt und Privateigenthum aller einzelnen gleichberechtigten Menschen geworden, wie die Jakobiner meinten, sondern sie ist ein Gesammt-eigenthum des Geschlechts, und jeder Mensch hat nur für sein beben den Genuß einer durchaus ungleichen Actie. — Ob es einen Gott außer und über der Natur giebt, ist für die Saint-Simonisten völlig gleichgültig; ihnen gegenüber existirt er nicht! Eie kennen nur den die Natur durchdringenden, mit ihr Eins seienden Weltgeist, und die Concentration desselben, die Menschheit, oder den in dieser letzteren als Ganzes genom-'nen lebenden und wirkenden Geist (den Zeitgeist). Er hat die Leitung, die Herrschaft über den einzelnen Menschen, wie über die Entwickelung und Geschichte des ganzen menschlichen Geschlechts. Nun hätten aber von Anfang an, sagen sie ferner, einzelne Mcnschcn sich gegen diesen Menschcngeist empört; sie hätten das vermögen der Menschcncovporation nach Willkür sich angemaßt, 142 und dadurch das Nccht jedes andern Einzelnen und dessen aus seinen Fähigkeiten und Kräften hervorgehende Ansprüche geschmälert; sie hätten aus dem dann getheilten Vermögen der Corporation ein Privateigenthum gebildet, und um dies für ewige Zeiten zu sichern, das Erbrecht erfunden und eingeführt. Das sei die That der Tyrannen und Gewaltigen gewesen! — Aber von jeher habe der göttliche Geist des Menschengeschlechts dem entgegen gewirkt. Er habe sich zuerst in den Philosophen Griechenlands und in Moses, dann später in Jesus entwickelt, welcher auch wirklich durch seine Lehre einen Schritt zum Guten vorwärts gethan habe, denn er lehrte die corporative Natur des Menschengeschlechts durch sein aufgestelltes Princip des Gesetzes der allgemeinen Menschenliebe. Ja er habe dadurch eigentlich das Princip des Privateigentums an den Gütern der Erde vernichtet, und versucht, wenigstens im Kleinen, wie dies z. B. die Mönchsorden ausgesprochen, das corporative Eigenthum wieder herzustellen. Allein die Zeiten seien noch viel zu unaufgeklärt gewesen; der Weise von Nazareth durfte nicht die ganze Wahrheit enthüllen, wenn er sie auch gekannt hätte; er mußte sie sogar unter vielem Falschen verstecken! Seine Lehren vermochten daher nur einiges Unrecht zu lösen, die persönliche Sclavcrei zu mildern u. s. w. Damit jedoch aber wenigstens der göttliche Adel des in dem Einzelnen lebenden Menschengeistes nicht untergehe, lehrte er, zwar falsch, aber sich den damaligen Zeiten accomodircnd, wie schon vor ihm die Stoiker, die Verachtung der Erdengüter, und verwies dagegen die Ausgleichung alles Unrechts auf ein Jenseits nach dem Tode! Erst als durch den Gang der Bildung und der steigenden Geistescultur die Macht der Tyrannen gebrochen, die von ihnen gegründeten socialen Verhältnisse durch die französische Revolution in ihrem tiefsten Grunde aufgewühlt und zerrüttet worden sei, hätte das Licht der vollen Wahrheit durchzubrechen vermocht. Saint Simon sei es vorbehalten gewesen, die schon aus jenen dunkeln Lehren Jesu und anderer Weisen der Vorzeit consequent hervorgehenden Folgerungen unvcrhüllt zu verkündigen. Er sei getragen von der Aufklärung des Jahrhunderts und werde durch sie siegen, wenn auch nicht gleich! — Denn schon hätten die fortschreitenden Zeiten seit der französischen 14>! Revolution allmählich die Basis alles Privatcigenthums, nämlich die des Grundeigenthums, zu untergraben und zu zerstören begonnen. Das Geld- und Industrie-Eigenthum sei schon seiner Natur nach viel leichter zu zerstören, da es keinen innern Halt habe, vielmehr nur eine Repräsentation wirklichen materiellen Eigenthums sei. Das Geld sei von der andern Seite sogar das einzige Mittel, um das Recht oder die Capacitä'tcn des Einzelnen richtig zu messen. — Da es nun aber wohl noch einige Zeit dauern dürfte, ehe das ganze Menschengeschlecht sich in einen Menschenstaat constitute, so müsse man sich vorläufig mit Völkerstaaten begnügen. Hier falle denn auch der moderne Begriff des Staats oder der sogenannte philosophische Staat der Hegelschen Schule schon völlig mit den Saint-Simonistischcn Begriffen von der Gottheit des Menschengeschlechts zusammen. Auch daß dem Staate gegenüber kein Privateigenthum eMire, sondern daß der Staat selbst und allein der wahre Eigenthümer alles Grund und Bodens ist, zeige, wie die Saint-Simonistische Lehre bereits in sehr vielen Staaten ins wirkliche Leben getreten sei! Schon sei auch die alte Herrschaft der aus dem Privateigenthum und der besondern Blutsabstammung her-vorgegangenen Stände verschwunden, schon herrsche in vielen Modernen Staaten der Saint-Simonistische Mcnschengcist, die Intelligenz, und der von seinem alten Fürstenstuhle auf die Pyramide gehobene Monarch sei ja schon weiter nichts, als die Spitze, das c«litrlli>i unitttti« derselben! Das Verführerische und darum Gefährliche dieser Doctrin liegt, wie gesagt, vorzüglich in dem vielen Wahren, was sie enthält. Diese Wahrheiten sind nur aus einem falschen Prinzip hergeleitet. Kein Dämon ist, wie gesagt, gefährlicher als der, welcher die Lichtgestalt eines Engels anzunehmen vermag! Die St. Simonistische Lehre wendet sich nicht bloß an die Leidenschaften und Neigungen, sondern an die Intelligenz selbst; "uch die höheren Gefühle, der Gerechtigkeitssinn und die Liebe, gehen nicht leer aus. Sie ruft dem Menschen in der That ^vle einst im Garten Eden wieder jenen uralten Spruch der Schlange zu: lülili« sieuti v«i 8«6nt68 bunum ot malum! -^cr iy^h h^. Sinne und Geist nur zu sehr schmeichelnden Uc-bcrrcdung widerstehen? ^ Fürwahr nur der, der das Prinzip 144 dieser dämonischen Lehre in seiner Tiefe erkannt hat, jenen Geist des Hochmuths, des Abfalls uon Gott, der Selbstvcrgötterung! Dcim im tiefsten Grunde glaubt der Saint-Simonist, als Stellvertreter, Intelligenz und jeweiliger in der Zeit hervortretender Bestandtheil jenes allgemeinen Menschengeistes oder Erdgeistes, selbst der die Weltgeschichte lenkende Gott zu sein. Die St. Simonisten haben philosophisch genommen völlig recht, wenn sie behaupten, die menschliche Vernunft für sich allein könne kein privatives ausschließendes Eigenthum des einzelnen Menschen an irgend einem Gute der Welt anerkennen. Kein Mensch kann in diesem Sinne den Grund und Boden, den er besitzt, sein Eigenthum nennen, aber auf diese Weise kann auch nicht einmal ein Volk den Boden, den es bewohnt, sein eigenthümliches Land nennen! Beide können höchstens behaupten, kein anderer Mensch oder anderes Volk habe ein besseres Necht daran, als sie! — Die Erde ist ja auch noch nicht einmal in ihrer Totalität in das Eigenthum und den Besitz der Menschen oder Völker übergegangen! Außer den vielen Landstrichen und Gegenden, die nie ein menschlicher Fuß betreten hat, werden unermeßliche Länderstrccken von Nomadcnvölkern durchzogen, die das Eigenthum des Bodens verschmähen. Das unbewohnte oder von Nomaden durchzogene Terrain mochte leicht mehr als den viertel: Theil des festen Landes der Erde betragen! .So richtig nun in Bezug auf das Eigenthum die Negation der St. Simonisten ist, eben so falsch ist aber auch ihre positive Behauptung: die Güter der Erde und insbesondere der Grund und Boden seien corporativcs Eigenthum der Menschheit. Den Beweis hievon bleiben sie völlig schuldig und wissen nichts dafür anzuführen, als die Gegenfrage: Wenn die Erde der Menschheit nicht gehört, wem gehört sie dann?— Die Antwort darauf aber ist, wenn man auf dem richtigen Standpunkte steht, leicht: Sie ist das Eigenthum Gottes, der sie erschaffen hat, der sie in ihrer erschaffenen Organisation erhält, und nie ihre Regierung und Leitung aufgegeben hat*). ") Es ist hicr nich» der Ort, philosophisch tiefn auf Fragen emzugchcn, dic 145 Der Mensch aber hat die Erde nicht erschaffen, sie kann also ursprünglich sein Eigenthum nicht gewesen sein, und durch welchen Act des Vertrags oder der Schenkung wäre sie es geworden? — Nur die heilige Urkunde, übereinstimmend mit den Sagen der Völker, aber keine menschliche Philosophie, giebt auf diese Frage eine Antwort. Der Mensch ist der Statthalter Gottes auf Erden, und die Menschheit besitzt deshalb die Erde nicht aus eigenem .Rechte, sondern als ein Lehn der Gottheit. Wenn auch die Obrigkeit, wie Lamennais behauptet, eine Folge des Sündenfallß und insofern eine der Menschheit auferlegte Strafe wäre, so ist doch das Verhältniß der Obrigkeit zu den Unterthanen kein sündliches, auch nicht ein von den Menschen erfundenes und sonnt auch allenfalls willkürlich wieder aufzugebendes. Die Obrigkeit ist nicht bloß eine Zulassung, sondern eine Institution Gottes, eben, um die Folgen des Falles zu mildern, und der nothwendig eintretenden Zerrüttung des Geschlechts vorzubeugen. Die Herrschast könnte daher selbst durch Sünde (Unterjochung, Tyrannei) erworben werden, die Sünde würde dann dennoch nur dem Individuum (dein Usurpator oder Tyrannen) anhängen. Daß Dbrigkeitsverhältniß aber selbst bleibt oder wird auch in diesem Falle eine Institution Gottes*). von ichcr die wahren Tiefen des menschlichen Geistes am meisten beschäftigt haben. Es handelt sich am Ende um den Beweis des Daseins Gottes srlbst und seiner Stellung zur Welt, eine Frage, die bisher keine Philosophie genügend gclöset hat. Wenn wir oben vom richtigen Standpunkte sprechen, so verstehen wir darunter den christlichen, und zwar den allgemein-christlichen, den jeder sshrist, er mass zn einer Kirche oder Seele gehören, zu welcher cr will, anerkennen muß. Vei einer Discus-sion mit Nichtchristen kann man diesen nicht geltend machen, da sie ihn nicht anerkennen. Ihnen gegenüber genügt aber, sich rein in der Negation zu halten, diese allein ihren positiven Behauptungen gegenüber zu stellen, dann sind sie gar bald wie in einem Schachspiele fest-gcscht. ) Durchaus jeder Mensch ist der Obrigkeit als solcher unterworfen. Das 'st allgemeines Recht! welcher Obrigkeit aber, daö entscheidet l>e-sondcreö Nrcht. Jeder üsm'pator ist denen, die ihm geholfen und 10 14tt Vor dem Sündenfalle war der Mensch nur Gott unterworfen, der im unmittelbaren persönlichen Verhältnisse zu ihm stand. Nach dem Sündensalle war das persönliche Verhältniß gebrochen, und es spiegelte sich das obrigkeitliche Verhältniß Gottes zuerst in dem Verhältnisse der Eltern zu den Kindern ab. Bei der Vermehrung und weitem Entwickelung der socialen Verhältnisse des Menschengeschlechts bildete sich auch das obrigkeitliche Verhältniß weiter aus in den Geschlcchtsältcstcn und Stam-mcsfürsten, und so weit ist es, wie gesagt, eine Institution Gottes. Die wesentliche Function dieser Obrigkeit war das von Gott verliehene Richtcramt. Allein die Völker sielen immer mehr von Gott ab, es entstanden die Kriege. Durch Unterwerfung und Unterjochung, durch Wahl oder Usurpation entstanden Kriegsanführcr, die viele Geschlechter und Völker ihrer obrigkeitlichen Gewalt unterwarfen, und hicmit bildete sich neben der richterlichen die zweite Function der Obrigkeit aus, die der Kriegesherrschaft und des Verhältnisses gegen fremde Völker. Dieser Theil des obrigkeitlichen Amts ist nicht Institution, sondern Zulassung Gottes*). ihn anerkannt haben, gegenüber die rechtmäßige Obrigkeit. ' Durch sVinc Usurpation mag er gesündigt habeni dir ihm halfen lind die ihn aner-lannten, mögen durch dm Trcnbrnch gegen ihre frühere Obrigkeit gesmu digt haben; drnnuch bleibt unter diesen Parteien selbst das obrigkeitliche Verhältniß ein rechtmäßiges. Allein denen gegenüber, die ihn nicht anerkannt haben, oder die etwa für ihren alten Herrn kämpfen, ist der Usurpator keine rechtmäßige Obrigkeit. Die für Don Bark's kämpfendm Basken hat Niemand in Enropa für Rebellen gehalten. *) Nur wenige Völker haben sich begnügen lassen mit der richterliche Obrigkeit der Stammessürsten, wie etwa >mch gegenwärtig die arabischen Stämme. Fast alle haben das kriegerische Königthum selbst verlangt und eingeführt. Selbst die Israelite!,, deren Stammcsfürstcn und Nicht"' unter unmittelbarer Leitung Gottes standen »der von ihm selbst eingesetzt waren, verlangte!, einen König, ,/wie alle Heiden nmher ihn hatten." Und (^ll sprach; „Willfahre ihnen, sie haben nicht dich (den Nicht"' Samuel), sondern mich verworfen, daß ich nicht ftll ihr ^önig sein; ft verkünde ihnen denn das Recht des Königs, der über sie herrsch»'" wird" n, Diese Stelle ist so bedeutend als bezeichnend. Das kriegerische 147 Als der Mensch noch in der ursprünglichen Harmonic mit der Gottheit stand, war ihm auch noch die Natur völlig unter-than, und zwar als ein Ganzes; sie war nicht etwa getheilt zwischen Mann und Weib, sondern beide besaßen sie ganz un-theilbar; der Geist deß Menschen durchdrang und beherrschte die Natur, wie jetzt nur noch die Glieder des eigenen Körpers. Allein nach dem Abfalle von Gott trat auch die Natur ihm feindlich gegenüber. Die Herrschaft war ihm nicht genommen, aber die Natur gehorchte ihm nur widerwillig. Es entstand die Mühe und die Arbeit. Er mußte den Boden bauen im Schweiße seines Angesichts. Ursprünglich war das Menschengeschlecht eine Einheit aus der Vielheit, wie die drei Personen der Gottheit. Als Rest hiervon ist daß Verhältniß der Ehe geblieben. Mann und Neib sind gleich und eins, aber schon auf dein Kinde ruht der Fluch und die gestörte Harmonie. Die Eltern fühlen sich noch mit dem Kinde eins, allein dieses strebt schon, sich zu indivi-dualisiren; Bruder und Bruder haben nur noch die Gemeinschaft und Einheit in den Eltern, neben einander stehen sie schon völlig getrennt. Je weiter die Generationen abwärts gingen, desto fremder standen sich die Menschen gegenüber. Die Einheit des Geschlechts ward immer loser und aufgelöster, allein als Idee blieb sie dennoch bestehen, und noch sehen wir sie als Menschheit, von einem Vater hcrstammend, anerkannt, Königthum ist nur eine Zulassung, nicht wie das richterliche eine Institution Gottes; allein besteht es erst einmal, su hat rs ein Recht, welches ebenfalls von Gott selbst hier eingesetzt und anerkannt wird. Beim ^ meinen russischen Volke hat sich eine deutliche Idee von diesen -,wci verschiedenen Gewalten, aus denen die Monarchie zusammengesetzt ist, traditionell erhalten. Das Volk ncimt seinen Herrscher, wenn es ihn anredet, stets: Batuschka (Väterchen), zum Andenken seiner väterlichen Stellung und Gewalt i wenn es vun ihm als dem von Gott gegebenen Hcrrn spricht, nennt es ihn lszar (ein Wort, womit in der russischen Bibel der König David, selbst Christus als König der Juden benannt wird). DrS Worts Imi»elül.)l', Kaiser, bedient es sich nie, den nationalen Herrscher zu bezeichnen, sondern nur den Fremden gegenüber. Der Herrscher Rolands ist der Czar des russischen Nolls und der Kaiser des russiftbcn Reichs. 10* 148 als Volk, als Geschlecht, als Familie, als Ehe überall in unserm Dasein hervortreten. Mit jener Trennung des Menschengeschlechts, mit jener Auflösung in Individuen, verbunden mit der Widerwilligkeit der Natur und der daraus entstehenden Arbeit und Mühe, fällt die Entstehung des Rechts und seines Substrats, des Eigenthums, zusammen. Der Mensch in ursprünglicher Einheit hatte die Natur als Ganzes durchdrungen, belebt, beherrscht; als er in Individuen zerfiel und diese die Einheit verloren, vermochten sie auch nicht mehr dic Natur als ein Ganzes zu regieren. Jedes derselben suchte nur von ihr zu erobern, so viel es vermochte; so zersplitterte sich der allgemeine Besitz des Ganzen, welcher der Menschheit in ihrer Einheit gehörte, in den Besitz der getheilten Natur für die Einzelnen. Und da diese getrennt waren, so entstand der Privatbcsitz der Völker, Stämme, Geschlechter, Familien. Aber als nothwendige Folge der zerstörten Harmonie ward eben dies Recht, dies Eigenthum von Gott samtionirt, und zu seinem Schutze und seiner Erhaltung jene richterliche Obrigkeit eingesetzt. Daß, was der einzelne Mensch (das Ehepaar) der feindseligen Natur abgekämpft hatte, derjenige Theil dieser Natur, welchen er sich unterworfen hatte und den er beherrschte, ward sein Eigenthum; es war ihm von Gott beschieden, verliehen; denn es war ihm ausdrücklich geboten, im Schweiße seines Angesichts den Boden zu bauen, und also zu erwerben. Gott, der wahre Eigenthümer, hatte es ihm verliehen, keiner seiner Nebcnmcnschen hatte ein besseres Recht daran, und die von Gott eingesetzte richterliche Obrigkeit schützte ihn in seinem Besitzes. Allein der Eigenthümer hatte Kinder, sie waren sein Blut, er stand mit ihnen noch in dem Neste jener höhcrn Einheit des Meuschengeschlechts, die in dem Verhältniß zu seinem schon entfernteren Bruder mehr und mehr verloren gegangen war. Das ') Wcirc das (^mihum nicht don Gott sanctioniit, ft wliie das: „D» sollst nicht strhlm, Dü Mst nichi l'sgrhrm" u, s. w,, wrlchcs mit dtt> Gclwtm iil'sl' Al'^'tlrn'i „nd «hlinüch m>f gleich»'!' ^i,m> q^!'l>>i wlN'd»'' Unsinn. 149 Kind war eine Fortsetzung seiner Individualität, also auch des mit dieser Individualität verbundenen Eigenthums *). So entstand das Erbrecht und mit diesem schon, abgesehen von vielem andern Einwirkenden, durch die in den verschiedenen Generationen sich vorfindende verschiedene Zahl der Kinder die Ungleichheit der Erbportionen, Armuth und Reichthum. Dies ist die ursprünglichste und reinste Art der Entstehung des Eigenthums und des Erbrechts. Jede andere, durch Kauf, Vertrag, Eroberung, Usurpation, Raub, existirt nur durch Sanction der Obrigkeit; ist diese aber erfolgt, so ist auch das Ei-genthumsrecht vorhanden. Das liegt in der Natur des Begriffes der Obrigkeit. Ist das Eigenthum durch Unrecht erworben, z. B. durch Usurpation oder Raub, so hat der Eigenthümer gesündigt und wäre vor Gott zur Zurückgabe verpflichtet; aber er hört deshalb nicht aus, Eigenthümer zu sein, sobald ihn die Obrigkeit dafür anerkannt hat. Sanctionirte die Obrigkeit einen offenen Raub, so sündigte ste, und Gott wird sie einst bestrafen; aber dennoch wird durch ihren Spruch der Räuber ein Eigenthümer. Dies ist nicht etwa ein willkürlicher Sah, von den Menschen erfunden aus Convcnienz, um den socialen Zustand aufrecht zu erhalten, sondern er folgt durchaus consequent aus der Natur des obrigkeitlichen Verhältnisses. Dies war daö Gesetz des Rechts der antiken Welt, des alten Bundes. Christus hob dieses Gesetz nicht auf, so wenig wie er die Folgen des Sündcnfalles aufhob und das Paradies wiederherstellte; allein er gab ein anderes Gesetz daneben, welches, sobald es befolgt wurde, jene ursprüngliche Einheit deß Menschengeschlechts wiederherstellte, nämlich: „Ihr sollt lieben jeden Menschen gleich euch selbst," und in Bezug auf das Eigenthum: „Ihr sollt besitzen, als besäßet ihr nicht." Wenden wir diese Grundsätze auf die gegenwärtige Lage des Menschengeschlechts und auf den europäischen modernen Staat an: Alle Menscheil sind berufen, unter einander gleich zu werden, alle haben gleichen Anspruch auf die Liebe Gottes, allein Jeder ) Daß die Kinder bcl dm altcu Völkrn cm ssigmthum der ElM'» waren, ist hierbr, von nun r ist durch sitbrccht zn Eigenthum geworden, und das Voll kann, vermöge Vertrags oder Nnlenverfung, jedes Recht auf ,<;urücknahme verloren haben, allein er hat doch u»r die Nalur und das Necht jedeö andern l5<-gcnthums, und also seine Bürgschaft und Gelvaln' allein in jener von (Hott zu Lehn getragenen obrigkeitlichen oder richterlichen (Gewalt. — Man mttsi dein LiberaliöinnS nachrühmen, dasi er den ungemeinsten Scharfsinn oder Instintt in der ^Nennlnisi dessen entwickelt, was ihm wcsentlü'l, und feindlich gegeniiber steht. Das? dnrch ihn dm (wnstitntwnellcn) Königen die richterliche und gesehgebrndc Gewalt aus den Händen gewunden ist, raubt diesen das göttliche Amt und macht sie zu Beamten des Volks. Diese Künige besitzen also dann nur noch dcn letzten Nest ihres göttlichen Berufes i,» Begnadigungsrechte, daher auch gegenwärtig die ächten Ne-publimner in Frankreich dies nicht siatlureu uud auf sich angewendet wissen wollen. — Neben «itellcit und Volksschmeichrlei ist dieö mich wohl linsireilig der Hauptgrund, warum Napoleon sich nicht als ttönig, Wndern alö Baiser pro,!amiren liesi. Aber er hatte eine ^lbnnng u»d dunlle Sehnsucht nach dein ächten Königihume, darum ber,es er den Papst und nannte sich „von («oüe» <^nade,t", 152 worin die mannigfaltigsten, verschiedensten Verhältnisse und Rechte ins Leben treten und sich bewegen. Dieses ist ganz insbesondere der Fall mit dem wichtigsten Theile des socialen Lebens, dem Eigenthume und dem Erbrechte. Wir finden beides bei allen Völkern der Erde, aber überall sehr verschieden ausgebildet. Jedoch sind bei den Wölkern, wo uralte Traditionen und göttliche Offenbarungen, theils ganz klar, wie bei den Juden, theils mehr oder weniger verdunkelt und verfälscht, wie bei den europäischen, asiatischen und nordaftikanischcn Völkern sich erhalten haben, mehr oder weniger einige durchlaufende Grundsätze sichtbar, welche theils sich natürlich aus den allen gemeinsamen allgemeinen socialen Verhältnissen zu entwickeln scheinen, theils aber, sonderbar genug, als allgemeine Satzung dem gewöhnlichen menschlichen Verstande entgegen und unverständlich, sich bei den meisten Völkern erhalten haben, ja von denen viele dieser Völker behaupten, es sei ein ursprüngliches göttliches Gesetz. Zu den ersten gehört die bei allen diesen Völkern vorkommende Scheidung des Eigenthums in gebundenes (organisches) und ungebundenes (individuelles). Solches, woran den Einzelnen die Nutznießung, aber nicht die Disposition zustand, und solches, womit jeder Einzelne frei schalten konnte. Bei jedem Volke waren dann aber Ausbildungen und Bedingungen verschieden. Das Gebundene erscheint als Volks-, Regenten-, Stammes-Eigenthmn, Familicngut, Lehn, Gemeinde-, Corporations-Eigenthum u. s. w., je nachdem das Bedürfniß und die Lage der verschiedenen Völker es verschieden ausgebildet hat. Es kann als das Wahrzeichen der Ansässigkeit eines VolkeS gelten, und ist daher in der Ncgcl, wenigstens ursprünglich, auf Grund und Boden basirt. Es gehört ferner dazu der Grundsatz, den die meisten Völker anerkennen: daß das Erbrecht sich nach gewissen Verhältnissen der Nähe des Blutes richtet. Selbst die Ausnahme», z. B. das Nccht der Adoption, bezeugen die Regel; die Adoption fingirt ja das Kindesverhältniß und verleihet das Kindes-Erbrecht. Zu der zweiten Art gchört das bei fast allen asiatischen, germanischen und ccltischen Völkern sich von Uralters findende 153 Erstgeburtsrecht des ältesten Sohnes""), auch einigermaßen das bevorzugte Erbrecht des männlichen Geschlechts vor dem weiblichen. Vergebens sucht der menschliche Verstand nach durchgreifenden natürlichen Gründen für diese Bevorzugung des Erstgebornen. Es ist eine Satzung! — Daß alte Testament erkennt daß Crstgeburtsrecht überall als von Gott sanctionirt an, und die Verfassung der Juden ist zum Theil darauf gegründet. — Christus hat es weder anerkannt, noch aufgehoben. Wir haben diese kurze Darstellung und Charakterisirung der St. Simonisiischen Dvctrin als der Mutter aller spätern, des Fourier, Owen lc., welche man jetzt unter dem allgemeinen Namen des Communismus und Socialismus zusammenfaßt, hier bom allgemeinen Standpunkte des Christenthums aus gegeben, um daran einige Betrachtungen über ruffische Bolkszustände, bie offenbar eine äußerliche Aehnlichkeit mit den erträumten Zuständen, welche jene Theorien in Westeuropa hervorzurufen streben, zu knüpfen. Niemals wird es gelingen, diese Träume zu rcalisiren und solche Zustände auf den Grundlagen zu erbauen, die jene Doc-lrinen gewähren, weil diese Grundlagen atheistisch, unchristlich, unwahr sind. Es würde ein Gebäude auf Treibsand sein, und unmittelbarer Zusammensturz und grenzenlose Anarchie würde die gewisse Folge des Versuchs sein! Allein das müssen wir leugnen, daß diese Zustände, diese Ordnung der Dinge an sich, abgesehen von den Prinzipien, auf ') In Rußland gilt das Gistgeburtsrccht ebenfalls durch alle Stände, aber es ist nur ein sthreurecht. Vei der Theilung des väterlichen Nachlasses erhält der Erstgeborne nicht mehr als jeder andere. Allein beim Tobe dcö Vaters tritt er gänzlich in dessen Rechte, er wird das Haupt der Familie, die jüngeren Geschwister behandeln ihn >nit derselben Ehrfurcht wie den Vater, und so lange nicht eine vollständige Theilung unlcr bcri Geschwistern und somit die Vildung neuer Familien und Haushaltungen vorgenommen ist, herrscht er im väterlichen Hause unbeschrankt nnd leitet den ganzen Haushalt wie ein Vater. Es kommt aber auch vor, uud das ist in einigen Gegenden Nnßlandö nicht ungewöhnlich, dasi der Vater einen jünger» Sohn zum Erstgebornen oder Familienhaupl ernennt, und daü gilt als Gesetz nnd ohne Widerspruch, stlbst der Aellestc neigt sich dann voll Ehrfurcht vor dem Ernannten, 154 den jene Sectirer sie aufbauen und bilden möchten, unchristlich, unsinnig und daher unmöglich seien. Es ist dies in der Regel behauptet worden, wir aber müssen auf die vorhandenen Zustände Rußlands verweisen, um unsere Behauptung, daß bei einer solchen Ordnung der Dinge wirklich ein politisch-socialer Zustand und einc christliche Monarchie bestehen kann, zu beweisen. Die Lehre St. Simon's will die Vernichtung und daß Aufgeben des privativen Grundeigcnthums und des Erbrechts, wenigstens der Vererbung des Grund und Bodens. Sie verlangt, daß statt dessen nur eine lebenslängliche Nutzung desselben eintrete. In Rußland ist diese Ordnung der Dinge wirklich vorhanden. Bei der Mehrzahl des Volks hat der Einzelne kcin Privateigenthum nicht einmal einen bestimmten und unveränderlichen Privatbcsitz, wiewohl die jeweilige Nutznießung am Grund und Boden; es existirt folglich auch kein Erbrecht daran ^'). Es sind aber andere sociale Grundlagen, worauf diese Ordnung der Dinge beruht, als die St. Simonisten für ihren modernen Staat legen wollen, nämlich durchaus nationale, und mit den Grundsätzen einer christlichen Monarchie übereinstimmende. St. Simon sagt: der Grund und Boden gehört dem Menschheitsgeistc als dem *) Man wende hiergegen nicht ein, daß ungefähr die Hälfte des eultidirlen Bodens Nußlands vom russischen Adel eigenthümlich besessen werde, lind in dessen Familie vererbt. Dir Tradition dos russischen Aoll'ö spricht jedoch hierüber eine andere Neberzengung ans. Der russische Leibeigene sagt: i ch gehöre meinem Herrn, allein der Grund und Boden ist ein Anncxnm Don mir, denn der Herr sann mich nicht ohne Grund und Vodcn verschenken, verkaufen, vererben, und auch russische Staatsmänner stelleil den Sah cuif- die Leibeigene» seien gleichsam ein Servitut des Grund und Vobcnö, dc^ zu ihnr Ernährung dienen »mssc. Nimmt der Herr seinem Leibeigenen den Äcker, su nnifi er ihn auf andere Weise ernähren, sis lommi aber bei dieser ganzen Frage nicht auf einc haarscharfe Spallung der Rechisbegrisse an, die überhaupt >" Rußland nicht den praltischm Werth haben und die Anerkennung sind"! wie im übrigen Europa. Es kommt aus den fai tischen Zustan» an, und der ist bei den llibeigene» Gemeinden derselbe wie bei 5en fni"' und den ^rongemeindcn. Der Voden wird nach eenselbn, ft>n,ndsätz"l dl'lt ver!heilt !vie hier, l55 Gotte verErde an. Jeder Mensch ist eine jeweilige Emanation dieses Gottes, und hat also, so lange er lebt, d. h. so lange er auf der Erde eine Individualität ist, und noch nicht wieder zurückgeflossen und verschwunden ist in dem universalen Menschheitsgeiste, ein Recht auf eine bestimmte Nutzung der Erden-guter. Dieseö Recht ist aber ein rein persönliches, er kann es nicht vererben, etwa auf seine Kinder, denn diese wie alle früheren und späteren Generationen find auch weiter nichts, als e>ne Emanation des Erdengottes, die wieder aus eignem persönlichem, nicht aber geerbtem Rechte, die Nutzungen der Erden-Mer in Anspruch nehmen müssen. Das russische Volk aber spricht: Die Erde gehört Gott an, lmd Adam und seine Nachkommenschaft, oder die Menschheit ^agen sie von Gott zu Lehn. Die folgenden Generationen erbten von Adam die Herrschaft der Erde, und als sie zahlreicher wurden, nahmen sie immer mehr Theile der Erde in besitz und theilten sich unter Gottes Leitung der Weltgeschichte darin. So fiel denn dem Stammvater des russischen Volks das 7^nd zu, welches jetzt Rußland heißt, und seine Nachkommen 'n der Einheit ihres Stammhauptes verbleibend, also ein Volk bildend, verbreiteten sich über das Land und besaßen es. Das Lcmd ist somit durch Gottes Fügung Eigenthum des russischen -^olks geworden, die Verfügung darüber aber steht wie bei jeder organischen Familie dem Bater, dem Stammhaupte, dem Czar zu- Nlir so lange jeder mit dem Volke und dem Czar in der Einheit lebt, hat er das Mitrccht auf die Nutzung des Bodens. Dieser ist also Gesammtgut der Volksfamilie, und der Vater oder Czar hat allein die Disposition, und vertheilt ihn unter die allmählich im Laufe der Zeiten entstandenen Familien, in die das Volk sich abgetheilt hat. Da eine Gcsammtnutzung des Bodens "ur so lange bestehen konnte, als das Volk in seine Horden abgetheilt, nomadisch im Lande umherzog, so ward allmählich, ^ wie das Volk anjässig ward, jeder Familie ein abgegrenzter ^heil übertragen, den sie unter ihrem Familienhauptc einnahm, ^as russische Familienrecht hat sich nun aber ganz analog dem '"'Msrechte ausgebildet. Ihr Erbgut ist nämlich ein Stammelt, allen Gliedern der Familie gleichmäßig, aber ungetheilt "Ugehbvs,^ dem Vater steht die Disposition und Vertbeilung 15tt der Nutzungen zu. Dringt ein Familienglied auf Theilung, so wird ihm sein Antheil überwiesen, allein er scheidet dadurch aus dem Familiengesammtverbande und verliert alle seine Rechte auf das Gesammtgut, wie an jede etwaige Erbschaft der im Gesammtverbande zurückbleibenden Familienglieder. Er ist völlig abgefunden und ausgestoßen, und bildet von nun an eine neue Familie. So blieben denn die Familien viele Generationen hindurch in der Einheit des Familienvcrbandes und deß Gesammtvermögens unter ihrem Haupte, nnd wurden somit Familicngemeinden. Und hierauf beruht das Gemeinderecht. Die russische Gemeinde singirt juristisch noch gegenwärtig, eine Familiengemeinde zu sein und zu bilden. (Zöge ein Fremder ins Dorf, so würde er in dieser Familie adoptirt!) Jedes Gemeindeglicd hat gleiche Rechte auf das ungctheilte Gcmein-degesammtgut, den Vätern, den weißen Häuptern, dem Alten, dem Starosten, sieht die Vertheilung der Nutzungen zu. Da kein Gemeindeglied ein abgesondertes und zugetheiltes Privatgut hat, so kann es auch keins vererben, seine Söhne aber als neugeborne Familienglieder haben eben durch ihre Geburt sogleich auch ein Familienrecht auf das Gesammtgut und dessen Nutzungen. Bei St. Simon hat der Einzelne als Mensch als jeweilige Emanation des ErdengotteS, ein Mitrecht auf die Güter der ganzen Erde. Beim russischen Volke hat der Einzelne als Sohn des Czars, als Russe und als Familienglied der Gemeinde, auf das von Gott dem russischen Volke verliehene Nußland, und insbesondere auf das Familien- oder Gemeindegesammtgut ein Mitnutzungsrecht. Wir enthalten uns einer fernern Vergleichung im Detail, werden aber, wie wir es schon früher gethan haben, die etwaigen Vergleichspunkte hervorheben, wo sie uns aufstoßen. Wir sehen hieraus, daß Rußland von denjenigen revolutio-nairen Richtungen, die in diesem Augenblicke Europa bedrohen, vom Pauperismus, Proletariat und den Doctrinen des Cow-muniomus und Socialismus, nichts zu fürchten hat, indem cs nach dieser Seite hin einen gesunden Organismus darbietet. Anders steht es im übrigen Europa! Pauperismus und Pro- 157 lctariat sind die eiternden Geschwüre, die der Organismus der modernen Staaten geboren hat. Können sie geheilt werden? — Die communistischen Heilkünstler schlagen eine völlige Zerstörung und Vernichtung deS vorhandenen Organismus vor, auf einer 'l'adulu »'.-»»a könne man am besten neue Gebäude aufführen! -- Der Tod gebiert aber nie Leben! — Eins ist sicher, gewinnen diese Leute die Macht zum Handeln, so giebt es keine Politische, sondern eine sociale Revolution, einen Krieg wider alles Eigenthum, eine vollkommne Anarchie. Ob sich dann neue Völkerstaatcn bilden, und auf welchen moralischen und socialen Grundlagen? wer hebt den Schleier der Zukunft? Welche Rolle wird dabei Rußland übernehmen? Ich sitze ^m Ufer und warte auf Wind! sagt ein russisches Sprichwort! Nach dieser langen Abschweifung zur Auffassung und Cha-l'aktcrismmg der inneren Verhältnisse und Verfassung Nußlands und deren Vergleichung mit europäischen Zuständen, kehren wir Wieder zur Fortsetzung unserer Rciscbemerkungen zurück. Ueber den Ackerbau in diesen Gegenden des Gouvernements Iaroslaw erhielten wir hier einige Notizen. Bei den BauerU herrscht nur die einfache Dreifelderwirthschaft. Des Winterfeld wird Ende Juni bis Anfangs August mit Mist befahren, der häufig 4 bis 6 Wochen liegt, ohne untergepflügt zu werden. Nachdem dann das Land mit dem schweren Pflug gepflügt und geeggct ist, wird das Winterkorn eingesäet und dann das Land nochmals mit dem leichten Gabel-Pflug (Socha) umgerissen und gcegget. Daß Sommerfeld wird von den Bauern im Herbst nicht umgepflügt, doch hin und wieder auf Gütern, wo schon eine bessere Cultur begonnen hat. Mitte Mai ist die Sommersaat beendet. Beiden Ackerarbeiten herrscht die größte fast militairische Ordnung. U,i einem und demselben Tage, derselben Stunde ziehen "tte zugleich zum Pflügen, zum Eggen ic. hinaus, zur selben Stunde kehren alle zurück. Es giebt keine Vorschriften darüber, auch keine Anordnung der Starostcn oder Nettesten, die Sache "'acht sich von selbst, der russische Socialtrieb, Nachahmungstrieb, d'c Mcht ixr russischen Gemeinde treten in ibren Einwirkungen überall hervor. 158 Beim Flecken Welikic-Silo, wo die reichsten Einwohner Leinewandfabrikanten sind, und nur die Aennern Ackerbau treiben, war der Ackerbau schlecht; man pflügt dort nur einmal unmittelbar nach der Düngung, auch wohl erst unmittelbar vor der Saat, um die Stopftelweide möglichst lange zu erhalten, und des kurzen Sonnners und der schwachen Pferde halber. Man klagt hier über Mangel an Wiesen, besonders guten Wiesen, sie sind entweder zu trocken, oder sumpfig und sauer. An Wiesenmeliorationen, Bewässerungen, Ueberrieselungcn ist noch nirgends gedacht, ungeachtet das Terrain wohl eben keine Schwierigkeiten böte. Wenn sich Associationen der Gutsbesitzer bildeten, die Krone mit ihren Dörfern zuträte, Flüsse und Bäche in ein Bewässerungssystem gelegt und vereint würden, so wäre das eine der wenigen Meliorationen, die auch hier entschieden rentiren würden. Die dazu nöthigen baren Auslagen wären gering, und der Nutzen groß und nachhaltig, denn der Viehstand würde sich augenblicklich heben, und hierdurch der Ackerbau Kraft gewinnen. Gegenwärtig ist hier das Heu verhältnißmäßig theuer, theurer als andere landwirtschaftliche Products in diesem Jahre kostete es prn Pud (37 Pfund) 40 Kopeken Banco (3 Sgr. 7 Pf.), in theuren Jahren aber bis zu 120 Kopeken Banco (-- 1U Sgr. 9 Pf.). - - Die Viehzucht ist natürlich sehr schwach, das Rindvieh klein und schlecht, Schaafzucht unbedeutend, die Pferde der Bauern klein, doch giebt es auch bei den Gutsbesitzern und wohlhabenderen Bauern eine größere Race, die kräftig und gut und zum Preise von 180 bis 220 Rubel Banco (54 bis 06 H) verkauft werden. Bei Herrn v. Karnowitsch sahen wir ein Paar von ihm selbst gezogene vortreffliche Hengste. Die Bauern kaufen häusig die nöthigen Pferde im Frühjahr und verkaufen sie nach der Ernte wieder aus Mangel am Winterfutter. Um diese Zeit werden sie dann von den Fuhrleuten (Icmtschiks) gekauft, deren Thätigkeit vorzüglich im Winter in Anspruch genommen wird. So greifen die verschiedenen Industriezweige überall in einander, und gleichen Mißverhältnisse der verschiedenen Wirthschaf' tcn aus! In diesen Gegenden ist starker Flachs- und Hanfbau. Allein in den letzten Jahren ist der Flachsbau im Gouvernement 15<» Wologda so gestiegen, daß dadurch die Preise des Flachses hier sehr bedeutend, mitunter bis auf '/3 herabgedrückt sind. Bor fünf Jahren eristirte noch kein Kartoffelnbau bei den Bauern, sie hielten ihn für sündlich, gegenwärtig beginnen sie überall sich daran zu gewöhnen; auf den adeligen Gütern werden die Kartoffeln schon zum Viehfutter verwendet. Von einer geordneten Forstwirthschaft ist noch nirgends die Nede ^). Die Wälder der Gutsherren, die auf dem Lande leben, werden wenigstens etwas geschont; bei den Dörfern, die auf Dbrok gesetzt, sind aber die Wälder den Bauern zur freien Benutzung mit übergeben; sie werden gräulich verwüstet, und es beginnt schon Mangel einzutreten. Dasselbe Verhältniß ist bei den Kronbaucrn, und das Domaincnminisierimn macht jetzt Versuche, einigermaßen einen Forstschutz einzurichten. 10. Mai. Wir gingen schon früh mit unserm trefflichen Wirthe zum Popen des Dorfs hinüber, der uns zum Kaffee Ungeladen hatte. Ich habe später oft Dorfpopen besucht, in bn Negel waren die Wohnungen schlecht und schmutzig, oft schmutziger als die der Bauern. Die Weiber und Kinder der Popen machten durch ihr schmutziges, gemeines Wesen einen besonders widerwärtigen Eindruck. Hier war das Alles ganz anders! Die Wohnung war nett und bequem, von fast holländischer Reinlichkeit, das Wohnzimmer mit gut gescheuertem "bden, gute Fenster, altfränkische aber gut erhaltene europäische Meublcn, die Wände (es war natürlich ein russisches -Blockhaus aus aufeinandergelegten und ineinandergefügten Balken) fast wie Holzgetäfel, sauber abgehobelt, ohne Tapete oder Kalkanstrich, was dem Ganzen ein warmes, wohnliches Ansehen gewährte. An der Wand hingen die Portraits seines Baters, ber auch Pope in demselben Orte gewesen war, und seiner Mut-^r, uud zwar doppelt, einmal im jugendlichen Alter von 25 fahren und einmal als alte Leute von 60 Jahren und darüber, ^n der emen Ecke, wie das sich gebührt, ein Muttergottesbild Mtt einer brennenden Lampe davor; an der einen Wand eine kleme Bibliothek, unter deren Büchern außer homiletischen und ) In Nus-land gab cs bisher zwri Foistsystcmr: allcö zu nlaubm, m'd nichts zu n'lcmbm'. Vk!. Mcycr d,c Landcöpolizci Rußlands, 160 kirchenhistorischen einige französische Werke und eine russische Uebersetzung des Messias von Klopstock. Der Mann hatte ein seines kluges Gesicht mit freundlichen, wohlwollenden Zügen, das gescheitelte lockige Haar, das violette, bis auf die Füße reichende seidene Popengewand gewährten ein würdiges Ansehen, fast wie eines gelehrten Benedictiners. Auch besaß er eine nicht gewöhnliche Bildung; er verstand z. B. sehr gut Französisch, aber auf eine ganz eigenthümliche Weise. Er hatte es nämlich bloß aus Grammatik und Dictionnaire gelernt, ganz wie eine todte Sprache, las die Bücher nur mit den Augen und übersetzte leicht und correct. Las man ihm aber etwa aus demselben Buche vor und sprach mit ihm französisch, so verstand er kein Wort, so wie wir auch kaum ein Wort verstanden, wenn er einen französischen Satz aussprach. — Sein Name war Nikolas Ivanowitsch Nosow, er war schon lange Jahre Pfarrer dieses Orts, seit 20 Jahren Wittwer, geliebt und verehrt wie ein Vater von der ganzen Gemeinde. — Es hatte etwas Rührendes, diese bescheidene, vollkommen anspruchslose und doch segensreiche Existenz und das stille Begnügen an ihr! Ein schöner Friede ruhete auf dem ärmlichen Hause und dem freundlichen Diener Gottes, der es bewohnte? Bei unserer Rückkehr bemerkten wir eine Anzahl Kinder, die nach dem Hause unsers Wirths gingen. Auf unsere Frage fand sich, daß unser Wirth für die Kinder seiner Hauslcutc und Bauern eine Schule in seinen: Hause ctablirt hatte. Der bescheidene Mann hatte früher nichts davon gesagt, wir erfuhren es erst im Augenblicke unserer Abreise! Es mochten einige zwanzig Kinder, Knaben und Mädchen von 7 bis 13 Jahren, dort sein, der Pope und ein von ihm unterrichteter blinder Bauernsohn ertheilten den Unterricht im Lesen, Schreiben und Rechnen. Mein Begleiter H. v. S. stellte ein kleines Examen a»l, die Kinder lasen sogar seine etwas schwierige Handschrift. An der Wand hingen einige Landkarten. Herr v. K. sagte, er habe sie aufhängen lassen, um zu sehen, ob wohl eins oder das andere von den Kindern von selbst darauf käme, nachzufragen, was das bedeute. Einigemal sei dies geschehen, und dann habe er dem Kinde Belehrung ertheilt, und daraus dann ersehen, 161 daß sich besonderer Wissenstricb rege, und für eine fernere Ausbildung gesorgt. Wie sinnig, wie fein und verständig! Bei unserer Abreise begleitete uns unser Wirth bis zu einem andern Gute, das er besaß, Taliza. Er hatte hier eine große Leinewandbleiche angelegt, die schon bedeutend zu werden anfing. Es waren hier im vergangenen Jahre bereits etwa 70000 Arschin (große Ellen) Leinewand gebleicht worden. Gegenwärtig fanden wir eine Partie Tischzeug, was von Moskau hcrgcschassl war, dann feine Lcincwand ans Welikie-Silo, unter andern ein ungebleichtes, sehr feines Stück, die Arschin zu 4 Rubel Banco (— 1 -H l» Sgr.), welche guter holländischer an Gleichheit, Festigkeit, Feinheit und Glanz wenig nachgab.— Im Ganzen soll jedoch die von den einzelnen Bauern gelieferte Leinewand fester sein, als die Welikie-Silosche, wo mehr rein fabrikartiger Betrieb mit gekauftem Garne ist. Bei dieser Bleiche waren als Aufseher zwei deutsche Landslcutc aus Bielefeld in Westphalen angestellt. Bon ihnen erhielten wir manche Notizen. Die Arbeitszeit des Bleichens ist hier etwa zwei Monate kürzer als in Bielefeld, Sonne und Wasser ist vortrefflich. Der Flachs bleicht sich aber nicht so gut, als der deutsche, weil dieser besser bearbeitet wird. Es sabricirt sich hier theurer, hauptsächlich wegen des hohen Arbeitslohns. Den höchsten Lohn erhalten die Seifer, die freilich auch eine schwere und viel Körperkraft erfordernde Arbeit zu verrichten haben. Ein tüchtiger Bursche seift bis 7U Arschin täglich, und erhält pro Arschin 2'/2 Kopeken Banco, kann also 16 bis 17 Sgr. täglich verdienen. Die Milch ist dagegen hier billiger als in Wcstphalen, der Eimer kostet hier 5 Kopeken Silber, in Wcstphalen «Kopeken (— 2 Sgr. 11 Pf.), allerdings sei aber auch die westphälische besser, im Verhältniß wie 10 zu 8. Hier nahmen wir Abschied von einen: Mann, dessen Belehrung wir so viel verdankten, und kamen gegen Mittag wieder in Iaroslaw an. Wir beschlossen, am andern Tage die berühmte Handelsstadt Nybinsk an der Wolga zu besuchen, wohin uns der Präsident des Domaincnhofes begleitete. Wir reisten den 19. Mai früh ab und kamen gegen 10 Uhr w dem Flecken oder der Stadt Romanow-Borissoglebst an. Dies ist cine berühmte Schmiedegemeinde. Die Einwohner sind N 1N2 fast sämmtlich Schmiede, und verfertigen selbst Dampfkessel. Das am andern Ufer der Wolga gegenüber liegende. Dorf Vorissoglebsk ist dagegen eine reiche Gerbergemcinde. Wir besä-hen im Flecken eine Pferdehaarwchfabrik. Die Arbeiter darin sind Leibeigene, die einen Obrok von 60 Rubel Banco bezah-lcn, sie verdienen dagegen nach ihrer Brauchbarkeit von ?l> Ko ^ pckcn bis 1'/» Nubel Banco (— (j Sgr. Z Pf. biv l.'l Sgr, ^ Pf.j. Nusslschcs BaucinhauS in Romanow, zwischen Iaroslaw und Nibmök. Auf einer spätern Station Maniefskoi erkundigte ich mich, l„n mir überall Bestätigungen schon bekannter Verhältnisse zu sammeln, nach der Landthcilung in dieser Gemeinde. Man sagte mir: nur bei der Revision würde neu getheilt. Stirbt eine Familie aus, oder wandert auö, waS hier an der Wolga nicht selten ist, so fällt deren Antheil an die Gemeinde, welche ihn verpachtet, bis er zu einer neuen Dotirung oder Ausgleichung nöthig wird. Bel Vererbungen erhält hier, wenn nämlich die Gesammthaushaltung auf Antrag der Kinder aufgelöset werden must, was aber immer als ein Unglück angesehen wird, der älteste Sohn das Haus für ein Taratum und theilt mit den übrigen Erben dergestalt, das; er mit seinen Brüdern zu gleichen Theilen geht, seinen Schwestern aber nur jeder ',,. der Wittwe '/, herauszahlt. In den Dörfern, wo wir hielten, wurden wir viel von M'tt- lN3 lern geplagt. Ill dcn Prwatdörfern geschieht es selten oder nur verstohlen, da es verboten ist, der russische Adel es auch für schimpflich hält, wenn seine Leibeigenen betteln. In den Krondörfcm aber ist es ein freies Gewerbe, wie alle anderen Gewerbe in Nußland. Es giebt ganze wohlhabende Dörfer, die von Bettelei leben! Jeder hat sein Bcttlercosiüm, lind im Frühjahr ziehen sie, ans jeder Familie einer oder einige, ans, theilen sich förmlich das Land in Reviere ab, kommen an bestimmten Orten zusammen, um Verabredungen zu treffen :c. Im Herbst kehren sie dann zurück, um das Erworbene im Winter mit den Familien zu verzehren. Rybinsk liegt di Werst von Iaroslaw und ist der Knotenpunkt und Hauptort für den russischen innern Handel. Alle Producte und Waaren, welche auf der Wolga und den ihr zuströmenden Flüssen nach Petersburg verfahren werden, müssen hier in kleinere Schiffe eingeladen werden, lim die verschiedenen Kanalsystemc passiren zu können. Diese Prodncte und Waaren kommen hier auf 1700 bis 1800 großen Schiffen an, und werden auf (i000 Barken und Boote eingeladen lind so nach Petersburg geschickt. Der Werth dieser Waaren soll dann 40 bis 59 Millionen Rubel betragen. Rybinsk war früher, ehe die drei Kanalsystcme, die Petersburg mit der Wolga verbinden, angelegt waren, eine unbedeutende Slobodc (Flecken), dessen Einwohner als Obrok Fische in Natura oder Geld dafür liefern mußten. Sie ist dann zu einer Stadt erhoben, nnd der Obrok den Einwohnern erlassen, die jetzt nichts als die gewöhnliche Kopfsteuer an die Krone, außerdem aber für die Stadtbedürfnisse 50 bis 00,000 Nubel Silber aufbringen müssen. Es sind hier gegenwärtig über 600 Kaufleute der drei Gilden. Außerdem wird der Kram- und Kleinhandel durch die kleinen Bürger (Mestsikani) und den Nasnot-schinzcn (in der Mitte zwischen Bürger und Bauern stehend) betrieben. Diese letztern treiben ihren Handel in der Regel unter der Firma und dem Namen eines Gildckaufmanns. Um zu einer Kaufmannsgilde gerechnet zu werden, bedarf es bloß einer Erklärung und der Uebernahme der die verschiedenen Classen Reffenden öffentlichen Abgaben. Ein Kaufmann erster Gilde zahlt 2.M) Rubel Silber, der zweiten Gilde 550 Nubel, der 1l' 1l>4 dritten Gilde 200 Rubel jährlich. Die Rechte der Gilden sind verschieden. Nur die Kaufleute erster Gilde haben das Recht zum auswärtigen Handel und unlimitirter Contract?. Die der zweiten Gilde dürfen nur Contracte bis zum Betrage von 50,000 Rubeln schließen :c. Wir machten am andern Morgen die Bekanntschaft eines, mehrere Millionen reichen Kaufmanns Tjumcnef, eines echten Bartruffen mit gescheiteltem Haar und im langen blauen Kaf-tan, allein seine Wohnung war schon mit europäischem Lurus eingerichtet, und auch sein bereits vcrheiratheter Sohn erschien in moderner eleganter Kleidung, glatt rasirt, mit Toupct und Vatermördern, natürlich nicht halb so hübsch als der Alte! Der letztere hatte ein kleines Buch über Nybinsk und seinen Handel voll unzuverlässiger statistischer Zahlen, aber sonst gute Notizen enthaltend, geschrieben, welches er mir verehrte.— Wir gingen mit ihm nach der ncuerbautcn Börse, fanden sie aber sehr leer. Unser Alte sagte lins darüber, die echten russischen Kaufleute könnten sich nicht an diese neue Einrichtung gewöhnen, das Durcheinanderlaufen, das Durcheinandersprechen, Schwatzen, Schreien sei ihrer doucen, schweigsamen, beobachtenden, flüsternden Natur fatal. Sie wären gewohnt gewesen, beim Tralteur (Traiteur oder vielmehr Traktir ist ein russisches Wort geworden!) zusammen zu kommen, zusammen Thee zu trinken und ihre Geschäfte zu besprechen und abzuschließen, „von Ohr zu Ohr und nicht öffentlich." Die meisten und wichtigsten Geschäfte würden daher auch noch jetzt außer der Börse gemacht. Wir gingen dann zu dem großen Traiteur nahe der Börse, und fanden richtig die großen Börsenmänner steif und unbeweglich wie Pagoden an den Wänden umher sitzend, ernsthaft, schweigend, Thee schlürfend, schwitzend und hin und wieder einander sich etwas zuflüsternd. Ungeachtet wohl mehr als 100 Menschen hier umher saßen, so war doch gewiß nicht so viel Geräusch, als in der Bierstube einer kleinen deutschen Stadt, wenn zehn Stammgäste zusammen sitzen! Eine der in russischen Traiteurhäusern stets unausweichlichen Spieluhren flötete das timU palpki, und man hätte glauben können, die guten Bartrussen flüsterten bloß deshalb so leise, um sich den herrlichen Gcnuß der Musik nicht zu verderben! In den Tagen 165 des regen Lebens und Handels sollen bei diesem Traiteur täglich 50 Pfund Thee consumirt werden! Von da gingen wir zur Besichtigung der verschiedenen Ar^ ten von Schiffen und Fahrzeugen über, die auf der Wolga gebräuchlich sind. 6s war noch früh im Jahre, darum lagen noch nicht viele Fahrzeuge auf dem Strome, der hier doch schon breiter als die Elbe bei Magdeburg ist, dennoch lag ein Wald von Masten vor uns! Im Sommer ist der Fluß oft so besetzt, daß man von Schiff zu Schiff auf Brettern und, über alle Schisse weg, ans andere Ufer kommen kann. Durch große Reinlichkeit und elegante Bauart zeichnen sich die Beloserkischcn Böte, auch Karbasse genannt, aus, an andern mußten wir das eigenthümliche und sehr hübsche arabeskenartige Schnitzwerk bewundern, womit die Außenwände der Schiffe verziert waren, und welches die Schiffer in den Mußestunden allein mit dem Beile aufschneiden und dann höchstens mit einem gewöhnlichen Taschenmesser oder einem kleinen Meißel etwas nachhelfen. Andere Werkzeuge kennen sie nicht, und wenden sie nie an. Die Neigung, überall Verzierungen anzubringen, ist bei den Großrussen vorherrschend und deutet auf hohe Culturfähigkcit. — Auf den Schiffen fanden wir überall Bibeln, Legenden und Gebetbücher, aber in altslavonischcr Sprache, ein Schiffer überließ mir eins mit geschriebenen Gebeten. Man sagte uns, daß es Roskolniki (Altgläubige) seien, welche nur dies Altslavonische lesen, auch gut verstehen können, aber keineswegs das russische Gedruckte zu lesen vermögen! — Beim Vorbeifahren hörten wir von einem Schiffe ein Schifferlicdchen singen, die Stimme rein, sanft, nicht schreiend, die Melodie in Moll, klagend, schwer-müthig. Auf dem entgegengesetzten Wolgaufer lagen eine Menge Gebäude, Magazine und Schuppen zum Aufbewahren der Pro-ducte und Waaren. Sie waren bloß aus Sparren, Balken und Ständern aufgerichtet. Die Dächer- und Fachwändebekleidung bestand nur aus Bastmatten. Eine Anzahl Arbeiter waren mit Zimmerarbeit beschäftigt. Ein junger Bursch hieb in unserer Gegenwart ein sechseckiges, einen halben Fuß breites und tiefes Loch, mit dem Beile aus. Er hatte es sich vorher nicht Hin-gezeichnet, sondern haute bloß nach dem Augenmaß. Als er f^'tig zycn^ maß?n wir es; alle Seiten waren völlig gleich, die l 6<> Winkel richtig. Es war cine ganz regelmäßige mathematische Figur geworden, die keiner von uns auch nur mit Kreide alls freier Hand vhne Lineal und Winkelmaß würde hingezeichnct haben. — Ein anderer Bursche verhallte sich ein paar Mal. Als wir ihn auslachten, sagte er ironisch: „Ja Kronsschleifstcin ist immer schlecht!" Bei dem Traiteur, wo wir am Mittage aßen, hing eine Art Guitarre an der Wand, die Torban, sie hat 27 bis 36 Saiten; es aber war Niemand zugegen, der sie spielen konnte. Nybinsk zählt eigentlich nur etwa 6000 angesessene Einwohner, aber im Sommer steigt die Zahl bis auf 130,000, die herkommen und fortziehen, nach ihren Geschäften, und dabei sind nie mehr als drittehalb tausend Weiber hier! Welche sonderbare und für uns Westeuropäer schwer zu begreifende Verhältnisse! Die meisten Leute dieser Volksmenge sind Lohnarbeiter, die der Schiff- und Handelsverkehr hierher zieht. Unter ihnen ist eine sehr interessante Classe, die der Burlaki (SchiWeher). Sie haben sich förmlich zu Gemeinden und in Artells consti-tuirt, haben ihre gewählten Vorsteher, Starosten, Wirthe, und sind ein höchst tüchtiger Schlag von Menschen. Sie sind meist aus den an der Wolga liegenden Gegenden, doch auch bis ins Rjasansche Gouvernement hinein. Ein solcher Burlak erhält für die Reise von Samara bis Nybinsk, die auf gradem Wege vielleicht 1000 Werst, mit den Krümmungen des Stromes aber gewiß mehr als 1500 Werst aus einander liegen, 70 Nubel Banco, für die Tour von Nishm-Nowgorod, vielleicht 700 Werst, 50 Rubel Banco. Die Reisedauer ist vielen Zufälligkeiten uip terworfen, und variirt zwischen Nishni und Nybinsk von 1i Tagen bis 6 Wochen. Wenn er Glück hat, so kann der Bur lak während eines Sommers die Neise von Samara bis Nybinsk drei Mal machen, und hat dann etwa 60 bis 70 Rubel übrig. Hat er aber mit Widerwärtigkeiten in der Dauer der Reisen zu kämpfen, und kann nur etwa zwei Mal die Reist machen, so verzehrt er auch meist seinen ganzen Verdienst. Zu jeder Barke gehören einige der Böte, die der Eigenthümer stellen muß, und worauf die Burlackcn die Rückreise nach Nishm-Nowgorod in drei Tagen machen. Bei diesem ungeheuren Andränge voll Menschen all diesem ts>7 gar nicht großen Orte kann man sich wohl vorstellen, daß oft augenblickliche Theurung von Lebensmitteln eintritt. Das soll denn, wie man uns erzählte, oft von den Kanfleuten, Schiffö-eigcnthümern, Kornhändlcrn u. benutzt werden, ntn jene Massen von Arbeitern und geringen Leuten auf alte Weise durch wucherische Vorschüsse, Anleihen :c. zu drücken und zu betrügen. Schon manche haben hier das Bedürfniß von Magazinen, worin jene Arbeiter für feste Preise Korn oder Mehl erhall ten könnten, und eine feste Regutirung der Preise der Arbeit für Mann und Pferd nach den Marktpreisen des Mehls und Hafers, gefühlt und ausgesprochen. Die russische Polizei ist gut, um Ordnung zu halten, und Verbrechen und Vergehen zu verhüten und zu entdecken, aber bis jetzt, außer etwa in den Hauptstädten, wenig thätig, eine väterliche Fürsorge zu entwickeln und zu leiten. Wir gingen noch bis Abends spät spazieren; es sind einige hübsche Promenaden vorhanden, und der Quai am Flusse ist luxuriös von prächtigem Granit mit Gußciscngeländer angelegt. In Nordrußland wächst Granit und Eisen gleichsam wild! Wir begegneten vielen Lootsen und hörten, daß sie aus ei-nem benachbarten Dorfe Koprino an der Wolga gebürtig seien, wo, wie in Nußland überall, wiederum die ganze Gemeinde aus nichts als Lootsen besteht. Gegen U Uhr Abends fuhren wir aus Rybinsk und langten am andern Morgen wieder in Iaroslaw an. Auf der Hin--reise hatte ich bemerkt, daß auf diesem Landstriche eine bessere (5ultur herrschte, als ich bisher angetroffen hatte; die Felder waren zum Theil eingefriedigt. Die Nähe des großen Flusses macht dies übrigens erklärlich. Die Dörfer an dieser Straße sind meist klein, die Häuser und Gehöfte haben eine freiere Lage und hängen nicht mehr so unmittelbar, stadtartig geschlossene Straßen bildend, aneinander. Wir brachten diesen Tag, 21. Mai, so wie den größten Theil des folgenden noch in Iaroslaw, in Gesellschaft des Herrn Gouverneurs und dcö Präsidenten des Domainenhvfs, zu, und besuchten noch einige dortige Fabriken, unter andern eine ur "lte, nach den von Peter I. eingeführten Principien eingerichtete, und dann eitle ganz moderne. Die erstere war die Iat'oflewschc 168 Leinenfabrik. Sie liegt außerhalb der Stadt und man muß erst ein ehemals zur Fabrik gehöriges Dorf passiren. Dann kommt ein großer freier Platz, an dessen Ende cm Thor zu dem Fabrikhofe führt. Die Fabrik sieht mit ihren langen regelmäßigen steinernen Gebäuden mit kleinen Fenstern und ihrer nach europäischen Mustern gebauten stattlichen Kirche wie ein deutsches Kloster, etwa eine Benedictinerabtei, aus. Ihre Besichtigung aber gewährte nicht viel Freude, sie machte den Eindruck völligen Verfalls. Die Arbeittzräume waren schmutzig und dunkel, die Maschinen alt und verbraucht, Aufseher, Arbeiter und Arbeiterinnen sahen unordentlich, träge und verkümmert aus. Diese Leinenfabrik wurde unter Peter I. 1720 von dem Kaufmann Satrapesnow gegründet. Das Gouvernement legte nach damaligen staatswirthschaftlichen Grundsätzen der Fabrik 1200 Kronbauern zu, unter der Bedingung, daß die Fabrik sich lediglich auf Bereitung und Fabrication des Flachses beschränke und für Nahrung und Beschäftigung der Bauern sorge. Die Fabrik blühete auf und gewann immer größeren Umfang, besonders als sie 1768 durch Kauf an Iakoflew kam; es wurden noch Bauern hinzugekauft, es fanden sich sogar viele Freiwillige, die sich in einer der Revisionen der Fabrik zuschreiben ließen. Das war die Glanzperiode der Fabrik; damals war die Leinwandmanufactur vorherrschend, es war ein ungeheurer Absatz, oft jährlich für mehr als 2 Millionen Rubel Silber, und 100 Procent Gewinn. Die Bestellungen der Krone allein betrugen meist jährlich für mehr als 200,000 Rubel Silber. Die günstige Lage nahe bei einer bedeutenden Stadt, an der Wolga, die Ausstattung mit so vielen Menschenkräftcn (es gehörten zuletzt gegen 3000 Seelen zur Fabrik), alles dies macht die hohe Blüthe erklärlich. Für die der Fabrik zugeschriebenen Bauern ward neben ihr ein Dorf gebildet, wo die Bauern Häuser und Gärten, aber kein Land erhielten; den später Hin-zugekommenen ward ein Hausplatz angewiesen und ein Borschuß zum Hausbau gegeben, den sie mit 25 Procent von ihrem Iahreslohn wieder zurückzahlen mußten. Die Leute im Dorfe erhielten von der Fabrik Proviant, nämlich monatlich für jeden Erwachsenen, Mann oder Frau, 1'/, Pud Mehl, sür jedes Kind 1 Pud Mehl, für jeden Säugling baar 1«9 30 Kopeken Silber. Sie mußten in dcr Fabrik arbeiten, wann sie bestellt wurden, und erhielten dafür an Lohn: der Mann 100^120 Rubel, eine Frau 50 Rubel, Kinder bis zu 20 Rubel. Dies wurde nach dem Maß der gelieferten Arbeit znu Arschin berechnet. Jetzt ist sie allmählich in Verfall gerathen. Neuere Fortschritte in den Manipulationen und dem Maschinenwesen, die allmählich entstandene größere Concurrenz, die ungemein aufblühenden Baumwollenfabriken, welche alle Leinensabrication in Rußland niederdrückt, sind die Hauptmsachen; dazu kommen die immer mehr steigenden Lohnsätze der Arbeiter, weshalb diese anderswo, wo schon höhere Lohne gezahlt werden, Arbeit suchen und finden. Die Fabrik ist durch Erbschaft an 33 Eigenthümer gekommen, und da sie gesetzlich nicht getheilt werden darf, so ist natürlich bei solcher Gcsammtadmmistration keine Energie und frische Thätigkeit vorhanden. Die Bestellungen der Krone hatten aufgehört. Ungeachtet noch 1840 ein Umsatz von 600,000 Rubel geschah, war doch schon seit 10 Jahren ein Deficit in dcr Einnahme. Jetzt hat man neuerdings einen Versuch der Reorganisation gemacht. Die Krone hat die zugeschriebenen Bauern, die ansingen eine Last der Fabrik zu werden, zurückgenommen, und ihr 35,000 Rubel Silber dafür vergütet. Das Dorf ist als eine Borstadt zur Stadt Iaroslaw genommen, die sich aber über dieö Geschenk als eine große Last (die Leute sollen völlig verwildert sein) sehr beklagen soll! Die angekauften Bauern besitzt die Fabrik noch, hat sie aber auf 8 Rubel Silber pro Taiglo auf Obrok gesetzt, sie muffen jedoch für den gewöhnlichen Lohn an der Fabrik arbeiten, wann es gefordert wird; geschieht dies nicht, so können sie anderswo sich Arbeit suchen. Das ganze Arbcitswcsen ist jetzt mehr als in andern modernen russischen Fabriken orgamsirt. Die Provi'antlieferung und Holzliefcrung an die Arbeiter hat aufgehört, aber dcr Lohn hat um 20—30 Procent gesteigert werden müssen. Statt der ehemaligen 13—1500 Webstühle in den Fabrikgebäuden selbst swd jetzt deren nur 200 hier, und außerdem etwa 300 auf dem Lande bei den Leuten selbst. Die Arbeit wird stückweise bezahlt. Eine Fvau, die Hemdenleinen webt, erhält !»,«» Arschin 0 Kopeken, und da sie in einem Tage mit Leichtigkeit 10 -12 Arschin 170 webt, so verdient sic 60 bis 80 Kopeken Banco (^ ll bis 8 Sgr.). Ein Mann, der Tischtücher webt, erhält pro Arschin 1 Rubel 10 Kopeken, und kann täglich 2 Nubcl (--- 18 Sgr.) verdienen. Einen Mann, der Servietten webte, fragten wir, wie viel er verdiene; er antwortete, er erhalte l>i<» Arschin 34 Kopeken und könne 4 bis 5 Arschin weben, verdiene also 13(i bis 170 Kopeken (— 14 bis 17 Sgr.). Man vergleiche doch einmal mit diesen Lohnsätzen die der schlesischen Weber, und berücksichtige dabei die Preise der ersten Lebensbedürfnisse, z. B. des Korns, hier für den Scheffel etwa 12 bis 15 Sgr., in Schlesien 1 Thlr. 20 Sgr.! Ich glaube, es giebt kein Land, wo der Arbeitslohn vcrhältnißmäßig und durchschnittlich so hoch steht, als in Nußland! Dem Leinmgcwebe wird hier ebenfalls schon Baumwolle zu gemischt. Die Fabrik besitzt Verkaufsbuden in Iaroslaw, in Nishni-Nowgorod und Moskau. Außer einer eigenen Kirche hat sie auch eine Schule für die Kinder der Fabrikarbeiter, ein Hospital für kranke und hülflose Fabrikarbeiter und eine Apotheke. Wir besuchten dann uoch cm ganz modernes Fabrikwesen eineS ruffischen Gewcrbmannes, Namens Olowianischnikow, in Iaroslaw selbst. Wir kamen auf einen großen Hof mit vielen und ausgedehnten Gebäuden. Born unter einem Schuppen hing zunächst eine große Anzahl Kirchen- und andere Glocken, darunter eine mächtige von schönem Klänge, 202 Pud (— 707<» Pfund) schwer. Sie waren aus der hier befindlichen Glockengießerei unsers Gcwcrbmannes hervorgegangen. Sie werden jedes Pud zu 42 Rubel B. berechnet und bezahlt, wobei es gleichgültig ist, ob sie groß oder klein sind. Dann war auf dem Hofe eine Blciweißfabrik, eine Kattunfabrik und eine Scidcnfabrik. Letztere besahen wir etwas aufmerksamer; es waren hübsche Zeuge aus italienischer und armenischer Seide, zum Preise von 2'/2 biß 10 Nubcl Banco i>l<> Arschin (von 23 Sgr. bis 3 Thlr.). Ein sehr hübscher nationaler Seidenstoff, gestreift, von schreienden Farben, welchen vorzugsweise die Kosakenwciber tragen, sindct bei diesen jährlich einen Absatz von 30M0 Arschin zu 2 Rubel 40 Kopekcn Banco. Es wurde auf einigen zwanzig Webstüh len gearbeitet. Die Höhe der Arbeitslöhne war denen in den 17!^ übrigen Fabriken ähnlich. Die Arbeiter verdienten täglich ll bis 20 Sgr. Von diesen leichten Stoffen webt ein Mann täglich ungefähr <> bis 7 Arschin und erhält i'i-u Arschin 20 Ko-Pekcn Banco, von den feinen broschirten Stoffen 1'/. biö 2'/» Arschin und erhält l'i-l, Arschin 1 Nubcl Banco. Ich will hier noch einige Bemerkungen über das Gouvernement Iaroslaw im Allgemeinen folgen lassen, wobei authentische Quellen von mir benutzt worden sind. Ich mache von diesen Quellen folgende namhaft: 1) Ueber die Industrie einiger Bezirke des Gouvernements Iaroslaw von Hein. v. Lann. 1841. (Eine sehr ausgezeichnete Arbeit.) Ungcdruckt. 2) Monographische Notizen über einzelne Dörfer im Gouvernement Iaroslaw, mir auf mein Ersilchen vom Domaincn-hofc in Iaroslaw mitgetheilt. 3) Ueber die Industrie der Bauern und die Jahrmärkte im Gouvernement Iaroslaw. 4) Bericht an das Ministerium des Innern über das Gouvernement Iaroslaw. 5) Monographie der Stadt Iaroslaw, abgedruckt im Journal des Ministem des Innern vom Jahre 1843. VII. Allgemeine Betrachtungen übei das Gouvernement Iaroslaw, Dessen Industrie und Ackerbau. Die großen Güter und die Vaueinwirthschaften. Die nationalen Associations-Fabricatioum ober bic Gcwrrbsgemcindcn und die modernen Fabriken, deren Vortheile und Nachtheile. Ihre mögliche nationale Organisation. Statistische Notizen über 5 Kreise und Betrachtungen darüber. Dcr städtische Haushalt der Stadt Iaroslaw. Aas Gouvernement Iaroslaw gehört zum eigentlichen Kern des von Großrusscn bewohnten Theils der Monarchie. Der Boden ist besonders in den nördlichen und nordwestlichen Gegenden wenig fruchtbar, das Klima ist schon rauh, aber heiter und gesund, die Lage, auf beiden Seiten der Wolga und von mehreren Flüssen durchströmt, ist vortheilhaft, der Menschenschlag ist anerkannt der schönste und tüchtigste unter den Großrussen. Für die Richtung der Erforschung und Untersuchung russischer Zustände, die ich mir als Ziel gestellt habe, ist dieser Landtheil der russischen Monarchie einer der interessantesten. Man findet hier, wie gesagt, ein kerniges Volk mit ausgeprägter Nationalitnt, kämpfend mit der Ungunst des Klimas und Bodens, daher zum großen Theil schon seit Uralters her auf industrielle Gewerbe angewiesen, nun aber in neuerer Zeit zugleich mächtig in den Wirbel des in Nußland erwachenden Fabrikwesens hineingerissen. Bei rohen Völkern ist der Ackerbau die erste Stufe, womit und auf der die Cultur beginnt. Anfangs befriedigt er meistens die einfachen Bedürfnisse der Wölker, aber bei steigender Wolksmenge und steigender Cultur entwickeln sich mehrere und andere Bedürfnisse, nach Oertlichkeit, Zeit und Cultur eines Mn Volks verschieden, 173 Ob es Völker gegeben hat, die mit Umgehung des Ackerbaus sich gleich dem Handel und der Industrie zugewendet haben, ist historisch nicht aufzuklären. Mit den Phöniziern und ihren Colonicn, sowie mit einigen griechischen Städten scheint es der Fall gewesen zu sein; ob sie aber nicht dennoch eine unbekannte Epoche ihrer Urgeschichte gehabt haben, wo sie vom Ackerbau zur Handelsindustrie übergegangen sind, wer weiß das? Von größeren Völkern, die ein bedeutendes Binnenland bewohnt haben, ist kein historisches ohne die Grundlage des Ackerbaus gewesen. Das aber finden wir häusig, daß Völker oder Bolksabthei-lungen, die wir ursprünglich als lediglich ackerbautreibend kannten, auf einer gewissen Stufe der Cultur zu industriellen und Handels-Bcrhältnissen übergehen. Unfruchtbarkeit des Bodens, zunehmende Bevölkerung und daher zugleich Mangel an Ackerboden drängen häufig dahin. DiescS ist denn auch mit einem Theile Nußlands und namentlich mit einem Theile des jetzigen Gouvernements Iaros-law der Fall. Schon im Mittelalter finden wir hier eine ausgedehnte Industrie und bedeutenden Handel, die beide von der einen Seite durch Nowgorod und Pskow mit den Hanseaten, auf der andern Seite mit Asien in Verbindung getreten waren. Seit Peter I. die Ostsee dem unmittelbaren russischen Handel öffnete, seit die neuen kolossalen Canalsysteme großartige Verbindungen nn Innern und des Innern, mit Petersburg und der Ostsee, begründeten, hat Industrie und Handel vorzugsweise im Gouvernement Iaroslaw einen Mittel- und Knotenpunkt gefunden. Der schlechte Boden und der Mangel an Boden haben aller-bmgs dazu beigetragen, diese Richtung im Volksleben hier zu bilden, allein die natürlichen Neigungen und die angeborenen Talente des russischen Volks nach dieser Richtung hin haben auch das Ihrige dazu gethan. Der Boden des Gouvernements ist wenig fruchtbar, man rechnet durchschnittlich nur das dritte Korn. — Aber die natürliche Unfruchtbarkeit könnte durch erhöhete Düng- und Meliorations-Kräfte und durch angestrengteren Fleiß sehr gehoben Werden. Hü>zu geschieht aber so viel wie Nichts. Waö einige Gutsbesitzer, namentlich z. B. Herr von Karnowitsch, in dieser 174 Beziehung gethan haben, hat bis jetzt überhaupt wenig, bei den Bauern aber fast gar keine Nachahmung gefunden. Die Ursache liegt, wie schon oben gesagt ist, auf der Hand. Alle Gewerbe und der Handel lohnen hier hinreichend, aber der Ackerbau lohnt nicht die vermehrte darauf verwendete Kraft und die zur Verbesserung hineingesteckten Capitalien! Uebrigens darf man allerdings bei Beurtheilung hiesiger Verhältnisse nicht den Maßstab anlegen, den man bei südlicher und westlicher liegenden Ländern, bei Frankreich, England, Mitteldeutschland, gewohnt ist. In diesen nördlichen Gegenden kostet der Ackerbau, abgesehen von der Fruchtbarkeit des Bodens, von vorn herein mehr Arbeitskräfte von Menschen und Thieren, als in jenen südlichen, er gewährt also weniger reine Bodenrente. Der wichtigste Theil der Landwirthschaft, die Bestellung und das Abernten des Ackers, ist in Bezug auf die dabei erforderlichen Arbeiten in jenen südlichen Gegenden auf eine viel längere Zeit vertheilt, ist also in solchem Verhältnisse um so viel wohlfeiler, als hier. Diese Arbeiten sind z. B. um Orleans, bei Mainz, in den Ländern an der Donau auf 7 Monate vertheilt, während sie hier des kurzen Sommers wegen auf 4 Monate vertheilt werden müssen. Was ich also dort auf einem Acker von gleicher Größe nnd Qualität mit 4 Menschen und 4 Pferden an Arbeit leisten kann, dazu bedarf ich hier 7 Menschen und 7 Pferde. Wenn ich bei Mainz ein Gut von 1000 Morgen Acker und Wiesen besäße/ so würde ich zu dessen Vewirthschastung 4 Gespann Pferde, 8 Knechte und tt Mägde, und vielleicht noch 1500 Arbeitstage von freien Tagelöhnern nöthig haben. Die Bcwirthschaftungv-kostm in Bezug auf Arbeit von Menschen und Thieren würden alödann sich etwa auf 3500 Thlr. stellen. Dicse von der Brutlo-rmte dcö Guts aä 8500 Thlr. abgezogen, lassen eine reine Bodenrente von 5000 Thlr. übrig bleiben. Läge nun aber ein Gut von gleicher Größe und Qualität des Bodens nördlich der Wolga, so würden, gesetzt auch, die Durchschnittspreise der land-wirthschaftlichen Producte und alle übrigen sonst zu berücksichtigenden Verhältnisse wären dieselben, schon bloß des KlimaS wegen zur Bewirthschaftung etwa 7 Gespann Pferde, 1,4 Knechte, 10 Mägde und 2100 Arbeitstage freier Taglöhncr nöthig stin, 175 sich also die reine Bodenrente statt auf 5N0U Thlr., nm auf 2000 Thlr. stellen! Dies Mißvcrhältniß würde stch ausgleichen, wenn man im Winter, wo die Ackerarbcitm ruhen, die Arbeits-thicre und theuren Mcnschcnkräfte abschaffen könnte^). Die Kosten sind gleich, wenn ich 4 Gespann Pferde 7 Monate, oder 7 Gespann 4 Monate lang ernähren muß. Könnte man mm bei Mainz auf 5 Monate und oberhalb Iaroslaw auf 8 Monate Gespanne und Dienstboten abschaffen, so hätten beide Güter gleich hohe Nitthschaftskostcn. Das ist aber kaum in einem vereinzelten Falle, niemals aber bei Verhältnissen eines ganzen Bandes möglich. Bei dieser Unmöglichkeit stellen sich nun aber die Verhältnisse für daS Gut bei Mainz unendlich viel Vortheil-haftcr heraus, als bei dem in der Gegend von Iaroslaw. Das Gut bei Mainz hat auf derselben Fläche im Winter nur '/, von der Zahl der Pferde und Arbcitsleutc zu ernähren, als das bei Iaroslaw; es hat sie nur 5 Monate, das letztere aber 8 Monate zu ernähren. Allein abgesehen hievon, es vermag ihnen auch noch ungcmein viel andere wirthschaftlichc und also lohnende und Gewinn abwerfende Arbeiten zu gewähren, als das Gut bei Iaroslaw. Der Winter ist nicht so streng, so gleichmäßig anhaltend, so die Erde mit einer undurchdringlichen Schneedecke überziehend. Man kann die vorhandenen und theuer zu ernährenden Menschen und Thiere zu allerlei Arbeiten verwenden; man fährt Mist, Erde, Mergel, Kalk zur Verbesserung bes Ackers auf das Land, man fährt Brenn- und Bauholz für den Bedarf des ganzen Jahres heran, man verfährt die Pro-ducle zum Markte. In den Zeiten, wo eS nicht friert, lassen sich manche Crdarbeitcn vornehmen; man zieht Wassergräben, legt sogenannte Fontanellen an, bewässert die Wiesen. Die Mägde müssen ill den müßigen Stunden den Flachs bereiten und spinnen:c. Kurz, »nan vermag die ganzen 5 Wintermonatc Thiere und Menschen in der Landwirthschaft selbst zu bcschäf-ligen, und wenn dies auch bei den kurzen Tagen nicht in dem ') Wirtlich schassen auch vielc Vauen, nach der Ernte ihre Pferde ab, und kaufen im Frühjahr neue. Da dic Fuhrleute vorzugsweise im Winter lhnn Verdienst habm, so kaufen diese dann die Pferde im Herbst von dm Bannn. 176 Maße wie im Sommer geschieht, so könnte man doch höchstens rechnen, daß man etwa 2 Pferde und 1 Knecht überflüssig hätte und für die 5 Wintcrmonate abschaffen könnte. Aber auch dies wird nicht nöthig. In sehr bevölkerten und gewcrbreichcn Gegenden wird man mit müßigen Gespannen und Knechten stets noch einige Nebenverdienste durch Lohnfuhrcn und sonstige für andere zu übernehmende Arbeiten finden können, so daß «nan annehmen muß, daß in einer solchen wohlorganisirtcn Landwirthschaft durchaus keine Verluste an Arbeitskräften, also auch nicht im Vermögen eintreten. — Ganz anders würden sich alle diese Verhältnisse bei dem Gute oberhalb Iaroslaw stellen. Hier hat man den ganzen Wmtcr keine andere landwirthschaftlichc Beschäftigung, als etwa das Anfahren der nöthigen Holzvorräthe und das Verfahren der Productc zum Markte, was kaum ein Gespann anhaltend beschäftigen würde! Der Winter oder wenigstens die unthätige Zeit dauert aber hier 8 Monate und ich habe V, mehr menschliche und thierische Arbeitskräfte! Berücksichtigt man nun noch die verhältnismäßig niedrigen Preise der landwirthschaftlichen Producte, die Entfernung der Märkte, die dünne Bevölkerung, daher die hohen Arbeitslöhne, endlich, daß die deutschen und französischen Arbeitspferde sehr viel besser ziehen und ausdauernder arbeiten, auch die russischen Arbeiter durchaus sich nicht in Bezug auf Ausdauer mit den deutschen vergleichen lassen, so ist es ganz klar, daß der größte Theil der oben berechneten reinen Bodenrente absorbirt wird. Nun haben wir aber noch dazu angenommen, daß das Gut bei Iaroslaw so fruchtbares Land besäße, wie das in der Ebene von Mainz liegende. Dieses würde aber tt bis 7 Körner Ertrag gewähren, während das bei Iarvslaw in der Wirklichkeit kaum A Körner geben würde! — Aus diesem imaginairen Rechnenerempel sieht man also zur Genüge, daß, wenn man Jemanden das Areal eineS Gutes bei Iaroslaw schenkte, unter der Bedingung, auf demselben einen Wirthschaftshof anzulegen, wie er im mittlern Europa herkömmlich ist, ein angemessenes Wirthschafts-Inventar anzuschaffen, und nun eine Landwirthschaft dort einzurichten und zu führen, wie sie ebenfalls im mittlern Europa gebräuchlich ist, er sich für daß Geschenk freundlichst bedanken müßte! Er würde nicht 177 allein gar keinen Vortheil, gar keine Bodenrente haben, sondern er würde jährlich bedeutend zuschießen müssen! -^ Man sieht also, daß man in diesen Gegenden auf großen Gütern den Ackerbau für sich allein nicht als ein lohnendes Gewerbe treiben kann. Aber aufgeben kann man ihn dennoch nicht, er ist eine eiserne Nothwendigkeit! Der Ackerbau besteht aus 2 Elementen. Er ist ein Amt, ein von Gott den Menschen auferlegter Dienst: „Du sollst im Schweiße Deines Angesichts das Feld bauen!" — und in sofern darf und kann man ihn nicht aufgeben, man muß ihn treiben, selbst wenn in pecumarcr Hinsicht bei seinem Betriebe ein sogenannter Schaden wäre, denn er gewährt im Ganzen und Großen und namentlich für ein Binnenland allein die Mittel zur unmittelbaren Ernährung der Menschen und Thiere. Sein zweites Element ist aber seine gewerbliche Natur, und diese entwickelt sich erst allmählich beim Fortschreiten der Cultur. In dieser Beziehung ist er aber Gegenstand der Berechnung; man stellt in Frage, in wiefern er getrieben werden soll, wenn pecu-niärer Schaden vorhanden ist? Wie es nun einmal gegenwärtig steht, muß ich meine Meinung über den Ackerbau in diesen Gegenden Rußlands dahin ausspvechen: Große Gutswirthtzschaften können hier nur auf zwei Arten erisiiren: erstens als Frohndenwirthschaften, so daß der Gutsherr nicht selbst Knechte, Mägde und Zugvieh zu halten und zu ernähren, oder mit andern Worten, daß er keine Wirthschaftskosten zu tragen hat; oder zweitens, daß eine e'gene Landwirthschaft mit Knecht- nnd Zugviehwirthschaft ein-3krichtct wird, mit derselben aber fabrikartige Gewerbe verei-"lgt werden, wodurch die vorhandenen und von der Landwirthschaft nicht absorbirten und benutzten Arbeitskräfte von Menschen und Zugvieh nachhaltig und pecuniar vorthcilhaft benutzt werden. Daß eine gewisse Anzahl, wenn auch nicht übermäßig viele große GutLwirthschaften in diesen Gegenden cristiren, halte ich sür durchaus nothwendig. Ohne sie ist an Fortschritte des Ackerbaues, die in Nußland nothwendiger sind, als man bis M noch einsieht und begreift, niemals zu denken. Dann aber bedarf Nußland eines Adels auf dem Lande, wie eines Bürger- 12 1?^ thumö in den Städten; das wird sich aber nicht ausbilden, wenn der Adel keine Landgüter und Landwirthschaften hat, die ihm den Aufenthalt aus dem Lande angenehm und nothwendig machen. Bis jetzt lebt er größtentheils im Dienst oder in den Städten, er ist ein Stadtadcl, wie der italienische, und lebt wie dieser von Landrcnten (Obrok). Ist aber das Dasein solcher großer Güter eine Nothwendigkeit für den Culturfortschritt und somit für die Wohlfahrt des Volks, so darf man auch jetzt die Leibeigenschaft noch nicht aufheben*); aber man kann sie in ein gesetzlich normirtes Verhältniß umwandeln, mit feststehenden Frohndcn und Zügelung jeder persönlichen Gewalt, wie der Ukas vom 2. Sept. 1842 im Auge gehabt hat. Die zweite Art der oben bezeichneten Landwirthschaften: große Güter ganz auf westeuropäische Weise rationell bewirthschaftet und mit fabrikartigen Gewerben verbunden, würden zwar für diese Gegenden ein großer Segen sein, allein sie können nicht einen Nationalzustand bilden. Zn ihrer Einrichtung, Erhaltung und Fortführung gehört hohe Bildung, Intelligenz, rastlose Thätigkeit, energischer Charakter, was man natürlich zusammen nur als eine seltene Ausnahme finden wird! Wo sie vorhanden sind und sich gebildet haben, müßte das Gouvernement auf alle Weise sie zu erhalten und zu unterstützen suchen, denn sie allein können als Musterwirthschaftcn allmählich bessere Intelligenz verbreiten. Die Erfahrung lehrt überall, daß ihre ersten Begründer meist die Märtyrer der guten Sache werden und sich ruimren. Herr v. Karnowitsch ist ein zu einfacher Mann, von sehr wenigen Bedürfnissen, er hat sehr vorsichtig angefangen und wird sich nicht ruiniren, aber dennoch glaube ich nicht, daß *) Die Leibeigenschaft und ihrc Aufhelmna, oder Umwandlung »mißte >>' Rußland stets rine ^m'alfmge, l'mie allgemeine Slaatöfrage sein; al'N' eö frhlt in Rußland an Al'tlmlmigen, die ein besonderes slaatlichcS Lcben in sich cnlsallet habm, wir die lleinen Fiirstenlhümrr Deutschlands, die >edcs ein angemessenes mdividurllcS NeclMIeben l'chlmi. Dir Gm,z" dcr alten ThcilfürstciUhlimcr in Nusiland sind gänzlich unwischt, darlM an eine Provinzmlgsschgrbim^ die in Vrzng auf die ländliche, VnU!1 eigentlich Bedürfniß wäre, tamn zn denken isl. Nusiland ist ein Associations-Staat, nicht, wic Dmlschland, cin ssl'l'poratil'nö. Swat! l79 die von ihm auf Meliorationen verwendeten Capitalien sich bis jetzt glänzend rentiren! Was nun die Landwirthschaft der Bauern in diesem Gouvernement betrifft, so ist zunächst der Ackerbau nur auf das Nothwendige beschränkt. Auch hier tritt die Ungunst des Bodens und Klimas nor-mirend und gesetzgebend hervor. Der Boden belohnt die Arbeit gering, das Product muß weit nach den Märkten verfahren werden und gilt sehr geringen Preis. Die Kräfte des bäuerlichen Zugviehs sind schwach, der russische Arbeiter liebt die gleichmäßige und schwere Ackerarbcit nicht. Ist es da nicht natürlich, daß der russische Bauer in diesen Gegenden den Ackerbau nur treibt, um das nöthige Brodkorn und Viehfutter zu erlangen, nicht aber, um irgend eine Landrcnte zu gewinnen, was ohnedem kaum zu erstreben wäre? Es ist kein Verwenden der Arbeitskräfte von Menschen und Vieh, sondern ein Ersparen derselben beim Ackerbau, was in seinen Interessen liegt! Er bestellt eine möglichst große Fläche auf die aller-einfachste und wenigst mühselige Weise, und erntet dann auch natürlich nur eine geringe Masse Korn. Aber wollte er ein kleines Feld melioriren, in Stand setzen und dann sorgfältig bestellen, so würde er zwar eine bessere Ernte gewinnen, allein er würde, da das Product einen sehr niedrigen Preis hat, dennoch, wenn er seine Arbeit zu Gelde anschlägt, und was er etwa wirklich zur Verbesserung verwendet hat, hinzu rechnet, leicht berechnen können, daß er viel zu theuer producire und also keinen Vortheil habe. Es giebt Gegenden in Europa und gewiß auch in Nußland, wo der Bauer seine auf den Ackerbau verwendete Arbeit gar nicht in Anschlag bringen kann, weil er sie auf keine andere Weist zu verwenden und also zu verwerthen vermag. In solchem Falle kann er nicht von Schaden sprechen, wenn er auch noch so viele Arbeit auf den Ackerbau verwendet, der geringste Vortheil ist doch immer ein Vortheil und besser als gar nichts! Es tritt dann der Fall ein, wie bei jenem französischen Bauer, von dem Arthur Ioung erzählt! Allein bei dem russischen Bauern im Gouvernement Iaroslaw ist das anders; dessen Ar-eit hat für ihn einen boben pecumären Werth, und hieran 12 ^ 180 sind die industriellen Gewerbe schuld, die in diesem Gouvernement blühen. Wir haben oben angeführt, daß die landwirtschaftlichen Arbeiten in diesen Gegenden auf die vier Sommermonate sich zusammendrängen. In dieser Zeit beschäftigen sie alle vorhandenen Arbeitskräste. Allein in den übrigen 8 Monaten ruhen diese in Bezug auf den Ackerbau nunmehr auch ganz vollständig. — Was war nun seit Uralters (der Beginn ist wirklich geschichtlich nicht aufzuklären!) die Folge davon? Die Folge war eine höchst merkwürdige Entwickelung industrieller Gewerbsamkeit, und zwar auf dem Lande vollkommen eben so stark, als in den Städten! Die Lage des Landes war dazu schon immer höchst günstig, und wir finden hier, wie gesagt, schon im Mittclalter Gewerbe und Handel in Blüthe; allein ganz besonders ist seit dem beginnenden Flor von Petersburg als Haupthandelßort des ganzen Reichs die Gewerbsamkeit des Gouvernements Iaroslaw unermeßlich gestiegen. Nach dem unifassenden Plane Peter's l. ward der Haupthafen der Ostsee, Petersburg, mit dem Hauptstusse des ganzen Reichs, der Wolga, und sonach auch mit allen ihren Nebenflüssen durch 3 bewunderungswürdige Canalsystcme in Verbindung gesetzt. Diese mündeten in der Gegend von Rybinsk in unserm Gouvernement in die Wolga, und dadurch ward dieser früher unbedeutende Ort, weil die Umladungen auf andere Arten von Fahrzeugen hier nöthig wurden, das ungeheuerste Waarendepot, was in Rußland cxistirt. Das gab denn auch den Anhaltspunkt für die ganze Gewerbsamkeit des Gouvernements. Diese Gewerbsamkeit umfaßte zunächst die rohen Producte des eigenen Landes, welche von den Einwohnern und Producenten in den 8 Wintermonaten, wo ihnen die landwirthfchaftlichcn Arbeiten hinreichende Muße gewährten, in Fabricate verwandelt und als solche zu Markte gebracht wurden. Den Anstoß zur Gewerbsamkcit erhielten die Einwohner dieses Landes zunächst aus dem Fundamente ihrer individuelle», Natur und ihrer Talente. Der hiesige Russe ist aufgeweckt, lebendig, thälig, ist voll Talent zur Erfindung und Nachahmung, 18l auf Erwerb begierig, zum Handel geneigt*). Dann aber ist auch ein mächtiger Anstoß aus den Verhältnissen der Leibeigenschaft gekommen. Der größere Theil dieser Leibeigenen war nämlich von jeher nicht Frohnbauer, sondern auf Geldabgabe (Dbrok) gesetzt. Das eigene Interesse der Herren hatte dies Verhältniß schon vor Alters hervorgerufen. Es war zu bequem, zu angenehm für den indolenten, in den Städten lebenden Adel! Dies Verhältniß war nun aber ein ungcmeiner Sporn für die Erregung der Gewerbsamkeit! Der Ackerbau gab nur Nahrung, aber keine Rente; Geld mußte aber geschafft werden zur Abtragung des Dbrok. Die Nohproducte gewährten geringe Preise, aber alles Fabricat einen hohen (ein Satz, der noch gegenwärtig durch ganz Rußland geltend ist, und der, schon mehrmals ausgesprochen, nicht oft genug ausgesprochen werden kann)! Zunächst wurden also, wie angefühlt, aus den Nohproducten des Landes Fabricate be-reitet, alle möglichen Holzarbeitcn und Holzwaaren von Stellmachern, Rademachern, Tischlern, Holzschuhmachern und Bastschuhmachern, Baststechtern, Thcersiedern, Schiff- und Barken-baucrn :c. zu Markte gebracht; Spinner, Leineweber, Seiler, Segcltuchmacher :c. brachten die Fabricate aus Hanf und Flachs, Sattler, Riemer, Gerber, Schuster lc. brachten die Fabricate aus Thierhäuten u. s. w. auf den Markt. Diese Gcwerbsamkeit war nicht etwa handwerksartig consti-tuirt, dergestalt, daß an jedem Orte die für daß unmittelbare Bedürfniß der Umgegend nöthigen Handwerker, Schuster, Schnci-öer, Sattler :c., waren, sondern, wie gesagt, diese Producte wurden fabrikartig in Massen gearbeitet, auf den Verkauf, und deshalb den Märkten zugeführt. Hierbei entwickelte sich jener schon oben vielfach angeführte merkwürdige nationale Associations - Geist, gegründet auf die Natur und Organisation der russischen Gemeinde. ') Daß das Naturell des Volks die erste Grundlage ist, steht man aus dm, Umstände, daß die finnischen Volker, die Tschcrcmissen und Tschuwaschen, ebenfalls an dcr Wnlga mitten zwischen den Russen wohnend, täglich das Beisel tw!,- Augen haben, nnd dennoch ganz ohne Gewerbe sind. Es sind dabei nicht einmal Leibeigene, sondrrn freie Lmlc! 182 In andern Ländern widmet sich der einem bestimmten Handwerke, der besondere Lust dazu hat, der in sich ein Talent, eine Anlage zu dem Handwerke fühlt. In Rußland wird angenommen, daß ein Jeder auch zu jedem Handwerke Lust, Geschick und Talent habe. lind hieran ist viel Wahres! Es ist unglaublich, welches Geschick fast ohne Ausnahme jeder Nüsse zu allen technischen Fertigkeiten besitzt! In der Regel versucht auch ein hcrumvagirender Russe alle mögliche Hand-thirungen, er fühlt für alles Geschick und sich zu allem aufgelegt, bis er das beibehält, was ihm den meisten Gewinn zu versprechen scheint! Die Gewerbe haben sich demnach hier größtentheils ge-meindeweise allsgebildet, und so sind denn z. B. sämmtliche Einwohner eines Dorfs Schuster, die eines andern Dorfs Schmiede, die eines dritten lauter Gerber :c. Dieses hat große Vortheile. Da die Russen gewohnt sind, in großen Familien, oft zwei Generationen hindurch, zusammen zu bleiben, so tritt eine natürliche Theilung der Arbeit, wie sie bei fabrikartigen Gewerben so sehr nöthig ist, ein. Auch die Gcmeinde-glieder helfen sich mit Capital und Arbeitskräften beständig alls, die Einkäufe werden in Gemeinsamkeit besorgt, die Verkäufe in der Regel auch. Die Handwerksgcmeinden versenden ihre gemeinschaftlichen Waaren in die Städte und auf die Märkte, und haben überall ihre Verkaufsbuden. Sie bilden keine geschlossene Zunft, wie die deutschen Handwerkszünfte, sondern sind ganz ungcschlossen nur im Bande der Dorfgemeinde vereint. Jedes Gemeindcglicd kann frei das Gewerbe ergreifen oder wieder aufgeben, auch ein anderes beginnen, was jedoch selten geschieht, weil es wenig Vortheile verspricht. (Wollte der Einzelne dies thun, so zöge er in eine Gemeinde, wo dies Gewerbe vorherrscht!) Es existirt nicht der mindeste Zunft- oder andere Zwang! Es sind freie Associations-Fabriken, die ebenfalls an die St. Simonistischen Fabriktheoricn erinnern ! Die Gewerbe, auf diese Weise geübt, gewähren diesen Ge-wcrbsgemcindcn sehr große Vortheile, und das Gouvernement Iaroslaw, von der Natur sonst ft stiefmütterlich ausgestattet, erfreuet sich dadurch cwcs großen Wohlstandes. Stellt man aber die Frage: wird ein Fortschritt der Landeskultur dadurch begründet, oder ist auch nur ein Fortschritt in den einzelnen Handwerken und Gewerben sichtbar? so steht das auf einem andern Blatte, und da darf nun» die Sache nicht zu sehr rühmen! Die Fabricate sind großcntheils sehr mittelmäßig, wenig solid und zuverlässig gearbeitet, und bleiben in der Regel, ohne je Fortschritte zu zeigen, auf derselben Stufe der Unvollkom-Menhcit stehen. So vortheilhaft in pecuniärcr Hinsicht die Institution für die Leute selbst ist, so wenige Zufriedenheit kann das Publicum, welches die Fabricate benutzt, haben. In staatswirthschaftlicher Hinsicht sind diese Handwerksgemeinden aber dennoch von unermeßlichem Vortheile. Die Arbeitskräfte, die der Ackerbau nicht beschäftigte, werden zweckmäßig verwendet, ohne daß dieser darunter wesentlich leidet, und wie uns scheint, hätte das Gouvernement alle Kraft daran welchen sollen, diese Richtung im Volke zu schuhen, zu begün-stigen und wo möglich zu einer höheren Vollkommenheit fortzubilden ! — Man hat sie aber gewähren lassen und sich nichts um sie bekümmert, statt dessen aber das westeuropäische Fabrik-Wesen im Lande eingeführt und die Einwohner zur Anlegung aller Arten von Fabriken aufgemuntert. Seitdem cxistircn viele und zum Theil blühende Fabriken, Seiden-, Baumwollen-Fabriken u. s. w. ES ist hier nicht der Drt, mich über das ganze System aufzusprechen. Die Urtheile, die mail in Nesteuropa darüber hört, sind im Ganzen selten wahr nnd treffend; Rußland ist nun einmal ein anderes Land, wie alle andern, und läßt sich nie von cinem fremden Standpunkte aus beurtheilen! Sind es nicht z. B. bekannte staats-wirthschaftliche Grundsätze: Fabriken, die die eigenen Rohpro-ducte zum Bedarf und Gebrauch des eignen Volks fabrkircn, sind die vortheilhaftesten, und das Gouvernement hat sie auf alle Weise zu schützen, hervorzurufen und zu heben; Fabriken, die fremde Nohproducte zum Gebrauch des eignen Volks sabri-men, sind zu dulden und zu schützen, aber das Gouvernement soll nichts thun, sie hervorzurufen; Fabriken endlich, die fremde Nohproducte zum Gebrauch für fremde Völker fabriciren, sind gefährlich, sie rufen eine gefährliche Bevölkerung hervor, oie b?' inneren Unruhen oder äußeren Kriegen die Existenz des 184 Staats gefährdet? In Nußland haben sich nun aber die Baumwollenfabriken, welche also zur zweiten, zum Theil zur dritten Kategorie gehören würden, als die nützlichsten und vortheilhaftesten gezeigt, sie behaupten durchaus den ersten Nang! Das Tragen von baumwollenen Zeugen ist ganz national bei den Russen und wird es immer mehr. Schon Reise-bcschreibungen aus dem 17. Jahrhundert führen es an, und die Verbreitung der baumwollenen Hemden unter den Bauern ist schon jetzt ungeheuer und nimmt mit jedem Tage zu. Jeder Bauerbursch setzt einen Stolz darin, sobald als möglich ein solches buntgestreiftes Hemd zu erwerben, und es ist dies, über die Beinkleider getragen und in der Mitte mit einem Gürtel zusammengeschnallt, das ächte nationale Sommerkleid. Die Regierung ist also gezwungen, gegen obigen Grundsatz die Baumwollenfabrication, welche ein nationales Bedürfniß befriedigt, auf das Entschiedenste und immer mehr hervorzurufen! Nicht über das System, in Rußland das Fabrikwesen zu heben und hervorzurufen, will ich hier mich aussprechen, sondern nur über die Form. Man hat westeuropäische Entrepreneur-Fabriken im Gegensatz zu den nationalen Associations-Fabriken eingeführt, man hat den Adel zur Anlegung von Fabriken nach ausländischer Form angeregt und zu Fa-bricanten gemacht, statt die Bauern zur Verbesserung, innern Vervollkommnung und größerer Verbreitung der nationalen Associations-Fabrication anzufeuern und anzuleiten. — Warum sollte es nicht möglich gewesen sein, bei dem großen Gehorsame und der natürlichen Folgsamkeit aller gemeinen Russen, z. B. in Krondörfcrn, eine Baumwollen-Fabrication zu begründen? Lehrer und Fabnksdiregcnten aus England oder Deutschland waren ohnedem nöthig, die vom Adel angelegten Fabriken haben sie sich auch verschrieben, und noch jetzt sind sie vielleicht auf der Mehrzahl der Fabriken vorhanden. Die Gebäude für die Maschinen, so wie diese selbst hätte natürlich die Krone gestellt, und zur Deckung der Zinsen die Preise des Garns festgesetzt, den Leuten zuerst Webstühle geliefert, sie durch den Lehrer in den Arbeiten unterrichtet, dann aber den Verkehrn, ganz der alten russischen Fabrikgcmcinde-Association überlassen. Daß anfangs noch eine vielfache Anlei- 185 tung, Bevormundung, erzwungener Gehorsam nöthig gewesen wäre, ist gewiß, aber bei der großen Fügsamkeit und den technischen Talenten der Nüssen würde sich alles sehr bald inö Gleist gesetzt, und diese neuen Fabricationen würden mit den vorhandenen alten russischen sich rasch amalgamirt haben. Wie talentvoll und geistvoll das Volk für jede technische Auffassung ist, zeigt sich zu deutlich daraus, das eine große Zahl der vorhandenen modernen Fabriken von russischen Bauern angelegt sind und geleitet werden, die nicht lesen und schreiben können, und sich rein aus sich selbst heraus technisch ausgebildet haben. Einige der größten, reellsten, tüchtigsten und jetzt reichsten Fabricanten Nußlands, der Kattunfabricant Gutschkow in Moskau und der Tabaksfabricant Tschukow in Petersburg, gehören zu dieser Kategorie. Man erwiedert dagegen: Das System und die Form der westeuropäischen Fabriken ist das Ergebniß langer Erfahrung und Erprobung, sie sind das Erzcugniß einer gestiegenen Cultur, einer höheren Cultur, als wir sie in Nußland im Allgemeinen besitzen, warum sollten wir uns diese Frucht der Cultur nicht aneignen, warum sollten wir sie nicht voll unseren Nachbarn entlehnen, da dies ohne zu große Mühe geschehen konnte; un russischen Volke liegen viele Fähigkeiten und namentlich bie, sich alle technischen Fertigkeiten anzueignen, worauf es hier vorzugsweise ankam. Ist es nicht Pflicht einer Regierung, das Gute sich anzueignen und nachzuahmen, wo man es findet? Lernt nicht jede Nation von der andern? In diesem Raisonnement ist ein Punkt, den ich bestreiten Muß: eine Nation kann nicht die wahre Cultur wie eine gereifte Frucht sich aneignen und bei sich verpflanzen. Die Cultur ist nur das Ergebniß langer innerer Entwickelung, nicht ein auswendig gelerntes Wissen des Moments. Die abendländischen Völker haben diese lange Schule der Entwickelung in vielen Jahrhunderten durchgemacht, sie haben die Cultur der antiken Welt stets vor Augen gehabt, sich allmählich an ihr herausgebildet, aber keineswegs sie wie eine reife Frucht sich ""geeignet! Seit vielen Jahrhunderten besitzen wir die Werke des classischen Altcrthumö, alle Generationen haben ihre Lehrjahre bei ihnen gemacht, aber erst jetzt, nachdem wir durch in- l^6 nere Entwickelung ihnen ebenbürtig geworden sind, beginnen wir, sie wahrhaft zu verstehen und zu benutzen! - Nußland ist günstiger gestellt als das Abendland, daß ist zuzugeben, seine Entwickelung muß und wird rascher- gehen. Die russischen Völker haben nicht todte Lehrmeister, wie das Abendland sie hatte, sondern lebendige, mit denen sie seit einige Jahrhunderten im lebhaftesten, unmittelbaren, lebendigsten Verkehr stehen. Beispiel, lebendiger Verkehr, Austausch der Ideen aber bilden unendlich viel rascher, als die todte Vergangenheit, als todte Lehrmeister! Aber dennoch, um die wahre Weihe und Blüthe der Cultur zu empfangen, muß zuvor ein Volk die Lehrjahre durchmachen, es kann sie nicht überspringen, es muß eine innere nationale Entwickelung haben. Die Cultur besteht aus zwei Elementen, einem rein- und allgemein-menschlichen, und einem nationalen. Das erstere ist die Blüthe der höheren Entwickelung, wie sie das Christenthum, benutzend die antike Bildung, sie durchdringend und mit ihr sich vereinigend, in der europäischen Menschheit hervorgetrieben hat, sie ist daher auch Gemeingut aller europäischen Völker geworben; das zweite Element ist aber die Borbereitung zu jener Blüthe, es ist die nationale Entwickelung und Erziehung der Völker, die bei jedem Volke verschieden ist und verschieden sein muß. Das Erstere fehlt Rußland gegenwärtig nicht. Die Grundlage aller modernen Cultur, das Christenthum, war auch in Rußland vorhanden, und länger als ein Jahrhundert sind gegenwärtig die höheren Classen der Gesellschaft in Rußland bei den übrigen Völkern in die Lehre gegangen. In dieser Beziehung scheint mir die Entwickelung jenes höheren Elements der Cultur in Nußland beendet. Die gebildete Classe der Russen hat dieselbe Bildung, sieht auf derselben Stufe, hat dieselben Sitten, dieselben Lebensanschauungcn wie die gebildete Classe aller übrigen Völker, aber sind deshalb auch eben so wenig mehr Nüssen, wie hochgebildete Engländer noch Engländer, Deutsche noch Deutsche sind. Die Cultur auf dieser Stuft ist kosmopolitischer Natur! Aber ist diese Erlangung der höheren Cultur daZ Ergebniß einer Generation in Nußland gewesen? - Als Peter l eu- 1,87 ropäische Sitten und Kenntnisse nach Rußland verpflanzte, gelang es ihm? Er konnte den Russen die Bärte scheeren lassen, und sie in französische Hofröcke stecken, aber wurden es dadurch Culturmenschen? Erst jetzt, nach vier Generationen, nachdem diese von Kindheit an fremde Lehrer und Erzieher gehabt haben, nachdem man sie Jahrelang in fremden Ländern hat leben lassen, nachdem kolossale Erziehungsanstalten begründet wurden, wo ein jeder Russe aus den vornehmeren Massen die in ganz Europa hergebrachte Erziehung und Bildung erlangen kann, die die chöhere Cultur bedingt, nachdem sich in Nußland eine eigne nationale Litteratur für diese höheren Classen allmählich gebildet hat, erst jetzt, nach 130 Jahren, kann man anerkennen, daß die Erziehung zur Cultur bei diesen höheren Classen beendigt ist! Allein für die nationale Erziehung des eigentlichen Volks geschah bisher gar nichts. Es hat wohl Peter 1. und seinen Nachfolgern vorgeschwebt, man müsse zunächst die höheren blassen ausbilden, und sich in ihnen dann die Lehrer des eigentlichen Volks erziehen, allein bis etwa vor 20 Jahren waren noch eben keine erheblichen Schritte geschehen, um ächte Grundlagen der Bildung des Volks zu gewinnen. Und wie mir scheint, zum großen Glück von Rußland! — Hätte man sich hier begnügt, etwa bloß weltliche Bildung zu begründen, ein Lehren und Lernen, ein mechanisches Abrichten, ohne tiefere, religiöse und sittliche Grundlagen, welche Ruthe hätte sich da datz Gouvernement gebunden! Das russische Volk kann nur durch seine nationale Kirche und ihre Geistlichkeit eine sittlich-religiöse und nationale Bildung erlangen, nur von ihr darf der Fortschritt ausgehen. Allein bis zur neueren Zeit hat man die Kirche hiezu nicht aufgerufen, ja sie vielleicht verhindert, sich der Bildung des Volks anzunehmen. Erst jetzt werden zunächst die Geistlichen in den theologischen Schulen "uch dazu angeleitet, den Volksunterricht übernehmen zu können. Das russische Volk ist demnach von den höheren Classen Rußlands durch eine Kluft getrennt, die noch lange nicht aus- 188 gefüllt ist, und auch noch lange sich nicht ausfüllen wird, was soll es also mit solchen Entwicklungen und Blüthen der westeuropäischen Cultur, wie das ganze Fabrikwesen ist, anfangen, welchen wahren, reellen Nutzen bringt es ihm? Soll es bloß mechanisch zu allerhand technischen Fertigkeiten abgerichtet werden? Oder will man es durchaus verführen, Geschmack und Lust an dem Luxus und den Moden des Auslandes zu gewinnen, glaubt man hierdurch vielleicht die Bildung zu heben? Wozu nützen die Mode- und Luxus-Fabriken in Nußland, für wen arbeiten sie? Für die höheren Stände, für die, welche wirkliche europäische Cultur besitzen, oder auch nur die, welche sich die äußere Eleganz der Cultur angeeignet haben? O nein! Sie nehmen und gebrauchen die Producte der russischen Fabriken nicht! Es liegt etwas Mysteriöses in dem Luxus und der Mode der neueren Zeit! Was ist die Bedeutung des Worts Geschmack in Bezug auf Luxus und Mode? Wie kommt es, daß nur Paris und London, und in geringerem Grade Wien, die Mode in Europa tyrannisch beherrschen? Wie kommt es, daß das kunstsinnigste Volk, die Italiener, daß Nom und Florenz, daß der Mittelpunkt der Intelligenz, Berlin, nicht die mindeste Herrschaft über die Mode ausüben? — Es ist cine gewisse geheimnißvolle Atmosphäre, die über jenen Mittelpunkten der Mode lagert, worin diese allein gedeihet! Nur die Fabriken, die mit diesen Mittelpunkten in lebendiger Beziehung stehen, vermögen Fabricate zu schaffen, die eine Anerkennung von dieser launenhaften Königin, Mode, gewinnen. Das ist mit den russischen Fabricaten nicht der Fall, sie leben nicht in jener Mode-Atmosphäre, darum vermögen sie auch nicht in Bezug auf den Höhepunkt der Mode zu schaffen, sondern nur nachzuahmen! Ihre Fabricate befriedigen daher niemals die eleganten Cultur-Icute der höheren russischen Gesellschaft, und diese umgeben sich daher nur mit Pariser und Londoner Mode- und Luxus-Artikeln ! Wenn nun die russischen Fabricate die Anforderungen der l89 höheren Culturgesellschaft nicht befriedigen, sind sie denn etwa bestimmt, dem Schweift der Nachäffer, der mit halber Cultur oder bloßer äußerer Abglättung prunkenden Mittelclasse, den bloß äußeren Schein moderner Eleganz zu geben? Ist es nothwendig, daß die russischen Kaufmannsfrauen, innerlich roh und ungebildet, äußerlich beinahe wie elegante Damen aussehen? Wäre es nicht besser, daß sie bei der Nationaltracht geblieben wären, und nut ihr die Einfalt und Poesie der Nationalsitten und -Trachten erhalten hätten? Oder ist es nöthig, daß die Familien der kleineren Beamten im Scheine europäischer Eleganz prunken, dem Luxus und der Mode leidenschaftlich stöhnen, und dadurch den schlecht besoldeten Tschi-nofnik (Beamten) noch mehr verfuhren und gleichsam zwingen, ün Dienste zu drücken, zu placken, zu betrügen und zu stehlen, wozu sie schon ohnedem stark sich hinneigen? Zum Schluß dieser Discussion muß ich daher die Behauptung aufstellen, daß die Einführung dieses ausgedehnten Fabrik-Wesens in moderner europäischer Form, natürlich mit gewissen Ausnahmen, für Nußland nicht nothwendig war, und daß es "uf die Moralität der mittlern und wohlhabenden Classen einen Ungünstigen Einfluß ausübt. Hätte man statt dessen die natürliche, schon vorhandene und Nationale Fabrication der russischen Associations-Fabriken gehoben, geleitet, und mit den neueren Erfindungen des Maschinenwesens verbessert, so würde man in den wichtigsten Zweigen des Fabrikwestnß, den Webereien aus Flachs, Wolle, Baum-Wolle und Seide zwar nicht die eleganten Producte der Mode (die man in ihrer größten Vollkommenheit und ihren elegantesten Formen und Mustern doch niemals erreichen wird!) hervorgebracht haben, aber doch Producte, wie sie für die Mehrzahl des Volks, für den wohlhabenden Kern desselben, passend, bequem und anständig sind. Ich habe schon oben angedeutet, daß dieses Fabrikwesen llnen unermeßlichen Einfluß auf die socialen Verhältnisse der unteren Stände des Volks, namentlich auf die Leibeigenschaft 190 ausübt, und werde mich vielleicht an einem anderen Orte hierüber noch einmal weitläufiger äußern, Das moderne Fabrikwescn ist aber jetzt in Nußland ein fait »ccom^i, es ist tief in allen socialen Verhältnissen eingebürgert. So viel man also auch gegen dcffen Einführung zu erinnern haben möchte, so kann es sich doch jetzt nur darum handeln, es besser, d. h. nationaler zu organisircn, und es vielleicht theilweise umzuwandeln in jene nationale Associations-Fabrication. Die von Peter I. etablirten Fabriken, von denen wir oben eine, die Iakostcvsche, beschrieben haben, sprechen einen nationalen richtigen Gedanken aus. Cr wollte seine Fabriken auf die Leibeigenschastsverhältnisse gründen. Der Fabricant sollte zwar die Arbeitskräfte der der Fabrik zugelegten Leute benutzen dürfen, aber zugleich die Pflicht übernehmen, für die Leute, für ihre Nahrung, Kleidung und Pflege im ausgedehntesten Sinne zu sorgen. Er durfte sie nicht, wenn sie unbrauchbar geworden, verstoßen, sondern mußte sie bis zum Tode verpflegen. An diesen Gedanken müßte man, so lange nun einmal die Leibeigenschaft noch besteht, anknüpfen! Gegenwärtig werden bei der Mehrzahl der Fabriken nicht mehr die eignen Leibeigenen verwendet, sonder»: die Arbeiter melden sich freiwillig und stehen in festem Lohne. Wenn man nun den Fabricanten dennoch die Last auferlegte, ihre Arbeiter in Form einer russischen Gemeinde zu organisiren, vollkommne und strenge gutsherrliche Sorge und Pflichten zu übernehmen, Gemeinde-Magazine M' sie anzulegen, Schulen zu errichten, ein Hospital zu halten lt., wenn sie die Arbeiter nicht ohne bestimmte gesetzlich nonnirte Ursachen zu entlassen berechtigt wären, namentlich nicht wegen Schwäche und Alter :c., so würde man vielen bösen Folgen, und namentlich der Demoralisation der Fabrikarbeiter zum Theil wenigstens vorbeugen. — Man kann diese Forderungen mit Recht an die Fabricanten stellen, da man ihnen durch die Schutzzölle so ungeheure Vortheile zugewendet hat. Die Drohung, die Schutzzölle fallen zu lassen, würde die vorhandenen l9l Fabriken leicht bewegen, sich diesen Anforderungen zu unterwerfen, und den künftig entstehenden könnte man im voraus die Bedingung stellen. Daß die Sache aber ausführbar ist, zeigt sich daraus, daß viele Fabricanten schon von selbst diese Gedanken ergriffen und ausgeführt haben. Ich werde später einige Fabriken in Moskau, namentlich die von Procheroff beschreiben, wo sich Schulen, Hospitäler:c. wirklich bereits vorfinden. Die großen Fabriken würden diese Last tragen können, die kleinen vielleicht schwer oder gar nicht. Es würde vielleicht die Veranlassung sein, daß sie allmählich eingingen. Dabei leidet aber das Gemeinwesen keinen Schaden! Die großen Fabriken, wie die großen Gutsbesitzer in Nußland drücken ihre Leute nicht, wohl aber die kleinen Fabricanten und die kleinen Gutsbesitzer! Ich gebe nunmchro noch einige Belege für die vorstehende Auseinandersetzung aus den oben bezeichneten, von mir gesammelten Notizen. Ich besitze über 5 Kreise des Gouvernements Iaroslaw ausgezeichnet gute statistische und gewerbliche Notizen, die über die 5 übrigen Kreise sind dagegen im Vergleich mit jenen nur dürftig zu nennen. Im Allgemeinen muß man wohl beim Gouvernement Ia-lvslaw zwei in ihren wesentlichen socialen Grundlagen sich sehr von einander unterscheidende Landeöabtheilungen ins Auge ^ssen, die eine, wo alle Arten der Gewerbe vorherrschen, und lede Art von Landbau zurücksteht und nur zur nothdürftigen ^Nahrung betrieben wird, und die andere, wo der Landbau vorherrscht und die Gewerbe nicht in dem hohen Maße blühen, 192 wie in der ersten, sondern mehr zur Unterstützung des Land-baues getrieben werden. Die erstere Landesabthcilung wird durch die 5 westlichen, nordwestlichen und nördlichen Kreise gebildet. Diese Abtheilung liegt fern von den großen Städten und den großen Landstraßen und Landhandelswegen des Reichs, dagegen an den großen Wasserstraßen und in der Nähe der ungeheuren Wälder des nordöstlichen Rußlands, die die Grundlage so vieler Gewerbe und der Schifffahrt gewähren. Die 5 andern Kreise (vom Kreise Iaroslaw nur der südliche Theil) liegen näher der Hauptstadt des Reichs, dem viel con-sumirenden Moskau, längs der großen Landstraße zwischen Moskau, Iaroslaw und Kostroma, in geringer Entfernung von Wladimir, und somit von der großen Straße von Moskau nach Nishni-Nowgorod. Sie besitzen nur unbedeutende Wälder und stehen in geringer Verbindung mit der gewaltigen Tyrannin, der mächtigen Wolga, die allen Uferlandstrichcn, wo sie sich nur zeigt, ihren Charakter aufdrückt, und den Willen, die Gewerbe, die Bedürfnisse und die Noth der Bevölkerung beherrscht, denn mehr als ^ derselben in allen von ihr durchströmten Kreisen wird von ihr beschäftigt, ist ihr leibeigen! In diesen 5 Kreisen wird dagegen ihre Macht nicht mehr anerkannt, hier findet man daher mehr Ackerbau, weit bedeutenderen Flachsbau, trefflichen Gartenbau, Viehzucht vorzüglich zur Mästung, und Geflügelzucht. Ich gebe hier zuerst einige statistische Notizen'"), und zwar zunächst aus dem Jahre 1841, von den obenbezcichncten 5 Kreisen des Gouvernements Iarotzlaw: Poschcchon, Mologa, Ry-binsk, Myschkin und Uglitsch. ') Die hier gegebenen statistischen Notizen sind ziemlich zuverlässig. Sie sind nicht etwa durch die Polizeibehörde!« gesammelt und den höheren Behörden eingcsmdel (diese sind in der Regel völlig unzuverlässig), s""' dcrn von dem obengmaunten Herrn v. Lann, der für den Oeneralswb topographische Arbrilm übernommen, ,md mit gvußer Umsicht und M't wissenschaftlichem Cinnc gearbeitet hat, mi <7rl mid Tlellc gesammelt. Leider liegt mir nur die Arbeit über die l'ben bezeichneten 5 Kreise vu>, ob auch cmc über die 5 übrige» Kreise erislirl, weis! ich nicht. 193 13 ^ / Verhältnisse des Areals. Acihältmsse dcs Anbaues. Verhält»i„e der Emwohncr. Wald. Unland Zahl ^Di^ FrftntMe. ^^Kf^ Zahl H^ Z.hl Zahl ! F.ilirif- cer der Name d?'° , """ ^^ ! dauern, ^^, -^^ Ackerland Wiesen. Stand-, numrt ^ ,„^ ^^^ G^^ ssl^„t in den n, dcn ^ Apanagc-Districts ^'" '' Bau- Bu,ch-^ Dcrs- Htad. ^^ ^,, ^,,,^ ^,,,^ ^,^ ^^ Ni°n ^^^ ^m-n Bau-und wcrk und ^ chc». qanze Doif- tcü. fcr». .^,._„ Bauein ^ BK-.ln- etwas lllgcn. le, ^^^ "^ ^ ^^l dauern. ^^ ^au. crn. holz. Brenn- ^ ^^^^ Demi- crn. h°l;. dowschen Dcssjat. ^ Dcssjcit. DEj^t. DcUat. ! DcM. Lyceums, Tschechen 138,903 28.171 13^,773 183.238 19M5 1 32 927 49 220 429 12.L97 8500 ä9 28 855 183^ Mologa 89.101 18.280 128,100z 16iML 21.515^ 1 6 639 51 52 «89 9469 8756 5 30.708 102 Rybmsk 77.785 11,232 78.243 52M6 18.155 1 21 879 33 77 624 11.232 7063 109 21,000 2728 Myschkin 117,144 12,560 333? 71.86110.334 1 14 673 46 128 150 j 10.476 808»! - 31,ßi>0 31 Uglitsch 88.598^ 14.340^ 32,163. 139,052^ 15.642^ 1 25 837 53 81 1153 11,472 14.093! 2920 24.353 25 521536' 84 593^336.667^10,613 33,052 5 98 ! 3960 232^558 3051 55,366 47,106 3033 137.5«! 4520 194 Das ganze Areal dieser 5 Kreise beträgt 1M»,471 Dessja^ tinen oder 33! lüMcilen/ worauf 193,7)70 nlännliche Seelen, oder mit den weiblichen in runder Summe 3!)l>,0<)0 Bewohner leben. Es kommen also 1143 Menschen auf die llMcile, jedoch nach den Kreisen verschieden, im W lülMeilen großen Kreise Poschechon kommen M5, im 85 ^Meilen großen Kreise Mologa 041, im 4li'/z ^Meilen großen Kreise Rybinsk 135,0, im 42Vl s^Mcilen großen Kreise Myschkin 1.^2, im 5,«'/, ^Meilen großen Kreise Uglitsch 14">2 Einwohner auf die llMeile. Ungefähr der 2()ste Theil deß Areals liegt völlig wüst. Da aber auch mehr als dic Hälfte des Areals der Wälder ruinirt ist, und nur Buschwerk und öde Wcidestächcn enthält, so wird man annehmen können, daß etwa '/l des ganzen Areals un-cultivirt und fast unbenutzt liegt. Acker und Wiesen nehmen etwas über '/:, des Areals ein. - Das Verhältniß der Wiesen-flächen zu denen des Ackerlandes ist ungefähr wie 1, i li'/,»-Der Wald, von dem aber, wie gesagt, schon mehr als die Hälfte völlig ruinirt sein möchte, nimmt 'V» des Terrains ein. Diese Verhältnisse stellen sich aber in den einzelnen Kreisen noch sehr verschieden. Im Kreise Poschechon bilden die öden Flächen circa ''5 des Areals. Acker und Wiesen nehmen '/» ein, die Wiesen verhalten sich zum Acker wie 1:4'V»4, der Wald beträgt V« des Terrains. Im Kreise Motoga nehmen die öden Flächen vielleicht "/«, Acker und Wiesen '/l cm. DaS Verhältniß der Wiesen zmn Acker ist wie 1 :4«'!,,, die Waldsiäche ist etwas unter ^. Im Kreise Nybinsk ist "/,, öde Fläche, '. Acker und Wiese, die Wiesen verhalten sich zum Acker wie 1:s;'",4, die Waldsiäche beträgt '/,5 des Terrains. Im Kreise Myschkin ist vielleicht '., ödes Terrain, /7 ist Acker und Wiesen, das Verhältniß der Wiesen zu del, Äckern ist wie I:!)-'/,57. Das Areal des Waldes beträgt nur '.> und des gut bestandenen Waldes nur ',,, des Terrains. Hier ist also schon großer Holzmangel, Im Kreise Nglitsch ist die Hälfte des Bodens öde Fläche, 197i '/3 ("/,«) ist Acker und Wiese, die Wiesen zum Acker verhalten sich wie 1:(i'"/9o, der Wald nimmt "/in, der gut bestandene Wald aber noch nicht '/, des Terrains ein. Ein Gegensatz uon Stadt und Land, wie in Deutschland, existirt in Nußland nicht. Katharina II. schuf Städte dem Namen nach, indem sie gelegene Dörfer zum Sitze der Staatsbehörden erkor. Aber meist zogen sich Gewerbe dahin, und aus den meisten solcher anfangs nominellen Städte sind wirkliche Städte geworden. Hin und wieder bildet sich ein Dorf durch günstige Lage oder äußere Anregung zu einer Stadt aus, und erwartet dann, daß das Gouvernement ihm auch das Nccht der Städte beilegen möchte. In diesem Gouvernement möchte das oben angeführte Weliki-Selo in dieser Lage sein. Während man in der preußischen Monarchie auf 5077 ^Meilen l)72 Städte zählt, also 1 Stadt auf 5 ^Meilen rechnen kann, sind in den vorstehenden 5 russischen Kreisen auf IIl lüMeilen nur 5> Stähle zu sinden, es kommen also W ÜMeilen auf 1 Stadt! Während man in Preußen rechnen kann, daß ^ der Bevölkerung in den Städten lebt, lebt in diesen 5 russischen Kreisen kaum /..> der Gesammtbcvölkerung in den Städten*). Es sind 40,1« Dörfer in diesen Kreisen vorhanden, also durchschnittlich auf der llMeile etwas über 12. Die Dörfer Müssen im Allgemeinen klein sein, da im Durchschnitt nur 13 Häuser und !)1 Einwohner auf ein Dorf zu rechnen sind. An Areal fallen durchschnittlich auf jedes Dorf 420 Dcssjatinen — 1680 preußische Morgen. Auf jede männliche Seele kom-Men 2^/4 Dessjatincn Acker, '/« Dcfsj. Wiese, 2 Dessj. guter Wald, 3'/7 Dessj. schlechter Wald. Nach den Kreisen stellen sich diese Verhältnisse: '> Wenn man hierbei noch im Auge faßt, daß dir VrviMcrung der Städte noch vielleicht zum größeren Thril auö Leibeignen und Vauern besteh», so kann man sich cinm Begriff davon machm, wie schwach dic Zahl dcr r>a,entlichm Bürger, wie gering der Keim des Bürgcrthums als Sianb '" Nuß land ist. l3"° 196 Namen des Kreises Auf die Quadrat Meile lommen Dörfer Durchschnitts' zahl der Häuser iu icdcm Dorfe Durch-sch,üt!s-zahl der Einwohner !>! icdem Dorfe Auf je-des Dorf folle» durchschnittlich an Areal Dessj.1- Aus dic niämiliche Seele komnit durchschnittlich au Areal Acker Dessjat. Wiesen Dcssjat. qulcr Wald Dcssjal. schlechter Wald Dcssjat. Poschechon 9 13 63 525 2/< 3V- Mologa 8 1L 12l 063 2'/, Rybi»6e 21 11 t!3 225 2'/- V, 2'/2 '/5 Myschkin 1« 15 111 311 I v,° '/.. Uglitsch 15 13 l>» 2'/. '/3 Man sieht hieraus, daß der Ackerbau die Menschen in diesen Gegenden nicht ernähren kann. Das ist leicht zu erweisen! Im Kreise Uglitsch kommen circa 9 Morgen Ackerland ans den männlichen Kopf; hiervon 2'/2 Korn-Ertrag gerechnet (was hicr Durchschnittöcrtrag ist), stellt sich die Rechnung folgender Gestalt: .'! Morgen mit Roggen besäet geben nach Abzug der Einsaat.....4'/, Berliner Scheffel Ertrag. 1 '/2 Morgen mit Gersten besäet geben nach Abzug der Einsaat... 2 '/^ „ „ „ " 0«/l Scheffel Der ans den l'/- Morgen gesäetc Hafer verbleibt dem Zugvieh znr Nahrung. 4'/2 Scheffel Roggen geben 3«7 Pfnnd Brod, 2'/. Scheffel Gerste geben 109 Pfd. Brod, in Snmma 57)<> Pfd. Brod. Die Hauptnahrung des russischen Volks besteht in Brod; Kartoffeln sind in den meisten Gegenden noch unbekannt, von Gemüsen ist nur der Kohl von großer Verbreitung. Fleisch/ Milch, Butter wird wenig genossen. Bei der Armee wird jedem Soldaten 2'/2 Pfund Brod, außerdem Grütze :c. gereicht. Ein gesunder russischer Bauer kann nicht ohne 3 Pfund fertig werden, in der Ernte ißt er 5 Pfund, ja in Weißrußland bis zu 7 Pfund! Nimmt man Weiber, Alte und Kinder hinzu, so wird man auf jeden Kopf der Bevölkerung l '/2 Pfund Bro? 197 rechne» müssen. Ein männlicher nnd ein weiblicher Kopf der Bevölkerung bedürfen demnach durchschnittlich jährlich 1094 Pfund Brod. Es ist daher für jedes Paar stets ein Deficit von 538 Pfund Brod vorhanden, oder für die ganze Bevölkerung des Kreises von 22,855,000 Pfund Brod oder 285,087 Berliner Scheffel Korn, welches durch Ankauf aus anderen Gegenden, also nur durch Hülfe von Ncbengewerben lind industriellen Verdiensten, um es kaufen zu können, gedeckt werden kann! Die geringe Ertragsfähigkeit des Bodens, die Leichtigkeit auf der Wolga aus den reichen Korngegendcn das nöthige Getreide zu beziehen, die Scheu der Russen vor der schweren Ackcrbauarbcit, die Möglichkeit leichten Gelderwerbes durch die jetzt sich unermeßlich entwickelt habende Industrie haben das Volk vom Ackerbau abgezogen. Nicht nur, daß viel Grund nnd Boden, der bei fleißiger Bearbeitung noch immer lohnend sein winde, ganz öde liegen bleibt, sondern der in Cultur gehaltene wird mit geringer Energie, schwachen Kräften und wenigen Dungmitteln bearbeitet. In welchem Maße sich die arbeitenden Kräfte dem Ackerbaue entziehen, mögen folgende Notizen nachweisen. Den Ackerbau betreiben im Kreise Mologa bei 39,927 Seelen Bevölker. höchstens 14,500. „ „ Rybinsk „ 31,120 „ „ „ 12,500. „ „ Myschkin „ 39,005 „ „ „ 13,800. „ „ Uglitsch „ 43,371 „ „ „ 15,700. Und cin großer Theil dieser Leute, die dort den Ackerbau realiter betreiben, sind nicht einmal die Eingesessenen der Kreise, sondern fremde gemiethete Knechte aus andern Gegenden des Reichs! In der westlichen Hälfte des Kreises Uglitsch z. B. sind von 9000 ackerbautreibenden Leuten nur etwa 5500 Einheitnische (nämlich die Eigenthümer selbst), 2500 sind Leute, die aus dem benachbarten Twerschcn Gouvernement dort gegen Bezahlung die Ackcrbauarbeit übernehmen. Ich kann bei dieser Gelegenheit auch nicht einen Umstand unerwähnt lassen, der zeigt, wie im socialen Leben überhaupt, "ber ganz insbesondere in Rußland im Großen die Verhältnisse l<»5 sich ausgleichen und in ein angemessenes vorthcilhafies Gleich-gewicht sich stellen. In den nördlichen Gegenden Olonch, Wologda, Archangel ist längs den Flüssen eine ziemlich gedrängte Bevölkerung vorhanden, während im Innern so gut wie gar keine Bevölkerung c.ristirt. Diese dichte Bevölkerung hat natürlich nur geringen Ackerbau, wenigstens in Be^ug auf die dabei nöthige Arbeit. Der ergiebigste wird nämlich durch Schwenden, d. h. durch Niederbrennen von Waldsirecken und Hincinsäcn von (Getreide erzielt, wobei nur geriuge Arbeit und hoher Ertrag ist. Die wichtigsten Arbeiten und die reichsten Erwerbsquellen gewähren die Wälder. Schiffholz, Balken, Bretter werden gehauen und bearbeitet, Pech, Theer und Terpentin werden gesotten, auf den Flüssen nach Archangel verfahren u. s. w. Alle diese Arbeiten beschäftigen die Bevölkerung größtcntheils im Winter und der kurzen Zeit der Frühlings-Überschwemmungen, dagegen haben die Leute im Sommer wenig zu thun. Der Ackerbau beschäftigt sie nicht hinreichend, und wie gesagt, die Bevölkerung ist dicht! So ziehen sie dann in großen Schaarcn in die südlicher gelegenen Gegenden, und helfen dort den Lcu-ten bei der Feldarbeit und der Ernte gegen Lohn. In das gewerbreiche Gouvernement Iaroslaw sind schon von jeher diese Hülfsarbciter zum großen Bortheil der Bewohner gekommen, allein seit Errichtung der modernen Fabriken noch in viel größerer Anzahl. Da die Eingesessenen des Gouvernements Iaroslaw bei ihren Gewerben und in den Fabriken mehr Geld verdienen können als beim Ackerbau, mieihen sie diese fremden Knechte die vier Sommermonate über für 60 — 80 Rubel, während sie in den Fabriken bei freier Kost 90 — 110 Nubcl Banco verdienen. Solche Hülfen und Ausgleichungen sind im socialen Leben natürlich und vorthcilhaft, aber durch das Fabrikwcstn haben sie hier etwas Geschraubtes und Unnatürliches bekommen. So lange es sich von einer Beihülfe handelte, war das Verhältniß ersprießlich, allein die Helfer in der Wirthschaft sind die wirklichen Herren und Wirthe geworden, die Familienväter und Hauswirthe sind das ganze Jahr als Arbeiter in der Fabrik, den Winter bleibt das Hauswesen lediglich den ! 09 Weibern und Kindern überlassen, im Frühjahr kommt der Knecht alls Wologda und wirthschaftet den Sominer über ganz nach Gutdünken. Das vernichtet alles Familielllcbel!, Zucht lmd Moralität gehen völlig unter. Früher waren in dcn Fabriken von Moskau in den Zeiten der Bestellung und der Heu- nnd Getreideernte die Arbeiter nicht zurückschalten, sie verließen sämmtlich die Fabriken und eilten zu Hause, um den Ihrigen in dcn nöthigen Arbeiten beizustehen. — Hierbei können aber unsere modernen Fabriken nicht sonderlich bestehen, ich habe daher von Fabricanten selbst gehört, daß sie dadurch, daß sie den Tagclohn in den 7 Win-termonaten ungcmein herabgesetzt, in den !» Sommermonaten aber erhöhet, oft verdoppelt, es erzwungen hätten, daß die Arbeiter daS volle Jahr ausgehalten und im ganzen Jahre nicht zu ihren Familien zurückgekehrt waren. Das Verhältniß des Areals der Wiesen gegen das des Ackerbodens ist an sich nicht ungünstig. In den meisten Thei-lcn Norddeutschlands ist das Verhältniß bei großen Gütern gewöhnlich wie 1 zu 5 bis 0 Kopeken und von Petersburg zurück „ach Rybixst gar nur 5,0 ^opesen Vanw. Ihr Vorlheil nnd eigenthümlicher Verdienst ist, daß sic die Pscrdc den Winter über clhab ^ tern häufig als Kunstgärtner für den Sommer und erhalten dann 2 -300 Rubel Silber Gehalt. Zum Winter kehren sic wieder in die Hcimath zurück. Nahe bri dieftm schönen Dorfe liegt ein anderes, wo die Einwohtler Kartoffeln im Großen ziehen, und aus Kartoffelmehl cine künstliche, aber sehr gute Sago bereiten. Auch viele Ein- 203 wohner der schon oben angeführten Stadt Petrowsk beschäftigen sich mit dieser Fabrication. ^ 17 Werst vonRostow, an der Straße nach Iaroslaw, liegt Semibratartschina. Fast sämmtliche Einwohner beschäftigen sich mit Fcderviehzucht, vorzüglich mit Kapauncnzucht. Sie verkaufen jährlich mehr als .i0,000 Kapaunen (ohne die Enten, Gänse, Truthühnern, zu rechnen). Auf der Schnccbahn werden dic gefrorenen Kapaunen nach Moskau und selbst nach Petersburg geschickt. Aus den Schwanzfedern machen sie treffliche glänzende Federbüsche für Dfficiere. Der Flachsbau beschäftigt mehr als 20,000 Menschen, das Spinnen gegen 100,000 Menschen im Gouvernement. Eine höchst wichtige Quelle des Reichthums für dieses Gouvernement bildet aber unstreitig das Herumziehen einer großen Anzahl der Eingesessenen auf Arbeit und Verdienst in anderen Gouvernements des Reichs. Das Herumziehen im Innern dcs Gouvernements, welches doch beinahe die Größe des Königreichs Hannover hat, ist schon von großer Bedeutung, es fehlt aber an zuverlässigen Nachrichten über die Zahl der Wanderer und den Umfang dcs Wandcrns, auch entfremdet eS natürlich die Leute nicht in dem Maße der Hcimath, wenn sie 8, 10 bis 15 Meilen weit von ihr sich aufhalten, als wenn sie 80 bis 100 Meilen entfernt leben. In jenem Verhältnisse kommen sie doch im Jahre vier bis sechs Mal nach Haus, in diesem ist es viel, wenn sie alle Jahre ein Mal die Heimath sehen; die meisten bleiben mehrere Jahre ununterbrochen von ihr entfernt. In politischer Beziehung ist dies Umherziehen, das Durch-einanderleben der Bewohner Rußlands, ein mächtiges Bindemittel zur Befestigung des innern Zusammenhangs, zur allseitigen Durchdringung der Volksmassc, zur Erhaltung und Erweckung des Nationalgefühls und der Vaterlandsliebe. Jeder Russe fühlt sich daher in Archangel wie in Odessa, in Kasan wie in Kiew vollkommen zu Hause und stets im Vaterlande! Dagegen hat es auch seine großen Nachihcile. Das Familien- und Heimathslcben wird dadurch gestört und geschwächt, und dem Ackerbau werden die nöthigen Hände entzogen. Man hat die Bemerkung gemacht, und kann es als feste Regel in 204 Nußland annehmen, daß der, welcher veranlaßt worden ist, gleichviel aus welcher Ursache, den Stand des Ackerbauers einmal zu verlassen, nie zu ihm wieder zurückkehrt. Dies zeigt sich imter andern am deutlichsten an den aus dem Heere Verabschiedeten, die doch in der Regel gar kein Vermögen haben; sie werden alles andere, Hausknechte, Wächter, Hausirer lc., aber nie wieder Bauern, was sie gewesen sind! Ganz anders ist das bei einem ackerbautreibenden Volke, wie die Deutschen. Hier werden die Soldaten nach beendigter Dienstzeit alle wieder Bauern, aber selbst, wenn man einen Bauerburschen zum Bedienten, Kutscher :c. annimmt, 10 bis 20 Jahre lang in Dienst behält, wird er doch wieder suchen, in irgend ein Bauerhaus hineinzuheirathm und Bauer zu werden. Wenn aber auch in Rußland im Allgemeinen das Heimaths-gcfuhl in der Vaterlandsliebe zu verschwinden scheint, so ist doch in vielen Gegenden auch wieder eine große Anhänglichkeit an daß Geburtsdorf bemerkbar. Bauern, die Kaufleute geworden, die reich sind, in einer fernen Stadt wohnen, bauen sich dennoch ein besonderes Haus auf der väterlichen Scholle, halten jene und ihren Gemcindeantheil fest, verpachten ihn allenfalls für eine Kleinigkeit, oder überlassen ihn auch Verwandten oder Armen umsonst, zahlen dann doppelte Abgaben, einmal als Kaufmann in der Stadt, und dann als Bauer in der Dorfgemeinde. ^ Im Jahre 1641 kehrte ein aus einem hiesigen Dorfe gebürtiger Kaufmann aus Newjork in Nordamerika zurück. Er war 2(1 Jahre in der Fremde gewesen, hatte eine Engländerin gehci-rathet, aber sein Gcmeinderecht, seine Heimathsstclle hatte er beibehalten. Die Bauern seines Heimathßdorfs empfingen den reichen angesehenen Mann, aber noch mehr seine Frau, mit unermeßlichem Jubel! Auch im übrigen Europa haben sich solche zeitweilige Auswanderungen gebildet, meist für ein ganz bestimmtes Gewerbe, bestimmte Arbeiten, so z. B. die Andalusicr als Wasserträger in Madrid, die Auvergnrr und Sovojardcn in Paris, die Hollandsgänger aus Westphalen (welche in Holland die Erntcar-bciten übernehmen), die italiänischen Gyvsfigurcnträger, die Mausefallen- und Hcchclnkrämer auö den Alpen, die Kesselflicker 205 aus den Karpathen, die Besenmädchen aus Hessen, welche sämmtlich in ganz Europa umherziehen. Allein dies sind in der Nessel ungewöhnliche Gewerbe, die man nur in den Gegenden, wo diese umherziehenden Leute leben, so gut und so gründlich versteht. Auch ist die Zahl nicht groß. Daß aber Handwerker der gewöhnlichsten, überall vorhandenen Gewerbe, Zimmcrleute, Maurer, Schneider u. in Haufen umherziehen sollten, und Arbeit und Verdienst zu suchen, kommt nicht vor. Die Handwerksgesellen ziehen bei uns umher, aber nur einige Jahre unter bestimmtet, Formen des Zunftwesens, zu ihrer Ausbildung, nicht um ein Vermögen zu sammeln. Das Herumwandern der Nüssen ist nicht einmal auf ein bestimmtes Gewerbe begründet. Der Russe versteht alle, wenigstens mehrere Gewerbe, er versucht stch in Allem und bleibt zuletzt bei dem, welches ihm am meisten Glück zu versprechen scheint. Im übrigen Europa giebt es auch einzelne unruhige Gemüther, denen die Heimath und das regelmäßige Leben zu still und zu langweilig erscheint, die sich einmal, wie man zu sagen pflegt, in der Welt versuchen, ihr Glück machen wollen; es sind jedoch immer nur seltene Ausnahmen, einzelne, wenige, aber in diesen Theilen Rußlands ist es dieRegel! Mehr als der achte Theil der Bevölkerung des Gouvernements Iaroslaw sind solche Glücksjägcr, die auf allen Straßen des Reichs umherziehen! — Die Zahl dieser Wanderer im Innern des Gouvernements ist, wie schon oben angeführt, nicht mit Sicherheit zu ermitteln, die Zahl derer, die außerhalb des Gouvernements umherziehen, läßt sich durch die Zahl der ertheilten und bezahlten Pässe einigermaßen controliren. Es waren vor einigen Jahren zwischen 120,000 und 130,000, davon kehren aber natürlich viele nach einigen Monaten oder binnen Jahresfrist zurück ^). Die Zahl derer, die viele Jahre, oft ihre Lebenszeit ') Es ist neuerdings die Einrichtung getroffen, dasi die, wrlche nur etwa rinigc Munatc umher zu ziehen beabsichtigen, nicht mehr eine,, Paß auf ein ganzes Jahr zu nehmen und zu bezahlen brauchen, sondern nur einen auf drei Monate erhalten (wobei noch ein Monat Solche 6>^ Etemftellwgcn und schreiben nach Bedürfniß die Passe darauf. Erst wenn alle Etcmftelbogcn verbraucht sind, nehmen sie neue. So ist denn die Zahl der im Jahre Wandernden jetzt nicht mehr zu soutrolircn. ') Wenn man den Nnssen Unchrlichtcil und Betrug licim Handel lind Wandel im Allgemeinen vorwirft, so giebt cs doch Gelegenheiten und Punkte, wo sie nie belriigr», sondern Trene und Glauben auf das Streut hallen. 207 trepreneurö giebt es im übrigen Europa auch, allein es sind da vornehme Baumeister, gehören den höheren, wenigstens dcn rci-chcn Ständen an, und ziehen, nulii l>«>i«, den Gewinn des Unternehmens allein, zahlen allen dabei Arbeitenden nur Tagelohn, oder geben die einzelnen Partien der Arbeit in Accord. — Hier in Rußland aber sind es gemeine und ungebildete Leute, die oft kaum lesen und schreiben können, aber ein merkwürdiges technisches Genie besitzen, und die nicht für sich allein alleil prosit ziehen, sondern diesen mit ihren Kameraden, mit denen s>c in eine Association getreten sind, redlich theilen! — Abermals cm Stück praktischen, nationalen Lebens, wodurch St. Simo-. uistischc Associationsträume als eine Möglichkeit, ja Wirklichkeit "scheinen! Eine große Zahl junger Hcrumwanderer sind Hausirer. (Für den Kleinhandel haben alle Russen entschiedenes Talent!) Eine bl'rlleicht noch größere Zahl sind Fuhrleute, die vom Norden HUM Süden, von Osten nach Westen unermüdlich umherziehen, "ud sich in der ganzen Welt zurecht finden. Ehemals kamen sie auch häufig zur Leipziger Messe. Eine bedeutende Zahl, besonders aus der Gegend von Nosstow sind Gärtner, man nennt sie Selenssiki (Grünkerlc) oder Ogrodniki (Küchcngärtner). In Aiga, Petersburg, Moskau miethen sie vor dcn Städten Land "uf cinen Sommer, bestellen eS ungemcin fleißig, und ziehen alle Küchcnkrauter und Gemüse. <3s sind fleißige brave Leute. Aus dem Gute des Grafen Momonow und der umliegenden Gegend ziehen eine große Zahl als Bäcker nach Moskau und Petersburg. Man rühmt die Leute aus dieser Gegend auch "Is besonders gute Kutscher und Iswoschtschiki. Aus dem Krön-gute Sidcrow, Kormschcr Theil, sind die Leute in Moskau unkr dem Namen die Iaroslawer besonders und rühmlichst bekannt, ^'e arbeiten und verfertigen Thüren, Fenster lc., und arbeiten lachst solide, sind auch treffliche Zimmcrteute. Eine große Zahl leiben das Geschäft der Traitcurs in dcn Städten, und bc-M,ien dabei als russische Kellner, wie man sic in allen Wirths-MUsern findet. Im Gouvernement Iaroslaw sind eine große Zahl Jahr- 208 märkte. Da man hier nicht wie in Deutschland in jedem kleinen Orte alle mögliche Handwerker findet, sondern, wie oben auseinander gesetzt, das Handwerkswescn ganz anders, nämlich gcmeindenweise organisirt ist, so sorgt jeder für seine Bedürfnisse durch Einkauf auf den Jahrmärkten; darum haben die Jahrmärkte in Rußland eine ganz andere und viel größere Bedeutung. Es sind hier im Gouvernement Iaroslaw, nach den mir mitgetheilten Tabellen, 37 große Jahrmärkte, auf denen 1842 für mehr als 6 Millionen Rubel Silber Waarcuwcrth außge-boten ward, von dem dann etwa ^ abgesetzt sein möchte. Auf dem Jahrmarkt von Nostow allein, welcher aber auch zu den größten in Nußland gehört, wurden 1842 für 4,930,000 Rubel Silber Waaren gebracht, und davon etwa für 3,686,000 verkauft. Der zweite große Jahrmarkt ist in Potrow, wo 1842 für 465,000 Rubel Waaren ausstanden, und für 156,000 Rubel verkauft wurden, die Jahrmärkte von Borisofskaja, Wcrtensaja, Afonaßjefskaja, Frcdokrestnaja, Vlagowcstschenskaja, Borisso-glcbskaja mögen jedes für 40,000 bis 70,000 Rubel Waaren ausbictcn; dann sind noch acht, deren ausgebotcner Waaren-werth 10,000 Rubel überstieg. Die übrigen sind Märkte von geringerer Bedeutung, wo jedoch noch immer auf jedem für einige tausend Rubel Waaren ausstehen. Ueber die im Gouvernement Iaroölaw vorhandenen modernen Fabriken, nach europäischem Muster angelegt, sind mir f»^ gende officielle Notizen mitgetheilt worden. Im Jahre 1839 waren 105 Fabriken vorhanden mit angeblich 7970 Arbeitern *). Im Jahre 1842 waren 158 Fabriken vorhanden, und zwar folgende: ') Die Zahl bcr Arbcilcr bei dm FM'iÜ'U ist m allen Mistischm Nol'zc" falsch angegeben, sss sind ihrer str-> i ^i,l'. Sitt'. l Seidmfabrik........ ^00,l)00 !) Leinewandfabrikcn ...... 287,000 7 Ballmwollc'!lspiin«crcicn..... 174,000 4 BaumwollcndNlckercicn.....! ^>^,0l>0 1 Mitkalsablik......... >^MW ! l^ichoricufabrik....... U>l)0 1 Ochlfadrik.........! >'i000 l000 ?l» Lederfabriken........ 37>7,,000 l Brrtterfabrik........ 2000 -j Papierfabriken....... 2W,000 2 Glockcnqicßcrcicn...... t>4,000 4 Kllpftrfabriken....... l 5,000 > l^ Zicqelbrcnncrcicn....... ! 1,000 4 ! Kalr'brmlicrcim....... t 4,000 3 l Wachslichterfabriken...... lli,000 .^'l ! Talglichtcrfabriken......! 't()4,000 !» Bierbrauereien....... 4<»,000 2 ! Tabacksfabriken....... 4^,000 ! <» ! Graupen fab ri ken....... (i<100 I ! Tuchfabrik.........^ 47,000 .j « Branntlveinbrennerrien. . . , ! 300,000 1')^ '> l 2,4^0,000 Der städtische Haushalt in Iaroslaw. Ich gebe nun noch zum Schluß einige Notizen über den städtischen Haushalt dcr Stadt Iaroslaw *), welche einige Auf-lla'nmgen über die städtischen Einrichtungen Nußlands übcr-^upt gewähren möchten. Katharina II. erließ bekanntlich eine Etädteordnung, die im ^"gemeinen moderne Formen nach dculschcm Muster in Bezug ) Sie sind mugm nnr offoiell !N>tgNhc,ltt» ^iot!,^n, und vl'rzugbN'lisr ,'inrm ^' Journal dcs ?^!NistcriumS dlö Iniuni l>i-<» 1ft4!l nb.^dllickiü' rrcii >"sin»tw>'n All'sahc nilin'mnun. !4 21l1 auf Verfassung und Verwaltung einführte, Iaroölaw gchört zu den ältesten Städten des Reichs, man vermag daher hier ;u beobachten, wie diese neuen Formen mit dein allrussischen Städtewcsen sich amalgamirt haben. Die Stadt Iaroslaw stlbst liegt in dem Winkel, den der Zusammenfluß des .Katarosst mit der Wolga bildet, allein au ßerdem sind noch füns Vorstädte vorhanden, die anf dem rechten Ufer des Katarosst liegen, und eine anf dem linken Ufer der Wolga. Der Plah, worauf die Stadt sieht, soll M)7 Dessj. (wahrscheinlich zu niedrig berechnet) enthalten, und das ganze Stadtterritorium 200?'/, Dcssj' umfassen, also nicht voll '/, QM. Das Territorium außer der Stadt besteht aus Viehweiden .......... 1l0tt Dessj. Heuwicscn...........292 „ Waldungen.......... 134 „ Gcwä^er, Teiche :c........247 „ Sinnpfe, Sandschollen, Friedhöfe, Wege:c. 117 „ 10! 0 Dessj. Die Stadt hat eine Bevölkerung von 17,272 männlichen und 14/M weiblichen Köpfen, in Summa .'!l/!21 Köpfe. Sie ist in Bezug auf die Bevölkcruug die vierzehnte Stadt des Reichs. Die Bestandtheile dieser Bevölkerung l) Dcm sslistlichsn Stande liügchüii^ . . . I59 488 84? 2) Dcm Adel und Bcamtcusiande «u-, hmiq ................ 12l1 N95 240N Z) zi!liiflci!tc i>. NnhmMbc ...... 235 250 1085, !,. Flcmdr......... 3 5 8 4) Vi'lrqcr :,. «inhcimische........ 5821 7397 l.",,2W l». aus frcmdm Stadel, . . . 1'al, ^l ii .->. ssrunbciun!,........ 385 330 715» l,. Postbam'Nl ........ 286 3l2 l>!)8 l>. Apanaqsl'iiuciu ...... 88 2? ^^ ) >!>it lnsondncmssrlvcrbund Vüschlisti^unzi >>i dcr Siddl 770 240 1lM' 2) nls hnschaftlichc Dlmcr . !)84 9,00 Kopse Adel und Beamte......... 2000 „ Kaufleute............ 1190 „ Bürger............. 13,(i00 „ Bauern............ 4000 „ So wäre also die eigentliche Bevölkerung . 21,500 Köpfe. Dcr geistliche Stand bildet '/.„ der ganzen und kaum V27 ^eigentlichen Bevölkerung. Das ist ein starkes Verhältniß, ^s wohl im übrigen Europa nicht vorkommen möchte! Auf ""Lande h^ot aber dieser Stand auch nur cin Minimum ^'Bevölkerung! ^" Ai)cl und die Beamten bilden '/in der eigentlichen Bc- 14* 212 völkerung, ebenfalls eine merkwürdige Ueberfülle*)! Der russische Adel ist bei weitem mehr ein Stadtadcl, als ein Landadel. Deshalb mögen auch wohl bei weitem mehr Leibeigene in der Stadt sein, als freie Bauern (Kronbauern). Wenn von den letztem etwa 1400 sein möchten, so sind der Leibeigenen 3000, und dazu noch über .'MW leibeigene Fabrikbauern. In diesem ganzen Gouvernement stellt sich überhaupt das Verhältniß der Leibeigenschaft als vorherrschend unter den Bauern heraus. Während man im ganzen Reiche etwa annehmen kann, daß das Verhältniß dcr Leibeigenen zu den freien Leuten wie 6 zu 5 ist, stellt es sich im Gouvcrm'mmt Iaroßlaw fast wie 8 zu 3! Die Stadt Iaroslaw hat 00 Straßen und Gassen, und ist in drei Polizeidistrictc und diese in zwölf Quartiere eingetheilt. Das städtische Territorium wird auf folgende Weise benutzt. Die 11W Dessjatinen Viehweiden sind den Einwohnern dergestalt überlassen, daß die Bewohner der eigentlichen Stadt einc Viehheerde von 439 Köpfen, die Vorstädtcr aber drei Herrden, jede zu 30l) Köpfen auf die Weide bringen. Die Hirten der ersten Heerde werden von der Stadtverwaltung (Duma) gemiethet, erhalten für jede vorgetriebene Kuh von deren Eigenthümer 1 Nubel Silber, müssm dagegen auf ihre Kosten die nöthigen Bullen halten, und an die Stadtcasse 40 Rubel Silber zahlen. Geweidet wird die Heerde vom 1 April bis zum ersten fallenden Schnee. Bei den Heerdcn dcr Vorstädte werden die Hirten von den Eigenthümern des Viehs selbst gemiethet. Es wird auf jedes Stück Vieh i'/ü Dessjatinc Weide gerechnet"). Die Heuwiesen, sieben an dcr Zahl, werden von der Stadt verpachtet, und gewahren 4 Nubel Silber pro Dcssjatine, in ') Im Winter wohnen norigens auch »och eine Menge Adeligci '"> benachbarten Gouvernements m dcr Statt Imoölaw, ") Man sieht hieraus, wie schlecht die Weiden sind, welche kärgliche N<")' rung sic gewähren. Auch bei den Hcnwiescn ist daS ersichtlich, vo» cM> Wiest nur 1 Thlr. 3 Sgr. Pachl deutet anf schlechlc Wiesen, denn das Hm ist nicht wohlfeil in Iaruslaw. Wie odm .in^fiihtt, ?)ü'lwi''i<>oncN del Wicsm sind datz größte Äednrfinsi si>r o,, ^mismnül 5>, v>nir'.rnl>' scimft in dil'sm l^rgrüden. 213 Summa l150 Rubel Silber. Nach der Heuernte verfallen die Niesen der Viehweide. Die Ordnung dieser Verhältnisse hat einen ganz deutschen Charakter, wenn nicht etwa daraus hervorgeht, daß bei der ^andwirthschast gleiche Verhältnisse auch gleiche Ordnung bei allen Nationen hervorrufen. Der kleine Wald bringt der Stadt keine Revenue, er ist auch größtcntheils ruinitt. ^ie Stadt ertha'lt ihr Bedarfholz meist zu Wasser aus den Gegenden Nischnij-Nowgorods. Der Fischfang auf den beiden Flüssen ist von Seiten der Stadt verpachtet. Die Zahl der Gebäude in der Stadt ist: Krongcbäude . . 6 steinerne, — hölzerne, in Summa 6 Kirchl. u. klösterl. 13 „ 11 „ „ „ 24 Städtische. . . . 3l „9 „ ., „ 40 Privatgedäude . 382 „ 2280 „ „ „ 2671 432 steinerne, 2309 hölzerne, in Summe 274 l Von den Prioatgebäuden gehören: ^ sttinciin' hülzcinr !>ummi> Den Geistlichen ...... 2 34 36 Dem Adel und den Beamten . 43 7<> 122 Ibren Frauen..... 20 82 W2 Den Kausieuten...... 130 5U 188 ! Deren Frauen..... 33 13 4<> Den Bürgern...... 94 1000 1094 Deren Frauen..... 43 264 307 Den Handwerksämtern ... — 2 2 Den Postbauern...... 1 94 95 ! Den Bauern....... 5 18 23 Den Fabrikleuten..... - 595 595 Den Soldatenfrauen .... 2 50 52 "wöländeru....... 1 - 1 374 2289 2663 2l4 Man sieht hieraus, daß die russische Bauart, nämlich die der hölzernen Blockhäuser, noch sehr vorherrscht. Beim Adel und den Beamten ist das Verhältniß wie 8 zu 3. Bei den Kaufleuten sind die steinernen Häuser vorherrschend. Dies sind die neuen, seit 30 Jahren gebauten Häuser. In allen russischen Gonvcrnemcntsstädten sind seit 1812 in der Mitte derselben neue Plätze und Straßen ganz im modernen Baustvl entstanden, deren Häuser meist von Kaufleuten gebaut sind, welche die obern Etagen an die vom Lande hereinziehenden Adeligen vcrmiethen. Bei den eigentlichen Bürgern sind die hölzernen Häuser durchaus vorherrschend, im Verhältniß von 10:1. Bei dem Adel und den Beamten gehören VZ,, bei den Kaufleuten zwischen '/5 und '/4, bei den Bürgern zwischen V4 und '/3 den Frauen, was als Beleg für meine oben bei Moskau geäußerte Bemerkung der bevorzugten Stellung des weiblichen Geschlechts in Nusiland dienen mag. Der Werth der Privathäuscr ist auf 1,020,000 Rubel Silber ermittelt; der Miethswcrth ward bei dieser Taxe, die zum Behuf einer Abgabe angeordnet wurde, zum Grunde gelegt. Die Hauseigenthümer müssen von dicftr Taxe I'/2 Proccnt Abgabe an die städtische Casse bezahlen. Außerdem müssen sie von dem Terrain ihrer Häuser, Höfe und Gärten in der Stadt cutt Grundsteuer an die Stadt bezahlen nach Verschiedenheit dcr Lage und dec Bodcngüte vom ^Fadcn ^ bis 16 Kopeken Banco. Dies ist, so viel ich weiß, die einzige Art der Grundsteuer in Nußland, wo alle dirccten Abgaben in der Regel Kop!^ steuern find. Von den städtischen Häusern dienen ^ zu den Bedürfniss«-'" der städtischen Behörden, (> sind für die Militair-Einquartierung bestimmt. ^ Häuser, tt Schmieden, 412 Buden sind vrrmicthcl. Der Gvstlnoi-Dwor war 1837» abgebrannt. Die Kaufleute haben ihn auf ihre Kosten wieder aufgebaut, dafür durften sic die neueröffneten Buden benutzen, vermiethcn :c. bis 1tt4^, wo sic wieder an die Stadt zurückgefallen sind. Es giebt in dcr Sladl 2!» 5) Grooschmicde und Schlosser . -'l4 29 2 2 Schülern, und 5) weltliche mit 1575 männlichen und 24 ''.'eidlichen (!) Schülern. Ein Herr von Demidow hat l,ier l-^05 ein Lyceum gestiftet und reich dotirt. Die Stadt hat ilnn ailf einem dcr Plätze cm Denkmal gesetzt. Es giebt hier !2 Wohlthätigkcitsanstalten, cm Irrcnlmus, cin Krankenhaus, ein Armcnhauö:c., in denen zusammcn M>0 2l7 Menschen verpflegt werden. Die Unkosten betrage^ 32,725 Nu-bcl Silber jährlich. Die Militairvcrpsiegung kostet dcr Stadt cin Bedeutendes. Bis 1838 wurde das Militair theils in den städtischen Gebäuden, theils bei den Einwohnern einquartiert. Damals wurde die Einquartierung bei den Privaten abgeschafft und das Mili-tair eingcmiethet. Um die Miethe zu decken, ward eine Abgabe eingeführt, nämlich jene Miethswerthabgabe der Hausbesitzer und 3Z Procent der Kronabgabcn derer, die kein Haus besaßen. Seitdem wohnen in Stadtgebäudcn 4 Ossiciere, 1 Pope und A245 Gemeine, eingemiethet sind 2 Generale, 10 Stabsofficicre, 127 Dbervfficierc und 17<>4 Gemeine. Die Durchmarschirendcn betrugen nach einer Fraction ron 5 Jahren dlirchschnittlich 5,7)20 Mann jäbrlich. Die Kosten derselbe,^ und alle außerordentlichen Ausgaben für ras Militair betrugen 25,400 R. S. 1839 ward beschlossen, Kasernen zll bauen; die Stadt machte dazu eine Anleihe von <»!,400 Rubel Silbcr. Die Stadtverwaltung. Gesetzlich haben hier nach ihrer Qualification das Nccht des Stimmcns in den allgemeinen Versammlungen 240 Kaufleute und 1500 Bürger und Handwerker. Allein dies Nccht findet nur geringe Theilnahme, selten erscheint mehr als '/3 dcr Kaufleute und ',,5 dcr Bürger. Die Besitzer von unbeweglichem Vermögen in der Stadt aus andern Ständen, gegen 200 an der Zahl, erscheinen niemals, ungeachtet ihnen 1765 dies Recht beigelegt ward! — Das Verhältniß der Einwohner, welche kein Stimmrecht haben, ist hier bei den Kaufleuten wie 6:1, bei den Bürgern wie 20:1. In den Kreisstädten ist die Proportion wie 3: l Und 6:1. Die Kaufmannschaft wählt aus ihrer Mitte 31 Vertreter, d'e Bürgerschaft 77>, welche 100 die verschiedenen Aemter bei ber Verwaltung der Stadt übernehmen müssen. Außerdem sind ^ in höheren und 238 in niederen Functionen stehende besoldete ^eamte bei dcr Stadtverwaltung vorhanden. Sie erhalten zu-Wnmen eine Besoldung von 13,500 Rubel Silbcr. Der Etat ist folgender: 216 «yewaliltc AnsscMK und b,-Vertreter ft'ldels, oder ^einie- Höh? der Be der Kauf' tycte ?Ueamte m>d soldun., lmte und Diliicr der Sladt Bürger, un lie- ! s.ldct Aeamtt l Diener ^ ^ ^ V. Die nllgemeinc Verwaltung d,cr Stadt. Die Stadtduma (NathhauS-vcrwaltunq..... 7 5 14 1714 80 Dcr Stadtmaqistrat... 0 7 11 1350 10 Das WaiMgencht beim Ma-qistrat...... 2") 1 0 033 40 DaS mündliche Gericht beim Magistrat..... 2 1 1 100 10 Die Stadtdcp, Kations-Versammlung ..... 7 — — L. Polizeiuerwaltnng. ^ Das allgemeine collegium i^dm" ocr Stadtpoli^ei ... 2 <» z,,^!, ^ 201^ Die Verwaltung o,cier Po^ '""l'^' 'izeidistricte ..... — 17 »ommc,,. 1707 l<) Das Polizcicommando . . - ^ U2 23^3 l>7 Das Feuerlöschunq^com- ! maroo ....... 1 106 20<)l 7<> Die mündlichen Gerichte in oen Polizcidistricten . . 0 — 3 82 7i Die Quarticrcommission .4 13 487» 00 30 3'^ 238 13^59 24 l>. Verwaltung der einzelnen Acmtcv und Angelegen- heitcu der Bürgerschaft. . . 2 gewählte Vertreter. Al6 Arlteste der Bürgerschaft mit ihren Gehülfen.........7 „ „ Da6 l^cwerbcantt, bestehend auü: dem Amtühaupt . . 1 „ „ den Anttöälterleutcn 13 „ ,> den Beisitzern . . 20 „ ^ ') «lußcl den gewählte,, Vcisi^m ist ta« Ct>idl «uluwa tSl.,dtl)liup!) a!" 219 V. Zur allgemeinen Verwaltung berufen: Als Beisitzer des Civil-Gcrichtshofs . . 2 gewählte Vertreter. Als Beisitzer des Criminal-Gcrichtshofs 2 „ , „ Zur Revision der Stadtrcchnungen . . 2 „ „ HandelS-Drputation....... 2 „ „ Taxatoren des unbeweglichen Vermögens 4 „ „ Als Commissaricn zur Aussicht über daS Stadtvermögen ....... 4 „ „ Die Kirchen-Aeltestcn ...... 3 „ „ Was bei dicscm (5tat auffallen muß, sind dic geringen Be-suldungcn der Beamten. Der Polizeimcister (Polizeidirector) von Iaroslaw erhält 343 Nudel 20 Kopeken Silber Gehalt, ein StadttheilSpolizei-Major 17! Rubel l>0 Kop., jeder Qnartaloffizicr 7l N. 70 Kop. bis 85 R. 71 Kop., wobei sie jedoch sämmtlich freie Wohnung, Heizung und Erleuchtung haben. Die Secretaire der Gerichte haben 200 Rubel (beim mündlichen Gericht nur 103 R.). Die angestellten Copisten erhalten 45 bis 00 Nubel. Wächter und Boten bei den Gerichten 2>, bis 43 Nubel. Die Unteroffiziere bcr Polizei- uud Feuerlösch-Commandos erhalten nebst Proviant und Ammunition jährlich 4 Rubel 31 Kopeken. Die Gemeinen 2 Nubel ti<» Kopeken! — Wic kann man Rechtlichkeit, Unbestechlichkeit, Diensttrcue von einem Beamten fordern, voraussehen, ja nur verlangen, der, wic ein Polizcimeister in Iaroö-Imv, eine reiche Uniform tragen nmsi, einer Equipage gar nicht entbehren kann, der überall und auch in seinem Hause anständig auftreten und leben muß, dabei in einem Lande, wo außer den gewöhnlichen Lcbensmitteln Alles exorbitant thener ist, und der nun 380 Thlr. Gehalt bekommt!? — Es ist leicht nach--zuweisen, daß er das Zehnfache von dem gebrancht und verzehrt, was er als Gehalt empfängt! — Wenn er nun kein Vcrmö^ lt"! besitzt, nicht die festesten Gnmdsähc der Ehre und Mora-utäl hat, waö ist die natürliche, die nothwendige Folge?-------- Damit man sich überzeuge, daß in Rußland daS Schreiberei- ^cscn hci den Behörden cden so arg, vielleicht noch ärger als ^ Deutschland sei, so gcde ich hier über den schriftlichen Ber- chr bei den städtischen Behörden in Iaroölaw folgende Notiz: 220 Jährliche Zahl Zahl der Papiere, Acttt, her Ein- der Auöfc» Bei der Duma (Nathhaus) . . . 148 1877 2934 Beim Stadtmaqistrate.....111 1737 2790 Beim Waisengerichtc.....133 014 122.', Beim mündlichen Gerichte des Magistrats ........ 48 127 1!>8 Bei der Stadtpolizei: a) der allgemeinen Polizeibehörde 290 8028 10,812 b) dcn einzelnen Polizcidistricten 234 8349 11,09!) !)84 20,732 35,004 Deshalb blühen auch die Papierfabriken im Gouvernement so lmgemein! Schließlich gebe ich dann dcn Einnahme- nnd Auögabe-L'tat der Stadt Iaroölaw: (5 i n n a h m e. Gegenstand dcr Einnahme. Rubcl. Kop,S Abtheilung I. Einnahme vom Grundeigenthume der Stadt, vonAeckcrn, Gärten, Wiesen, Weiden (die dcn Einwohnern mchl ^ir Benutzung überlassen sind), von Schcuren, Buden:c. . . 20,740 Abtheilung II. Abgaben der Einwohner von ihren Grund-besitzungcn.......... 10,000 -^ Abtheilung III. Abgaben für das Einschreiben in das Stadtbuch (Hypothekenrcgister^ von den hier Ansässigen 1514 28 I.UU.5 . . 38,254 04 221 l^egmsiand der Vinnahmr. Nul'cl, ,ssop,S Transport 38,254 04 Abtheilung IV. Abgaben von den Gewerben, von den Trai-tcurs, Gasthäusern, Restaurationen, Weinkellern, Magazinen, Buden, Badstuben, Fuhrleuten, 'Droschkenführern :c. . . . M,714 1? Abtheilung V. Abgaben von den Bclustigungsörtcrn des Publicums . ... ^. '..... 114 28 Abtheilung VI. Abgaben von Auctionen, Verkäufen, Wechseln, Pfandbriefen, (5ontractrn, Abrechnungen :c. >j^28 57 Abtheilung VIl. Hülfe leistende Abgaben von der Vrannt-wcinspacht und von der Grundsteuer, zur Hülfe der Stadt, um die Thürine ^,u erhalten l ^l)2 22 Abtheilung VIll. Zufällige Einnahmen von Lotterien, von crb-loscm und verfallenein Vermögen und von Strafgeldern . . . (nicht angegeben!) Außerdem erhält man noch jährlich für städtische Grundstücke, welche in Arendc gegeben sind und unter besonderer Aufsicht einet, Dberaufsehers stehen, von diesem abgeliefert 10,Ui2 Summa aller Einnahmen 0^77, 88 A u ö g a b e. Gegenstand der Ausgabc. Ml>c!, K?p,S. Abtheilung I. ^ür die Wohlthätigkeitöanstalten und ^ur ' Hülfe der Erhaltung der Lehransialten . 1285 71 I.:Ul,5 1285 7l 222 Grgmstand dcr Ausübe. Transport Abtheilung II. Iur Erhaltung dor Plätze und Straßen, Gehalte der Polizeibcamtcn, der Canzlei, des Rathhauses, des Magistrats, des Waistn-gerichtö........... Abthe'lung III. Für die Einquartierung des Rathhauscs, dem Magistrat und dcr Baucomnnssion abzuliefern. Ferner für die Unterhaltung des Seidenbaues.......... Abtheilung IV. Zur Heizung und Erleuchtung dcr Pvlizei-Local^atcn, der 4 städtischen Häl'scr, des Thurms, verschiedener Easernen, f' .'Stra-sienerlcuchtung, für Illuminat'yncn der Stadt an Festtagen....... Abth'^lung V. Bau- und Reparalm'^AnSgaben bei dcn städtischen Gebäuden,Erhaltung des All'randrou" schen Boulevards und anderer Anlagen . Abtheilung VI. Für unvorhergesehene Fälle und verschiedene kleine Ausgaben........ 1285 .'MM, 1582 10,804 8275 lW8 7l 27 14 58 57 Summa der Ausgaben 27 Der Ueberschuß dcr Einnahmen, der sich hier darstellt, fallt an den Militairetat der Stadt. VIll. ft» siädlislin' ^,,n!»l'!,,,tql,i, !>i!>n>^ i>nd ^i'.i>,c ^cdniloilg, !?,r ^i!i >^^,!!Nluit^i. Vklss!!,,; nach >i,i^nvf. Dl,'rfvrl^iss!U!,,. ^,r ,v,m, >!>ssis,!l, l^'K',!,sa!,I,'N IN! ^cvl^l!!, '^!!' ''^.viii'^ll l!,!0». ,!>,' .'»'l»!>s,1>!l lrüln. ^n ^.'.'^!lr ?^,1>^',,.U', ^!>U,,,!NI>r ^,,'>>>'U!u!!>,', ^!>l.,!/,i!, Vl>mi' >^,!>! ^!>Ni.'sll,l II, ^P^Il,'!'.'!,', .^K'l5l',!n,,!'l. ,i^>'^ ^!>n,l!ll>'s! im >>l',l,ü >!>0!!>'v, Dl>' l), Ivan lind drr I>. Ellpliai', Dii' ^>'>i>u>>>!. Russische Vmuchnmlic auö dcn G^N'criicmciUe Iawiüliw imt, Vologda. ^ ^lm Abend dcs 22. Mai rcis'tcn wir von Iaroslaw ab. ^/"' dem mächtigsten Strome Lm-opa'ö und vom jenseitigen .^^"^ Sonne das virltluirini^', l.nrlich ,qelcqene Im-os- Wald . "^' ^'"^' ^'^' ^"'^^a^e i>, einen finstern Kiefern- qar l ""' ""^ b"' tiefe Sand, worin unsere Tarantasen bald ^u^sani ruderten, schläferte uns Alle nach und nach cm. 224 ^is ^,'!,1,1,^!N zur ^rn'(i!>,m!si d^> .U^rnö. Dir ^!^>»l'i» tr^l'r!, !,,c, m ^lr R,'«u'l !'!rwcvl'l und H,n>d^I, t'aln'r d>n" rm'sichmdc wohl dac! ciins, l^,ch,i, ,y,n!dc!lrl>l,>cnde». Wir ermunterten uns erst am andern Morgen in der Nähe der Kreisstadt Danilow. Der Ort gleicht mehr einer europäischen Stadt, als die meisten andern russischen Städte. Die Einwohner sind zum großen Theil Kupferschmiede, die vorzugsweise die oben beschriebenen russischen Theemaschinen, Samowars (Selbstkochcr), verfertigen, welche eine ungeheure Verbreitung bis tief in Asien hinein haben. - Mehrere Mmvohncr betreiben dies Geschäft im Großen, d. h. fabrikartig, und wir besuchten einige dieser Fabriken. Wir kamen nun durch mehrere Krondörfer, die in ilirem Aeußcrn die größte Wohlhabenheit zeigten. Die ächten Baucrbäuftl Accht russisch^ Baucrichcms nneö !ro!,!lmbcntl'!> Vaucin in ,Non!i,'.5, nrisll'.lN 225 waren häufig unter 2 Dächern, so daß der ganze innere Bau nur cm Haus bildet, auf welchem aber 2 Dächer neben einander stehen. In dem einen Theile des Hauses ist dann die Sommerwohnung mit 3 großen Fenstern, in dem andern die Wintcrwohnung mit 3 so kleinen Fenstern, daß sie oft nur eine Scheibe enthalten und man kaum den Kopf hindurch stecken kann. Die große Hausthür ist hier meist oben rund, in Holz gewölbt, wie bei deutschen Ballerhäusern in Nicdcrsachscn und Westphalen. Das Hofthor ist stets mit einem Querbalken bedeckt, hat also die Form eines Galgens. Gewöhnlich bilden 2 Bretter darüber ein kleines Dach; wer die Holzpforte nicht bedeckt hat, gilt beim russischen Bauern für einen schlechten Wirth 5). Mitunter findet man ganz moderne städtische Häuser, an denen jedoch nach modern russischer Sitte hölzerne Säulen nnd Altane fast nie fehlen. Wir kamen durch mehrere sehr schöne Dörfer, unter denen sich die Stationödö'rser Levinski und Teleitschegam auszeich-urten, serner Prctschisiinkoja, ein den Herren von Skulsky und Kierow gehöriges Dorf, in dem fast jedes Haus eigenthümlich und schön ist. Gegen Mitternacht erreichten wir die Kreisstadt ^rjäsowetz, wo uns ein wohlhabender Kaufmann in seinem eu-lvpäisch-modernen Hause für eine Stunde aufnahm und mit Thee bewirthete. Am Morgen des 24. Mai kamen wir bei herrlichem Wetter in Wologda an. Der Gasthof sah ungemcin schmutzig und abstoßend aus; Nur fanden aber eine gastfreundliche Aufnahme bei einem Kauf-Manne, und machten dann zunächst die nöthigen Visiten beim Gouverneur, dem Chef des Domainenhofs, dem Stadthaupte :c., ^nd sahen uns bei der Gelegenheit etwas das Aeußerc der Madt an. Sie ist ungcmcin weitläufig gebaut, die beiden äu-^rsten Enden sollen über eine Stunde auseinander liegen, die '"eisten Straßen sind breit, ungepflastert und mit russischen in weitläufigen Gehöften liegenden Blockhäusern besetzt. Nur lim ^n in der Mitte der Stadt sich befindenden sehr großen Platz '^ an den zunächst von ihm auslaufenden Straßen stehen ) Dicö sichn schon d,'! A,libcv Ib» Foszla,, in stiün Vchbrl'ilnmtt Nllß-lands an, 15 226 cine Anzahl steinerner Gebäude in modernem Styl, mit den in Nußland gewöhnlichen und unvermeidlichen Säulen und Bal-conen. Die Stadt ist öde und menschenleer; sie könnte ihrer Größe nach leicht 100,000 Menschen fassen, es leben dort aber kaum 14,500! Dagegen ist sie, wie alle alten Städte Nuß-lands, voll Kirchen mit unzähligen Thürmen und Kuppeln. Auf 2ür solche gewählt würde, die man wohl unter sicherer Obhut und Beobachtung stellen, aber doch nicht von den Genüssen und "ecmemlichkeitcn des modernen Lebens ganz abschneiden und abschließen wolle. Nach Tische besuchten wir eine Ausstellung von Filigran- ^'bcitcn bei einem russischen Kausmanne. Diese Arbeiten in ^"ber, die man in Europa in großer Vollkommenheit nur in fallen (wie ich glaube in Genua!) findet, sind merkwürdiger ^1e seit unbekannter Zeit auch in diesem russischen Landstriche "breitet. Die Kunst dieser Verarbeitung ist aber hier daö ^cnthum einiger weniger Bauernfamilicn, und hat sich 15* 228 seit alten Zeiten von Generation zu Generation in denselben vererbt. Nach einer bei ihnen erhaltenen Sage sollen einige ihrer Borfahren, auf Handelszügen nach China, gefangen und nach Japan geführt worden sein, wo sie die Kunst erlernt und nach ihrer spätern Befreiung mit ins Vaterland gebracht hatten. Auch von den schwarzen Actzungcn in Silber waren hier eine Anzahl Arbeiten ausgestellt. Sie sind unter dem Namen Tulaer Arbeiten überall bekannt, werden aber auch in diesem Gouvernement in einigen Baucrfamilien besonders hübsch verfertigt. Wir beschlossen am andern Tage, einen Ausflug aufs Land zu machen. Ein Major von Tiescnhauscn, der die Gegend gut kannte, erbot sich, uns zu begleiten. Das Ziel unserer Reise war das von Wologda 27 Werst weit gelegene Dorf Kubensk am Kubensky-See, welches uns in Moskau vom Baron Alex. von Meyendorss als besonders interessant für meine Untersuchungen geschildert war. Die Hegend zwischen Wologda und dem Kubcnsky-Eec ist ungcmcin reich angebaut, von jeder Anhöhe erblickt man eine Anzahl kleiner Dörfer, meist nur von ft -10 Häusern. Die Dörfer und ihre Gärten sind alle eingezäunt und mit Schlagbäumen abgeschlossen. Wir wurden in Kubcnsk ungemein freundlich aufgenommen; ein reicher, hübscher junger Bauer nahm uns in seinem reinlichen, großen Hause auf. Wir traten in eine große, helle Stube, deren Wände getäfelt waren; der blankgescheuerte Fußboden war mit Tannennadeln bestreut. Dic Meublen, Gcräthe und Zicrrathen des Zimmers bildeten ein sonderbares Gemisch von altväterlicher russischer Einfachheit und modernem eingcdrungencm Kram. In der Zimmcrecke das alt-russische Heiligenbild mit der brennenden Lampe davor, an den Wänden umher die einfachen festen russischen Bänke, aber außerdem <; Nohrstühle; auf der einen Seite ein schwerfälliger russischer Tisch, aber daneben auch ein moderner Tisch mit einem Teppich bedeckt, auf dem ein modernes Theegeschirr mit Porcellantassen stand! Die seltsamste Mischung von Bildern war an den Wänden zu sehen; einige gemalte russische Heiligenbilder, einige bunte Holzschnitte aus fegenden und Mähr- 229 chen, mit erläuterndem Text in Versen mid Prosa, aber zugleich im eleganten Nahmen mit Glas die Kupferstiche der Kaiser Alexander und Nikolaus, und Napoleon's"') in der Mitte zwischen ihnen. Unser Wirth hieß Rowokat WasMrwitsch Ico-nikow. Er war mehrmals längere Zeit in Petersburg gewesen und hatte dort Handel getrieben, ja er verstand sogar etwas Deutsch, und ich konnte mich ihm verständlich machen. Nachdem wir ein ächt nationales, vortreffliches Frühstück von Thee, Fischen, Piroggcn lc, eingenommen hatten, kam auf meine Bitte seine Frau, eine russische Schönheit, d> h. dick und roth, «m sich im vollen Nationalstaat von uns Fremden bewundern zu laffen; Rock und Jacke (Seelcnwärmcr) war von trefflichem weißem Seidenstoff mit Gold durchwirkt. Der Seelenwärmer "llein hatte 500 Nudel Silber gekostet! - Ich ging darauf mit unserm Wirthe allein etwas im Dorfe Umher. Ueberall schöne große Häuser; wir traten in einige hmein, überall dieselbe Ordnung und Reinlichkeit, dieselben ') Im ganzen Norden NusilandS fand ich in jedem Nürgcrhause drr Städte, aber auch fast in jedem wohlhabenden Nauerhausc das Bild Napoleon's! In den Vilderlädm der größeren Städte, wo man alle Arten Legenden, Mährchen und Sagen in Aolksbildern, (iarrimturen i>-, findet, meist Holzschnitte von ächtrussischcr Arbeit nnd Erfindung, erscheint Napoleon in tausend Gestalten. Kein Name, leine geschichtliche (Gestalt ift bekannter nnd populärer beim gemeinen Großrussen, als Napoleon. Wenn während des Kriegs i,i Äusilaud gluhmder Has! gegen ihn lN!> H^en tNtfiammte, so waid er mnh seiner I^esiegung der Gegenstand d^o Spotls und der Ironie, jetzt >ü>cv is, rr der Held der Sage, ein fabelhafter my-thischcr, HcroS geworden i jede Spur dcs Hasses ist verschwunden. Aus jener Zcit der Spottlicder und Carriealurcn fand ich noch eine in Moskau, wo er als Tänzer erscheint und nach und nach mit al!m Nationen tanzt. Da« cttlärcnde Lied erzählt: Napoleon habe zuerst eine Fran-^aisc getanzt, sehr künstlich nnd mit vielem Beifall, dann eine Memaude, dann eine Polonaise > bei der Anglaisc habe er etwaS zu hinken angefangen. Da habe Kutusow zu ihm gesagt: „Wir ucrstchm in Rußland das fremde Tauzm nicht, tomm, tanz mil mil kosackisch'." — Zuletzt hätte Kultittorstt (^oulineom!) gesagt: „Der Kerl, der Kutusow, tanzt M gut! tvs ist nichtü flir uns hier zu holen, wir müssen jetzt zigen unisch <>nit den Händen aus die Fersen uud Fußsohlen sich schlagend) lanzm." 230 Zeichen des Wohlstandes, dieselbe gastfreundliche Höflichkeit! In einem Hause fanden wir 3 Brüder, alle vcrhcirathet und mit zahlreicher Familie, aber alle dem ältesten Bruder als dem Haupte der Familie unbedingt unterthä'nig. Es waren 3 Kirchen im Dorfe, von denen ich aber nur 2 besehen habe^), eine Sommcrkirche, und eine Wintcrkirche, die geheizt werden konnte; das Innere der einen hatte an der Ikonostase sehr hübsches Rococo-Schnitzwerk und eine ganz gute Copie des Abendmahls von Leonardo da Vinci. Als wir uns dem Hause unsers Wirths wieder näherten, hatte sich das halbe Dorf auf dcr Straße versammelt und grüßte uns freundlich, im Zimmer aber fanden wir nunmehr den Sta-rostcn und die weißen Häupter des Dorfs versammelt, die sich bereit erklärten, mir über Alles, was ich zu wissen wünsche, Auskunft zu geben. Das Dorf Kubcnsk gehörte früher dem Fürsten Soltikow, kam dann durch Erbschaft an die Orlows, und von diesen durch Kauf an eine Frau von Iaroslawlow. Es hat 153 Häuser und etwa l->00 Einwohner. An Acker mögen 400 Dcssj., an Hcuschlägcn 200 Dcssj. beim Dorfe liegen. Wald haben sie gar nicht und müssen alles Holz kaufen, wobei dcr Kubikfaden Fichtenholz wechselnd zwischen 6 und 10 Nubcl Banco zu stehen kommt. Jedes Haus verbraucht jährlich für 50 Rub. B. Holz. Dcr Boden ist vortrefflich und sehr fruchtbar. Rings um den Kubensky-See zieht sich ein Kreis sehr fruchtbaren Humus-Bodens, und die Felder des Dorfs liegen zum größeren Theil in diesem Kreise. Die Bestellung war sorgfältig, und man sah ihr großen Fleiß an; nicht wenig aber war ich verwundert, hier dcn belgischen Pflug neben dein russischen angewendet zu finden. Peter l. soll ihn in dieser Gegend eingeführt haben. Es ist unglaublich, mit welchem Scharfsinn nnd welchem Geschick dieser Fürst jedes Mal auf dem rechten Flecke diejenigen Verbesserungen dcr Landescultur eingeführt hat, die dcn Verhältnissen angemessen waren! Er hatte für das Kleinste wie für das Größte ein Auge! Ucbcrall in Nußland stößt man ') Ihn- Abbildn,!^ sindtt sich l'ci Nlcisius a. a. O. l, l"lf lZ6, l»ld znigl sür dcn Reichthum dcö Orts. 231 auf Erinnerungen an ihn, aber seine Nachfolger haben es nicht verstanden, bei dem so sehr gelehrigen russischen Volke die Keime zu reellen Verbesserungen seiner inneren und Hauswirthschaft ferner zu legen und zu pflegen, erst gegenwärtig denkt man hierauf! Katharina I!. hat in dieser Beziehung säst nichts gethan, ihre Einrichtungen sind mehr Nachahmungen fremder Völker, und haben mehr den Charakter des äußeren Scheins. Sie hat zuerst eine böse Richtung in die ganze Verwaltung gebracht, nämlich, daß man von da an bei jeder neuen Einrichtung zuerst sich gewöhnt hat, zu fragen: Was wird Europa dazu sagen? nicht: ist die Einrichtung wahrhaft national, ist sie für Nußland angemessen, nützlich, nothwendig? Die Felder gewähren bei Kubensk für das Winterkorn das sechste, für das Sommcrkorn das vierte Korn. Das Getreide wird mit der Sichel geschnitten, das Gras mit der Sense gemähet. Vci jedem Hause liegen ziemlich große Gärten, die unveränderlich bei den Häusern bleiben, während bei den Äckern die russische Theilung nach männlichen Seelen, wenigstens dem Principe nach, eintritt, wenn auch die wirklichen neuen Theilungen möglichst vermieden werden. Die Weiber arbeiten in den umliegenden Orten sehr kräftig wit, hier jedoch wenig, außer in der Ernte. Die Leute können ber im Sommer sich drängenden Arbeit nicht genügend vorkommen und nehmen daher Hülfsarbeitcr aus nördlicheren Gegenden; ein solcher Knecht erhält für die Sommermonate die Beköstigung und (M Rudcl Banco. Außerdem wird ein Tagarbeitcr mit seinem Pferde iu der Saatzeit mit 2'/2 Nubel Banco, in der Heuernte mit 2 Nub. B., und ohne Pferd mit 1 bis 2'/, Nub. B. bezahlt, die TagZarbcit cmes Weibes wird M der Ernte mit 70 bis ^0 Kop. B. bezahlt. Im Winter, sobald die Schneebahn beginnt, beschäftigen slch die Männer mit dem Handel und mit dem Transport von '""Uflnannsgütern. Aber auch im Frühjahr und Herbst bei Hroßem Wasser treiben sie über den See hin, der mit den schiffbaren Flüssen Suchona, Schektzna und Dwina in Verbindung n?^ einigen Handel. Dabei verfahren sie aus ihrer eignen wirthschaft Getreide, Gemüse, Häute, Talg, Fische (auö dem Kubensky-See), das Gemüse wird meist in Wologda abgesetzt, das übrige aber bis zur Wolga, ja bis Petersburg, von wo sie dann als Rückfracht andere Waaren zum eignen und fremden Handel zurückbringen. Die Gartencultur allein soll für jede Haushaltung durch Gemüscocrkauf durchschnittlich 80 Rubel Banco Überschuß gewähren. Es ist daher durchschnittlich große Wohlhabenheit, ja Reichthum im Dorfe, und ein Vermögen von 40 bis 50,000 Rubel Banco ist gar nicht selten. Das Dorf hat immer milde Gutshcrrschasten gehabt, die nicht einmal für den Kopf einen Obrok, sondern der Gemeinde im Ganzen einen jährlichen Tribut auferlegt haben. Von 1798 bis 1813 zahlte die Gemeinde jährlich 4000 Rubel Banco, von da bis jetzt 7000 Rubel Banco. Gegenwärtig verlangt die Gutshcrrschaft 2000 Rubel Banco mehr, und sie standen noch in Unterhandlung über den neu zu rcgulirenden Betrag. Das giebt einigermaßen einen Anhaltspunkt zur Beurtheilung des steigenden Wohlstandes. Die Kronabgaben und die baren Com-munalabgaben zur Unterhaltung der Gemeindeverwaltung, der Feuerlöschanstaltcn :c. betragen circa 5 Rubel Banco für die männliche Seele. Beim Brande giebt die Gutsherrschaft keine Unterstützung, aber wohl einen angemessenen (5rlaß am Obrok. Von der Krone wird bei solcher Gelegenheit für jedes Haupt 100 Rubel Banco und freies Bauholz bewilligt, wofür pro Seele 12 Kopeken Brandabgabe (unter den 5 Rubeln einbegriffen) gezahlt wird. Für das Gemeinde-Magazin wird für die Seele 1 Tschetwerik (<>'/2 Scheffel) Nocken und 2 Garnietz ('/» Scheffel) Hafer eingefordert. Außerdem muß jede Seele 10 Kopeken jährlich zahlen, woraus ein Capital gebildet wird zur Unterstützung bei großen Unglücksfällen. An der Spitze der Gemeinde, wozu aber noch einige kleine, derselben Gutsherrschaft angehörige naheliegende Dörfer, die mit Kubensk zusammen etwa 800 männliche Seelen zählen, gehören, steht ein von der Gutsherrschaft angesetzter Starost, der 500 Rubel Banco Gehalt erhält. Die Gemeinde wählt unter Leitung des Starosten jährlich 5 Vertreter und 12 Älteste, welche mit dem Starosten das Gcmcindegericht bilden, dessen schriftliche Geschäfte ein Gc-mcindeschrciber mit 200 Rubel Banco Gehalt versieht. Die Competcnz dieses Gerichts umfaßt alle persönliche Streitigkeiten 233 der Bauern, deren Grcnzstreitigkciten, Erbschaftstreitigkeiten :c. Es ordnet Borniundschaften an, wo es nöthig ist, auch Auseinandersetzungen zwischen wicderheirathenden Frauen und den Kindern erster Ehe. Eine wiederhcirathende Wittwe macht ihren Mann zum Hausherrn und es wird dadurch Einkindschaft begründet*). Strafen kann dieses Gericht bis zu 24 Nuthcnhiebm verhängen, eigentliche Crimmalstrafm natürlich nicht. Durch altes kaiserliches Privilegium sind dem Durft jährlich 2 Jahrmärkte verliehen, auf denen abgabenfreier Handel getrieben werden darf; außerdem ist alle Donnerstage ein Wochenmarkt. Bei den Kirchen sieht 1 Pfarrer, 1 Diakon und 3 geringere Kirchendiener. Der Pfarrer wird vom Bischoff ernannt. Dieser Geistlichkeit sind 33 Deffjatinen Acker und Wiesen zugewiesen, von denen die Hälfte dem Popen oder Pfarrer zufällt, dem Diakon '/i, den übrigen zusammen das letzte '/,< Geldeinkünfte hat die Geistlichkeit nur aus freiwilligen Geschenken und Beiträgen für geistliche Handlungen, Seelenmessen, Weihun-gcn und Segnungen, Erthcilung der Sacramente, wo für eine Taufe gewöhnlich 15-25 Kopeken Silber, für eine Trauung nach der Wohlhabenheit l—5 Rubel Silber, für ein Begräbniß /2 bis 1 Nub. S. gezahlt wird. ^Diese Zahlungen, die wir in Westeuropa .M-u »tu!:»« nennen, sind in ganz Nußland unbestimmt, und vielen, aber schwer abzustellenden Mißbräuchen unterworfen!) Alles zusammen bildet eine Geldrevenüe von 700 bis W00 Rub. B. Die ganze Bearbeitung der 33 Dcssjatincn kommt der Geistlichkeit ungefähr auf 200 Nub. B. zu stehen. Dem Popen wird auch meist von den Bauern bei den Arbeiten bloß für ein gutes Tractament geholfen. (Auf ') Dic Stiefväter lieben ihre Stiefkinder eben su wie ihre rechten Kinder, nic unterdrück!, vn'nachlässi.it, betrügt der russische Stiefvatcr scim Stiefkinder. In dm Volksliedern ist fin- den Slicsoalcr kein Wort, aber wohl für die Stiefmutter, Malschicha, die böse Stiefmutter spielt oft eine Nolle in dm Vulkslicdcrn! Ja halte der Stiefvater tiilen rl-wachseneil Schn crsler Ehe, su würde derselbe nach seinem Tode als Haupt der Familie eintreten, und dann fiir seine augeheirathetm Geschwister sorgen, als wären es seine Kinder. 234 gleiche Welse helfen die Gemcindegliedcr ihren etwa abgebrannten Nachbarn bloß für ein Tractament dergestalt, daß ein Abgebrannter in der Regel für Arbeit keinen Nnbel bares Geld auszugeben hat!) Einer der Geistlichen hatte auf Bitten der Bauern eine Schule angelegt. Sie zahlten ihm für jedes Kind ein Bestimmtes, sobald es Lesen, Schreiben und auf dem Rechenbrette rechnen gelernt hatte"°). Ich erkundigte mich nach der gewöhnlichen und täglichen Lebensart. Sie stehen auf mit Sonnenaufgang, dann essen sie, was am Abend vorher übrig geblieben ist, und gehen an die Arbeit. Um 10 Uhr ist bei ihnen Mittag, dann essen sie Milch mit Brod, Hafergrütze, und diese an Fasttagen mit Fischen (Susch), zur Abwechselung auch häufig mit Dl gebratene Pilze ^). ') Fast in allen Baurrhäusern dieses Gouvernements, die ich besuchte, fand ich Bücher meist religiösen Inhalts. Einige Male, als ich eins aufschlug, fand ich Geschriebenes, bei näherer Betrachtung zeigte sich aber, das; die geschriebenen Blätter die verloren gegangenen gedruckten erseht hallen! Welche Liebe und Sorgfalt zeigt das nn! l^ö soll auch Gegenden in Rnßland geben, wo man Lesen und Schreiben fiir Hrrmkünste hält, wovor man sich zn hüten habe. Dicö Gonvcrm'mcnt scheint aber nicht dazu zu gehören, vielmehr ein Drang nach Bildung überall hervortretend. ") In cinem seltenen alten Buche: Reise nach Norden von einem uubc-l'annten Autor, Leipzig 17l8, ist p. 244 eine Beschreibung und Abbildung dcr in Nordrußland wachsenden Arten von Pilzen, welche damals den ssinwuhnern zur Nahrung dienten, gegeben. ^'6 sind dieselben, die noch jetzt dort gegessen werden. Dei Autor giebt die damals gebrauch" lichen russischen Namen, und ich lcisse sie hier folgen, um etwa zn vergleichen, ob noch i/ht dieselben Namen und Arten vorkommen. 1) Nig-hiees sind Nein, schwarz und roth, kommen in einer Nacht auö dem Moms! hervor. 2) SmoNski oder Honigschwämmc gelten für besonders dclnat, komme,! ans grußer Herren Taseln in Suppen und Pasleten, wachsm im April und Mai. 3) Gribbuis, braun, der Stiel wie cim Säule, in drr Mitte geschwollen, auch delicat. 4) Velnizi, braun und schwarz mit ru!h gemischt, die Form wie unsere Champignons. 5) Gronzs-holl,, die größten aller Krdschwänum', von ttnsörmlichci- install, hohl, weini sic reif sind, weiß. l5he sic gekocht sind, schmecken sie bitter und scharf, lü'd mlzündm dcn Mnnd des ^ssmdm erbärmlich. (>) Maölinicky sind braun 235 Gewöhnlich essen sie cm Mal in der Woche Fleisch, Rindfleisch oder Kalbfleisch. (Die in den Städten arbeiten, essen jeden Tag Fleisch.) Schweinefleisch kennt man fast nicht. Nachmittags und Abends ißt man dasselbe, so daß nnr ein Mal am Tage gekocht wird, die übrige Zeit wird das Gekochte wieder aufgewärmt. Abends 9 Uhr geht Alles zur Nuhe. Die Reichen haben dieselbe Tagesordnung, nur daß sie zu Mittag in der Ncgcl Kohlsuppe mit Fleisch oder Fischen (Tschi), dann Grütze, oft auch Piroggen (russische Pasteten) haben, um 4 Uhr Nachmittags trinken sie Thee in Gläsern ohne Milch und essen Brod dazu, ein Stück braunen Zuckers in den Mund hilft sür 3 Gläser aus! Des Abends und Morgens früh genießen sie das vom Mittag Aufgewärmte. In neueren Zeiten beginnen in dieser Gegend die Kartoffeln sich zu verbreiten. Über die Kleidung der hiesigen Bauern und deren Kosten erhielt ich folgende Notizen. Männerkleidung. Das grüne wollene sclbstgewcbte Zeug zum täglichen Kastan kostet, wenn es gekauft wird, 70 Kop. B. die Arschin, ist aber nur ^ Arschin brcit. Der Schneider erhält nebst Beköstigung 1 Rub. B. Machelohn. Das ganz grobe Leinen zu ihrer Hose kostet die Arschin ('/« Arschin breit) 7 — 10 Kop. B. Das etwas bessere Leinen zum Hemde 15 — 25 Kop. B. Die Stiefel kosten 3^ 4 Rub., die besten 7 Rub. B. Bei der Arbeit, und nur dann, werden Bastschuhe getragen, die das Paar 12^15 Kop. B. kosten. Sie werden hier aus Birken- und Weidenbast, nicht aus Lindenbast, wie im mittleren Rußland, gemacht. Der Hut von Schaassilz kostet 1'/. Nnb. B. Die Fcicrlagöklcidnng: der Kaftan von blauem Tuch kostet 40 Rub. B., er hält 10—15 Jahre aus, die Tuchhose 12 — 14 Nub. B. Ein sehr verbreiteter Kaftan von blauem Nanking kostet 10 — 12 Nnb. B. und und fctt, wachsen im Juli. 7) Die Dughshowily gelten fiir schr giftig. Der Autor scht noch hinzu: In MoScovim wächs't cinc su große Mcngc von diesen Erdschwämmcn, dasi mail deren jährlich bis 1000 Karren haben musi, nur um die Stadt Moskau damit zu versorgen. Die Ar-mm ernähren sich davon und dir Reichen machcil cine DelmUcsse daraus. Diese Vidschwämme sind fast alle gut zu essen, und mau sieht sehr wenige von dmc», welche dic Bolmmi giftig oder tüdttich mimen. 236 dauert 2 Jahre aus. Die rothe wollene Scherpe um den Leib kostet 1'/2 bis 2 Nub. B., die beste der Art bis 5 Rub. B. Weiberkleidung. Das Zeug zur gewöhnlichen Haustracht spinnen, weben und machen die Weiber sich selbst. Ihre Feiertagstracht nennen sie hier „die deutschen Kleider" *). Es gehört dazu ein seidenes Tuch, um den Kopf gewunden, welches 3'/i Rub. B. kostet, ein Halstuch von Wolle ober Baumwolle, welches 10 Nub. B. kostet, die besseren aber kosten bis 25 Rub. B., ein baumwollenes Kleid (Jacke und Rock), kostet 7 — 10 Rub. B., ein wollenes Kleid der Art 15 —20 Nub. B., ein seidenes der Art 40 — 50 Rub. B., eins von Goldbrokat, mit Pelz ausgeschlagcn, wie schon oben erwähnt, 500 Nub. S. --- 1750 Nub. B. Ein Paar Schuh 1 Nub. 20 Kop. Die Strümpfe stricken sie sich selbst. Aus allen diesen Zahlenverhältnissen sieht man, wie theuer in Rußland alles ist, wobei menschliche Arbeit bezahlt werden muß. Die Kleidung eines wohlhabenden Bauern dieser Gegend Rußlands kommt auf 80 Rub. B. ^ 25 Nthl., die seiner Frau auf 00 Rub. B. -- 28 Rthl. (wenn sie aber im höchsten Staat ist, über 000 Rthl.!) Dieselben Stoffe, dieselbe Kleidung würde m Deutschland nicht die Hälfte kosten! Nachdem wir nochmals gut gegessen und getrunken hatten, nahmen wir Abschied von den freundlichen Leuten! Statt unseren Dank für ihre gastfreundliche Ausnahme anzunehmen, dankten sie vielmehr auf das Angelegentlichste für die Ehre unsers Besuchs, und der Starost und unser Wirth umarmten und küßten mich auf das Zärtlichste, und meinten, ich würde in fremden Landen wohl nur Gutes von ihnen sagen! Auf dem Rückwege nach Wologda hielt ich in einem Krondorfe Simconkciwa an, und erkundigte mich auch dort nach den Verhältnissen des Dorfs, um Vergleichungcn mit jenem Privatdorfe anstellen und Abweichungen bemerken zu können. ') Auch in Schnitt und Form warm hicrbci übnall dculsche Muster un-lnitmnbar, man glaubt auf rimiml bmlschc Vaumveiber zu schm. --Wic ifl daö hin-h^l, ^ ,i,f in Rußland hnn'in, und dazu auf mm, kkmcn völlig isolirtm Disintt gcfummm? da dic Nussm, und namentlich dirst so mwcldoibmm Noidiussm, su sin-ilg auf altt Siltc haltt»! 237 Eß ist dieß ein kleines Dorf von 19 Häusern und circa 130 Einwohnern. Während in Kubensk kaum 2 Dessjatinen Acker und Wiesen auf die männliche Seele zu rechnen sind, kommen hier gegen 7 Deffjatincn auf die Seele; ein kleines Holz giebt den Leuten wenigstens das nöthige Brennholz, das Bauholz müssen sie aber kaufen. Die Abgaben sind die gewöhnlichen Kronabgaben, die 15 Rubel Banco für die Seele nicht übersteigen. Dieses Dorf bildet mit einem nahcbeiliegcn-dcn, Priluzkoje-Selo-Karownitzkojc, eine und dieselbe Rcalge-mcindc, d. h. beide Dörfer haben nur eine gemeinsame Feldmark, wobei nur nach einem stillschweigenden Übereinkommen beobachtet wird, daß ein jeder seinen Antheil möglichst nach der Seite desjenigen Dorfs erhält, wo er wohnt. Mit noch 12 anderen Dörfern bilden diese beiden Dörfer eine Gesammtgemeinoe unter einem gemeinsamen Starostcn, Gcmeindcgerichte und einer gemeinsamen Verwaltung. Wie klein diese 14 Dörfer sind, mag man daraus sehen, daß sie zusammen nur 857 Seelen, also circa 1730 Einwohner in 258 Häusern zählen. Die Einwohner von Simconkeiwa sind alle Steinmetzen. Sie ziehen nach der Frühlingsbestellung überall im Lande umher, und suchen und finden Arbeit; zur Ernte kommen sie wieder, dann gehen sie wieder aus bis zum Winter. Sobald die Schlittenbahn des Winters sich formirt hat, beginnen sie für Kaufleute zu fuhrwerken, treiben auch nebenbei Handel auf eigne Hand. Diejenigen, die einigermaßen abkommen können und besonders geschickt sind, gohcn uach Moskau und Petersburg und bleiben den ganzen Sommer dort. Ihrer mögen aus sämmtlichen 14 Dörfern etwa 80 sein. Diese Zahl vermag man zu controliren, da sie Pässe haben müssen. Die übrigen, welche in Wologda und der Umgegend Arbeit finden, brauchen keine Pässe. Die, welche den ganzen Sommer fort sind, mieden dann einen Knecht, der hier freie Beköstigung und 40 Nub. B. erhält. In Vologda verdienen diese Steinmetzen nach Abzug dessen, was sie verzehren, 100^130 Nub. B., bie in Petersburg oder Moskau Arbeitenden bringen gewöhnlich nur 70 ^80 Rub. B. mit. 30 Wirthe im Dorse haben gar keine eigne Pferde, sondern miethen sich ein Pferd für die Sonnnerarbeit für 17 Rub. B. von den Wohlhabendem, die 238 im Winter fur ihr Fuhrwerk mehrere Pferde bedürfen, als ihnen im Sommer nöthig sind. — Ordentliche und wohlhabende Wirthe haben hier 2 Pferde, bis 5 Stück Rindvieh und 10 — 20 Schaafe, selten Schweine. Die Pferde befinden sich nach der Arbeit frei auf den Weiden und erhalten außerdem kein anderes Futter. Alles Vieh läuft frei umher ohne Hirten, deshalb sind auch die Felder eingehegt. Im Allgemeinen herrscht hier lange nicht der Reichthum, wie in Kubcnsk. Die Weiber muffen in diesem und den andern Dörfern sehr tüchtig mit arbeiten, auch fand ich einige Weiber, die im Winter Kirchenbilder malten. Nachdem ich nach Wologda zurückgekehrt war, fuhr ich noch gegen Abend nach der etwa eine halbe Stunde von der Stadt gelegenen neuangelegten Muster-Fenne der Apanage-Bauern. Der Minister Pcrowski hat als Director im Apanage-Ministerium in Petersburg eitle Ackerbauschule errichtet, die ungc-mein umsichtig und verständig eingerichtet ist. Dort werden Bauerknaben etwas theoretisch, aber bei weitem noch mehr praktisch, zu ökonomisch tüchtig ausgebildeten Bauern erzogen; es werden ihnen die Grundsätze einer den Landstrichen ihrer Heimath angemessenen, aber verbesserten Landwirthschaft gelehrt, sie aber zugleich zu allen praktischen Arbeiten angehalten. Während ihrer Lehrzeit sammeln sie sich das Inventarium ihres künftigen Hausstandes, sie ziehen sich das Zug- und Nutzvieh selbst auf, füttern lind warten es selbst, was sie demnächst mit in ihre Wirthschaft nehmen sollen! Alles Ackergcräth und Haus-geräth lernen sie verfertigen, und dürfen das Verfertigte demnächst ebenfalls mitnehmen. Immer zwei zusammen erhalten dann in ihrer Heimath für demnächst zu trennende, anfangs aber vereinigte zwei Wirthschaften das hinreichende Areal von Acker, Wich'n, Weiden, Gärten und Holz. Dort bauen sie sich selbst die nach einem gut entworfenen, vorgeschriebenen Plane aufzuführenden Wirthschaftsgebäude, und erhalten hierzu und zu ihrer Einrichtung 1000 Rubel. Zu einer solchen bäuerlichen Musterwirthschaft für daß Gouvernement Wologda fuhr ich nun hin. Sie bestand erst einige Jahre, und man vermochte daher noch kein festes Urtheil über ihren Bestand und ihre Wirkungen aus die Umgegend 239 zu fallm. Diese Wirthschaft liegt, wie gesagt, einige Werste von Wologda entfernt, einsam, abcr nicht weit von einem kleinen Dorfe. Der Acker ist auS dem Torf, «ms uncultivirtem, aber sehr gutem Boden umgebrochen, das Ganze umgiebt ein tiefer Graben; und ein Schlagbaum, wie es hier überall gebräuchlich ist, aber schon ein sehr verbesserter und ordentlicher, verwehrt dem Vieh den Übertritt. Von da führt ein grader Weg, von beiden Seiten mit Gräben eingefaßt, auf die Wirthschastsgc-bäude zu. Auf der linken Seite dcs Wegs war das Feld schon in gute Cultur geseht, rechts war noch alles voll Gestripp, welches aber zum Theil umgehauen und zum Verbrennen in Haufen gelegt war. Liner der beiden Wirthe pflügte, wobei ein Knabe das Pferd führte; der sehr leichte Pflug warf die Scholle stets mit einem Fuß Zwischcnraum um, welchen Zwi-schcnraum später ein schwerer Pflug umreißen sollte. Im Hause empfing uns der älteste der Wirthe. Er war ein halbes Jahr früher angekommen, hatte das Haus erbauet und eingerichtet. Es war nach Vorschrift und zweckmäßig eingerichtet, ähnlich dem westphälischcn Bauerhausc. Erst als daö Haus fertig, war der zweite Wirth mit dem ganzen Vieh-, Hof- und Haus-Inventarium, was beide in der Lehranstalt bci Petersburg er-N'orben hatten, angelangt. Im Hause war alles sehr ordentlich und reinlich, ungeachtet die eine Frau einen Säugling hatte. Im Wohnzimmer war ein Büchergestell mit etwa 20 Büchern, einer Bibel, einem Homilienbuchc und einigen guten ökonomischen Schriften, meist Übcrschungon aus dem Deutschen. In einer Nebcnkammcr war eine vollständige Tischlerwerkstatt, und ein benachbarter Baucrburschr, vom Wirthe zu dieser Arbeit angeleitet, hobelte cbcn einige Bretter, etwas, was hicrhcrum die Russen gar nicht kennen! — Im Garten waren Blumenbeete und eine Laube angelegt. Eine verbesserte russische Vad-stube fchlte nicht. Der Dünger war als Compost behandelt, wit mehreren Zwischenlagcn von Rasen durchsetzt. Man sah dem Ganzen an, daß die ökonomische Ausbildung bei den bei-5en Leuten in »uccmn «l 5imß,mn«m vertirt war. Man muß hierbei bedenken, daß den Leuten zwar im Allgemeinen ein ^lan der Anlage vorgezcichnet und gegeben war, daß sie bci bcr Ausführung aber ganz sich selbst überlassen blieben. Daö 240 Ganze zeigte Intelligenz und eine große Sicherheit im Angriff der Sache! Das Areal ist 126 Dcfsjatmen groß, allein erst 4'/2 Dcffjatmcn ---17 Morgen sind vollständig in Cultur. Der Boden ist gut, aber lehmig, bei Nässe klatschig, bei Dürre stäubig. Sie haben sich auf eine Scchsfclderwirthschaft eingerichtet und gestellt. — Die Sache dauert erst ein paar Jahre, doch ist einige Wirkung auf die Umgegend sichtbar, namentlich verbreitet sich der Kartoffelnbau, durch das hiesige Beispiel angeregt, schon bedeutend in den benachbarten Dörfern. Nachdem wir am andern Morgen ein berühmtes Kloster vor der Stadt besucht hatten, sahen wir auch daß Gymnasium, wo der Adel des Gouvernements ein Pensionat errichtet hat für 200 Schüler. 70 derselben zahlen jährlich die unbedeutende Summe von 400 Rub. V. — 125 Rthl., die übrigen werden ganz frei gehalten. Auch besuchten wir das nahe gelegene Dorf Dubrowskoja, dessen sämmtliche Bewohner sich mit Vögelabrichten und dem Vogelhandel beschäftigen. Es sind nur N Häuser und Familien, aber jede Familie löset durchschnittlich gegen 100 Nub. B. aus diesem Handel. Der Vogel wird hier an Ort und Stelle sür 2 Rubel, an anderen Orten für 2'/, bis 3 Rub. B. verkauft. Beim Vorbeifahren längs den Feldern einiger kleiner Dörfer, jedoch nie bei den größeren, sah ich, daß nach 5> 8 Ackcrstrcifen jedesmal ein sogenannter Nain folgte, wie sie in Mitteldeutschland überall vorkommen, ein Rasenstreifen, einen biß anderthalb Fuß breit, der die beiden Ackerbcctc scheidet und begrenzt. Aus mein Nachfragen hörte ich, daß in so ganz kleinen Dörfern die russische jährliche oder zeitweise Ackerthcilung nicht, oder nicht mehr cxistire, sondern der Acker ein für alle Mal getheilt und jedem Hause fest beigelegt sei. So viel Häuser nun im Dorfe sind, in so viel Streifen sei jede Ackerwanne getheilt, und dann diese ganze Ackcrwannc von der nächsten durch den Rain getrennt. Diese wäre fast die einzige Ausnahme von jener volköthümlichen Ackertheilung, die ich gefunden habe, und hat wahrscheinlich in vorherrschenden und überwältigenden Real-intcresscn ihren Grund! Nachmittags, den 26. Mai, reisetcn wir von Wologda in der Richtung nach Wcliki-Ustjuk ab. Die ersten -A) Wersie, 341 bis wir die Suchona erreicht hatten, behätt die Gegend noch denselben Charakter, den sie rund um Wologda hat, nämlich den einer ausgezeichneten und sorgfältigen Cultur. Dörser, Kirchen, Häuser, Acker und Menschen sehen reich und bunt aus. An der Suchona aber beginnen die Wälder, die von nun an in ungemeffcne Regionen sich hin erstrecken! Auf dieser ganzen Strecke bis Wcliki-Ustjuk treten die unermeßlichen Wälder auf beiden Seiten der Suchona bis dicht an den Fluß, aber wo die Ufer nicht zu steil und der Boden fruchtbwr ist, liegen überall längs den beiderseitigen Ufern des Flusses Dörfer, und weist 4 — 242 lind freundlich neben einander, und leben auch noch gegenwärtig so, wenn auch die Iägerstämme an Zahl sthr zusammengeschmolzen sind. Der noch einigermaßen zahlreiche finnische Stamm derSürjänen lebtnoch jetzt, ungestört von den Russen, als Iagervolk. Aber viele dieser Iägerstämme sind allmählich von selbst verkümmert und ausgestorben, wie wir das bei den amerikanischen Iägervolkern noch täglich vor Augen haben, viele haben auch mit Annahme des Christenthums und der dadurch unter ihnen sich verbreitenden Cultur angefangen, feste Wohnsitze zu nehmen, und haben sich so allmählich mit ihren Nach-baren, den angesiedelten Russen, verschmolzen. Wer etwas in den Charakter der Nationalitäten einzudringen vermag, wird sogleich die Ueberzeugung gewinnen, daß die Bewohner längs den nordrussischcn Flüssen nicht etwa russifi-cirte Finnen sind. Es sind aber auch keine reine Slaven. Es sind Slaven mit einer bedeutenden Zumischung von Finnen; und man muß gestehen, daß diese Mischung eine glückliche gewesen ist, denn diese Nordrussen sind ein herrlicher unverdorbener Volksstamm, meiner Meinung nach der beste und tüchtigste von allen russischen Stämmen! Nachdem wir eine kurze Zcit am rechten User der Suchona gefahren, wurden wir übergesetzt, und die Landstraße ging nun am linken Ufer her. Zuweilen näherten wir uns dem Flusse, zuweilen verlöret, wir ihn aus dem Gesichte. Bald kamen herrliche Wälder von himmelhohen Tannen und Birken, bald öffnete sich die Gegend, und wir kamen durch eine Reihe von vier bis sechs kleinen längs dem Flusse nahe zusammen gelegenen Dörfern. Die Dörfer waren selten über 6 bis 8 Häuser groß. Einige größere zeigten uns nicht die ermüdende Regelmäßigkeit der meisten russischen Dörfer, die stets aus einer langen ganz geraden Straße bestehen. Hier bildeten die Straßen hübsch geschwungene Linien. Welch allerliebste Burschen sind diese russischen Iämtsch'ks (Fuhrleute), wie gewandt und unermüdlich, wie freundlich und artig, wie kindlich-lustig, naiv und schmeichlerisch! Das spring, läuft und bewegt sich wie Quecksilber auf dem Wagen, von dem Wagen, zwischen die Pferde, unter die Pferde, und niemals plump, gewaltsam, stets leicht, graciös! Das russische An- 2« spanngcschirr der Bauern ist erbärmlich, jede Viertelstunde reißt etwas. Dann hüpft der Bursche wie eine Bachstelze vom Bock und zwischen die Pferde, knüpft hier ein Strick zusammen, bindet dort etwas fest und ist im Nu wieder auf seinein Sitz, und fort geht's im sausenden Gallop! Stets schwatzt er mit seinen vicr neben einander gespannten Pferden. — Der Weg geht hier häufig Hügel hinauf und Hügel hinab, da setzt er im gestreckten Galopp Hinalls und dann wieder hinab, dabei aber schreit, lärmt, schilt, pfeift, zischt, klatscht er, als ob tausend Teufel hinter ihm wären, und mit Necht! Denn diese kleinen russischen Pfcrdchcn laufen vortrefflich, ziehen aber erbärmlich schlecht. Wenn sie nicht im Galopp den Berg hinauf kommen, so kommen sie nie hinaus! — Langsam aber kräftig den Bevg hinaufziehen, wie die deutschen Bauernpferde, ist ihnen völlig unmöglich. Sie jagen hinan, aber wenn sie merken, daß hinter ihnen eine etwas schwere Last ist, so bleiben sie stehen, wie eine Mauer, und dann heißt es: Geduld! sie sind im Stande und bleiben eine halbe Stunde unbeweglich und tückisch stehen! Nir hatten stets acht Pferde vor unsern beiden leichten Taran-lasen, aber wir haben mehrmals alle acht zuerst vor der einen dann vor der andern Tarantase spannen muffen, um eine ganz Unbedeutende Anhöhe hinauf zu gelangen!— So lärmend und schreiend nun aber der Iämtschik auch seine Pferde antreibt und aufmuntert, so drohend und wülhend er auch mit der Peitsche in der Luft umhervagirt, so schlägt er doch nie aus seine Pferde, denn er hat sie viel zu lieb, und nimmt lieber selbst einige Knüffe und Prügel vorlieb, als daß er ihnen waö thäte! Und die fehlten dann auch nicht. Ich hatte nämlich in Petersburg einen sogenannten Postillon, eine Art niedere Postbeamten, erhalten, der beauftragt war, überall für die nothwendigen Postpferde, für deren Bezahlung, für den Anspann lc. zu sorgen. Der wußte sich bei allen Postbehörden in den gehörigen Respect zu setzen, und das machte, daß ich mich nie ^'egen Unordnung, Verzug, Prellereien der Postbchorden zu ^klagen Ursache gehabt hatte, wie so viele andere Reisende, -'s war ein vierschrötiger, resoluter schlauer Kleinruffe, der seine "'Ute kannte; in der Regel war er lustig, cordial, ja zärtlich "ut dem neben ilnn sitzenden Iämtschik, sie schwatzten und lach- l<; '' 244^ ten nach Möglichkeit mit einander, allein wenn die Pferde nicht recht lanfen wollten oder gar stille standen, dann knuffte cr den Iämtschik, damit der wieder auf die Pferde loshaucn sollte. Das gelang ihm sonst überall, aber hier in den nördlichen Gegenden half e3 nichts, er mochte den gntcn Iämtschik knuffen, selbst prügeln, so viel er wollte, der prügelte doch seine lieben Pferdchen nicht. Zuletzt riß dann der Pastillon ihm die Peitsche aus der Hand und schlug selbst auf die Pferde, wobei der Iämtschik klagend und traurig zusah. ^ Das Knuffen und Prügeln des Iämtschiks war übrigens bloß eine Artigkcitsform zum Antreiben, es geschah ganz ohne Haß und Bosheit, uno wurde ebenso mit Gleichmut!) hingenommen. Unmittelbar darauf schwatzten und lachten sie zusammen wieder ebeil so lustig wie vorher, und beim Abschicdnehmen umarmten und küßten sie sich oft zärtlich! — Ich ließ mir zuweilen die aufmunternden Redensarten des Iämtschiks an seine Pferdchen dolmetschen, sie waren von der zärtlichsten Natur, z. B. zu einer Stute: „Lieb Mütterchen, laß mich doch nur dies einzige Mal nicht im Stich, Du sollst auch nachher frisches Gräschcn haben, und goldenen Haser!" zu einem Hengst: „Gutes Brüderchen mach mir kein Leidchen, bedenk Deine Ehre, was würde die Welt sagen, wenn Du im Drecke stecken bliebst!" und so ging es mit unendlichen Variationen, mit unzähligen zärtlichen Diminutiven fort. — An Diminutiven ist keine Sprache so reich, als die ruffische, und Niemand bedient sich ihrer so gern, als die gemeinen Nuffen. Wenn der Iämtschik sich Feuer für seine Pfeife beim Postillon ausbat, so sagte er: „Lieb Brüderchen, gieb mir Schwämmchen und Fcuerchcn für mein Pfeifchen!" — Aber welch sonderbarer Contrast, so lebhaft, so lustig, so frisch der Nordrusse ist, so melancholisch ist sein Gesang ! Die Volkslieder sind monoton und stets in Moll, mit einem klagenden, langgezogenen Nufe am Schlüsse! Ist es die Klage über die Strenge und die Härte des KlimaS, über den kahlen farblosen nordischen Himmel, über die kärgliche, bleiche Mutter Natur? Nur der Gegensatz seines innern, zur Freude und Lust gestimmten Gemüths mit der trüben, lieblosen Natur, kann die Ursache sein, denn seine sociale Lage ist günstig, er ist frei, ungebunden, nirgends gedrückt und ist wohlhabend. Die melancholische Kla<^ 245 hat das ganze Stimmorgan des Volks durchdrungen, es ist weich, sanft, selbst wenn sie zanken, schelten, die Pferde anfeuern, hört man niemals die scharfe erhobene Stimme des Zorns, wie bei den Germanen und Romanen, stets hört man die leise Klage durch, wie mit belegter Stimme! — Wir erreichten die Stadt Totma an ,dcr Suchona um Mitternacht und wurden, da kein europäischer Gasthof vorhanden war, und der Gouverneur in Wologda uns vorher angekündigt und empfohlen hatte, in einem Kaufmannshause einquartiert. Am andern Mvrgen besah ich mit dem Polizeimeister die Stadt. Sie ist alt und man sieht an ihrer Größe, an der Menge der Kirchen und an den verödeten Straßen (auf einem großen Platze mitten in der Stadt sahen wir die Kühe weiden!), daß sie früher eine große Bedeutung und Blüthe gehabt. Früher als der Haupthandel mit Asien und <5hina von Nowgorod über Wologda ging, war Totma ein sehr wichtiger Punkt für denselben. Davon ist noch ein Rest geblieben und es cxistircn noch jetzt einige Kaufleute, die an dem chinesischen Handel Theil nehmen und selbst in Kiachta gewesen sind. Auch ist eine Kirche hier, an der unverkennbar Reminiscenzen chinesischer Architektur zu be-bemerken sind. Sie, so wie die andern Kirchen, sind meist von reichen Kaufleuten in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts gcbauet. Icnc Kirche im chinesischen Geschmack ist übrigens ungemein reich verziert, auch zeigte man mir einige Bilder eines russischen Malers Namens Wagenow*), her in Totma geboren, in Petersburg sich ausgebildet, hier in seiner Vaterstadt eines großen Rufs genoß, und, um sein Andenken zu verewigen, hier einige Bilder für die Kirchen gemalt hatte. Die Zeichnung war correct, die Composition sehr auf Effect berechnet, der Pinsel hübsch glatt, fast Miniatur, Merkwürdig war der Teint der Mutter Gottes. Sie ist in der griechischen Kirche bekanntlich stets von sehr dunklem Teint, daher man sie auch im Abendlande die schwarze Maria zu nennen pflegt; der ) Sollte der Mann nicht rtwa aus dnitschem Vlut hersiammen und etwa Wagen gcheisicn haben? Die Nussm haben ein großcS Talent, stemdc Name,» zu rnssifmrm. Ich fand in Lithauen einen LandSmann Namens Becker, dessen Name sich allmählich in Bickcröti umgewandelt halte! 246 Maler durste sich hier von der Kirchengcwohnheit nicht ganz entfernen, er hat der Maria also einen dunklen Teint gegeben, aber statt eines braunen, hat er einen ciscngrauen oder bläulichen gewählt. Sie sieht aus, als ob sie die Blausucht hätte, aber dennoch macht es einen eigenthümlich reizenden Effect! Ich war dem Districtschef der Krondomaincn empfohlen, er war wohl unterrichtet, und ich erhielt über die Verfafsungs- und Wirthschaftsverhältnisse des Kreises Totma größtcnthcils durch ihn folgende Notizen, wobei ich zugleich zur Vergleichung die Notizen über den Kreis Wologda beifüge. Nach der Gcneralvcrmefsung von 1783 waren in den Kreisen Wologda und Totma vorhanden: Terrain» Verhältnisse Vcvölkcru»!is-?!l,'ch^ltnissc »ach der ?tm Ncvisiou Namen 5 des Kreises Z Z Z Miüül, Ma„,!l, Mä,n>l, lyfciNNl. Miinnl. DrWt, Dessja!. DeWt. Dcssjat. Seelen Seclen Seelen S«!eu Serle» Nologda 122.552 3!). 333 336,63? 18,228 7759 ä3» 2!3 29l .Totinll 85 652 32Z21 5,730,481 1«3,L98 21,159 7831 816 Faßt man diese Zahlcnvcrhältnisse ins Auge, so stellt sich Folgendes heraus: Der Kreis Wologda mit 73,850 Einwohnern (Männern und Weibern) ist etwa 93 ^Meilen groß und es leben auf der ^Meile durchschnittlich 784 Menschen. Der Kreis Totma mit 03,904 Einwohnern ist etwa 17 der Bevölkerung Leibeigene sind *), so findet sich dagegen, daß im Kreise Totma kaum Vi« der Bevölkerung zu denselben gehören. Daß mehrere Dörfer, wie im Kreise Wologda, gemeinsame Feldmarken haben, soll hier nicht vorkommen, wohl aber, daß die Weiden und Waldungen von den Vichheerdcn mchrer Dörfer gehütet werden. Gemeinschaftliche Brachweide findet sich aber nicht, vielmehr hat jede Gemeinde ihre Felder und Hcu-schläge eingehegt und eingezäunt. Meist haben mehrere Dörfer, zuweilen 4 bis 5, einen gemeinsamen Wald. Das Vieh geht gewöhnlich ganz frei auf del: Weiden und im Walde umher, Hirten finden sich fast nirgends. Das Vieh hat Glocken am Halse und findet sich dadurch zurecht. Der Ackerbau wird fleißig und gut betrieben, man rechnet beim gewöhnlichen Lande das dritte Korn und darüber. Das Schwenden oder das Niederbrennen des Hochwaldes, um den Boden dann einige Jahre als Acker zu benutzen, war früher allgemein gebräuchlich, ist jetzt streng verboten, geschieht aber dennoch. Der Boden ist hier jedoch so geneigt, Bäume und Strauchwerk hervorzubringen, daß in der Regel jeder Acker (oder Weide), den man 2 Jahre uncultivirt liegen läßt, sich mit Gesträuch und demnächst mit Wald überzieht. Solche Theile des Waldes, wo man *) Wenn in dci Mgm Tabcllc die fteicn Vancin bcftndns und von dm Krunbancrn gcsundcrt rlschcincn, so ist hicbci zu bcmcrkm, das: die Kronbalicri! ebcnfals srcic Lculc sind, abcr kincn Obrok, d. h. cine Landpacht prn Kopf bczuhlm. Die frcim Vancm dagegen zahlm fcincn Obrot, sondern nnr dic Kopfsteuer. Ihnm grhUrt nämlich das Land rigmthilmlich, bci dcn kimiwucln gchin't cö dcin Namcn n«ich dcr Krone. 248 die frühere Ackcrcultur noch erkennen kann, niederzubrennen und wieder als Acker zn benutzen, ist dann aber erlaubt, und also auch sehr gebräuchlich. Dergleichen Grundstücke geben einen ungcmeinen hohen Ertrag, oft das achte und zehnte Korn. Flachs wächst besonders üppig auf solchem Aschcnboden! Auf meine Erkundigung nach den Zeiten der Feldarbeiten hörte ich, daß Klima und Witterung, späte und frühe Fröste, nicht so genaue Zeitbestimmungen zuließen, wie in südlicheren Landstrichen, daß man aber in gewöhnlichen Jahren etwa Folgendes annehmen könne: Bis Nikolaitag, den 9. Mai (21. Mai neuen Styls) ist die Bearbeitung des Sommerfeldes meist beendigt und es beginnt die Saat (in diesem Jahre hatte sie jedoch erst den 15. Mai begonnen). Bis zum 15. Aug. (27. Aug. neuen Styls) ist das Korn reif, und bis zum !). Sept. (21. Sept. neuen Styls) ist die Ernte beendigt. Gebauct wird in diesen Gegenden Winterrocken, Gerste, Hafer und mitunter etwas Sommerweizen, jedoch gewöhnlich nur wie der Flachs auf den Rodungen. Größere Rodungen, wie V« bis i'/^Dejs-jatinen, sind jedoch dem Einzelnen nicht gestattet. Die Viehzucht in diesen Gegenden ist bedeutend, selbst der Unbemittelte hält 1 bis 2 Pferde, 2 Kühe, 2 Schafe, (im Sommer kommen die Kälber und Lämmer hinzu). Die Schafe sind besonders fruchtbar, sie haben gewöhnlich A bis 4 Lämmer. Die Schweinezucht ist nicht bedeutend. Die hiesige Nace des Rindviehs ist eine Mischung von Eholmogorschcr (holländischer, von Peter I. dorthin verpflanzter) und der gewöhnlichen russischen Race. Es ist stark von Leibe auf niedrigen Beinen. Von dem im Winter geschlachteten wird das Fleisch gewöhnlich frisch, d. h. gefroren nach Archangel geschickt. Im Sommer wird es eingesalzen von hier transportirt. Auch die Milchwirthschaft ist nicht unbedeutend, und die Butter wird im Winter bis Petersburg, 1,'w Meilen weit. verfahren. Der Flachs, der in bedeutender Quantität zum Verkauf kommt, wird roh verkauft, nur der zum eignen Gebrauch bestimmte wird hier verarbeitet. Auch Leinsamen kommt zum Verkauf, und es wird hier auch häusig Del daraus geschlagen. Pech und Theer werden hier in den Wäldern gewonnen, jedoch lange nicht in dem Maße und der Ausdehnung, wie im Kreise Usstjug. Andere Industrie- 24!» zweige sind hier nicht von Bedeutung. Auch ist das Volk hicr überhaupt nicht sehr betriebsam, wie dies im benachbarten Kreise Wologda und noch mehr den Wolgagcgenden so sehr der Fall ist, aber es ist auch genügsamer, unverdorbener, häuslicher, patriarchalischer. Die Frauen arbeiten hicr verhältnismäßig mehr als die Manner, aber nur die verheirateten. Die Mädchen helfen nur im Hause, bei der Feldarbeit gar nicht. Der Drang nach intellcctuellcr Bildung erscheint hier lebhafter, als in andern Gegenden. Häufig geben die Bauern ihre Söhne den Winter über dem Popen in die Lehre, und zahlen, ungeachtet sie doch lange nicht so reich wie die Bauern im Iaroslawschen sind, für den Cursus 25 bis .tt) Rubel Silber. Man findet daher hicr bei weitem mehr Bauern, die lesen und schreiben können, als anderswo *). Der Minister der Kron-domainen hat jetzt befohlen, in jedem der sechs Districte des Kreises Totma eine Schule einzurichten, die von Geistlichen besorgt werden soll. Als Untcrrichtsgcgcnstände sind vorgeschrieben: Lesen, Schreiben, Religion, biblische Geschichte und Rechnen auf dem Rc-chenbrette "). Als Geschenk ist für jeden Lehrer 200 bis 27>0 Nubel Silber ausgesetzt. Der Minister hat die Mitwirkung des Metropoliten, durch Bitte um Anstellung tüchtiger Geistlichen in Anspruch genommen. Wir waren in Totma sehr gastfreundlich aufgenommen worden, und verließen die Stadt gegen Mittag, m,d zwar indem wir nun auf das rechte User der Suchona übergcscht wurden, wo wir denn auch, bis Ufftjug gegenüber, verblieben. ') Vci den Noswluiks (den Altgläubigen), die in, Norden Nusilands schi verbreitet sind, ist d„ (vh,m'sn, entlehnt sein. 251 Nachdem ich noch cm besonders hübsches Haus gezeichnet hatte und eben zum Wagen ging, um fortzufahren, begegnete Uns ein altes Mütterchen. Mein Begleiter sagte ihr: l'iu^l-»ckai Uul,u5. in Schwingung g^' 255 d. h. sie schwingen ven Klöppel vermittelst eines angebundenen Stricks oder mit der Hand. Wir landeten zuerst am rechten Ufer der Suchona, bei dem kleinen Dorfe Pesiöwo, und wurden von dem Starostcn desselben, Simeon Thimafeow Tschukin, empfangen und auf das gastfreundlichste in sein Haus geladen. Im Augenblicke stand ein vortreffliches Frühstück auf dem Tische, bestehend au6 Pirogen, Kalbsbraten, Lachs, Dbstkuchen, Waffeln, Thee und trefflichem Madeira! Das Haus, seine Einrichtung, Mcublcn und Geschirr war durchaus wie bei allen andern Bauern; unser Wirth war reich, aber er sowohl als sein Weib und seine Kinder entfernten sich nicht von den Nationalsittcn der hiesigen Bauern. Nur die älteste Tochter war in der Stadt erzogen, sollte einen Kauf-Mann daselbst heirathcn und erschien in ganz moderner, natürlich ziemlich geschmackloser Modekleidung. Der gewöhnliche Rock der Männer ist von wcisigrauer Wolle, die sie sich selbst weben; er heißt Armjack ^), und kostet, wenn er gekauft wird, 15—17 Rubel Banco, und hält 10 Jahre aus. Hin und wieder sieht man auch braune Röcke, die von Camcel-garn gewebt sind, welches aus Sibirien kommt; ein solcher Rock kostet nur 10 Rubel Banco. Als Feicrtagsrock fehlt der blaue setzt wnrdcn, sondern daß man ime om Klappe! d>r Glocke anzog, odn «lit einem Hammer auf die Glocke schlug. Man nennt dirs, was bei grostcn Glocken allerdings nicht »nMecknmßi,; ist, seitdem in Norddeutsch' land „baicrn". Ich war »ich! wmi,; verwundeel, dirst vaterländische Sitte in Rus-land als allgemein verbreite! w!cd>r ;n sindcn. — Drr Gcsammtklang lind die Harmonic ist abcr cin ^anz anbcrcr beim rigenl-lichcn Läuten, als bsi, dil'ftm Baimi! ^) Es soll cm tatarischrs Wort smi, löuntc abcr auch virllcichi dic ( (j Rubel Banco; ein Paar Frauenschuhe N- Rubel B. Die Frauennnchc (Baschmaki) ist reich mit Gold und Silber von ihnen selbst gestickt. Die größte Pracht aber wird in einem großen, um den Kopf wie ein Rcgentuch zusammengesteckten, bis auf die Füße herabhängenden Tuche (Fata) entwickelt. Es ist von den schwersten Seidenstoffen, reich durchwirkt mit goldenen und silbernen Blumen und Arabesken im besten Nococogeschmack, und soll oft bis 350 Rubel Banco kosten! Nach dem Frühstücke gingen wir wieder zu unserm Kahne hinab; unser Wirth geleitete uns baarhaupt und küßte uns beim Abschicdnchmen die Hand (was sonst in andern (legenden Rußlands nicht Sitte ist), uns auf das inständigste um Wiederholung des Besuchs bittend. Wir fuhren nun vollends den Fluß hinab nach dem Kloster Troitze, welches m dem Winkel liegt, wo die Suchona sich mit dem Jug vereinigt, die dann zusammen den Namen Dwina führen. Das Ufer der Flüsse erhebt sich hier etwa 100 bis 150 Fuß, und das Kloster Troitze mit seiner schönen vielkuppcligen Kirche liegt stolz auf dem höchsten Punkte. In den ältesten Zeiten soll hier eine Stadt Gledcn gestanden haben, wovon auch noch jetzt das Troitze-Kloster den Zunamen Glcdcnsky Monastyr führt. Die Lage, zwischen den mächtigen Strömen und mit der Aussicht auf Usstjug, ist prachtvoll. Bon allen Seiten zogen die Leute in Schaaren die Anhöhe, wo Kloster und Kirche liegen, hinauf, Jeder mit einer zu weihenden sogenannten Pfingstpalme^) in der Hand. Einen ') In d>r rmnisch - klilholischm zUn!,,' wrrdcn auf Ostnil Pdimm ,icwcil)l (daher der Name Palms»mUa>i su> ^smn!), Psmgstm wn'dm Kerzen geweiht. Welche symbolische Ü^del,!,,",, tilst Weihe dri Palmzwcigc a»f Pimgslm i,l der griechisch-kachulisch,,'» >Mlln hat, taim ich nicht sagn'. 257 glänzenderen und bunteren Anblick, als besonders diese vielleicht 1000 Weiber, in die oben beschriebenen Goldbrocattüchcr ganz eingehüllt, gewahrten, wüßte ich mir nirgends anderswo zu erinnern ! Nach der Messe lud uns der Archimandrit des Klosters zum Frühstück, nnd wir mußten mit übermenschlichen Kräften diesem zweiten genügen, um die guten gastfreundlichen Mönche nicht zu betrüben. Der Archimandrit befand sich nur noch mit einigen wenigen Mönchen hier, indem das Kloster gewissermaßen aufgehoben war; es sollten nur so viele hier sein, als zum Dienste der berühmten und heiligen Kirche unumgänglich nöthig seien. Die Mönche waren nach Archangel versetzt, die Fonds des Klosters einem Nonnenkloster in Odessa überwiesen. Der Archimandrit brachte uns dann noch zur heilig gehal-lencn Hütte eines frommen Einsiedlers, des h. Ivan, und seinen: selbsigegrabenen Brunnen, an dem noch an einer Kette der eiserne Schöpfbccher desselben hing. Dann erzählte er uns noch eine Legende von dem h. Stephan, dem Apostel der Syrjanen, baß derselbe diesem Volke den Genuß des Menschenfleisches, d"s sie sehr geliebt hätten, auf das Strengste verboten habe, Und als sie das Gebot dennoch nicht gehalten hätten, habe er die Uebertrctcr mit Blindheit gestraft; seitdem litte das ganze Volk noch gegenwärtig außerordentlich an Augenübeln. Endlich geleitete uns der gute Mann noch bis zu unserm Kahn, und nahm freundlich und uns für unsern Besuch herzlich dankend Abschied. Unsere Kahnführcr erzählten uns noch auf der Rückfahrt, daß viele Leute sich auf Barken, die von hier nach Archangel gehcn, zur Arbeit vcrmiethen, wo sie dann nebst der Kost 20 Nubel Banco Lohn monatlich erhalten. Unser gefälliger Wirth hatte am Nachmittage eine Anzahl ^prjancn bestellt, deren sich immer eine Menge in Ußtjug be-nndct. Was ich von ihnen gesehen habe, war ein kleiner, un-lN'geschter, aber kräftiger Menschenschlag, meist mit blonden haaren und hellen Augen. Ich fand leider zu wenig Zeit uud Uebri^cns findet außerdem auch in dieser Kirche dic Palmweihe a,n Palm-smmtmzc Statt. 17 258 Gelegenheit, über dieses interessante Iägcrvolk sinnischen Stammes in ihrem Lande und bei ihnen selbst Notizen einzusammeln, und gebe daher nur, was ich an diesem Nachmittage von ihnen selbst oder oon Leuten aus Ußtjug über sie hörte. Welche interessante Notizen und charakteristische Züge ließen sich sonst bei einem Volke aufsuchen, deren am meisten verbreitetes und ausgesprochenes Sprichwort ist: „Sterben für die Gerechtigkeit!" — die Nichts verschließen und keine Schlösser kennen, weil Dicbstahl und Betrug ihnen völlig unbekannt sind, und die kein Wort und keinen Ausdruck in ihrer Sprache haben für das Abschicdnehmen! Die Syrjancn sind zwar ansässig, aber sie haben keinen festen Ackerbau; sie schwenden oder roden überall, und bauen, jedoch bloß zu ihrem Bedürfnisse, Korn in der Asche der abgebrannten Waldstrecke. Dagegen haben sie bedeutende Viehzucht. Wer nur 10 Kühe hat, gilt für arm; Manche haben 30, 40 bis 50 Stück. Die kleinen Flüsse ihres Landes haben unendliche Windungen, und bilden daher herrliche Wiesen. Außer dem Rindvieh*) haben sie Schafe, aber sehr selten Schweine, welche überhaupt in diesen nördlichen Gegenden selten und fast nur der Borsten halber gehalten werden. Die Hauptbeschäftigung der Syrjanen ist die Jagd, und sie leisten hierin Unglaubliches; sie haben vortreffliche Hunde, eine Art Windhunde, mit denen sie fast leben und sterben. Am 1. Juni gegen Abend reisten wir von Ußtjug, von unserm freundlichen Wirthe^) bis zur Fähre begleitet, in der *) DaS Rindvieh der Syrjancn, vm, dm« man iu Ußljng häufig einigt sieht, ist klein, braun von Farbe und ohne Hörner. ") Wir warn,, wir erwähnt ist, bei diesem reichen ilanfmannc ei «quartiert, er war also unser unfreiwilliger Wirth gewesen, wir wurden aber aufgenommen, als wären wir seine ältesten und liebsten Freunde, u»d alö wären wir dringend um unsern Besuch gebeten. Die ganze obcN Ktagc seines stattlichen Hauses wurde unö eingeräumt! Jeden Mittag und jeden Abend wurde uns zu lzhrcn ein elegante« Diner und Solipcl gegeben, wozu die Herren aus der Stadt geladen waren, deren Bekannt-schast unö hätte vo» Interesse sein timnm. Beim Abschiede danktt ^ auf das zärtlichste für unsnu besuch, liat um Wiederholung lc. i «bcl das merkwürdigste war, da,« seine keilte kein Trinkgeld vu» unö annch- 259 Richtung nach Nikolsk ab. Der Weg wurde bald gar einsam, er durchschnitt undurchdringliche Urwälder, die auf unserer linken Seite sich viele Hunderte von Meilen bis tief in Sibirien hinein ununterbrochen erstreckten! Unser nächster Nachbar rechts und links war der Bär und der Wolf! Hin und wieder kamen wir an Stellen, wo weite Strecken des Waldes niedergebrannt waren. Sie waren hier am Wege wohl in der Regel mit Absicht angezündet worden, um demnächst den Boden einige Jahre als Acker zu benutzen. Solche Stellen, wo der Boden, so weit man sehen konnte, grau und schwarz, und die angebrannten Baumstämme ohne Zweige und Laub kahl zum Himmel hinan ragten, sahen besonders in dem Halbdunkcl der nordischen Nacht gar schauerlich aus. Selten kamen wir durch ein einsames kleines Dorf, zwei Mal jedoch durch sehr wohlgebaute, reich aussehende Dörfer, deren Bauern, wie man uns sagte, auf Polowniki-Recht saßen, wovon nach dem Schlüsse dieses Capitels eine Erläuterung folgen soll. Einmal begegnete uns eine Zigeunerhorde mit vielem Gepäck. Die Anführer waren als Kaufleute dritter Gilde eingeschrieben, und brachten jetzt Waaren aus Sibirien nach Ußtjug, Archangel, Wologda lc. Das Zigeunerleben und Wesen in Nußland hat etwas sehr Mysteriöses, und eine genaue und sorgfältige Untersuchung könnte auf überraschende Resultate und men wollten, daß dagegen er jedem unserer Diener hinter unserem Rücken 10 Nubel Silbcr Trinkgeld gegeben hatte! In Deutschland herrscht hierin die umgekehrte Sitte. Hat man in Hamburg, Frankfurt, Wien einige Bekanntschaften und gute Adressen, so kann man sicher darauf rechnen, ein Vierteljahr lang täglich Mittags und Abends zu Gast geladen zu werden. Das ist eine freundliche und löbliche Sitte! Allein diese Gastfreundschaft ist füi den Gast etwaS theuer, er würde im Wirthshause wohlfeiler leben! Denn eß ist Sitte, nach jedem Diner «. der Dienerschaft des Wirths ein Trinkgeld von 2/., biö 2 Thlr. zu geben. Es giebt gastfreie Häuser, wo die Dienerschaft keinen Lohn erhält, sondern in dieser Beziehung auf jene Trinkgelder angewiesen ist. Wir hät-tcn in Nordrußland unsere Dirner ebenfalls auf die Trinkgelder von unsern Wirthen, wo wir einquartiert waren, statt dcö Lohnes verweisen können! 17* 260 Aufklärungen über Geschichte und Leben dieses wunderlichen Volkes stoßen. Im Dorfe Woronina mußten wir uns wegen eines Bruches am Wagen mehrere Stunden verweilen. Ein reicher Einwohner, Gregory Quaschnin, nahm uns auf; er war klug und gab uns auf unsere Fragen gern und ausführlich Bescheid. In der Feldmark des Dorfs war ein Theil des Grund und Bodens Gemeindeland, oder vielmehr Kronland, und ward nach russischer Sitte unter die Gemeindeglicdcr nach Scelenzahl vertheilt. Ein anderer bei writem größerer Theil des Grund und Bodens, aber überall in Streifen zwischen jenem liegend, war seit Uraltcrs Erb land, d. h. es gehörte ursprünglich Adeligen und Bürgern benachbarter Städte, und war nach Polowniki-Necht unter die Bauern des Dorfs ausgethan. Der Großvater unsers Wirths hatte es größtentheils nach jenem Rechte bebaut und war dabei reich geworden. Er war nach Ußtjug gezogen, dort Bürger geworden, und hatte dadurch das Recht erlangt, selbst Erbland besitzen zu dürfen. Hievon Gebrauch machend, hatte er das Land, was in diesem Dorfe nach Polowniki-Rccht ausgcthan war, 1811 angekauft und auf seine Söhne vererbt, die cö dann wieder auf ihre Söhne vererbt hatten. Unser Wirth besaß ein Achtel des Ganzen eigenthümlich, und hatte außerdem noch einige Antheile in Pacht genommen. Er hätte nun das Nccht gehabt, sich von dem Dorfe, von der Krongemcinde zu trennen, und wäre dann, wie wir es in Westeuropa nennen, ein unabhängiger, selbstständigcr Gutsbesitzer gewesen, allein in Rußland muß Jeder, der nicht Adeliger, oder vielmehr Beamter, oder Geistlicher ist, einer Gemeinde angehören, in ihrem heiligen Verbände stehen, sonst ist er völlig ohne eine gesicherte Lebensstellung! Unser Wirth verblieb demnach im Dorfgemeindeverbande, ja er brachte deshalb sogar nicht unbedeutende Opfer. Warum, ward uns nicht klar; er wollte sich hierüber nicht äußern. Genug, er hatte die Zahlung des Obroks für 8 Seelen übernommen, und hätte demnach das Nccht gehabt, auch 8 Antheile drs Grund und Bodens der Gemeinde zu fordern-Allein er hat hierauf verzichtet, und bebaut bloß sein Erbland. Er hat eine große Ackerwirthschaft. Das von ihm bebaute Erdland hat eine Ausdehnung, wie der dritte Theil des sammt- 261 lichen Grund und Bodens der Gemeinde. Er hat 8 gemiethete Knechte; davon dienen ihm 4 das ganze Jahr hindurch, und jeder erhält von ihm außer der Kost auch die Kleidung, oder dafür 25 Rubel Banco, und 75 Rubel B. Lohn. Vier Knechte werden bloß für die 5 Sommermonate angenommen, und erhalten nebst der Kost 50 Rubel Banco Lohn und die Kleidung, oder 25 Rubel B. Dann werden 5 Mägde gehalten, die neben der Kost 35 RubelB. erhalten, aber keine Kleidung"'). ^ Es werden 3 Mahlzeiten gegeben, und die Speisen bestehen aus Kohlsuppe (Sschtschi) mit Fleisch und an Fasttagen mit Fischen, und einer Art Rüben, in .Quas gekocht und sonderbarer Weise Holandökis (Holländer) genannt. Der Viehstand dieses Hofs besteht aus 8 Pferden, 25 Kühen, 15 Schafen, 8 Schweinen, 39 Hühnern. Enten und Gänse habe ich in diesem Theile Nußlands nirgends gesehen. 2/5 des Feldes (außer dem Brachftlde) war mit Winterkorn, ^/5 mit Sommerkorn bestellt. Zum Winterfelde wird zwei, auch drei Mal gepflügt, zum Sonnnerfelde nur ein Mal. Als Gartengewächse fanden wir Lauch, Runkelrüben, große Bohnen, Aöhrcn, Erbsen, weiße Rüben, Kartoffeln. Diese Wirthschaft war mir sehr interessant, weil sie das nste Beispiel cincr auf gemiethete Knechte und Mägde basirten Landwirthschaft in Nußland war, die ich sah. — Dabei war der Wirth nicht etwa ein rationeller Landwirth, sondern ein schlichter verständiger Bauer. Auch stand er mit seiner Art Wirthschaft nicht isolirt, sondern es gab viele Wirthschaften der Art in dieser Gegend, und im Allgemeinen waren sie, wie man mir versicherte, blühend, so wie die von mir besichtigte. ') Diese Lohiwcrha'llm'ssc siehen etwas, doch nicht bedeutend höh«', als in Wcstphalcn, wo der erste Knecht mbc» dci Kvst 24 Thlr. Lohn >md einen Scheffel Lein ausgesäet «hält, was man auf (i Thlr. Werth anmhmm kann; dir anderen Knechte erhalten 18 Thll. und '/.^ Schcffcl Lcini das giebt fill den crstcn Knecht 3l) Thlr,, für dm zwcitcn Hl. Thlr. Hier in Äiordrusiland bekommt aber jeder Knecht ganz gleich 31 Thll. 10 Sgr. Die Mägde erhalten in Westphalm 8 — 12 Thlr., hier in Nurbruftland 11 Thlr. UebrigenS fand ich nur hicr, su hoch im Nui-den, entfernt lwn dm Falnitdistrictcn, ft niedrige Lohnsätze, im übrigen Nusiland siehm sie viel hoher. 262 Allein im Grunde war unser Wirth dennoch kein rechter Bauer, sondern ein industrieller, spcculativer Mann, der in Korn und Waaren speculirtc und jetzt schon ein Vermögen von mehr als 100,000 Rubel besaß. Er ging in blauem Kaftan und mit geschorenem Barte; auch beschränkte sich seine Gastfreiheit gegen uns darauf, daß er uns Thee nut schlechtem Kuchen und ein Glas Portwein präscntirte, während jener Bauer in Wo-ronina bei Ußtjug uns wahrhaft glänzend und dabei mit rührender Herzlichkeit bewirthete. Merkwürdig war mir diese große Offenheit und Freimüthigkeit, womit die russischen Bauern auf die Darlegung ihrer innersten Wirthschastsverhältnifsc eingingen, und das gegen wildfremde Leute, wie meine Begleiter, die sie zum ersten Male in ihrem Leben sahen, und nun gar gegen mich, einen Fremden, dem Alles erst verdollmetscht werden mußte! Sie hatten offenbar ihre Freude daran, dem Fremden, der Antheil an ihren Verhältnissen zu nehmen schien, Alles klar zu machen. — Aber nur bei den Großrussen fand ich diese Offenheit und Bereitwilligkeit, bei den Klcinrufscn weniger, bei den fremden Völkerschaften, den Tataren, Kaukasiem :c. oft das Gegentheil. Im Districte Nikolsk, den wir dcr Länge nach durchzogen, herrscht eine Gewohnheit, von der ich sonst nirgends hörte, und die eine Art Grundcigenthum oder wenigstens erbliche Nutznießung des Grund und Bodens begründet. Den Krongcmein-den sind große Wälder zur Benutzung eingeräumt, im Allgemeinen von einer Größe, die ihren Bedarf an Brenn- und Bauholz weit übersteigt. Hat nun ein Gemcindeglicd Lust, in dem Walde an öden Stellen, oder wo wenigstens kein Hochwald oder Mittclwald ist, zu schwenden (roden), so erbittet er sich dazu die Erlaubniß dcr Gemeinde, die aber nie versagt wird. Alsdann bekommt er ein erbliches Nutzungsrecht an diesem von ihm gcschwendetcn Lande, was stetß von dcr Gemeinde anerkannt wird. -^ Das Gouvernement hat dem als einem Mißbrauche seit lange steuern wollen, eS aber neuerlich vorgezogen, daS Verhältniß vielmehr zu regeln und näher zu bestimmen. In der Kreisstadt Nikolsk blieben wir eine Nacht bei dem 263 Districtschef, und erhielten von ihm cim'gc Notizen übcr diesen District, die hier folgen mögen. Der Kreis Nikolßk ist circa 549 ^Meilen groß, mit einer Bevölkerung von 83,000 Köpfen (nicht Seelen!). Es wärm also circa 150 Menschen auf die I^Mcile zu zählen. Allein von jener Oberfläche sind gegen 523 ^Meilen nur Wald und öder Boden. Der Acker beträgt nur 100M0 Dessj., die Wiesen 34,735 Dessj., oder zusammen etwa 2U ^Meilen. Bei diesem cultivirten Boden kommen 3192 Menschen auf die lÜMcilc! In diesem Kreise ist demnach kaum '/21 des Terrains cultivirt, der Nest 2«/,, ist Wald und Oede. Die Bauern sind fast alle Kronbaucm, deren man 39,900 männliche Seelen zählt. Mr im südlichen Theile, an der grenze des Gouvernements Kostroma, giebt es einigen Adel Mit etwa 1140 Leibeigenen. Weil in diesen Kreisen: Totma, Usitjug und Nikolök, der Adel so wenig zahlreich ist, sind ihm auch nicht Wahlrechte für bie Besetzung der Localbcamlenstellen des Ispravnik :c. beige-lrgt worden, und diese Beamten werden daher hier vom Gouvernement ernannt. In diesen wilden Gegenden, wo wohl selten ein Fremder hinkommt, war unsere Erscheinung eine Art Fest für die Leute. Hielten wir einen Augenblick in einem Dorfe an, waö oft geschah, da wir nur zu häufig Gebrechen an unsern Wägen hatten, so versammelte sich sogleich das ganze Dorf, die Männer Um die Wägen, die Weiber, Mädchen und Kinder vor der Thür und auf der Treppe eines Hauset, dicht zusammen geschämt, aber nie mit den Männern gemischt. — Wo wir Pferde wechselten, spannten einige Male die Bauern alle Pferde des ganzen Dorfes vor, keiner wollte zurückbleiben. So hatten wir kin Mal 2« Pferde vor unsern beiden Tarantasen, und fast "uf jedem Pferde saß ein Bursche! Dabei ging's in sausendem Walopp, daß uns die Haare zu Berge standen. Nicht weit von einem Dorfe sahen wir eine Menge Men-lchcu versammelt, die beschäftigt waren, einen Zaun einzureißen. "5ir Hütten, es würde eben Gerechtigkeit geübt! Ein Gemeinde- 204 glicd hatte sich unterfangen, seine Weide einzuzäunen. Die Gemeinde hatte ihn vorgeladen, sich zu verantworten; er war nicht erschienen und hatte sich versteckt, aus Furcht vor Ge-meindcschlägen, die besonders scharf und chreuverletzend sein sollten! Die ganze Gemeinde hatte sich nun zuvörderst aufgemacht, den unrechtmäßigen Zaun cinzurcißen. „Nil- i>nlu!>!,il" (die Gemeinde hat entschieden), sagtm unsere Fuhrleute. Ueberall tritt uns die despotische Macht der Gemeinden in Nuß-laud entgegen, ihr beugt sich Jeder! Wie wir uns dem Gouvernement Kostroma näherten, begannen in den Wäldern wieder die Linden als Waldbäume zu erscheinen, und mit ihnen die Bastindustrie, das Flechten der Matten in den Dörfern. Wir kamen auch häufig bei Theerscliwelcreien vorüber. 6s waren tiefe Gräben gegraben und Töpfe hinein gesetzt, über diese war die Theer gebende Birkenrinde gehäuft, darüber Holz, dann Erde, dann wieder Holz. Dies letztere wird angezündet und verbrannt, die zweite unter der Erde liegende Schicht Holz verkohlt, und aus der Ninde schwitzt der Theer. Aus dem Nadelholze wird hier auch viel Pech und Terpentin geschwelt. In diesen nördlichen Landstrichen waren wir nirgends von Bettlern angegangen, dies begann aber wieder, so wie wir die Grenze des Gouvernements Kostroma überschritte,:; vermuthlich, weil dies ein gcwerbereichcs Land ist und das Betteln zu den wohlorganisirten Gewerben gehört! Auf der Station Diakowo waren nicht gleich Pferde vorhanden; wir hielten dem Hause des Gutsherrn gegenüber, und dieser lud uns ein, bei ihm Thee zu trinken. Er hieß Pc-terson, war ursprünglich aus englischem Geblüt, aber schon völlig russificirt. Sein Haus war ein rechter Typ eines rust fischen adeligen Landhauses, weshalb ich hier eine Zeichnung davon gebe. Das Haus war aus übercinauder gelegten Balken errrich-tet, ein Blockhaus, hatte nur eine Etage, vorn eine breite Treppe, zu einem Vestibule hinaufführend, der auf hölzernen Säulen ruhlc. 205 Dc>3 Wohnhaus cims Adclisscn (v. Pttcison) i,i Diokl'nio, zwischen Nikolsk u„d Iuricw, Fast alle adcligc» Häuser in ^Itußland sind von Hulz, cinsldckig, unl> scllcn schic» Im Inncm waren alle Wände nur ebcn abgehobelt, und nirgends Anwurf, Anstrich oder Tapeten, so daß die nackten Balkenlagen überall zu sehen waren. Die Thüren hatten keine Schlösser, sondern nur hölzerne Riegel. Die Mcublen waren eine Mischung höchster Simplicität und moderner Eleganz. Dir Tische höchst einfach von Linden- und Tannenholz, ohne Volitur, einfache Brettstühle, aber ein gepolstertes, mit Leder überzogenes Canapee, an der Wand eine vortreffliche englische Wanduhr, auf dem Tische silberne Leuchter, an den Wänden treffliche Kupferstiche und von ihm selbst gemalte Gemälde, die von bedeutendem Talente und technischer Fertigkeit zeugten. Er brachte auch eine kürzlich uon ihm im Sande am Flusse aufgefundene Kinnbacke eines urweltlichcn ThicrS, vermuthlich eines Mammuth, herbei. Es war die eine Hälfte, und sie maf; 2'4 Fuß. Nur ein einziger Zahn nahm die ganze Gebißseitc kin, der 9 Zoll lang und 3'/2 Zoll breit war. Auf der nächsten Station knuffte unser Postillon den Iäm-"chik, der schlecht fuhr, ein wenig, jedoch sehr mäßig; dieser "ahm das aber gegen alle bisherige Erfahrung und Gewöhnet sehr übel, bog plötzlich von der Straße ab und auf den 'pof eines Adeligen hin. Nun gab cß einen Heidenlärm; der Adelige war der Gutsherr deö Iämtschik und nahm sich seines "ibcigmm auf daö eifrigste an; er wollte den Postillon arrc- 266 tircn :c. Wir versöhnten den Iämtschik durch ein kleines Trinkgeld, und fuhren nach langem Hader weiter. Die Leibeigenen oder gutsherrlichen Bauern haben einen größeren Schutz, mehr Sicherheit gegen Bedrückungen, Plackereien und Mißhandlungen der Beamten, als die Kronbauern. Durch die neuesten Domainencinrichtungen hat sich jedoch dies etwas gebessert; die Kronbauern fangen an, das Gefühl zu bekommen, daß sie bei ihren Domainenbeamten und zuletzt bis zum Minister hinauf Schutz finden! Man erzählte uns bei dieser Gelegenheit eine Anekdote, die dies Gefühl andeutet, deren Wahrheit wir freilich nicht verbürgen können. Der Gouverneur von Kostroma kam auf einer Dienstreise vor einiger Zeit in ein Krondorf und wollte neuen Vorspann haben, allein die Bauern weigerten sich, ungeachtet er die Progonne (Post-gcld) anbot. Er sagte ihnen: „Ich bin ja euer Gouverneur, und so müßt ihr mich doch durch eure Pferde fortschleppen laslassen!" Allein sie antworteten: „Wir kennen dich nicht, wir haben nur einen Herrn, und das ist Alexander Pawlowitsch, unser Domainen-l5hef; nur was der uns befiehlt, thun wir!" Wenn die Bauern, namentlich im Norden, Bittschriften einreichen bei den Behörden oder ihren Gutsherren, so schreiben sie dieselben stets mit altslavonischm Buchstaben, nicht mit russischen, die sie nicht lieben und nicht kennen. Peter I. erfand selbst cm neues Alphabet, wobci jedoch das altslavonifche zum Grunde gelegt ward; es ist durch ihn und seine Nachfolger für den Druck und die Schrift allgemein eingeführt. Aber trotz der 180 Jahre, die dies Alphabcth besteht, hat sich das eigentliche Volk noch nicht daran gewöhnt. ES cristiren freilich bis jetzt auch keine Volksschulen, wo die Leute jene Schrift lernen könnten oder müßten. Jene altslavonische Schrift aber hat sich traditionell im Volke fortgepflanzt, Einer lernt sie vom Andern. So wie wir das Gouvernement Kostroma erreichten, fanden sich auch wieder bei den Bauerhäusern die Stangen mit den Staarcnnestern. Das Stationödorf Balaschir Ugori, das wir am 4. Juni Nachmittags erreichten, war wohlgebaut. Ich zeichnete das Haus, vor dem wir hielten, und bemerkte mir auch die inncrc Ai? Unvollständiges snur ein!) russisches Naiicr,igchoste in Balachir-Unori, zwischen Nikolsk Und Iuricw. ^ine Eiqcntliümüchkcit bei dieser Ält Häuser ist, daß siels die Fenster dcS linen Hauses hö>>cr stehen, als die des andern; cs heißt das Wmscbke. Das eine dient dalici a!ü Sommeihauö, das andere als WinlMM^ö. Einrichtung vollständig. Es waren mehrere aneinander gebaute Gebäude, ein breiter niedriger Schuppen, durch eine Art Trep-pengebäudc mit dem Winterhausc verbündet», an welchem dann Noch has Sommerhaus stand; jedes Haus unter einein beson-^krn Dache, itn Innern aber bequem verbunden. Winter- und Sommerhaus enthielten in der untern Etage nur Ställe und 'n der obern die Wohnung. Das Wintcrhaus enthielt nach der Straße hin die Isba (Schwarzstube) mit ihrcr offenen Kammer, hinten hinaus Tschulani (Kammern); das Sommerhaus enthielt den Sarai (Vorrathsbodcn), und als Abschlag nach von, heraus die Gornizc (Sommerstube, mit großen Fenstern). Längs den Giebeln der Häuser laufen von beiden Seiten mit allerhand Schmtzwerk verzierte Leisten, die zuletzt in 2 länglichen Brettern enden, die mit einer höchst zierlichen durchbrochenen Arbeit schließen. - - In den Wirthshäusern tragen die Kellner und Traitcurs ein langes schmales Handtuch, um es auf Begehren den Gästen beim Waschen zu reichen; dieses ^uch ist am Ende gegen einen halben Fuß breit, spitzcnartig durchnähet, und erscheint durchbrochen mit allerlei Arabesken. Gerade eben so wie jenes Handtuch sehen auch jene Bretter "Ut durchbrochener Arbeit an den Giebeln der Häuser aus! Uebrigcns hängt auch in jedem ordentlichen Baucrhause ein 'vlcheö Handtuch an der Wand. Die genannten Arabesken sind '"eist mit rothem Garn hinein genähet. Man findet auch gewöhnlich in jedem Hause ein hoch und fest stehendes gcschlossc- 268 nes Wasscrgefäß von Kupfer oder Blech, mit cinem Hahn und eincr großen Schale darunter. Man wäscht sich in Rußland stets die Hände, indem man jenen Hahn umdreht und das Wasser über die Hände stießen läßt, oder sich von Jemand daS Wasser über die Hände schütten läßt; niemals aber taucht man die Hände in das mit Wasser gefüllte Waschbecken. Selbst die Bauern beobachten diese kleine Sitte genau, vielleicht scheint ihnen das Eintauchen der griechischen Taufe zu ähnlich, und sie vermeiden es aus eincr Art heiliger Scheu! In dem Baucrhause, wo wir eingetreten waren, trafen wir zufällig mit dem Ispravnik des Kreises zusammen, der auf einer Dienstreise begriffen war. Ich fand auf dem Gesims dcr Stube einige Bücher, und fragte den Ispravnik, wie hier die Leute lesen lernten. Er sagte, außer dcr Kreiöschule gäbe es in der Gegend keine Schule, aber jeder nur einigermaßen wohlhabende Bauer suche wo möglich seinen Sohn zu einem Popen oder Diakon in die Schule gehen zu lassen, um etwas lesen zu lernen. Er zahlt dann sür den Unterricht K bis II) Nudel Banco. Der Sohn des Wirths, wo wir abgetreten wa^ ren, hatte bei einem Cantonisten zuerst Lesen gelernt, und dafür 12 Rubel B. bezahlt, später auch Schreiben, wofür dcr Bater abermals 12 Rudel B. bezahlt hatte. Das Dorf bestand aus 11 Häusern mit 45 männlichen Scelcn, von denen 5 lesen und Z lesen und schreiben konnten. Wir erreichten am .1. Iuui gegen Mittag der Stadt Iuriew gegenüber wieder die Wolga, und beschlossen damit unsere Reise im Norden Rußlands, welche sich somit eigentlich nur auf das Gouvernement Wologda beschränkt hatte. IX. s!a^ü>!villhschasllichl^ und öl^iil'i'üftinr B^i^uii,^ '>. "^ 3^as Gouvernenicnt Wolgada liegt zwischen dem 58stcn Und <>4sten Grade der Breite und dem listen und 77scen Grade ^^ Längc. Scmc größte Ausdohnling ist von Nordost nach ^üdwcst, und mißt da circa 200U Wcrsi odcr fast .'MO Mcilcn. ^^c ^il^-vlassige Vermessung des Gouvcrnenn'ntö ini Ganzen ^istitt nicht, doch schätzt man es zwischen l> und 7000 Quadrat-^kilen groß; also ricl größer wie die Preußische Monarchie, ^as Gonvcrnement ist l2 Mal so groß als das Königreich klgitti, hat aber nur etwa den 5ten oder (itcn Theil der Cin-""hncr desselben, dort sind 7000 Menschen auf die Quadrat-,^'ile ^il rechnen, hier nur 1l,4. Auf dem Nautne, wo dort " Menschen zusammengedrängt sind, bewegt sich hier noch '"cl)t rin Mal (^mer! Allein in einein so ausgedehnten Lande ^Nftht in dieser Bezichimg dil- größte Mannigfaltigkeit, eü ^tebt einzelne Gegenden, wo eine ziemlich dichte Bevölkerung Schanden ist, andere, die völlig öde und menschenleer sind. 18.^8 war die Bevölkerung des Gouvernements auf folgende '"eise zusammengesetzt '^): > Dic Tal« dcrftlbl'!, sind znm grös-tc» Thcilc cinnu russisch ^cschricbcnri, ^erichtc dlö Nalhs l'liin Domainriihl)^ i„ Wok'^0,1, Hnl» vl,'n Luhdl', "N dm Minister dcr ^ruiigiitcr liUnumiiln,, dcv als Manilstlipt ^^ druckt ist. 5 ^ach v. K^ppcu Nusilandö Gchimmll'tt'ültcrml,; im Jahr l^.l^. Pll^rs- 270 Individuen vom geistlichen Stande...... 5555 „ „ erblichen Adel........ 1003 „ „ persönlichen Adel....... 739 Kaufleute, Bürger und Rasnotschinzen..... 10,976 Freie Ackerbauern............ 3090 Krondauem ............. 201,273 Bauern auf Polowniki-Nccht........ 3299 Bauern der Ledenschen Salzsiederei...... 239 Apanage-Bauern............ 31,412 Adlige oder leibeigene Bauern........ 92,559 Erblich^osicute............ 2717 ^^ 352,862 Vom weiblichen Geschlechte wären 10 Procent mehr zu rechnen, so daß die Gesammtbevölkerung in runder Summe 741,000 Individuen betragen möchte. Diese Menschen wohnen: 40,760 in 13 Städten und 700,220 in 11,1<>9 Dörfern und Weilern. Nur Vi» der Bevölkerung lebte also in den Städten, und von diesen hatten nur die Hälfte Rechte von Bürgern. Der Bürgerstand betrug in der Zahl kaum '/43 der Bevölkerung, der Adel '/2,3, die Geist' lichkeit '/«7, der Bauernstand '«/5». Vom Bauernstande waren 2/7 Leibeigene, die übrigen ^ persönlich freie Leute. Ich gebe hier noch eine übersichtliche Tabelle aus Notize" zusammengesetzt, die mir sonst zugekommen sind, deren Wahrhw und Werth ich aber nicht verbürgen kann, doch möchten l" immer allgemeinen Anhaltspunkt zur Beurtheilung gcwäh"'^ l'Ulg 1843. Und: v. Koppen Nrbcr Nußlanda Städtt, mil bcsondcM Hinsicht auf dcrm Bevölkerung. Köppcil ist der beste Statistik« MP-lands, cr hat sich unglaubliche Mühe qcgcbcn, das «nMerläM Mt>' siische Material, waö den Miniswien vlin den Loealt'eholdm ZUgcft"^ wird, zu sichten und festzustellen. Wo cr mit Vestilumlhcit cine ^ah behauptet, kann man sich, glaube ich, auf ihn verlassen. 271 »^ -!^ <7^! <7^ I» s " « <2 i^. H «^> «1 "»< >, ^ ^ <^> "5 ^ L 20 38 ^? co > > <^i > > ! <7" >^ c» V ^»> c» «I- ^7 l »^ Q> «7>l d> «^ >^ <^> 0i ^> « ^n !^ «° »^ »^ « ^) ao « <7>^ c» °^ u <^ »^" <74 « « <7^ »^, «! Z >?» ß <2 109, »^. 22, 883, lN c» 0i « ^. « <^ ^ <^ I 5" !^! ,-> ^ «, ,3 « « !>3 K -----— ! Vologda N 2 ,3 I I I! Nikolsk . . I! Iarensk, . G V Summa . 272 Allein, wie schon gesagt, das Land ist zu groß, als daß nicht eine große Mannigfaltigkeit in Bezug auf alle diese Verhältnisse in den verschiedenen Gegenden eintreten sollte. Das Klima und der durch dasselbe bedingte Anbau des Landes läßt uns 3 Hauptabtheilungen desselben erkennen, die wohl an den Grenzen in einander übergehen, außerdem aber im Ganzen ziemlich scharf hervortretende Gegensätze zeigen. Diese 3 Abtheilungen sind: 1) der südliche Landstrich, bestehend aus den Districtcn Gräsowctz, Wologda, Kadinikow, dem südlichen Theil des Districts Wclsk und einem kleinen Theil deS Districts Tot'ma; 2) der mittlere Landstrich, bestehend aus den größeren Theilen der Districte Welsk und Tot'ma und deu Districtcn Nikolsk und Weliki Ußtjug; 3) der nördliche Landstrich: Ssolwl'itschcgodsk, Ustssüssolk und Iarensk. l) Die erste Abtheilung ist circa 2,580,000 Dessjatinen oder 465 Quadratmeilcn groß. Der Charakter dieses Landstrichs ist dem der benachbarten Gouvernements Nowgorod und Iaroslaw im Aeußern ähnlich. Er liegt im Ganzen noch auf der Wasserscheide der Wolga und hat den Charakter des mittleren Rußlands. Die südlichen Striche schließen sich an Iaroslaw, die nördlichen mehr an Nowgorod an. Jene haben in Bezug auf die Culturverhältnisse des Bodens, der Verhältnisse der Accker, Wiesen, Waldungen, Oeden, in quantitativer Hinsicht ziemlich dieselben Zahlen aufzuweisen wie die Districtc des Gouvernements Iaroslaw auf dem linken Wolgäufcr. In den Districtcn Wvlogda und Gräsowetz nehmen die Aecker fast '/.>, die Wiesen ungefähr V^, die Wälder ^^ das Unland '/24 der Vodenstäche; in dem Districte Kadinikow und den südlichen Theile der Districte Welsk und Tot'ma aber ist auf die Aecker nur v^, auf die Wiesen '/«2, dagegen auf die Wälder über 'ViZ und auf das Unland V>4 zu rechnen. Die Bevölkerung auf diesem Landstriche ist in Beziehung auf Rußland noch ziemlich dicht zu nennen. Im Ganzen kommen etwa 700 Menschen auf die Quadratmeile, allein im Einzelnen sind im District Gräsowitz gegen 1330, im District Wologda 802, im District Kodinikow 443 Einwohner auf die Quadratmeile zu rechnen. Nimmt man bloß den cultivirten Boden, die Aecker und Wiesen zusammen, so kommen aber auf 273 die Quadratmeile über 3N00 Köpfe und auf jeden Kopf l'z Deffj., im Kreist Gräsowetz jedoch nicht cinmal l Dessjatine. Fast nur in dieser Abtheilung des Gouvernements giebt cö Privatbauern oder Leibeigene, und zwar wie im Gouvernement Iaroklaw in der Ucberzahl, so daß sie sich zu den Kronbauern und Apanagebaucrn etwa wie 20 zu 13 verhalten. Was nun die Landwirthschaft in diesem Landstriche betrifft, so sind zuerst die adeligen Güter in Betracht zu ziehen. Es giebt deren eine bedeutende Anzahl, und sehr viele haben das Land nicht den Bauern gegen Obrok überlassen, sondern haben eigne Oekonomien, auf Frohndewirthschaft gegründet, angelegt. Mehrere haben versucht, in andere Wirthschaftsarten als die dreifeldrigc, namentlich in eine vierfeldrigc überzugehen. Sie hatten dann im ersten Felde gedüngte Brache, im zweiten Win-^rkorn, im dritten Sommerkorn, im vierten Klee. Die Sache 'st fast überall mißlungen, zum Theil aus Mangel an Intelligenz und Erfahrung, zum Theil der Ungunst des Klimas halben. Es haben einige Herren auf ihren Gütern eine Milch-Wirthschaft angelegt, Schweizer kommen lassen und durch sie Käse zum Berkauf fabriciren lassen. Einer soll hievon eine Revenue von 20,000 Rubel Banco sich verschasst haben. Die Schweizer hatten bisher sehr schlau das Geheimniß der Käse-benitung zu bewahren gewußt. , Vcrha'ltnißmä'ßig ist der Ackerbau hier im guten Zustande, "Uf einigen Gütern soll er VaS fünfte, sechste bis siebente Korn an Winterkorn gewäln'l'n, an Sommerkorn bis zum fünften Korn. — Daß Ueberschusi des Getreides vorhanden ist, zeigen d>c drei Branntweinbrennereien im kadnikowschen Kreise, die ^"»0M0 Wedro von dem Getreide gebrannt liefern, welches im Gouvernement gewachsen ist. Die eine, welche einem Herrn v. ^oltzki gehört, liefert allein 73,000 Wedro. Die Sommersaat ist hier mit dem 2lsten Juni beendet. Zwischen dem Wsten Juni und 20sien Juli ist die Heuernte beendet. In den nördlichen Theilen dieses Landstrichs, wo die Waldungen vorherrschen, giebt es viele Wiesen in den Wäldern-^ie Leute bleiben dann zur Heuernte in den Wäldern, waö Gelegenheit zu vielen Waldbrändcn giebt. Das Heu bleibt 274 meist in Dilnmen aufgestapelt im Walde stehen, und wird dann im Winter auf Schlitten fortgeholt. Zur Zeit der Heuernte wird auch der Dünger zur Wintersaat untergepflügt, und dann das Land noch zweimal bis zur Saat gepflügt und jedesmal geegget. Gegen den 8ten August (20sten August neuen Styls) ist die Saat beendet. Zur Sommersaat sollte eigentlich das Land schon im Herbst einmal gepflügt werden, es geschieht aber nicht. Da daß Unkraut hier ungemcin rasch wächst, so sollte überhaupt viel häufiger gepflügt werden, als geschieht. Es wird Nocken (besonders Wasa-Nocken), Gerste und Hafer gebauet, auch etwas Sommerweizen, der gut wächst aber graues Mehl giebt. Winterweizen gedeihet nicht. Alles Korn wird in Niegen gedarret. Der Gartenbau ist sehr zurück. Kohl und Rcttige, etwas Erbsen, Nübcn, Runkelrüben, Kartoffeln jedoch wenig, werden gebauet. Die Ackcrwerkzcuge sind der russische Pflug, vielleicht seit Nurik's Zeiten derselbe, einfach aber unbequem. In den westlichen Gegenden findet sich die Kossula, wie man sagt von Rosioff herüber gekommen, ein sehr praktisches Ackerwerkzcug, aber in Rußland viel zu wenig bekannt. Sie steht in der Mitte zwischen dem Pflug und der Sacha. Die Egge hat 39 hölzerne Zähne, auf adeligen Gütern sieht man hin und wieder Eggen mit eisernen Zähücn. Das Getreide wird mit der Sichel geschnitten. Die Ackrrwerkzcuge sind im Allgemeinen gut, deshalb hat die ganze Bestellung der Felder ein regelmäßiges Ansehen. Die Viehzucht ist im Ganzen unbedeutend. Das Rindvieh ist etwas großer und stärker, aber nicht milchreichcr als bei I<^ roslaw. Die Kühe sind hochbeinig, haben eine enge Brust, enges Necken, flache Nippen ; hin und wieder sind Kreuzungen mit cholmogorischem Rindvieh versucht worden. Fleisch und Butter wird im Winter gefroren nach Petersburg verfahren. In der Stadt Grä'sowetz insbesondere sammelt sich die Butter in ssl'0" ßen Vorrathcn. Das Pud wird mit 15 — 19 Rubel Banco bezahlt. Ein vcrhältnißmäßig hoher Preis! Man findet namentlich im Kreifc Kodnikow auf einigen Gütern kleine Stutcrcien, allein mehr für den eigenen Bedarf 277) als zum Verkauf. Der Mangel trockner und guter Wiesen erlaubt keinc große Ausdehnung. Auf den zwei Jahrmärkten von Gräsowctz und Kamsk werden die Pferde zu 200 bis 5U0 Nu-bel Banco verkauft. Es sind Versuche mit Einführung feinwolliger Schafhecrdcn gemacht, namentlich auf einem Gute eines Fürsten Gortscha-kow. Sie sind nicht gelungen, weil die gehörige Behandlung und Pflege fehlt. Die Schafzucht der gewöhnlichen hiesigen Schafe ist beträchtlich, da der Bauer viel wollene Kleidung trägt Die Nace ist dieselbe mit der im Kreise Romanow vorhandenen und ziemlich bekannten, doch sind die hiesigen etwas kleiner, die Wolle ist kürzer und das Vließ nicht ft dicht. Von Federvieh werden nur Hühner gehalten. Es giebt besondere und eigengcbaucte Barken, worauf die Eier gepackt und Nach Petersburg geführt werden. — In den südwestlichen Gegenden wird etwas Bienenzucht Mriebcn. Im Allgemeinen fehlen die Blüthcnbäume und die Eriken auf den Heiden und in den Wäldern. Was die verschiedenen Industriezweige betrifft, so findet lnan hier dieselben, die im Gouvernement Iaroslaw vorhanden, nur nicht it, der Ausdehmmg; überall ist auch dieselbe Art und Weise, die wir als die alt- und echt russische bezeichnet haben, vorhanden. Die ganze Wolost Ssemskaja, (mehrere Dörfer an der ScZ-Ma), beschäftigt sich mit dem Barkenbau *). Der Verkauf derselben ist in Rybensk, und die Barken werden 16 Faden lang Und 4 Faden breit und sehr platt gebauet. Nur so können sie die Canäle passiren. Die sämmtlichen Leute aus den Dörfern der Wolost Vogtinskaja sind weitberühmte Zimmcrlcute Motniki). Die Einwohner des Dorfs Priuwki, vier Werst von ) Srit dm M'M'ivn Domlimcm'im'ichtmMN ist dcr Varkmbau in dcn Krön-dürfern nicht nnhr »onhcilhaft, dic Wäldcr weiden bcaufsichli^t, und tt< 'si dm Bancrn nicht mchr gchMct, fic willkürlich und »hm «„Igclt am zugrrifm. Bri dm PrivlUbaurrn lind ihrcu Hrrrm ^s,1m!'t d.,ö noch, da-hcr dirft di,l ivohlft-ilcr dic Varl'm blni,,, lönnm. Mit bis 12 Rubel Banco. Alle 3 - - 4 Jahre muß er erneuert werden. Der Flachs braucht nicht gejätet zu werden. Guter Flachs, und gut bereitet, kostet das Pud 14 — 18 Rubel Banco. Das Leinen, welches nach Petersburg und Archangel geht, kostet dort 12'/. 1'j Rubel Banco, hier an Ort und Stelle 9 - 10 Rubel Banco. Der natürliche Graswuchs ist schwach, der Bau der gewöhnlichen Futtcrkräuter, des Klees, der Luzerne, Esparsette:c. kennt man nicht; um so ausfallender ist, daß man hier seit unvordenklicher Zeit, und schon viel länger, als man es ün westlichen Europa zu bauen angefangen hat, das Timothce-Gras künstlich bauet. Es hat hier den Namen Palaschnik, und wird mit dem Nocken zusammen auf die Patzcki gcsä'et. A nachdem der Grund und Boden besser oder schlechter ist, kann man drei, sieben bis neun Jahre hintereinander einen reichlichen Hcuschlag machr». 27!) DaS Hm wird hier nicht in konische, sondern in längliche dachartigc Hansen gelegt. Sie mähen das Gras mit einfachen Sensen (Garbuscha), mit kurzem krummem Stiel, die unbchülf-lich und ermüdend sind. Man soll aber hier keine andere, des hügeligen Bodens halber, gebrauchen können. Die Arbeit geht langsam nnd schlecht. Der Hopfenban ist in diesen Landestheilen besonders allsgedehnt und wichtig. Es giebt Dörfer, die über einige tausend Pud jährlich prodncircn. Der Hopfen wird überall im Gouvernement selbst verbraucht beim Branntweinbrcnnen, vorzüglich aber zum Bierbrauen, was hier, im Gegensatz zum übrigen Nußland, sehr verbreitet ist. Die späten Morgenfröstc benehmen jedoch der Blume des Hopfens einen Theil des Aroma, llebrigcns benutzen die Eingesessenen nicht bloß die Blume, sondern auch die Blätter und selbst einen Theil des Stengels, wodurch das Bier besonders kräftig, aber auch sehr narkotisch wird. Der Hopfen wird in den Gartenländercicn (Ogarodni) ssebauet. Die Gartcnwirthschaft beschränkt sich außerdem auf Kohl und Nüben (die häufig auch in Ackerfeldern gezogen werden). In der Nähe von Ußtjug an der Dwina hat man angefangen, mit Erfolg Gurken zu bauen; die Pflanze wird, so lange noch Nachtfröste zu erwarten sind, mit Mist oder Bast-Matten bedeckt. Auch der Kartoffelnball beginnt sich zu verbreiten. Ein Herr von Wolkow hat 1^4! eine Dessjatine als Musterfeld mit Kartoffeln bepflanzt. Der Ertrag war gut, und "as hat viele Nachahmung erweckt. Die Werkzeuge bei der Landwirthschaft sind dieselben, wie bei der vorigen Abtheilung des Gouvernements, allein die dort knvähute Kossula hat hier kein Messer, sondern zwei Zähne, und wird dadurch der Sacha noch ähnlichet. Die Viehzucht ist im Allgemeinen schwach. Es fehlt die yin-reichende Nahrung, vorzüglich für den langen Winter. Bis in ben Juni hinein hat das Vieh noch die Winterhaare. , Die Industrie hat denselben ächt russischen Charakter wie W dem vorigen Landstriche, sie ist jedoch nicht so lebhaft und ausgedehnt. Diese Nordländer sind contemplative und genügsamer. An den Flüssen der Suchona, Iuga nnd Dwina 280 ist in bestimmten Dörfern der Barkenbau*) gewissermaßen erblich. In der Nähe von Ußtjug sind sämmtliche Einwohner mehrerer Dörfer Tischler, benutzen dabei aber nur Nadelholz. Auch giebt es kleine Dörfer, deren Einwohner Maurer, Ofensetzer, Holzsäger sind. Die Wälder geben Gelegenheit zu ausgedehnten Jagden auf Bären, Wölfe, Luchse, Füchse und Eichhörnchen; aber bei der allmählichen Lichtung der Wälder beginnt das Wild bedeutend abzunehmen. 3) Die dritte Abtheilung. Die Districte Ssolwütschegodsk, Uststtsolk und Iarensk, sind zusammen nach den amtlichen Angaben 24,230,755 Dessjatinen oder 4303 Quadratmcilen groß, also ungefähr so groß als England und Schottland, oder Deutschland, mit Ausschluß von Oestreich und Preußen. Dieser ganze Landstrich ist eigentlich ein ungeheurer Wald, wo nur im Innern einige sinnische Stämme als Jäger leben, und längs den Flüssen einige russische Ansiedlungen bestehen. In Großbritannien leben auf dem fast gleich großen Terri-torio gegen 18 Millionen Menschen, in Deutschland über 15 Millionen, oder zwischen 3500 und 4000 auf der Quadrat-meile. Hier leben im Ganzen nur (1^34) 115,027 Menschen. Es würden also kaum 27 Köpft auf die Quadratmeilc zu rechnen sein. Allein die cultivirte Fläche der Accker und Wiesen beträgt 232,142 Dessjatinen oder beinahe 42 Quadratmeilen, und da leben dann 2700 Menschen auf jeder Quadratmcile, und es kommen 2 Dessjatinen auf jeden Kopf. Die Einwohner sind freie Leute. Leibeigene giebt es hier *) Dem Fremden kommt >'s seltsam vor, wenn er in Riga, Petersburg n. die angekommenen Barken, welche Waaren geladen halten, zu Brennholz zerschlagen sieht, und doch ist dies natürlich n„d vortheilhaft. Dort, wo die Narren mm nicht auf revolutionairem Wege das Verhältniß aufgehoben ward, wie in Frankreich, da wurde es durch die Gesetzgebung der verschiedenen Staaten allmählich abolirt, und es ist statt desselben fast überall eine reine Gcldwirthschaft eingetreten. Im ruffischen Reiche existirt es noch, und namentlich ist in Kurland, ungeachtet der Abschaffung der Leibeigenschaft, dies Wirthschafts system noch das vorherrschende. In der Regel ist hier 2/3 des Terrains an die Bauern verpachtet, und statt eine Geld'pacht zu zahlen, muffen diese dic ganze Bewirthschaftung deß dritten Drittels auf ihre Kosten und durch ihre Arbeit übernehmen. Im eigentlichen Rußland gilt dasselbe Princip, aber nördlich hinauf macht die Ungunst des Klimas es häufig unmöglich, daß die Bauern für das ihnen übcrwiescne ^ das dritte Drittel bewirthschaften können, es muß ihnen häusig '/l des Areals überwiesen werden, und da bildet dann nur die Bruttoerntc des letzten Viertels die Landrente. Dagegen steigt aber freilich diese nach dem Süden Nußlands herab, auf dem unermeßlich fruchtbaren Boden, der sogenannten schwarzen Erde, bis auf die Bruttoernte von der Hälfte des cultivirten Terrains, was also im Resultate mit dein der Mctairie oder Halfenwirthschaf-tcn in Italien übereinstimmt. Allein, das hatte ich nicht erwartet, daß ich diese Wirthschaftsverfassung in vollständigster Ausbildung hoch im Norden zwischen dem 59sien und l)4sten Breitengrade finden würde, und dennoch ist dies der Fall! 6s giebt hier in diesen Landstrichen, wie im Allgemeinen im ganzen nördlichen Nußland, keinen einheimischen angesessenen Adel. Der Adel, welcher hier lebt, gehört zum größern Theile dem Beamtenstande an. Diese kommen und gehen, und werden hier nicht ansäffig. In den Städten, z. B. Ußtjug, wohnen allerdings seit alten Zeiten einige Familien, die dem Adel angehören, allein sie besitzen keinen adligen Grund und Boden mit darauf lebenden Leibeigenen. Jedoch sie sowohl als eine Anzahl Bürger in den Städten besitzen große Landstrcckcn, Aecker und Wiesen, selbst ganze Dörfer eigenthümlich, nicht mit ruffischen Adclsvorrechten, d. h. nicht mit dem Rechte, sie durch Leibeigene bebauen zu lassen, 287 sondern nur nach Polownikirechtc, d. h. eigentlich nur mit dcm Rechte, sie in der Weise der italienischen und siidfranzösischen Metairicwirthschaft an russische Baucmpächter gegen die Hälfte oder einen Theil der Ernte, also eine Naturalpacht, auszuthun. Es sind nun zwei Bewirthschaftung Zarten dieser Grundstücke gebräuchlich. Entweder liegen dieselben in der Nähe eines Krondorfs, vielleicht mit den Aeckcrn und Wiesen desselben gemischt, wie wir oben ein Beispiel sahen und beschrieben haben, oder sie liegen abgesondert, i!i einer Fläche zusammen, und entfernt von den Krondörfern. Im ersten Falle sind die Grundstücke, Aecker und Wiesen, den Leuten in dein benachbarten Krondorfe gegen Abgabe der Hälfte der Kornernte untergethan, wobei aber der Eigenthümer die Einsaat allein steht, auch alles Stroh den Leuten läßt. Ob das Wiesenheu getheilt wird, habe lch nicht mit Sicherheit erfahren. An einigen Orten, wo wenig Wiesen waren, verblieb es den Leuten, und die Eigenthümer erhielten keinen Antheil. Ich hörte aber, dasi an Orten, wo viele Wiesen nach Polownikirccht vorhanden seien, eine solche Theilung vorgenommen würde, oder auch wohl eine besondere Geldoder Naturalpacht siipulirt sei. Im zweiten Falle ist das ganze Mctairieverhältniß nun aber vollständig ausgebildet. Hier ist auf der Feldmark ein Dorf gebauet, und die Feldmark ist ganz regelmäßig unter die Bewohner vertheilt. Die Häuser gehören entweder den Polow-nikibaucrn selbst, sie haben sie ganz auf eigne Kosten gcbauet, oder sie haben das Holz dazu von dem Eigenthiimslicnn erhalten, und dann sind sie Eigenthum des letztern. Das Hof- und Wirthschaftsinventarium gehört den Bauern. Die Feldmark ist w Pflüge (Socha) eingetheilt, dergestalt daß zu jedem Pfluge w jedem der drei Felder gleich viel Ackerland gelegt ist. Jeder Pflug hält 2 Tschetwert Aussaat in jcdcm Felde, ist also ungefähr (i Dcssiatinen (24 Morgen) groß. Jede Familie übernimmt nach Verhältniß ihrer Arbeitskräfte und ihres Inventars '/2 bis l, ja bis 2 Pflüge. Der Herr muß dic Kornabgaben für die Bauern bezahlen, er trägt die Aussaat allein. Der Herr erhält statt der Pacht die Hälfte der Ernte (bei wenig Wicsm und schlechterm Acker nur die halbe Kornernte), muß aber in Mißjahren die Bauern theilwcise oder ganz ernähren. 288 Die Contract? werden auf 6 bis 20 Jahre abgeschlossen. Es sieht jeder Partei frei, nach Beendigung des Contracts und nach vorhergegangener einjähriger Kündigung, daß Verhältniß aufzulösen. Die Form des Vertrags ist äußerst einfach. Die Parteien erscheinen vor dem Kreisgerichte, uud lassen in die vorhandenen bereitlegenden Polownikibücher eintragen: Der Herr W. habe den Bauern N. N. N. das Dorf A. und dessen Feldmark nach Polownikirecht auf tt, 10 oder 20 Jahre eingeräumt. Beim Abzüge nimmt dcr Bauer das Hof- und Wirth-schaftßilwentarium mit, verkauft das Haus oder bricht es ab, wenn es ihm gehört und er es gebauet hat. Gehört das Material dem Herrn, so zahlt ihm dieser für die an dem Hause verwendete Arbeit ein Angemessenes aus. Wenn ein Einzelner aus dem Polownikirecht eines Dorfs ausscheidet und fortzieht, müssen ihm im erstem Falle die übrigen Bauern des Dorfes sein abgebrochenes Haus und seine Habe nach seinem neuen Wohnsitz forttransportiren. Die Zahl der eigentlichen Polownikibaucrn, d. h. derer, die in eignen Dörfern zusammcnwohnen, war in den drei Klcift» Ußtjug, Solwüschegodsk und Nikolsk nach der letzten Revision ^920 männliche Seelen. Die Urtheile über die Angemessenhcit und Vortheilhafligkeit des Verhältnisses fand ich nach den Kreisen einigermaßen verschieden. Im Kreise Ußtjug war das Urtheil darüber höchst günstig. Man sagte mir, das Verhältniß sei für beide Theile sehr vortheilhaft und daher sehr dauernd (welches letztere bei allen ökonomischen Verhältnissen für beide Theile, wie für das öffentliche Wohl günstig ist). Es ist e i n festes Nechtsvcrhältniß! Daß aber das bei allen übrigen bäuerlichen Verhältnissen Nußlands nicht der Fall ist, ist eben der größte sociale Mißstand daselbst. Der Landeigenthümer wie der Polownik kennt seine Pflichten genau, und ihre Erfüllung liegt im beiderseitigen Vortheil. Der Bauer wird überall von dem Herrn vertreten und geschützt gegen jede fremde Willkür und Unterdrückung. Der Herr befreiet ihn von jeder Sorge des Lebens, er bezahlt für ihn die Geldabgaben an die Krone, nnd unterstützt ihn in Mißjahren. Aber wenn Unzufriedenheit zwischen Herr und Bauern eintreten sollte, so ist es ja auch kemesweges ein unauflösliches Verhältniß. DaS 280 Ende des Contracts, eine Kündigung oder eine beiderseitige Ucbcreinkunft löset es auf! Aber dies geschieht ii, der Wirklichkeit fast nie, es erbt sich von Generation zu Generation. Der Bauer verläßt ungern die zur Hcimath gewordene Stelle, und der Herr verliert ungern brave und thätige Leute; auch ist für ihn das Verhältniß offenbar ungcmein vorthcilhast. Denn diese Naturalpacht erscheint in so hohem Norden unge-wein hoch, man begreift aus den ersten Anblick nicht, wie der Bauer dabei bestehen kann. Es ist offenbar, daß die ihm übrigbleibende Hälfte der Ernte kaum hinreicht, ihm die Nahrung für sich, sejne Familie und sein Vieh zu gewähren. Aber die Natur des Klimas, der russischen Landwirthschaft und der russischen Nationalität erklärt dies hinreichend. Sieben bis acht Monate ruhen alle Ackerbauarbeitcn, und die Russen sind zu allen Gewerben geneigt und geschickt! Der Polownik sieht seine Stätte als feste Wohnung, Heimalh und Mittelpunkt, von wo aus er seine Thätigkeit mit Sicherheit und Bequemlichkeit entwickeln kann, an. Vier Monate beschäftigen ihn die landwirth-lichen Arbeiten, sie gewähren ihm keinen eigentlichen Vortheil und Ueberschuß, aber doch die Nahrung. So kann er denn die folgenden acht Monate verwenden, um seine übrigen hauslichen Bedürfnisse zu befriedigen, vor allen Dingen, um Geld zu verdienen. In dieser Zeit treibt der Polownik Gewerbe, wie alle andern russischen Bauern, er speculirt, er handelt, er jagt und handelt Mit Pelzen, er wagt Entreprisen, er fuhrwerkt! — So kommt es denn, daß diese Leute fast durchgängig wohlhabend, ja sehr ^elc reich sind. Sie sind dies sogar mehr und im höhern Grade, als die Kronbauern, ungeachtet die Abgabe, der Obrok dieser letztern, unendlich viel niedriger ist, als der Werth der halben Ernte. Auch der äußere Schein des Reichthums und der Wohlhabenheit tritt mehr bei ihnen hervor, als bei den Kronbauern. Sie brauchen den Schein des Reichthums weniger zu scheuen, als die Kronbauern, weil diese letztern den Placke-leum und Erpressungen der Beamten sonst dadurch mehr aus-^esetzt waren, wenigstens bis vor wenigen Jahren vor der Einführung der neuesten Domainencinrichtungcn. Die Sicherheit der Stellung hat auch den Polownikibaucrn Mehr moralischen Halt gewährt, sie sind solider und reeller in 19 290 allen Geschäften, brav und von einfachen und guten Sitten. Man hat kein Beispiel, daß bei ihnen Streitigkeiten nntcr einander und mit ihren Herren vorgekommen wären. Minder günstig lauteten die Urtheile über dies Verhältniß im Kreise Nikolsk. Hier haben viele Bauern eine Scheu, sich auf dies Verhältniß einzulassen, nicht weil es unvorthcilhaft sei, die Vortheile werden hier ebenfalls anerkannt, aber weil sie Gefahren für ihre Freiheit dabei ahnden. Sie meinen, die bei Abschließung des Verhältnisses üblichen Verschrcibungen (Sapiß) könnten zu einer Art jeweiliger und lebenslänglicher Leibeigenschaft (Chaballa) und demnächst vielleicht auch zu einer erblichen führen, die sie im südlichen Theile des Kreises ja wirklich vor Augen haben. Ob vielleicht das Benehmen einiger Herren zu dieser Meinung oder diesem Vorurtheile Veranlassung gegeben hat, konnte ich nicht ermitteln. Daß es nur ein Vorurtheil ist, steht fest, denn das Verhältniß ist gesetzlich sehr gut geregelt. Die Folge davon ist aber gewesen, daß die Zahl der Polow-nikibauern in diesem Kreise sehr abgenommen hat. Früher möchten wohl weit über !Wl) männliche Seelen dazu gehört haben, jetzt zählt man ihrer kaum ^l)0. Die Eigenthümer des Polow-nikilandeS sind daher hier gezwungen, es für Geld bearbeiten zu lassen, oder es in gewöhnliche Zcitpacht zu geben. Da das Vorurtheil hier in neuester Zeit zugenommen hat, und die ausscheidenden Polownikibauern darauf antrugen, in den Krondörsern aufgenommen zu werden, so hat das Ministerium der Krondomainen sich veranlaßt gesunden, das Fortziehen und die Aufnahme in den Krondörfcrn zu erleichtern. Die Krondörfer sotten sie daher aufnehmen, wenn sie dies aber nicht wollen, ft dürfen die Polowniki sich im Innern der Wälder ansiedeln, und die Bewohner der Krondörfer müssen ihnen dabei behülf-lich sein, namentlich Durchhaue der Wälder machen, und ihnen einen Weg bauen. Da die Sache aber große Schwierigkeiten für beide Theile hat, so bleiben sie in der Regel in den Krondörfern und begnügen sich mit dem geringen Antheile an dcM Kronlande. Die Geschichte der Entstehung und Enwickelung dieses Verhältnisses ist noch sehr dunkel, und ich habe sie nicht hinlänglich 291 aufzuklären vermocht. Ich habe manches, aber nichts Genügendes darüber gesammelt. In Usstjug erhielt ich von einem Herrn von Nakoff eine kleine geschriebene historische Abhandlung, die manche gute Notizen enthält, in Petersburg fand ich im Domamenministerium eine Abhandlung über das Polownikiver-hältniß, auch ward mir die französische llcbersetzung eines Capitels aus einem russischen Buche von Uspenski: über russische Alterthümer mitgetheilt. Aber wie gesagt, etwas Erschöpfendes ist bis jetzt nicht darüber zu erhalten gewesen, auch wenig Hoffnung dazu vorhanden, da die ältern Do-cmnente und Nachrichten über diese Verfassung bei einem gro-ßcn Brande in Ufftjug 1710 untergegangen, und kaum einige wenige, und wohl kaum die ältesten gerettet sind. Uspenski in dem oben angeführten Bliche führt an, daß schon im Anfange des elften Jahrhunderts des Polownikircchts Erwähnung geschähe. In den Gesetzen, die Iaroslaw Wladi-lnirowitsch den Nowgorodnern gab, werden zweier Arten der Bebauung des Grund und Bodens erwähnt. Reiche Leute, die ^ändereien ererbt oder als erste Occupanten eingenommen, oder "ls Gratification«.'» von den Fürsten geschenkt erhalten, hätten sreic Leute angenommen, die gegen Abgabe der Hälfte der Ernte an den Eigenthümer, das Land bebauten. Man nannte sie Polownik. Andere freie Leute hätten sich auf solche Weise mit ben großen Grundeigenthümern nicht einlassen wollen, sondern seien in die Wälder gedrungen, hätten Theile derselben niedergebrannt und da hinein gesa'ct. Die habe man Dgnistschani*) genannt. — Dieser letztere Landbau sei natürlich sehr wenig stabil gewesen, da das gcschwendcte Land nur ein paar Jahre Ernten gewährt habe, und man dann wieder neuen Wald habe niederbrennen müssen. Wir haben hier offenbar die beiden Arten des Landbaues "or Augen, die in Nordrußland stets neben einander bestanden haben, den russisch-slavischen und den alten tschudischen. ) Oguistschcun soll von Ußnn (Feuer) herzuleiten stin. Ob es mm Jemanden bedeute!, der mit Feuer dm Nodru zur Aussaat schwende«, oder der einen eigne» Herd, cine Feu erstelle ha«, ist bei dcil Etymologen streitig. 19* 292 Das Polownikiverhaltniß ist somit noch der Ncst des uraltesten russischen Landbaueö, wo die Mehrzahl der Landeigenthümer den Grund und Boden an freie Bauern gegen einen Antheil der Ernte, wie hier im Norden, oder gegen Frohnden-pacht, wie in den mittlern und südlicheren Strichen, oder gegen Körnerpacht, oder vielleicht auch schon gegen Geldpacht (Dbrok)*) ausgethan hatten. Die Aufhebung der Freizügigkeit unter dem Czar Boris Gudunow und die Zuschrcibungcn an die Herren in den Revisionen unter Peter I. haben dann das ursprüngliche Verhältniß ungemein verwandelt und das jetzige entwickelt. Das Polownikirccht wurde stets von den Gesetzgebern als günstig für die Landcscultur in diesen Gegenden angesehen (vielleicht im Gegensatze des Nicderbrennens der Waldungen, deS Schwendcns), und bei Verleihungen von La'ndcreien von Seiten der Fürsten geschahen diese daher unter der Bedingung des Polownikirechts. Die älteste Urkunde, die beim Brande von Usstjug gerettet wurde, vom 6zaren Ivan Wasiliewitsch 1552 ausgestellt, spricht dies ausdrücklich aus. Ein anderes noch erhaltenes Privilegium des Czaren Alexei Michaelowitsch vom tt. Juni Ui7,2 sagt, dasi alle Leute im Usst-jugschen Kreise, die Land gekauft oder im Versatz hätten, mit Aeckern und Wiesen nach Belieben schalten, auch ihre Contracte mit den Tschernoslobodischen"^) (nach Polownikirccht) schließen dürften. Ein Privilegium vom 31. März 1699 besagt ebenfalls, daß Kausleute, die nach Archangel und Sibirien handelten, und Leute, die bei den Zöllen und Branntweinpachten angestellt wären, die daher ihr Lanv nicht selbst bearbeiten könnten, das Recht hätten, mit tschernossoschnischen Bauern auf die Hälfte der Ernte Eontracte abzuschließen. Peter I. hatte auf der Durch' reise durch diese Gegenden im Jahre 10W bemerkt, daß dcM ') Obiot soll hergeleitet werden vo>t dcn, Wurlc <»1,r<»I^»^ ividmm, was gcwibmct ist, was fcststch». ") I5cl»ernui heiß, schwarz, alur auch Aauer, slobtxle baS Weichbild, del Stadtlheil. Tschernoslobobik heiß! also der Weichl'ildKbaucr. Tsch"° „ossoschnik (88»8<,-l>nik heißt ein Pflugciftu) — ein Psiugbaucr, "" Hilfncr, loll«,, I».»,,»>,». 29A äußern Ansehn nach die Polownikidörfer größere Ordnung und mehr Reichthum zeigten, als die Krondörfer. Er setzte eine Commission unter Borsitz des Generals Lietarew nieder, die Sache und ihre Ursachen zu untersuchen. Da sich nun hicdurch Peter I. von der Zweckmäßigkeit und Heilsamkeit der Institution überzeugt hatte, gab er auf eine Vorstellung und Bittschrift der Posadski*) von Usstjug jenes Privilegium von 1699 für sie und für alle Posadski der Gegend, und befahl, stets nach dem alten Rechte zu verfahren. In der Folge belohnte der Kaiser viele aus dem Kaufmanns-stände mit Grund und Boden in diesen Gegenden, desgleichen Manche Adelige, deren Nachkommen jetzt meist zum Kaufmannsstande übergetreten sind, z.B. dieTwesow, Tschclbischew, Plot-nikow :c. Es ward diesen Allen auch das Nccht verliehen, solche Grundstücke zu kaufen, zu verkaufen, zu vertauschen :c., jedoch stets unter der Bedingung, daß sie an Bauern nach Po-lownikirecht ausgcthan würden. Aus den Grund jener angeordneten Untersuchungen wurde burch Ukas vom 23. Octbr. 1723 befohlen, ein ausführliches Reglement über die Verhältnisse der Polownikibauem auszuarbeiten, vorzüglich damit, wenn diese Bauern von einem Orte nach einem andern zögen, die Kronabgaben nicht im Rückstände bliebet». Bei der damals angeordneten Volksrcvision wurden die Nevisoren aufgefordert, Vorschläge zu einem dessallsigen Reglement ZU machen. Es wurden dann auch wirklich von den Revisoren ber Gouvernements Archangel, Kasan und Sibirien **) dem Senate Reglements vorgeschlagen, und von diesem unter dem li. Januar und 22. Februar 1725 festgestellt, daß der freie Umzug der Bauern gestattet sei, denn sie seien freie Leute und keine Leibeigene, aber beim Umzüge solle der Landeigenthümcr, den sie verlassen, so wie der, zu dem sie ziehen, die nöthigen Anzeigen machen, sich für die Steuern verpflichten lc. ^) Posad hcisit Ansu'drluna,, also Posadst'i die Mgcsicdrltm. ") Es schcnit hmmch, daß wenigstens damals das Verhältnis, auch noch in andern Gonvclncmcnls bekannt ,md vcrlneittt war. Ol' dirs >,»>i>>nval-tig noch der Fall ist, lam» ich nichl sagcn. Vci d>„ Minisil'nm >" Pe-tciöbm'g warcn dariU'cr tm« Nachrichw» und Notizen. 294 Die heimlich sich Entfernenden darf Niemand aufnehmen bei großer Strafe, u. s. w. Durch Mas vom 6. März 1753 wurden alle Rechte nochmals bestätigt, und bei der alsdann angeordneten Gencralver-messung des ganzen Reichs wurden alle Polownikigrundstücke als Privateigenthum abgemessen und die der Krone zukommenden Abgaben darauf gelegt*); worüber denn auch die Plane und die neuen Register und Bücher zuerst vom Senat, später durch kaiserlichen Ukas von 178!) bestätigt wurden. Der Gouverneur von Wologda, Kanikin, hatte um 1788 nochmals alle Documente und Acten gesammelt und dem Senate eingesandt, welcher alle Rechte unter dem 27. Juni 18U0 und dann nochmals 18l17> bestätigte. Ein Senatsbeschluß vom M. März 178-t gestattete auch Kronbauern, die kein Land besäßen oder den Dbrok davon nicht aufzubringen vermöchten, nach vorhergegangener Anzeige und Bitte, mit Landeigenthümern in ein Polownikivcrhältniß zu treten. Nclieldings endlich gab der Minister des Innern unter dem 1. Decbr. 1827 ein Reglement folgenden Inhalts: 1) Als Grundsah des Verhältnisses gilt, daß der Polownik die Hälfte aller Erzeugnisse dem Herrn abgiebt; es steht aber der Vertrag frei, ob die Absindung in Naturalien oder Geld geschehen soll. 2) Ackerwcrkzeuge und Wirthschaftsvieh schassen die Polowniki auf ihre Kosten an. Zum Bau und zur Reparatur der Gebäude giebt der Grundeigenthümer das Material her, der Polownik die Arbeit, .'y Als freie Leute dürfen die Polowniki nach Beendigung des Contracts abziehen, müssen jedoch stets ein Jahr voraus kündigen. 4) Ziehen die Polownikibauern aber in Krondörfer, so werden sie den Kronbauern zugeschrieben. 5) Beim Abzüge verbleiben die Häuser derselben, wozu die Herren das Material gegeben haben, den letzteren. Sind sie aber ohne diese Beihülfe gebaut, so gehören sie den Polownikibauern, und diese können sie verkaufen, oder abbrechen und ') Nach der vom Htlrn von RnkDw mii- mit,;!'!h!'ill>» hisk'l'ischm Alchaud-l,mg. Ist dies wirklich cine Gnmdsimi'r? Sic «risiilt ja «US Mgabc an die Krone sonst nirgmds ii, Rxsilm'd. 295 versetzen. 0) Die Polownikibauern können auf U bis ^0 Jahre angenommen werden. Nach Verlauf der Jahre können neue Contract,,' abgeschlossen werden. 7) Will der Landeigrn-thümer anders über das Land disponiren, so muß er ein Jahr vor Ablauf des Contracts noch besonders kundigen. 5-») Bei der Ansicdlung musi der Herr dem Bauern die Einsaat geben. l>) Bon den Polownikibauern dürfen keine andere Dienste und Arbeiten verlangt werden, als die unmittelbar mit der Bewirthschaftung des ihm überlassenen Grund und Bodens in Beziehung stehenden. 10) Mit dem Tode des Polownikibauern hört das Contractsverhältniß auf; Wittwe und unmündige Kinder erben es nicht. Der Eigenthümer musi aber für dieselben, wenn sie es verlangen, die Abgaben bezahlen, hat dagegen das Recht, sie auf Pässe abzulassen, um für ihn zu arbeiten und etwas zu verdienen. XI. Im'inoetz. Noüznl übn das (youvl'l'M'nu'Nl ^oslronKi. Dcr Kreis liolo-griw > ftinc wiilhschliftlichcn Vnhlillüissc. Bmit'llichr PrchallmsiV. Blnü'nblilur. Drr Nvris ^Yttln^a. Die Indnstvic drs Thn'rschwclrnS nnd die Ai'lhaltniffe dcl l^litöhnroi dabri. Dic LindriibaslfalninUion. ^lbn'isc von Iuriclvrtz. Dus ?lpaimgnldorf Dia ^onSt,!. Volksschulr. Hliudwrrkoschnlr. Durfwilthsch^ft. Ansch!» und Zi»'rlathcu an hicsigm Blilinhinlftvii. Ankunft in NishmjMowlMod. ^uril'wctz lieqt, wie alle Wolqastädte, auf ihrem hohen rechten Ufer, schr hübsch, und gewährt durch die vielen Thürme und Kuppeln das Anschn einer großen Stadt, während sie in Wahrheit nur eine mäßige Kreisstadt ist. Wir ließen unö am 5. Juni Vormittags über den breiten Strom setzen und wurden, wie gewöhnlich in den Kreisstädten, bei einem Kaufmanne einquartiert. Da an unserm Wagen etwas zerbrochen war, so hatte ich Zeit, daß, was wir am Vormittage und im Laufe des vorigen Tages, wo wir einige Kreise des Gouvernements Kostroma durchzogen waren, über dieses Gou« vernement gesammelt hatten, zu ordnen, und durch die unö vom hiesigen Krciöbcamtcn mitgetheilten Notizen zu vervollständigen. Der Charakter der Verhältnisse der meisten Kreise des Gouvernements Kostroma ist im Wesentlichen derselbe, wie der des Gouvernements Iaroslaw. Im Allgemeinen gilt daher, waS ich oben über dies lchtere Gouvernement gesagt habe, auch für das Gouvernement Kostroma. Von dem Kreiöchef des Districts Kologriw, des nördlichsten im ganzen Gouvernement, erhielt ich folgende statistische und andere Notizen. Der Kreis zerfällt in administrativer Hinsicht in 2 Abtheilungen (Stan, Lager): 297 KrciZ Kcwgnw, <«^,? ZZ ^ 2 ZI Mäoncr Manner Ablhcilung l. 501 50>8 22 271 5 208 3152 13,18? 7^ AbttMimgll, 17 301 2752 21 185 1 10 195 10.628 ^2 802 7770 43 ! ^5« 6 218 3317 23,815 116 Die 3347 Kronbauern leben ill 5 Kirchdörfern und 84 andern Dörfern uüt 1055 Gehöften. Die 23,815 Privatbauern in 30 Kirchdörfern und 716 andern Dörfern mit 0693 Gehöften. Die Leibeigenschaft ist in diesem Kreise vorherrschend; die Zahl der Kronbauern und freien Bauern verhält sich zu den Leibeigenen wie 1 zu 7. Es lebt, wie wir aus der Tabelle scheu, fast gar kein Adel in diesem Kreise, es sind daher auch fast alle Privatbauern auf Dbrok gesetzt, der durchschnittlich vom Taiglo 70 Rubel Banco beträgt, wogegen aber den Dorfgemeinden nicht bloß aller Acker und die Wiesen, sondern selbst aller Wald, die Benutzung deS Vau- und Nutzholzes nicht ausgeschlossen, abgetreten ist. Hierauf gründet sich eine sehr ausgedehnte Industrie von Holzwaaren, vorzüglich aber von Barken, die hier gebaut und die ^ttsha hinab in die Wolga nach Nishnijnowgorod verführt wer-bm. Es sind Barken von den größten Dimensionen, oft 32 Faden lang und 8 bis 10 Faden breit. An einer solchen Barke arbeiten meist 10 Taiglos (Familien) den ganzen Winter über. Früher ward eine solche Barke in Nishnij mit 1500 Rubel Banco bezahlt, allein in den letzten Jahren war der Preis bis auf 800 Nubel B> gesunken. Die frühere Wohlhabenheit der hiesigen Bauern hat seitdem sehr abgenommen, um so mehr, als in den letzten Jahren schlechte Ernten hinzukamen. Der Ackerbau ist hier schon ohnedem von geringer Bedeutung, weil sich alle Arbeitskräfte der Holzindustrie, wozu auch das Theer-schwelcn zu rechnen ist, zuwenden. Da ganze Dörfer gar keinen Ackerbau treiben, so müssen stets Zufuhren aus den benachbarten 298 Wologdaischen und WiatkischenDistricten den Bedarf decken. Aus der ersten Abtheilung des Kreises wandern aus einer Gegend jahrlich große Züge von Männern nach entfernten Gegenden, vorzüglich auf Beilarbeit. Diese Gegend ist sehr bevölkert, fast «/,<, der ganzen Bevölkerung dieser Abtheilung betragend. Die Einwohner haben sehr wenig Land und Wald, kaum 'i, unter solchen Bauern verschiedener Herren schlichtet. Ueber das sich äußernde Bedürfniß nach einigem Schulunterricht ward mir meine obige selbstgemachte Bemerkung durch den Bericht des Kreischefs dahin bestätigt, daß die wohlhabenden Bauern ihre Kinder meist den Winter über zur Erlernung von Lesen, Schreiben und Rechnen dem Geistlichen übergeben, und für einen solchen Wintercursus 10 bis 20 Rubel Banco zahlen. Der Charakter aller Verhältnisse des Kreises Wetluga nähert sich dem des Gouvernements Wiatka. Der oben genannte Gutsbesitzer Peterson, bei dem wir uns ein paar Stunden aufhielten, gab uns einige interessante Notizen über zwei wichtige Industriezweige, welche in diesem Kreise blühen: die Theer-schwelcreicn und die Nastindustrie. 299^ In Bezug auf das Thcerschwelen erfuhren wir Folgendes. Da auch in diesem Kreise wenige Edelleute wohnen, so sind die meisten Privatbaucrn auf Dbrok gesetzt, wobei ihncn dann die Wälder zum Theerschwelen mit überwiesen werden. Die Bauern des Herrn von Peterson waren jedoch auf Frohnden gestellt; hiebei thaten aber nur sehr wenige aus seinem kleinen Ackerbaugute die landwirthschaftlichen Arbeiten, der größere Theil verrichtete diese Frohnden bei den dem Gutsherrn gehörigen Theerschwclereicn. Einigen seiner Bauern gestattet er auch das Theerschwelen in seinen ausgedehnten Wäldern auf eigne Hand. Er läßt sie dann ganz frei und ohne Einschränkung den Wald zu diesem Behuf benutzen, statt des Obrok "ber müssen ste ihm 50 Procent ihres Products abgeben. Es giebt verschiedene Arten der Bereitung und Gewinnung des Theers. 1) Parovoi Djogot. Hierbei wird das Holz in eigenthümlich construirtcn Oefcn verbrannt und durch Erkältung des Rauchs der Theer als Niederschlag gewonnen. Dies ist die ergiebigste Art der Bereitung. Man gewinnt 40 Pud aus einem Eubik-fadcn Birkenrinde, und das Fabricat ist das preiswürdigstc; das Pud wird mit 3^ Rubel Banco bezahlt. Diese Art der Bereitung ist dennoch selten, weil die Anlage nicht unbedeutende Kosten verursacht. 2) Iamnij Djogot. Dies ist die gewöhnlichste Art, weil der Bauer sie überall ohne weitere Zubereitung vornehmen kann. Sie geschieht im Winter. Die Rinde wird von den Birken abgeschält, und das übrig bleibende Holz und die Aeste werden »n Sommer zur Rodung verbrannt, und das auf solche Weise geschwendelc Feld l bis 2 Jahre als Acker benutzt, wobei die ^rnte oft das 20ste Korn gewährt. Der Theer wird in Löchern, dle in die Erde gegraben werden, gewonnen. Man gewinnt biü zu 35 Pud aus dem Cubikfaden Birkenrinde, und das Product wird mit 3 Rubel Banco für das Pud bezahlt. Die Bereitung ist die verbreitetste, und bereits oben beschrieben. 3) Gortschaschnij Djogot. Ueber diese Art der Bereitung fehlen mir die genügenden Notizen. Sie gewährt nur 30 Pud schlechten Theers aus einem Eubikfadcn Birkenrinde, welcher zu 2 Rubel B. das Pud verkauft wird. 4) Nogowoi Djogot. Es ist die in Sibirien gewöhnliche 300 Art der Bereitung. Dabei weiden etwa 1(1—15 Faden Birkenrinde zusammengchäuft auf festem trockenem Boden, dann mit Erde bedeckt und angezündet. Auslaufende Rinnen auf dem Boden, die in Löcher ausmünden, fangen den Theer auf. Dieser ist sehr gut, aber man gewinnt nur etwa tt Pud vom Ku-bikfaden Ninde. Ueber die Lindenbastfabrication erhielten wir folgende Notizen. Aus Lindenbast werden bekanntlich die allgemein verbreiteten Bastmatten verfertigt, welche nach ihrer größeren oder geringeren Feinheit zu Getreide- und Mehlsäcken, zu Segeltuchen,, zu Verpackungsmatten:c. verarbeitet werden. Aber es werden auch aus dem Baste Schissstaue und alle Arten von Stricken gcdrchet. Die Linde ist im übrigen Europa kein Waldbaum. Dieser Baum dient fast nur zur Zierde von Gärten, Kirchen und Kreuzen. Erst vom rechten Ufer der Weichsel an erscheint er in den Wäldern, anfangs (z. B. in Preußen) nur eingesprengt, bald aber, namentlich in Litthauen, selbst große Wälder bildend; im eigentlichen Nußland wird er dann wieder seltener, allein nach dem Ural hin, vom Gouvernement Kostroma an, in den Gouvernements Wiatka, Perm lc. tritt er wieder in ungeheuern Wäldern auf. Die Lindenwälder stehen hier überall auf schwarzem, humusreichem Boden; auf Sandboden kommen sie hier nicht fort. Die Linde vermehrt und ergänzt sich durch Selbstbesamung, aber fast noch mehr durch Wurzelausschlag, wo oft aus eincr Wurzel 10 Schößlinge austreiben. Da diese nach 15 Jahren schon für den Zweck der Bastbereitung tauglich, ja sogar am besten sind, und also dann niedergehauen werden, so bilden die Lindenwälder eine unversiegbare Quelle des Reichthums dieser Gegenden. Die äußere Ninde des Baumes sitzt im Frühjahr, wenn der Saft steigt, sehr lose. Wenn man in der zweiten Hälfte des Mai oder im Anfange des Juni von oben nach unten hin Einschnitte in diese harte obere Ninde macht, so stößt dcr andringende Saft dieselbe von selbst ab, und sie fällt bis Mitte Juli herunter. Thut mau dies aber später, so ist das nicht mehr der Fall; die Rinde saugt sich fester an den darunter sitzenden Bast, und die Trennung ist schwieriger. Anfangs Mai ziehen demnach die Leute in den Wald, bauen Ml flch Hütten und beginnen dann ihre Arbeit. Die Baume von 4 Zoll Durchmesser und darüber erhalten Einschnitte der Rinde bis zur Spitze, dann werden die Bäume niedergehauen, die leicht sich absondernde Rinde abgenommen, und endlich der Bast abgeschält. Der Bast des Hauptschasts ist der beste und heißt Lub oder Lubock, der von den Aesten ist schlechter und heißt Motschalo. Der Bast wird dann wo möglich in fließendes Waffer, wo das nicht vorhanden ist, in Gruden, worin Wasser gesammelt wird, festgelegt, wo er sich allmählich reinigt sowohl von allen Theilen der Borke, als von einer ihn durchziehenden klebrigen Masse. Im October wird er aus dem Wasser genommen, auf Stangen gehängt und getrocknet, und mit der ersten Schlittenbahn nach Hause gebracht. Die Verarbeitung ist entweder zu Matten (Ragoscha) oder zu Säcken (Kuli). Die Ragoschcn theilen sich nach Feinheit, Dichtigkeit und Größe in: n) Ienofka, 3'/, Arschin lang, 2 Arschin brci^ und (i—10 Pfund schwer; b) Parusnaja (Segeltuch), 4 Arschin lang, 2 Arschin breit und (l Pfund schwer; c) Parnaja (Doppelmatte), 3'/2 Arschin lang, 1^ Arschin breit und 8 Pfund schwer; ll) Täootznaja, 3 Arschin lang, IV4 Arschin breit und 5-ü Pfund schwer; «) Kartotschnaja (kartenartige), 2'/2 Arschin lang und breit, 5 Pfund schwer. Von den Säcken (Kuli) sind n) die Muschnaja (Mchlsäcke), 1'/. Arschin lang, 3'/, Arschin breit und 15—18 Pfd. schwer; b) die Selewoi (Salzsäckc), von derselben Größe aber nur 8 bis 10 Pfd. schwer; l;) die Owßanoy (Hafersäcke), 3'/2 Arschin lang, 1^ Arschin breit und 5-8 Pfd. schwer. Die Bastproducte sammeln sich nun als Waare in bestimmten Orten verschiedener Gouvernements; im Gouvernement Kasan w den Orten Zarewokaskom, Koömodamiansk, Tschebakarskom, nn Gouvcrn. Wiatka in mehreren Orten des Kreises Uschum. Von dort vertheilen sie sich dann im Innern von Rußland und "ach den Seehafen fürs Ausland. Die zu Segeltuch verarbeiteten Matten werden meist in den östlichen Kreisen des Gouvernements Kostroma verfertigt. Es sollen gegen 500,000 bis ^WMO, ja zuweilen 1 Million abgesetzt werden. Der Preis hat in den 10 Jahren von 1824 bis 1835 zwischen 14 und '" Rubel Banco für das Hundert geschwankt. Die Bauern des Kreises Wetluga verkauften ihre Matten 302 sowie ihren Theer ausschließlich an eine Association von Kaufleuten in Ufstjug. Diese verkauften wieder Alles an das reiche Handelshaus Brandt in Archangel, welches dann die Waare über See versandte. Die Kaufleute in Usstjug mißbrauchten ihre Stellung und drückten die Einkaufspreise für die Bauern sehr tief herab, so daß diese wenig oder nichts verdienten. Ein gewisser Wasilnowski, Linkaussagent jener Compagnie in Usst-jug, überwarf sich mit derselben, klärte den Herrn Brandt über die Verhältnisse auf, bewies ihm, daß tausend Stück Matten, welche ihm zu 36 Rubel Silber angerechnet waren, von der Compagnie in Usstjug zu 14 Rubel erstanden worden seien. Von der Zeit an ließ Herr Brandt durch jenen Agenten direct aufkaufen. Nun löste sich die Usstjugsche Compagnie auf, Jeder sing auf seine eigne Hand an, die Geschäfte zu betreiben, und so stieg dann durch die Concurrcnz der Preis zu Gunsten der Bauern bald auf 38 Nubel Silber. Wir verließen früh am l». Juni Iuriewetz. Die Straße nach Nishnij-Nowgorod läuft am rechten Ufer der Wolga hin, an beiden Seiten mit doppelten Reihen von Birken bepflanzt. Wir erreichten gegen 8 Uhr eine Station, DiakonSkij, ein kleines, nur 9 Gehöfte großes Kirchdorf, welches zu der Apanagen-Dotation der kaiserlichen Familie gehört. Cinc Anzahl benachbarter Dörfer bilden mit diesem eine Apanagen-Wolost, deren Golowa hier wohnt. Dieser ging mit uns überall umher, und zeigte uns frelmdlich alle Einrichtungen. Zuerst besuchten wir die Schute, wo eben einer der Dorfpopen Unterricht ertheilte. Die Bauerknaben lasen sämmtlich sehr fertig und schrieben zum größeren Theil ausgezeichnet hübsch. Sie rechneten auf dem russischen Rechnenbrette fertig die kleinen Aufgaben, die ich ihnen stellte. Außerdem erhalten sie Religionsunterricht in Verbindung mit biblischer Geschichte. Cs wurden täglich drei Stunden Unterricht ertheilt, und der Pope erhielt dafür jährlich 500 Rubel Banco aus der Casse des Apanagenministeriums. — Dann gingen wir in die hier von jenem Ministerium gestiftete Handwerksschule. Hier werden 12-16 Knaben, welche aus den bessern Baucrfamilicn dieses Apanagen-Districts ausgewählt sind, in mehreren Handwerken, unter denen sie die Wahl haben, als Tischler, Schmiede, Gerber, Hut- 303 und Filzsockenmacher u., unterrichtet; sie werden 3 Jahre freigehalten, und erhalten dann noch ein paar Jahre Wohnung und Kost nebst 52'/2 Nubel Banco Lohn. Wir sahen sehr gut gearbeitete Mcublen, Eisenwaaren, ein Hutmagazin, deren Erlös der Schulcafse zufällt, welche aber doch noch bedeutende Zuschüsse bedarf. Wir besuchten hierauf die Kirchen, eine hölzerne in altrus-sischcm Styl, 1717 gebaut, die als Sommcrkirche dient, und eine massive Kirche in modernem Styl, die im Winter geheizt wird, 1797 von der ganzen Kirchengemeinde (es gehören li5 umliegende Dörfer dazu) gebaut. Es sind 3 Popen, 2 Diakonen, 3 Subdiakonen und 3 Küster bei der Kirche angestellt, und sie ist mit 38 Dessjatinen Land ausgestattet. Die Popen lassen ihr Feld für Geld bestellen und zahlen jeder für die Arbeiten des ganzen Jahres in Accord 30 Rubel B. Für eine einzelne Tagsarbcit im Sommer zahlen sie 8(1 Kop. B. Taglohn. Dies kleine Dorf besteht nur aus 9 Gehöften und eben so vicl Familien von 24 männlichen Seelen oder circa 50 Köpfen. Sie besitzen zusammen 59 Dcssjatincn Acker, 11 Dcssjatincn Hcuschläge und 2 Dessjatinen Gcmcindewcide. Es herrscht Dreifelderwirtschaft. Wald besitzen sie nicht, und müssen daher alles Holz kaufen. Der Cubikfaden Brennholz, 3 Arschin hoch, breit und lang, kostet 3'/, Nubel B. Man baut hier Rocken, Sommerweizen, Gerste, Hafer, Flachs, Kartoffeln, Kohl, Erbsen. Der Rocken giebt circa 3'/2, das Sommerkorn 4'/^ Korn. Bei jedem Hause ist ein Gärtchcn, das fest beim Hause bleibt und nicht mit zur Theilung des Gemeindelandes gezogen wird. Bei jeder Revision wird neu getheilt. Wenn großer Zugang oder Abgang ist auch wohl früher. Sie machen dies ganz unter sich ab, sollte aber Streit entstehen, dessen man sich jedoch seit Aenschcngcdenken nicht erinnert, so würde der Golowa entscheidend hinzutreten. Sie haben ein Gemeindemagazin, in welches jedes Familien-Haupt einen bestimmten kleinen Beitrag liefern muß. Dann 'st '/,« des Ackers als Gemeindeland ausgesetzt; dies wird un-lcr Aufsicht deß Starosten von den Gemeindegliedem unentgeltlich bestellt, wobei aber aus dem Magazin die Einsaat gc- 304 währt wivd. Zur Düngung muß jedes Haus 7 Fuder Mist, jedes zu 15 Pud gerechnet, liefern. Ihr gesammter Viehstand besteht aus 8 Pferden, 17 Stück Rindvieh und 36 Schafen. Von Federvieh sah ich nur Hühner. Einige Einwohner gehen als Burlacken an die Wolga, und erhalten dazu Pässe, wofür sie 15 Kopeken Silber für den Monat zahlen müssen. In allen Dörfern, durch die wir kamen, fanden wir allerliebste Verzierungen an den Häusern, theils geschnitzte, theils durchbrochene Arbeit; namentlich waren schr hübsche Giebel-verzicrungcn, von denen ich eine in Lukurr'i, der zweiten Station von Iuriewetz, zeichnete. Wiewohl ungcmein hübsch verziert, Giebel cun'b Nliilern!)c!uscö in Lukilrl,, zwischen Ilir^wch ,,„d Nishni^Nowcim'?!'. sind im Ganzen hier die Häuser selbst lange nicht so groß lind geräumig, als die im nördlichen Theile des Gouvernements Wologda, auch liegt der Serai nicht mehr oben, lO Fuß über der Erde, und man fährt nicht mehr zu ihm hinauf, wie iw Kreise Usstjug. Spät am Abend, schon im Dunkelwerden, kamen wir Nishnij-Nowgorod gegenüber am Ufer der Ocka an, wurden über den Fluß gesetzt und fanden in einem ziemlich guten Gasthofe in dem obern Theile der Stadt ein Unterkommen. 307) Mssischcü ^umnnn,.! >u, !^o,N'c,„l',!U'nt Ris!mü ^owqercd, mit nllcn «chl il^sischl',» 20 XII. Nishmi-Nowqorod. Dcr (^wüdi'rnsnr. Das kaiserliche Schloß, Dir Kl>-leinijr. VlMöl'llnsti.zmni. ^^'Itt'^rsanq. Die russischen ä^'llstilichlc!! im (Neusatz z>, ^>n tt'nlschi». Äeichlhnm an Perleu, «in Proviu zialiheater. Aberglaube, itteine Toilr nach Arsamaß. besuch in eiueni ^ll'nncnrioster, Disciplin darin, «ntstehiiu^ und (^eschichle del« ,^lll'stns, ,^Ii,'s!trregel», Nnterschied v>.n: midnn vnssischrn itlösicrn, Andcnlxngsn zu iimmi Rcft'rmrn dct» ^lostslivlftns. — Malrrschulc in ?lrsa»iasi. Fal'vikl'n. Das Dorf Wiftna und stine Schnsisr-Ass^iiation, Dorf-nnd Al'gal'cnverfliffn!ig. (^änsckmnpir. ^filckfahrt nach Rishnij. 3i,n>^nu'. Die Vurlack^i, H)cr Morgen des 7. Juni gmq mit Bl'stichen hin. Ich lernte dcn Polizcinn'istcr der Stadt, einen Grasen Stcnbock, kennen, der mit der größten Gefälligkeit und Freundlichkeit für die ganze Zeit meines Aufenthalts an diesem lnerkwüldiqen Orte es übernahm, mir alles Interessante und Sehcnswertlie zu zeigen. Wir machten darauf dem Gouverneur unsern Besuch, einem Herrn von Buturlin, bei dem wir auch zu Mittag asien. Er war lange Adjutant beim Kaiser Alcxandn ^wcsen, hatte die Frldziige in Deutschland und Frankreich mitgemacht. (5r war gewandt und wohl unterrichtet, von seinen und vornehmen Formen und von milder und edler Gesinnung. Aus einer Familie, deren Glieder in die Geschichte Rußlands vielfach verflochten und in derselben oft genannt sind, konnte man an ihm noch eine leichte Färbung des alten Bojarenlhums erkennen. In den ältesten größeren Städten Nußlands, den alten Re-gcntcnsitzen, befindet sich stets ein Kreml, ein befestigtes, auf einer dominirenden Anhöhe liegendes Schloß; so in Nowgorod, Wladimir, Kasan. Eine solche mit hohen Mauern mngebem' Festung befindet sich auch in Nishnij-Nowgorod auf der Hölic, an deren Fuße die Ocka in die Wolga fallt. Hier befindet sich 307 ein neuerbauter kaiserlicher Palast, aus dessen Fenstern man eine herrliche Aussicht a»f die beiden sich vereinigenden Ströme, die Stadt nnd mehrere an den Flüssen liegende Dörfer hat. Hinter diesem schönen Vordergründe begrenzt dann aber freilich eine unermeßliche flache Waldebene den Horizont. Das ist der Charakter aller Aussichten in Rußland; in der Nahe hübsche, oft malerische, selbst idyllische Bilder, aber der Hintergrund stets unbegrenzt, stach, wüst; die Cultur ist hier überall Oase! Nach Tische fuhr ich mit GrafStenbock nach derKuleinijc. Es ist dies ein großer Platz, südwestlich von der Stadt auf dem 300 Fuß hohen Ufer der Ocka, eine Art Weidcangcr ohne Baum und Strauch. Hier versammelt sich jede Woche einmal bei gutem Wetter des Nachmittags das Volk, und treibt sich lustig bis zum Abend umher. Es war ein malerischer Anblick, dabei ganz gemacht zum Studium der Volkstrachten, des Volkc-charakters, der Sitten und Gebräuche. In Reihen standen Zelte und Laubhütten mit Speisen und Getränken. Ueber kleinen in Gruben angemachten Feuern wurden überall die bekannten russischen Pastetchen (Piroggm) gebacket,. Diese und andere Eßwaarcn wurden auch von meist jungen kräftigen Burschen auf Brettern, die sie auf dem Kopse schaukelten, zum Verkauf umhergetragen. — Ueberall standen oder lagen die Leute in festen und unveränderlichen Gruppen und Haufen zusammen, aber stets nach den Geschlechtern verschieden, nicht Männer und Weiber durcheinander. Jede Gruppe bildete gewissermaßen eine für den Augenblick abgeschlossene Gemeinde, ganz nach dem durchgreifenden Grundprincive des russischen Volkscharakters, als eine organische Association, die dann auch stets gleich ihren Anführer, ihr Haupt, ihren Starosten oder Wirth gewählt hatte. Nur speculircnde Frauenzimmer und mehr zuschauende als theilnchmendc Leute aus den Mittlern und höhcrn Classen trieben sich spazierend umher. Der gemeine Russe geht nie spazieren! In vielen gelagerten Männergruppen ward gesungen; in Wcibergruppen hörte ich wrgendö Gesang. Der Anführer begann dann allein, monoton, klagend, ein Chor antwortete oder wiederholte den Schluß. Auf einem Flecke hatte sich ein Kreis von Soldaten zusammengestellt. Der Vorsänger stand in der Mitte mit einem Tamburin; 20 * 308 die Gesänge waren mehrstimmig, ganz regelrecht, oft fllgenartig und künstlich in einander verschränkt, und wurden mit der größten Präcision ausgeführt. Bei den komischen Gesängen entwickelt sich ein vollkommenes Schauspiel. Der Vorsänger redet singend den Kreis an, dieser antwortet, jener replicirt, er schneidet Gesichter, er springt, er gesticulirt mit der größten Lebendigkeit nnd mit entschieden mimischem Talente. Ich habe m>r bei Italienern dasselbe gesehen, doch bilden die Grimaffiers, wenn auch im Einzelnen in ihrer Art oft unübertrefflich, selten ein solches in einander greifendes Ganze, ein Schauspiel, woran alle gleichmäßig Theil nehmen! Beim Nmhcrschlendern und Betrachten der Gruppen und der Begegnenden hatte ich dann auch Gelegenheit, die Volkstrachten zu beobachten. 6s ist merkwürdig, wie wenig Mannigfaltigkeit in dieser Beziehung in Rußland e.ristirt. Die Männertracht ist beim großrussischen Volke mit kleinen Variationen, namentlich bei der Kopfbedeckung, dieselbe; aber auch die Weibertracht, die allerdings mannigfaltiger ist, hat doch dieselben Theile und denselben Charakter durch ganz Großrußland. In Deutschland hat jede Gegend, oft nur ein paar Dörfer, seine eigene Tracht (oder hatte sie vielmehr, denn sie sind dem Andringen der modernen Cultnr gegenüber im Absterben begriffen). Es giebt mehr als ein Dutzend Hauptunterschiedc nach den alten Volksstämmen, den Friesen, den Sandwestphalen, den Gebirgswestphalen, den Niedcrsachscn, den HcsfenthüringcrN/ den Franken, Schwaben, Baiern, dem Alpenstamme :c. Aber in diesen Ländern giebt es dann noch eine Menge Untcrabthei-llmgen, wovon jede zwar den allgemeinen Charakter des Volkö^ stammes trägt, aber doch in Form, Farbe und Zicrrathcn unendliche Mannigfaltigkeit zeigt. (5s giebt auf diese Weise mehrere hundert verschiedene Volkstrachten in Deutschland. ^ 2» Großrußland, welches mehr als 02 weibliche, zusaM- 313 men ftsM Einwohner in 7.^ steinernen und 139!) hölzernen Häusern. Es stiebt 34 Kirchen und 2 Bcthäuser in der Stadt. 6s kommen demnach 205 Einwohner auf eine Kirche, und das 44ste Gebäude ist eine Kirche! Außerdem sind hier 2 Manns-klöstcr mit ^0 und resp. 30 Mönchen, und 2 Nonnenklöster mit 590 und 150 Nonnen. Rechnet man die Weltpriestcr und ihre Familien hinzu, so möchten 14 bis 1500 Köpfe hier sein, die sich dem geistlichen Stande zuzählen, also etwa der siebente Theil aller hier Wohnenden! — Welche katholische Stadt Italiens oder Spaniens, selbst in früherer Zeit, möchte man wohl in dieser Hinsicht mit dieser russischen Stadt vergleichen können! An Grund und Boden sind bei der Stadt 43l>2Dcssj. größtcntheils Wald und Weiden, und 202 Dessj. Heuschläge, die circa 3000 Pud Heu liefern, vorhanden. Es sind in der Stadt 34 Fabriken, unter ihnen allein 19 bedeutende Lederfabriken. Hier werden vortreffliche Iuftcn verarbeitet. Ich besuchte nun zunächst mit meinem Wirthe ein an der Stadt gelegenes Nonnenkloster, das Alexejewsche Kloster genannt, dessen Einrichtungen von denen der übrigen russischen Klöster abweichen, und welches eines großen und vortheilhaftcn Rufs genießt. Wir kamen längs einer hohen Mauer an ein großes Thor, welches uns ins Innere der Klosterhöfe führte. Das Ganze hat fast das Ansehen einer kleinen Stadt, so weitläufig ist es. ^ic Umsangsmaucr hat aber auch über 300 Faden Länge und llN Innern sind 50 steinerne und 25 hölzerne Gebäude, darunter 3 Kirchen, eine Sommerkirchc, eine Winterkirchc, eine Krankenkirche, ein Krankenhaus, Magazine, alle Arten von Ställen, Scheunen, eine Bäckerei, Brauerei, Waschhaus, eine Aühle :c. Wir wurden an der Thür des Klosters von der Oberin desselben empfangen, eine Dame von 72 Jahren, angenehmes Gesicht, schönes Auge, würdige Haltung! Sie ist die Tochter eines Sergeanten der Garde in Petersburg, und bereits 70 Jahre in diesem Kloster; dic erste Oberin desselben, ebenfalls die Tochter eines Sergeanten, hat sic nämlich alü verwaisetcs zweijähriges, ihr verwandtes Kind zu sich ins Kloster genom-'Urn, sic darin erzogen, und so ist sie denn bis jetzt, ohne es 314 je zu verlassen, darin geblieben. — Da sic weder deutsch noch französisch verstand, so gesellte sich bald die zweite Vorsteherin, Frau v.Pakudin, Tante eines Edelmannes, den ich in Nishnij kennen gelernt hatte, zu uns, eine Dame von vornehmer Haltung, die geläufig französisch sprach. Wir kamen durch lange, dunkle und nicht eben zu reinliche Gänge an der Kirche vorüber, wo uns die Schaffncrin alö Willkommen Brod und Quaß präsentirte. Dann besahen wir die Kirchen. Die kalte Kirche oder Sommerkirche ist im gewöhnlichen russischen Styl gebaut, die Wintcrkirche oder warme Kirche aber ist ein Gebäude von A Etagen. In der untersten Etage sind Magazine, auch backen hier die Alten und Schwachen Brod, eine leichte (für sie passende Arbeit), wiewohl für die allgemeinen und großen Bedürfnisse noch eine eigene Bäckerei ist. In der zweiten Etage ist eine ganze Wirthschaftseinrichtung, eine große Küche, für einen Theil der Schwestern (da über 500 Schwestern vorhanden sind, so reicht natürlich eine Küche nicht aus). In der dritten Etage ist endlich eine heizbare Kirche, die, da sie natürlich keine Kirchcnhöhe hat, mehr den Charakter eines großen^Bctsaalcs trägt. — Die Kirchen sind zwar durch Maurer und Zimmerlcute gebauct, allein die ganze innere Einrichtung, die Altäre, das Schnitzwerk, die Vergoldung, die Heiligenbilder :c. sind sämmtlich von den Nonnen gearbeitet und verfertigt. Alles hat den Charakter des größten Fleißes, zierlicher Nettigkeit und Reinlichkeit. Die neuern Vergolderarbci-ten werden von einer Engländerin, einer Miß Warwar, geleitet, die früher Gouvernante war, dann zur griechisch-russischen Kirche übertrat und in dies Kloster ging. Sie und eine Deutsche wurden mir gezeigt, allein letztere antwortete auf meine deutsche Anrede nicht. Es ist gegen die Sitte des Klosters, etwas anderes alö russisch zu sprechen, nur die zweite Oberin machte gegen uns Fremde eine Ausnahme, indem sie mit uns französisch sprach. Es war 1l Uhr, wir traten in das Ncfectorium, wo ein großer Theil der Nonnen sich eben zum Mittagsmahl niedersetzen wollte. Die Lebensart ist streng, die Nonnen genießen nie Fleisch, nur Brod, Gemüse und Mehlspeisen mit Ocl bereitet' Mittwochs und Freitags nur einmal binnen 24 Stunden, dic 315 übrigen Tage zweimal. Freitags und Sonntags sind Fische gestattet. Sie müssen um halb 4 Uhr aufstehen, von 4 bis 0 Uhr sind sie in der Kirche zum Gebet versammelt. Dann geht cs an die Arbeit. Des Abends von 8 bis 10 Uhr sind sie wieder in der Kirche zum Gebet versammelt. Die Nonnen sind ungcmein fleißig. Da Mädchen, Witwen, Frauen (von jeweilig im Kriege oder sonst verschollenen Männern, die wieder austrcten, sobald die Männer sich etwa wieder einfinden) aus allen Ständen; von jeder Bildung, mit den verschiedenartigsten Fähigkeiten und Kenntnissen eintreten, so bildet mit Berücksichtigung hierauf die Oberin kleine Gesellschaften (Artells) von 5 — 10 Nonnen, welche unter einer, von der Oberin gesetzten Vorsteherin (Starschoja Aeltcsten ^) gestellt werden und auf einer Zelle zusammen wohnen. Die Starschoja sieht auf Zucht, Wandel, Fleiß, Qrdnung und Reinlichkeit, sie vertheilt die Arbeiten und Beschäftigungen unter sie, verhindert und verbietet unnützes Reden lind jeden Streit. Dhne ihre Erlaubniß darf keine Nonne die Zelle verlassen. Jedem Artell sind nun bestimmte Beschäftigungen zugewiesen. Die Beschäftigungen und Arbeiten zerfallen in drei Haupt-katcgoricn: Kunstarbeiten, Fabrik- und Handwerksarbeiten, Wirthschaftsarbeiten. Ein Theil der Artells beschäftigt sich mit bem Malen der Heiligenbilder, den Schnitzarbeiten, den Vergoldungen, den Gold- und Silberstickercien von Gewändern, größtentheilö zum kirchlichen Gebrauche, theils für das eigene Bedürfniß, theils und vielmehr für den Verkauf. Diese Gold-und Silberstickereien sind durch ganz Rußland berühmt, aber e6 gehen selbst Bestellungen von Konstantinopel und Jerusalem, ja sogar von Kiachta ein, da die Chinesen diese gestickten Stoffe sehr lieben. Das Kloster hat davon einen jährlichen Verdienst "on 10,000 Nudel Silber. Die zweite Art der Artellö webt schwarzes Tuch, Leinwand, großtcntheils zum eignen Bedarf, ans welchen dann andere Artells die Gewänder, Hemden u. nähen. Einige spinnen, andere stricken, wieder andere bereiten ') Sl'll'si hicr blickt wicdcr dcr ,'uffischc NolwllalllMattrr dm'ch, illuvall dic Bildung und Olgcmisalion dcr Gcnnmdci,, dcr Äkttlls, mU« dc» Al lm n. sclbst hicr im Nüimmllo^l. 316 und gerben Leder, beschäftigen sich mit Schustcrarbciten:c. Alle diese Fabrik- und Handwerksarbcitcn liefern ebenfalls Producte zum Absatz und Verkauf. Die dritte Art der Artellö beschäftigt sich mit den wirthschaftlichen Arbeiten, mit Gartcncultur, Pflege des Viehes, Küchen- und Kellerarbeiten, Mahlen dcS Getreides, Backen und Braum.— Beiden Arbeiten, die ein stilles Zusammensitzcn erfordern, liest in jedem Artell eine Novize beständig ans Homilien, Legenden und sonstigen erbaulichen Büchern vor. Ein Unterschied des Standes und der Herkunst wird nicht gemacht. Bei der Aufnahme muß sich die Novize gegen die Oberin genau ausweisen, sie muß die Papiere und Beweise ihrer Herkunft, die etwa nöthigen Erlaubnißscheine der Ihrigen, der Gemeinden, der Herren :c. vorlegen. Allein deren Inhalt erfahren nur die Oberinnen, den übrigen wird er verheimlicht; die Novize erhält einen Klosternamen, und hat keine Vergangenheit mehr. Jede Novize hat ihre Probezeit, wenigstens einen Monat, aber auch länger, ein halbes Jahr, ein Jahr nach Umständen. Es soll noch kein Fall vorgekommen sein, daß nach einem Jahre Aufenthalt im Kloster eine unvcrhcirathete Nonne wieder in die Welt getreten ist. (Bei Verheirathetcn verschollener Männer, die sich später wieder eingefunden und ihre Frauen reclamirt haben, ist dies natürlich mehrmals der Fall gewesen.) Und doch hält keine ein bindendes Gelübde von dem Rücktritte in die Welt zurück! Während der Prüfungszeit kann die Novize sich nach Allein umsehen und erkundigen, sich selbst prüfen und geprüft werden. Nach Beendigung des Noviciats erhält die Novize einen Schein von der Oberin, meldet sich beim Bischof, wird von diesen« zugelassen und erhält hierauf das Habit. Nur Wolle und Leinen, keine Seide, ist zu tragen erlaubt. Wer gegen die Statuten handelt oder nicht gehorcht, wird erst ermahnt, und hilft dies nicht, ohne weiteres entlassen. Daß Gewand ist ein langes schwarzes Kleid, unter der Brust gegürtet. Die Mädchen haben eine hohe spitze Kapuze auf dem Kopfe, die Witwen und Frauen eine schwarze enge Haube wie eil: gewundenes Tuch. 317 Man erzählte mir von einer Nonne, die sich in einer Art von somnambülem Znstande befindet. Jedesmal wenn ein Fremder das Kloster betritt, wird sie unrnhig. Fängt sie dann an zn singen, so ist das ein sicheres Zeichen, daß der Fremde binnen kurzem sterben wird, singt sie nicht, sondern beruhigt sich nach einiger Zeit, so schwebt der Fremde nicht in naher Todesgefahr. Die Oberin führte uns jetzt in ihre eignen Zimmer, die ganz nonnenartig ansgeziert waren: ein Bctpult, eine Menge Heiligenbilder, die Bilder der verstorbenen Oberinnen des Klosters befanden sich zwar darin; jedoch (so tief ist die europäische Mode in Rußland, selbst in Nonnenklöster eingedrungen) das Zimmer war tapezirt und mit ganz modernen Meubeln, Sopha, Polsterstühlen., ansstassirt! Das findet man in katholischen Klöstern säst nie! Beim Abschiede beschenkten mich die guten Frauen mit ein Paar allerliebsten Bilderchen, wo die Köpfe, Hände nnd Füße von den Nonnen selbst gemalt, die Kleider, Bäume, Häuser, Blumen von Goldpapier, Flittern :c. sehr zierlich ausgeschnitten :c. waren. Auch gaben sie mir einige schriftliche historische Nachrichten über das Kloster, ans denen ich hier einige Notizen folgen lasse. Dort, wo diese Congregation gegenwärtig eingerichtet ist, war scholl früher ein Nonnenkloster, welches unter Czar Michael Feodorowitscl) gestiftet sein soll; 17 eingeführt. Sie legte, Alter und Kränklichkeit halber, ihr Amt nach 18 Jahren 1787, nieder. Die zweite war Maria Petrowna Protassow, aus dem Adel des Gouv. Kostroma. Sie ward von den Schwestern gewählt und von Feodor eingeführt, und hat dem Vereine 28 Jahre bis zu ihrem 181.1 erfolgte,: Tode vorgestanden. Die dritte war Matrina Iemajanowa, Witwe eines Diakonen, 1813 gewählt, vom Bischof Moiscs bestätigt, starb aber bereits nach 1t) Wochen an einem hitzigen Fieber. Die vierte war Olga Wasiljewna, Tochter eines reichen Kaufmanns Strigclow in Kostroma. 18U5 gewählt, vom Bischof bestätigt, begab sie sich wegen Kränklichkeit 1828 auf eine Wallfahrt nach Kiew, und starb daselbst. Die fünfte ist die jetzt lebende Morfa Pawlowna Pirosch-nikowa, Tochter eines Sergeanten der Garde und wie oben angeführt ist, seit ihrem zweiten Jahre in diesem Kloster. Sic ward 1828 gewählt, und vom Bischof den 12ten September 1828 bestätigt. Ich erhielt auch eine Abschrift der Regeln oder des Statuts 319 welches der Einsiedler Feodor dem Kloster gegeben hat. Sie sind höchst einfach und füllen keinen Bogen ans. Folgendes ist ihr Inhalt: 1) Auferlegung des unbedingten Gehorsams gegen die Oberin. 2) Alles ist gemeinsam, jeder Scparatbcsitz ist verboten. 3) Untersagt sind alle Lustbarkeiten und Freuden der Gesellschaft, aller Luxus, jeder Zierrath in den Zellen außer an den darin befindlichen Heiligenbildern, das Tragen von Seide und andern Stoffen außer Wolle und Leinen. 4) Keine Nonne darf für sich selbst etwas verfertigen oder arbeiten. Alle Arbeiten und Mühen der Einzelnen gehören der Genosselischaft. 5) Als bestimmte Andachtöübungen sind nur vorgeschrieben, des Morgens von 4 bis 6 Uhr Gebete an den Heiland, die Muttcrgottes, die Schutzheiligen, dann die Tagesgebetc, die herkömmlichen Bckreuzungcn und Verbeugungen und das Lesen des Katechismus. Am Abend der Abendsegen von 8 bis 9 Uhr, an Sonn- und Feiertagen früher, und außerdem der Kirchengesang und Kirchcndicnst in der Kirche, Messe :c. Nur Kranke und solche, denen nicht zu unterbrechende Arbeiten, wie Brod-backen :c. obliegen, sind jeweilig davon befreit. 6) In zwei Zellen werden Tag und Nacht immerwährende Gebete :c. gehalten, in der einen für die Lebenden, für den Kaiser, die kaiserliche Familie, den Synod, den Bischof und die Wohlthäter der Genossenschaft; in der andern wird der Psalter für das Seelenheil der Verstorbenen, der verstorbenen Kaiser und ihrer Familien und der hohen Geistlichen, unter de-ncn die Genossenschaft gestanden hat, der verstorbenen Oberinnen, Wohlthäter :c. gebetet. 7) Alle Zeiten werden von der Oberin streng geregelt. Für allgemeine Beschäftigungen, zu Mittag und Abendessen giebt eine Glocke das Zeichen. Für Alte und Kranke ist im Krankenhause ein besonderer Eßsaal. 8) Die Schwestern sollen in gemeinsamen Zellen wohnen, und erhalten von der Oberin ihre Beschäftigungen, Handarbei-^n u. angewiesen. 9) Ohne Erlaubniß der Oberin darf keine Schwester das Kloster auch nur einen Augenblick verlassen. Sind auswärts 5L0 Geschäfte zu verrichten, so ernennt die Oberin dazu nach ihrer Auswahl. 10) Außer den Zellen der Oberin, dem Gastzimmer und den Stuben dcr Arbeiter darf kein Mann die andern Räume des Klosters, namentlich nicht die Zellen der Schwestern, betreten, selbst die nächsten Verwandten nicht. Diese könne nur mii Erlaubniß der Oberin im Gastzimmer die Schwestern in Gegenwart alter und besonders frommer Nonnen sehcn. Ich habe hier eine ausführliche und specielle Beschreibung dieser Congregation gegeben, ungeachtet sie scheinbar kein großes Interesse bietet. Das Wichtige aber liegt darin, daß sie offenbar von einer Regung im Innern dcr russischen Kirche zeugt! Das Mönchswcscn entspricht einem tiefen Bedürfnisse deß Christenthums, ja im Grunde dcr Menschheit selbst, es hat sich daher ja auch bei dem Muhamedanismus, bei dem Lamaismus, bei den Hindus :c. von selbst entwickelt!— Der körperliche und geistige Organißmus einer großen Zahl von Menschen führt diese von selbst auf die Contemplation, auf das Versenken in sich selbst, auf das Sichabwenderr vom Irdischen, auf die Sehnsucht nach Oben, das Suchen des Göttlichen. Diesem tiefen, menschlichen Bedürfnisse hat die christliche Kirche schon in den ältesten Zeiten durch Entwickelung von Institutionen in ihrem Innern abgeholfen, und die nöthige Organisation gewährt. Aus dem Anachoretenlebcn entwickelte sich das strenger orgamsirte, contemplative Mönchswescn. — Vorzugsweise im Süden, im Orient, ist dcr Mensch zum beschaulichen Leben, zur Contemplation geneigt, und diese.Richtung des Mönchwefens hat daher auch vorzugsweise im Oriente am stärksten Wurzel gefaßt. Im Abendlande, bei den mehr thätigen als beschaulichen europäischen Völkern, entwickelte sich bald die zweite Richtung des Mönchswesens, wo derselbe Grundgedanke, die Aufopferung gegen Gott, dasselbe Abwenden vom Irdischen blieb, aber nicht uM sich in den Tiefen dcr Contemplation zu versenken, um ein rein von der Welt abgezogenes, beschauliches ^eben zu führen, sondern um der Thätigkeit christlicher Liebe, dcr Aufopferung für die Menschen, zu leben. Es entstanden die Orden für die 32! Pflege der Kranken und Hülflosen, die Missionsordcn, die Lehrorden. Rußland hatte sich dem orientalischen Zweige der katholischen Kirche angeschlossen, die bloß jene contemplative Richtung des Mönchswescns entwickelt hatte, man kannte daher auch nur diese. Allein die Russen sind Europäer, Nordländer, uud daher weniger zur Contemplation geneigt, als die Orientalen! Dazu kam seit dem Kiten Jahrhundert die Hinneigung zum übrigen Europa, welche sich unter Peter I. vollständig consolidirte und der europäischen Cultur den Eingang verschaffte. Dies blieb nicht ohne Rückwirkung auf die russische Kirche, ungeachtet sie sich möglichst diesem Einflüsse zu entziehen strebte, welches aber am Ende auf die Dauer unmöglich wird, wie denn namentlich das Eindringen europäischer, besonders deutscher Theologie schon jetzt unverkennbar ist. Jene Gluth der Empfindung, jenes tiefe Versenken in sich selbst, jenes vollständige Sichabwenden von allem Irdischen, der egyptischen Anachoreten in jener glühenden Sandwüste der Te-bais, liegt nicht in der russischen Nationalität. Das contemplative Mönchswcsen hat daher in Nußland, mit wenigen Ausnahmen, keine hohe Blüthe erreicht. Dennoch sind die Mannsklöstcr nicht ohne großen Werth für Rußland gewesen, und sind es noch. In der ältesten Zeit waren sie die Mittelpunkte des sich verbreitenden Christenthums und seiner Cultur, sie waren die Bc-^ahrcrinnen und Pflegerinnen der Reste und der neuen Keime der Wissenschaft, sie vorzugsweise erhielten daß Volk aufrecht ün Christenthume unter der Mongolcnherrschaft. Aus ihnen Hingen stets die Bischöfe hervor. Im Gegensatze zur Weltgeist-lichkcit muß anerkannt werden, daß ihr Leben im Ganzen sitt-l'chrr, ihr Geist gebildeter war, als bei jener. Aber Contemplation und beschauliches Leben, die Grundlagen dieser Richtung des Mönchswesens, herrschte nur sehr ausnahmsweise bei einzelnen Individuen unter ihnen. Selbst das, was in Rußend an den ausgezeichnetesten Klöstern, z. B. dem oben beschriebenen Troitze, so sehr gerühmt und hervorgehoben wird, ihr hoher Patriotismus, zeugt davon, daß die Mönche dort von jeher mehr der streitenden Kirche, als dem beschaulichen Leben "ngchörten. 21 :522 Von dm weiblichen Klöstern ist noch weniger zu sagen. Es mag bei einzelnen Mitgliedern derselben Unschuld, sittliche Tugend und Frömmigkeit geherrscht haben. Im Ganzen weiß die weltliche, wie die Kirchengeschichtc Rußlands wenig Ausgezeichnetes von ihnen zu melden. Ich habe nirgends behaupten hören, daß in Nußland Mönche und Nonnen in Wohlleben und Ueppigkeit versunken seien. Ob dies iu früheren Zeiten der Fall gewesen ist, weiß ich nicht. Seit Katharina II. !7li4 die Klostcrgüter sür den Staat einzog, sind alle Klosterleute auf eine so kärgliche Substistenz gestellt, daß jedes Wohlleben dadurch ausgeschlossen ist; ja sie würden gar nicht cxistiren können, wenn ihnen nicht einige sonstige Hülfsmittel und Nahrungsqucllen zuflössen, den Mönchen durch Opfer und freiwillige Geschenke frommer Leute und der in den Mönchsstand Eintretenden, den Nonnen durch Erlös aus einigen Handarbeiten und durch Bettelei. Man findet leider, und zum öffentlichen Aergerniß, auf allen Straßen bettelnde Nonnen! Diese Güterconsiscation hat wenig Aufsehen in Nußland verursacht, kein Murren, keine Mißbilligung von Seiten des Volks ist bemerkt worden; ein sicheres Zeichen, daß das Mönchs-wcsen auf dem Standpunkte, wo es sich damals befand, wenig angeschen und geliebt war! In Rußland, wo seit Peter I. die höchste kirchliche Gewalt mit der höchsten Staatsgewalt vereint ist, gehen auch bis jetzt alle kirchlichen Veränderungen und Reformen von dieser aus. Schon Peter l. dachte auf eine Reform des Mönchswesens. 6r wollte die Mannsklöster in Hospitäler, die Mönche in barmherzige Brüder umwandeln; er schickte ihnen invalide, verwundete, verstümmelte Soldaten zur Verpflegung zu. Die Sache ward unter den späteren Regirrungen nicht fortgesetzt und ist allmählich wieder eingeschlafen. Noch jetzt finden sich bei einigen Klöstern, wie wir oben bei Troitze gesehen haben, Hospitaler. Doch sieht man es dem Ganzen an, daß die Mönche in der Krankenpflege nicht ihren eigentlichen Beruf suchen und finden. Hiezu würde eine Reform der Mönchs regeln gehören, woran bis jetzt noch nicht gedacht ist. Dasselbe kann man von den Schulen sagen, die sich, wie 323 wir obcn bei Troitze ebenfalls gesehen haben, bei einigen Klöstern finden. Eine Reform der Regeln oder neue Ordensregeln müßten erst einen Lchrordcn bilden, ehe man hoffen könnte, daß die Mönche in dem Lehren der Kinder einen Beruf suchten, nicht, wie jetzt, höchstens eine Beschäftigung müssiger Stunden. Wir haben oben bei der Beschreibung des Klosters Troitze angeführt, daß allerdings eine neue Variante des Mönchswesens sich gebildet hat, nämlich die einer Anzahl junger Geistlichen, welche sich gelehrten Studien widmen, zugleich den Geschäftsbetrieb und Geschäftsgang der Episkopate studircn und praktisch üben, und sich so zuerst für die höheren Stellen deß Kirchenregiments vorbereiten, dann aber mit Ehrgeiz und auf allen Wegen diese zu erreichen streben. Um dies aber nach den Gesetzen zu können, legen sie das Mönchsgewand an, lassen sich cinem Kloster zuschreiben, leben aber keineswegs in demselben, sondern umgeben die Bischöfe wie Adjutanten und treiben sich in deren Canzlcien umher. — Daraus mögen sich geschickte Geschäftsmänner bilden, aber ächte Mönche sind und werden es nichts Zu einer Reform der Nonnenklöster hat man bis jetzt ebenfalls noch keine Maßregeln ergrissen. In der neuesten Zeit hat Man sie in einigen Diöcesen einer strengeren Aussicht unterworfen, was sehr nothwendig gewesen sein soll, da der Sittmverfall und die Zügellosigkeit, wie man sagt, sehr eingerissen waren. I" einem Kloster in Kasan fand ich eine Art Erziehungsinstitut für Popentöchtcr. Eine vortreffliche Idee, die Ausführung aber war schwach! — Das Gouvernement, oder vielmehr die verstorbene Kaiserin, hat die Idee gehabt, eine Art barmherziger Schwestern zu bil-^i. Es werden Wittwen in der Anstalt ausgenommen, die "uch eine kirchliche Weihe erhalten (in Moskau war ich bei ktner solchen gegenwärtig) und nach gewissen Regeln leben 'Nüssen. Man rühmte ihre Krankenpflege, aber als eine neue Urchliche Institution, eine neue Entwickelung des Mönchthums Möchte ich die Sache nicht anerkennen. Es ist alles viel zu Weltlich, eine bloße Nützlichkeitsanstalt, ein Bersorgungsinstitut '"r Wittwen verarmter Beamten! - 2l * 324 Alle dicsc Bestrebungen zu Reformen des Mönchswcstns, oder auch wohl nur, um den vorhandenen Klöstern ein frischeres Leben und mehr Thätigkeit einzuhauchen, sind von Oben, vom weltlichen Gouvernement ausgegangen, wenn auch mit Einwilligung der Bischöfe und zum Theil durch sie ausgeführt. Die Congregation in Arsamaß, die ich oben beschrieben habe, ist aber ein Lebenszeichen im Innern der ruffischen Kirche selbst, und wenn auch als Institution nicht von großer Bedeutung, doch als Lebenszeichen bcachtungswerth und interessant. — Diese Congregation hat sich ganz von selbst, ohne Aufforderung und Anleitung von Oben, ohne Hülfe des Gouvernements, aus dem Sinne und Bedürfnisse frommer Seelen gebildet. Ein altes aufgehobenes Kloster hat die Veranlassung und das Obdach gewährt, allein die Schwestern sind nicht eigentlich Nonnen, wenigstens nicht nach den bisherigen in Rußland anerkannten Regeln. Der wesentliche Unterschied aber besteht in Folgendem: Die eigentlichen Nonnen haben noch etwas von dem ursprünglichen Anachoretcncharakter. Es ist wenig innerer Zusammenhang unter den Nonnen eines Klosters, jede lebt mehr für sich, oder mit einer andern zusammen; oft ernährt sie sich selbst, sie hat ihr eigenes Vermögen; der Gehorsam gegen die Oberin ist gering, eine strenge Clausur nicht vorhanden; Arbeit und Thätigkeit sind nicht Beruf, sondern werden nur des Erwerbes wegen geübt. Bei der Congregation in Arsamaß ist der Gehorsam gegen die Oberin die (!anäitiu »in« yua nun; er ist unbedingt und wird auf daß strengste geübt. Es herrscht vollkommene Gemeinsamkeit, sowohl des Zusammenlebens als des Zusanunen-arbeitens. Jeder Privatbesitz ist streng untersagt. Es herrM strenge Clausur. Arbeit und Thätigkeit ist Zweck und Beruf. ^ Eigentliche Gelübde cxistircn nicht, wenigstens nur für die Zeit des Aufenthalts im Kloster, der aber jeden Augenblick aufgegeben werden kann, indem es jeder Schwester gestattet ist, wieder auszutrcten, wiewohl es fast ohne Beispiel, daß dies, wenn es nicht Frauen waren, deren verschollene Männer sie später reclamirtcn, geschehen ist. Die Congregation in Arsamaß besteht seit 70 Jahren, eigentlich ohne festen Stiftungsfonds, ohne öffentliche Anerkenn"»^ 325 ohne bestimmten und sichern Schutz, eine Congregation von mehr als 500 Frauen! Sie hat um alles dieses verschiedentlich und oft das Gvlirerimnent, ^er bisher vergeblich, angegangen. Jedermann, der Kaiser, der Synod, der Bischof, der Gouverneur sind ihnen gewogen, sprechen sich lobend über sie aus, aber das Institut ist nicht eingeschachtelt in die einmal anerkannten regelrechten Formen, die bisherigen allgemeinen Gesetze gelten nicht für dasselbe, man müßte ein eignes Gesetz dafür schassen; da giebt es Bcdenklichkeiten und Schwierigkeiten ! Man hat sie aufgefordert, sich als regelmäßige Nonnen zu erklären, das wollen und können sie nicht, sie würden sich dadurch selbst vernichten, ihr eigenthümliches Leben verlieren! Das Gouvernement sollte eigentlich froh sein, daß solche Lcbens-clemcntc in der Kirche vorhanden sind und sich zu entwickeln stredcn, allein das Ncich ist zu groß, zu ausgedehnt, man verliert das Einzelne ans den Augen, erkennt die große Bedeutung lebenskräftiger Keime im Kleinen zu wenig an! Anßer dieser Congregation in Arsamaß soll es noch 3 kleinere Congrcgationcn der Art in diesem Gouvernement geben, eine Nachbildung der gegenwärtigen und ein Zeichen, daß die Sache einen mächtigen Anklang im Volke findet und einem Bedürfnisse entspricht. Außerdem findet man sie noch nirgends im Reiche. Nachdem wir das Kloster verlassen hatten, besahen wir einige Kirchen. Die Kathedrale ist 1«l2 angefangeil und 1841 beendet. Sie ist 75 Arschin lang und breit, nnd nach dem Muster der Isaakskirche in Petersburg von der Kalifmannschaft gebaut. Korinski war der Baumeister, und sie hat 800,000 Nlibel Silber gekostet; ein Zeichen vom Ncichthume der hiesigen ^"uflcntc! Die Gemälde sind von hiesigen Malern, die der Ikonostase im russischen Kirchenstyl, die übrigen Copien westeuropäischer Bilder. Die Fresken waren nach Rubens und lkcht brav ausgeführt. Ich besuchte den Maler derselben; er ^cß Dsep Eimonow Scrcbrakow und war ein Leibeigener des Obersten Besabrasow in Moskau. Zwei seiner Söhne waren ebenfalls Maler, und einer von ihnen hatte seine Studien auf ber Malerakademie in Petersburg gemacht. Er mochte auch wohl die Zeichnungen westeuropäischer Gemälde mitgebracht 326 haben, wonach die Bilder in dm Kirchen gemalt waren, denn der Alte war ein schlichter Bauer und malte, wenn er selbst com-ponirte, nur Heiligenbilder im russischen Style; aber die Zeichnung hiebei war correct, die Farben waren glänzend, der Ausdruck interessant, da er eine Mischung der kirchlich sanctionirtcn Typen und russischer Nationalphysiognomien zeigte. Ich kauste ein solches Bild, 1'/,Fuß hoch und 1, Fuß breit, 6 harmonisch in einer Gruppe vereinigte Figuren von russischen Heiligen darstellend, recht hübsch mit miniaturartigem Pinsel gemalt, für den geringen Preis von 25 Nubcl B. Der Alte zahlte mit seincn beiden Söhnen seinem Herrn einen jährlichen Dbrok von 350 Rubel Banco. Der älteste Sohn hatte dagegen das Portrait eines wunderschönen Bauermädchens, welches ich an demselben Tage auch noch kennen lernte, in der hiesigen Baucrntracht gemalt und das erste Exemplar in Petersburg an einen Engländer für 109 Guinccn verkauft; die zweite Auffassung sahen wir hier. Ich besuchte dann noch vor Mittag die Lederfabrik des Fa-bricantm Papow Schitinin. Das Pud Lcder, aus 6 Fellen bereitet, kostet hier an Ort und Stelle 48 Rubel Banco. Die besten Felle kommen aus den Gouvernements Kasan und Simbirsk. Die aus Podolien und Wolhinien bezogenen Felle sind zu dick und eignen sich nur zu Sohllcdcr. Das hier bereitete Leder wird besonders in Oesterreich und Italien gesucht. Zunächst bringt eö der Landtransport bis zur Wolga, und diese nach Petersburg und Pskow. — Ein tüchtiger Arbeiter verdient in dieser Fabrik 160-170 Rubel Silber jährlich. Nachmittags fuhren wir nach dem dicht vor dem Thore von Arsamaß liegenden Dorfe Wiscnä, dein Fürsten Soltikow gehb" rig, und wegen seiner ausgedehnten Stiefel- und Schuhfabri-cation und seines Handels hiemit durch ganz Rußland bekannt. Der Administrator des Guts, der dasselbe seit 12 Jahren verwaltete, ein Herr Alexei Sergiewitsch Tarchow, empfing unö aufs beste, und war bemüht, uns Alles zu zeigen und über Alles Aufklärung zu gewähren. Zuerst wurden wir, was iw Innern Rußlands stets unausweichlich ist, in die Kirche geführt. Sie ist von einem Vorfahren des jetzigen Fürsten im italiänischen Geschmacke gebaut. Es waren mehrere gute Gemälde 327 vorhanden, dic ein Fürst Soltikow, der lange Gesandter an mehreren Höfen war, gesammelt und der Kirche vermacht hatte. Unter andern sahen wir eine vortrefflich abmalte büßende Mag-dalenc von einem französischen Maler, den man uns aber nicht nennen konnte, deren Kopf das Portrait der berühmten i?a Balliere war! — Es gehört als eine Kuriosität znr Kunstgeschichte: das Portrait dcr La Balliere in einer russischen Dorf-kirchc! — Die Andacht des russischen Volks wandte sich jedoch nicht an diese modernen Gemälde ans Westeuropa, sondern vorzugsweise an eine allrussische Madonna, eine Copie der Kasan-schcn Mutter Gottes, die daher auch mit Perlen und Edelsteinen ganz eingefaßt, ja übersäet war. Das Dorf ist wohlgebaut, und enthält mehrere moderne steinerne Häuser, die, wenn Säulen und Altane den Beweis gewährten, Paläste genannt werden müßten. Bei dcr letzten Revision wurden 1820 Seelen gezählt und der Dorfgemeinde zugeschrieben. Es mögen gegen 700 Häuser im Dorfe sein. Der Bestand des Ackertandes ist vcrhältnißmäßig gering, er beträgt nur etwa 500 Dcssjatmcn, dagegen sind fast 5000 Dcssja-tinen Heuschläge und Weiden vorhanden, die aber, so wie der zum Dvrfc gehörige Wald, weit entfernt, nämlich auf dcr andern Seite der Stadt liegen. Es ist schon oben angeführt worden, daß die Mehrzahl der Einwohner eine Association von Stiefel- und Schuhfabricantcn bilden. Außerdem giebt es 6 Lcimfabriken, 2 Wachslichtsabri-kcn, 8 große Fabriken, wo Teppiche und Filzstiefeln aus Kuh-und Pserdchaarcn verfertigt werden, cine Fabrication, die aber "uch in vielen Häusern als Nebengewcrbc betrieben wird. Das Hauptgewerbe ist die Stiefel- und Schuhfabrication. Von dic-ser Waare wird jährlich auf der Messe in Nishnij-Nowgorod für mehr als 50,000 Rubel Banco abgesetzt, auf kleineren benachbarten Märkten und in der Umgegend außerdem noch für W—20,000 Rubel B. Gegen 500 Gcmcindeglicder sind mit Pässen stets abwesend; sie ziehen Arbeit und Verdienst suchend umher bis Saratow, Astrachan, Uralsk, selbst bis tief in Sibirien hinein. Manche bleiben 10 15 Iahrc fort, manche cta-bliren sich auch förmlich in fremden Städtcn (und man sindct Viele aus dieser Gemeinde in Saratow und Astrachan!), die 328 nie wieder in ihre Heimath zurückkehren. Aber sie hören deshalb nicht auf, zu dieser Gemeinde gezählt zu werden; sie zahlen hier ihre Abgaben und behalten hier ihr Haus, ihren Garten, ihr Gemeinderccht, welches alles sie verpachten, oder sonst Jemanden hier überlassen. 200 Einwohner gehen jährlich zur Messe nach Nishmj-Nowgorod und bleiben dort 2 Monate, theils arbeitend, theils die Waaren des Dorfs verkaufend. Es herrscht unter den Einwohnern großer Unterschied in Bezug auf Reichthum und Armuth. Früher fand man hier noch größeren Reichthum, als jetzt; es gab hier 2 Bauern, deren jeder mehr als 500,000 Rubel B. besaß. Aber auch gegenwärtig sind hier noch 15 Häuser, deren Handel zwischen 20,000 und 50,000 Rubel umfaßt. Der Fürst hat die Einwohner auf eine bestimmte Abgabe gesetzt, und überläßt es der Gemeinde, diese auf die Einzelnen zu vertheilen. Der Administrator sagte, der Fürst erhalte 18— 20,000 Rubel Silber, ich habe aber Ursache zu glauben, daß er uns hierbei eben nicht zu gewissenhaft die Wahrheit sagte. — Ueber die Weise der Vertheilung der Abgaben erfuhr ich Folgendes. Die Gemeinde hatte für je 100 Seelen 1 weißes Haupt, im Ganzen also 18 weiße Häupter gewählt, welche sämmtliche Gcmeindeglieder nach ihrem Vermögen tarirt und ihnen hiernach ihre Abgabe auferlegt hatten, und zwar auf russische Weise nach Seelen; so mußte z. B. ein Reicher für 30 Seelen zahlen, die beiden Wachslichtefabricanten zahlten jeder für 20 Seelen, dagegen waren manche Arme, die nur für eine halbe Seele zahlten^)! Der Ackerbau ist hier gering und steht auf niederer Stufe. ^) Es ist cm bedenklicher, euiiuscr Ausdruck, daß mall itt Nußland in allen staatlichen und pnuatrcchtlichm Verhältnissen nach Seelen rechnet l»>d zählt! Im übrigen Europa rechnet man nach Köpfen, nach Mäuner» und Weibern, nach Menschen, turz stets ist daS leibliche vorherrschend, aber in Nußland, wn der mechanische Staat in rechter Blüthe ist, ""' Lcibcigenthum herrscht, wird sielö ganz geistiger Weise nach Seelen gerechnet, dabei aber auf gut nnchamedamsch angenommen, daß nur die Männer, nicht die Weiber Seele» haben oder sind! — Hierbei taun cinc adelige Dame, die selbst keine Seele ist, doch viele Seelen besitzen,! — 329 Die Reichen bestellen nur so viel Land, als sie für ihren Haushalt bedürfen; die Armen beschäftigen sich mit ziemlich gut lohnendem Gartenbau. Die eigentlichen Ackerbauern bestellen so viel Land, als sie können, niemand hindert sie daran, aber nur sehr leicht; sie ritzen kaum einmal mit einein leichten Pfluge die Erde, die übrigens sehr fruchtbar ist. Jede andere Arbeit und Fabrication lohnt ja besser als der Ackerbau! Man muß den Taglöhner bei Ackerarbeiten mit V2 Rubel Silber bezahlen und das Tschetwert (4 Scheffel) Rocken kostete damals nicht viel über 1 Rubel Silber! Kann man sich da wohl wundern, daß in Nußland der Ackerbau, statt fortzuschreiten, zurückgeht? Ueber die hiesige Stiefel- und Schuhfabrication erhielt ich noch folgende kleine Notizen. Es giebt hier Familien, wo 3 Brüder 40 Paar große Stiefeln in einer Woche verfertigen (wobei jedoch Weiber und Kinder helfen mögen!). Ein Paar große Wasserstiefeln werden mit 8 Rubel B. bezahlt, ein Paar Winterschuhe mit 2 Rubel 40 Kop. B, Die gewöhnlichen sind meist von Pferdeleder und nicht viel werth; bestellt man besonders sorgfältig gearbeitete, so sind sie theurer. — Die hier gearbeiteten Filzstiefeln kosten das Paar 40 Kop. B. Der Administrator Tarchow führte uns in das Haus eines Bauern (eines der oben genannten Wachslichtefabricanten), dem es äußerlich nicht an einem Altane auf Säulen, und im Innern nicht an gepolsterten schwarzen Canapcs und Stühlen, Tischen, Tapeten und Fenstergardinen, und vor Allem nicht an einer Spieluhr fehlte. Aber alle dieser moderne Flitter war nur des äußern Scheins halber vorhanden; der Besitzer war ein ächter Bartrnffe im blauen Kaftan, die Frau eine Ma-tuschka in der Bauerntracht mit pelzverbrämtem Seelenwärmer-chm, die Kinder alle in der Landestracht. Dabei wohnten sie gar nicht in dem modernen Theile des Hauses, sondern im angehängten Flügel, auf russische Weise von Balken zusammengefügt, in einer Isba (Schwarzstube), die sich wenig von einer gewöhnlichen Bauernstube unterschied. Wir wurden gastfrei mit Thee, Kuchen, allerlei Fleisch und Champagner bewirthet, und als ich den Wunsch äußerte, Bolksgesänge zu hören und die Sonntagstracht der Leute zu sehen, bildete sich binnen einer Viertelstunde in der Nebcnsiube ein Männerchor, der überraschend 330 schön sang. Es waren mir Volkslieder, aber mit sehr kühnen Sätzen und Modulationen und sehr künstlichen Verschlingungen. Unter andern führten sie einen fugenartigcn fünfstimmigen Män-ncrgesang durch, dcr von großer Schönheit war; auch die Worte, so viel mir davon verdeutscht wurde, schienen einen poetischen Stoff, eine wild und traurig endende Ballade, zu enthalten. Dann erschien ein junges Mädchen in der Sonntagstracht, dasselbe, von der wir bei dem Maler inArsamaß bereits das Portrait gesehen hatten. Es war ein Ausdruck von Jugend, frischer Lieblichkeit, Unschuld und Frömmigkeit, dcr wahrhaft entzückend war; es war eine Eva im Paradiese vor dem Sündenfalle! Und nicht nur der Ausdruck ihres Gesichts, auch ihre Reden und Antworten zeugten von diesem milden, unschuldigen Sinne. Nachdem ich sie über alle Theile ihres Anzugs gefragt und mir alles hatte erklären lassen, auch manches daran gelobt und bewundert hatte, sagte ich ihr, sie sei eine drr schönsten Kreaturen Gottes, die ich je gesehen hätte; sie antwortete: „Ich bin ja nur von armen, noch nicht freigelassenen Bauerleutcn!" Welch klagende Antwort auf die schmeichelnde Rede! Was ist die Schönheit ohne Freiheit, der Willkür gegenüber? Mein Begleiter, der Adjutant, schenkte ihr einen kleinen Ring. Sie erröthcte tief und sagte: „Ich bin ein armes Mädchen, das Dir nichts dasür wiedergeben kann, aber ich will für Dich beten, daß Dich die Mutter Gottes segnen möge." Dcr russische Vaucl mit der Mcßstanssc (Snjcn) und der Arschin mit, tm- russisch»' Vauerm dci Arsamas«. 331 Nachdem ich zur Stadt zurückgekommen war, machte ich noch einen kleinen Spaziergang mit meinem freundlichen Wirthe, wobei es sich im Laufe des Gesprächs ergab, daß wir Kricgs-cameraden aus den Jahren 1813 und 1814 waren und uns sogar damals gesehen haben mußten, da wir gleichzeitig im Hauptquartier des Generals Tschcrnitschew gewesen waren. Seitdem waren 30 Jahre verschwunden, das Geschick hatte uns ein halb tausend Meilen getrennt gehalten, und doch trafen wir nochmals einen Tag wieder zusammen, um uns dann wohl nie wieder zu sehen! Auf den Straßen von Arsamaß siel mir eine Art Gänse von ungcmeiner Größe, fast die eines Schwans erreichend, auf. Ich hörte, daß sie sehr zanksüchtigen und kriegerischen Gemüths seien und man sie zu wüthenden Kämpfen abrichten und anreizen könne, wobei vielfaltige Wetten angestellt werden, wie in England bei den Hahnenkämpfen. Am Abend setzte ich mich mit dem Adjutanten in den Wa-gen, und erreichte am andern Morgen 7 Uhr wieder die Umgegend von Nishnij Nowgorod. Eine halbe Stunde von der Stadt erblickte ich links, ein paar hundert Schritte vom Wege entfernt, Zelte. Auf meine Frage hörte ich, es sei das Lager eines im Sommer hier stets campirendcn Regiments. Ich stieg aus, um doch auch einmal ein russisches Regiment im Neglige zu überraschen. In Parade, und vorbereitet auf des Fremom Besuch, hatte ich schon oft russische Regimenter gesehen. Ich fand jedoch auch hier eine musterhafte Ordnung, und da eben das Frühstück bereitet wurde, so überzeugte ich mich, daß wenigstens hier die Leute sehr reichlich und gut genährt wurden. Wir wanderten anfangs einsam durch die Zcltstraßcn, nach und nach schlössen sich mehrere Ossiciere an uns an. Wir kamen auf einen Platz für gymnastische Uebungen bestimmt, und ich sah dort zu meiner Verwunderung den vollständigen und mir wohl bekannten Apparat der deutschen Turnplätze. Als ich mich ill Nishnij Nowgorod umgekleidet hatte, fuhr ich mit meinem Reisegefährten zum Grafen Stcnbock und bat ihn, die hiesigen Gefängnisse besuchet, zu dürfen. Er und der Oberst Pocholin führten unö hin. Die Gefängnisse sind weitläufige steinerne Gebäude mit mehreren Höfen, daß Ganze mit einer 332 hohen Mauer umgeben. Die Gefängnisse waren nicht sehr gefüllt, da den Tag vorher ein starker Transport nach Sibirien Verwiesener abgegangen war. Das hiesige Gefängniß dient zweien Kategorien von Gefangenen zum Aufenthalt. Eines Theils ist es für Nußland eins der beiden Hauptdcpots der nach Sibirien Verwiesenen, das zweite ist Kasan. Die zur Verweisung nach Sibirien Verurtheilten sammeln sich hier, und wenn eine hinreichende Anzahl, !W bis 200, vorhanden ist, so werden sie unter Escorte abgeschickt. Dies geschieht in der Ne-gel wöchentlich einmal. Außerdem aber dienen diese Gefängnisse auch zum Untersuchungsarrcst für die Criminalgefangencn und Polizcigefangcnen. Die Gebäude haben nichts Abschreckendes, die Gewölbe der Gefängnisse sind hoch, Licht ist hinreichend vorhanden, überall sind Defen zur Wmtcrhcizung. Die Gebäude sind aus der Zeit der Kaiserin Katharina il., und ihre Einrichtung als Gefängnisse ist sehr mangelhaft. Es sind eine Menge großer Räume vorhanden, aber nur wenige kleine Zellen, in jedem der großen Räume waren 10, 20 bis 23 Gefangene zusammcugespcrrt, einigermaßen nach den Kategorien der Verbrechen ausgesucht, in einem saßen Mörder und Mordbrenner, in einem andern Diebe u. s. w. Selbst die bereits Verurtheilten, nach Sibirien zu Transportirendcn, sind nicht streng geschieden von denen, über die noch die Untersuchung schwebte. Jede Art von Mittheilungen, Besprechungen unter ciuander stehen völlig frei. Warnungen, Verabredungen sind dabei wohl gar nicht zu verhindern und zu controliren. Das muß doch wohl jede regelmäßige und verständige Instruction eines Kriminalprozesses unendlich erschweren! Man hat es aber freilich hier auch nicht mit den rafsinirten Spitzbuben Westeuropas zu thun, die die Gesetze und deren Feinheiten und Zweideutigkeiten oft so gut kennen als die Richter. In jedem Gefängnisse, wo mehr als 3 — 4 Gefangene zusammensitzen, wird sogleich ein Starost ernannt, und es ist bewunderungswürdig, welche Ordnung er zu erhalten weiß, nnd welchen Gehorsam er findet. So tritt uns in jedem socialen Verhältnisse in Nußland das Princip der russischen Gemeinde lebendig entgegen! — Zwei wegen Schulden Eingesperrte, und zwei Edelleute, 333 saßen in zwei Zimmern, es waren ihnen auf ihre Kosten etwas bessere Mcublen und Betten gestattet. Die Kost war jedoch für alle Gefangenen die gleiche. Zweimal des Tags Schtsschi oder Grütze, ferner Fleisch oder Fisch und 2'/2 Pfund Brod, alles reichlich und gut, wie ich mich durch Kosten selbst überzeugen konnte. Als Arten der Verbrechen wurden uns bezeichnet: Mörder (ziemlich viele), Brandstifter (meist Weiber), Deserteurs und große und kleine Diebe. Unter den schweren Verbrechern war eine, von der Frau eines Bauern versuchte Vergiftung ihres Ehemannes. Nun sage man noch, daß in Nußland die Civilisation noch nicht eingedrungen sei! — Eine Kindesmörderin war noch einmal im Gefängnisse niedergekommen. In solchen Allen ist die Vorschrift, daß sie das Kind anderthalb Jahre säugt, ehe das Urtheil vollzogen wird. — Wir besuchten auch das Lazarett), wo äußerlich eine musterhafte Ordnung uns entgegentrat. Die Betten waren gut, die Zimmer hell, sehr rein und gut gelüftet. Unter den kranken Weibern war ein bildschönes Weib, die aus Liebe zu einem andern Manne versucht hatte, ihren Mann zu ermorden, welches mißlungen war, worauf sie im Gefängnisse sich den Hals durchschnitten hatte, doch war sie nicht tödtlich verletzt. Wir fanden hier auch eine Frau mit 4 Kindern von 3 bis >) Jahren, welche von der Erlaubniß Gebrauch machen wollte, ihrem nach Sibirien verwiesenen Manne nachzuziehen. Sic war krank geworden, und lag daher hier im Lazareth. Vor dein Gefängnisse fanden wir einen Wagen mit allerhand Lcbenömitteln, die schon abgepackt und von Hochzcits-lcuten vom Lande für die Gefangenen hereingeschickt waren. Außerdem stand eine gute Matuschka (Mütterchen), ein dickes Baucrweib, mit einem mächtigen Sack voll Weißbrod und Fleisch vor der Thür, alles für die Gefangenen! Für Niemand interressirt sich das gemeine russische Volk mehr als für die Gefangenen. Ihnen fließen zu allen Zeiten und bei allen Gelegenheiten Spenden und Geschenke zu. Keine Hochzeit, keine Kindtaufe, kein Fest vergeht, wo nicht alle Theil-nehmcndcn nach Kräften für die Gefangnen steuern. In dem kiesigen Gefängnisse können die Gefangenen die ihnen gebrach- 334 ten Lcbcnsmittel gar nicht consumiren, ein Theil wird verkauft, und dafür Kleidungsstücke für die nach Sibirien Verwiesenen angekauft. Von diesen Spenden der Wohlthätigkeit wird auch selbst von den Subalternbcamten und Gcfängnißdienern nichts untergeschlagen, das gilt für eine zu schwere Sünde! — Auch würde wohl die Volkswvhlthätigkeit schnell ein Ende nehmen, sobald man die Ueberzeugung gewönne, die Gefangenen erhielten die Spenden nicht! — Auch für mich war dies Factum, daß ich selbst sah, welche reichliche Spenden für die Gefangenen an der Gefängnißthür abgegeben wurden, die beste Con-trole für die milde Behandlung der hiesigen Gefangenen. Es überzeugte mich mehr, als alles, was man mir darüber erzählt und gezeigt hatte, denn daL Bestreben, den Fremden alles von der besten Seite zu zeigen, war unverkennbar. Da mein Tarantas zum Fahren unbrauchbar geworden war, und auch nicht so rasch wieder reparirt werden konnte, so beschloß ich von Nishnij bis Kasan zu Wasser auf der Wolga zu reisen, und in Kasan, dem eigentlichen Baterlande der Taran-tasen, einen neuen zu kaufen. Ich ging zu diesem Behuf mit meinen Begleitern ans Ufer der Wolga, um einen Schiffer zu dingen. Wir wurden sogleich von einem ganzen Haufen derselben umringt, die uns schreiend und lärmend ihre Dienste anboten. Aber kaum hatten wir einen ausgewählt, um mit ihm zu unterhandeln, so schwiegen alle übrigen, stellten sich aufmerksam, die Unterhandlung beobachtend, in einen Kreis um uns, und Niemand mischte sich in die Unterhandlung ein.— Wir konnten mit dem ersten nicht fertig werden, und brachen ab. Augenblicklich begann das frühere Handelsgcschrei und die lauten Anerbietungen, bis wir wieder eine nähere Unterhandlung ausgewählt hatten, worauf abermals jene anständige beobachtende Ruhe eintrat. Es herrscht eine merkwürdige Höflichkeit und Urbanität unter dem gemeinen Volke in Nußland. Die uns umgebende Menge bestand zum großen Theil aus Burlaken, Arbeitern bei allen Vorkommnissen der Schifffahrt auf der Wolga. Es ist dies ein interessanter Schlag Menschen, der, wie schon oben angeführt ist, sehr eigenthümliche Einrichtungen hat. Ich hörte hier, daß die Burlaken meistens aus den Privatbauern hervorgingen, selten aus den Kronbauern. Die 335 verschiedene Besteuerung der Bauern wirkt hierbei srhr bedeutend ein. Die Krone bekümmert sich um die Ungleichheiten im Besitzstande, in den Bermögensvcrhältmssen, in den geistigen und physischen Anlagen, Kräften und Geschicklichkciten gar nicht, sie hat allen ihren Leuten einen gleich hohen Obrok auferlegt. Sie bekümmert sich nicht um das Gewerbe, sie besteuert dieses nicht. Die Kronbauern sind in dieser Beziehung völlig frei, sie können ein Gewerbe treiben, welches sie wollen, man zwingt sie zu keinem, leitet sie aber auch zu keinem an. Die Kronbauern treiben daher nur die Gewerbe, die bei der geringsten Mühe und Arbeit den reichlichsten Gewinn versprechen, also nur leichte Gewerbe, sie scheuen jede schwere Arbeit, jedes mühselige Gewerbe. Die Privathcrrcn wägen die Eigenschaften und Kräfte, wie den Besitzstand und das Vermögen ihrer Leute ab, und legen hiernach die Besteuerung auf. Sie leiten an und drängen zu bestimmten Gewerben, besonders zu solchen, die der Lo-calität nach, und nach den Kräften und Anlagen ihrer Leute den besten Gewinn versprechen. Ist der Mann gesund und kräftig, so drängen sie ihn zu schweren, dauernden Arbeiten, den schwächlichen zu leichter Arbeit. Während die kräftigsten Kronleutc, Kalatschenträger, Tabulctkrämer:c. sind, ist dies bei Privatleibeigenen nur das Geschäft der Schwachen und Unvermögenden. Die Krone besteuert den Einzelnen, und zwar ganz gleichmäßig, also nicht die Eigenschaften und nicht die Gewerbe, der Private besteuert seine Leute ungleich, er besteuert die Eigenschaften und Gewerbe. Die Krone besteuert die Seele, der Private das Tiaglo. Das bildet einen mächtigen Gegensatz!— Freiwillig würden nur sehr selten die russischen Bauern die schweren und mühseligen Geschäfte und Arbeiten der Burlaken übernehmen, daher man j» wenige Kronbaucrn unter ihnen findet. Der Private treibt die überflüssigen Leute seiner Dörfer dazu an, oder zwingt sie indirect durch die hohe ihnen auferlegte Besteuerung, diese Beschäftigung aufzusuchen. Wäre dieser Zwang und diese hohe Besteuerung nicht, so würden sich gar keine Burlakcn mehr finden, oder doch nur zu enormen Preisen, und das wichtigste und nothwendigste Gewerbe für das Innere Rußlands, die Wolgaschifffahrt würde stocken und mit ihr alles Gewerbsleben. Es 3W könnten unberechenbare Ereignisse und Verhältnisse dadurch eintreten ! Die Burlaken auf der Barke, die wir endlich zur Reise nach Kasan mietheten, waren Leibeigene des Fürsten Gagarin aus einem Dorfe, 30 Werst von Arsamaß. Dies Dorf, dessen Bevölkerung auf 480 Seelen gestiegen ist, hat nicht hinreichenden Grund und Boden, es kommt kaum IV2 Deffjatine Acker und Wiesen auf die Seele. Der Wald des Dorfs ist völlig rasirt und die Bauern müssen daher für jetzt selbst das Brennholz kaufen, jede Haushaltung für 10 bis 15 Nubel Banco. Da der Acker sie nicht nährt, so müssen sie anderswo Verdienst suchen. Der größte Theil der kräftigen Männer verläßt demnach in jedem Frühjahr das Dorf und kehrt im Winter zurück. Etwa 150 derselben gehen als Burlaken auf die Wolga, und verdienen dort nach Abzug ihres Verzehrs und ihrer Bedürfnisse jeder bis zu 100 Rubel Banco. Während dessen besorgen die Weiber, Alten und Kinder zu Hause den Ackerbau und den Haushalt. Wer aber keine hinreichenden Leute zu Hause hat, miethet sich einen Knecht, dem er 45 Rubel Banco Lohn geben muß. Für den Herrn muß die Gemeinde von jedem Tiaglo 50 Rubel Banco Obrok aufbringen. Man sieht hier, wie in unendlich vielen Fällen, daß der Dbrok sehr häusig nicht die Abgabe für den Grund und Boden ist, sondern eine auf die Arbeitskräfte und Gewerbe gelegte Abgabe. Statt seine Leute selbst zu ernähren, zu kleiden, zu versorgen, übcrgiebt der Herr ihnen so viel Grund und Boden, als eben nöthig ist, un» Wohnung und Ernährung zu gewähren. Xlll Nishmj-Nowgorod. Ncsuch nncr Kirche dcr Iroiüowi'rzl'ii, Tas russische Ers-tcnwrstu. Äelttrc Scttt'», dic sich H>rrbrcnunldcü, dic Skopzi, (;cu drr Alt^Iinlbigoi^Ildiuownznl, Tschusuwon-niji, Pumorain', Ihrc ^chrni lilid ftilnichtnngni, ihr GottcöDinist. I!,r grosü'L Hospital in Muskau. — Sitten stit Pttcr l. Dir V^alakanru, ihrc Lchrm, ZnsaiiiüU'Uhansi drrfclbcn mit dl'üri, drr Qnäk,'r. Du- Du-choborzcn, ihn- L'chrm, mcin Blsl,ch l'li ihnm an der Walolschna. ,^a-Plistin, ihr ^hris!l,ö Irslls. Ihr Dorf Tn'pmic. -Äls wir von dcr Wolga zurückgingen, kamcn wir an einer Kirche vorüber, dic offen stand, und wo eben ein Kind getauft wurde. Wir traten hinein. Cs war eine Kirche der Iedinower-zen (Gleichgläubigen). Nach beendigter Tauft machten wir die Bekanntschaft deS Popen, der, als ich durch Fragen über ihre kirchlichen Verhältnisse Interesse an den Tag legte, sich erbot, Mich noch all demselben Tage zu besuchen, und mir über AllcS Rede und Antwort zu stehen. (5r kam auch wirklich gleich nach Tisch mit einem andern Popen seiner Secte, Sie antworteten freilich auf Alles, was ich fragte, aber wie! Die Antworten waren so zurückhaltend, kurz, auf Schrauben gestellt, so wenig auf den Smn meiner Erkundigungen eingehend, daß ich nicht klug daraus ward, ob Schlauheit oder tiefe Unwissenheit die Grundlage ihrer Antworten waren; wahrscheinlich eine Mischung vvn Beiden! Doch gaben mir ihre Antworten Anhaltspunkte zu weiteren Nachfragen und Erkundigungen. Es ist dicö im Ganzen ein sehr dunkles Feld für Forschun-äen; von Geistlichen dcr Staatskirche, so wie von Beamten erfährt man darüber so viel als nichts, theils weil sie nicht 22 338 reden mögen, theils weil sie wirklich nichts von den Verhältnissen wissen, da alle Sectirer hier das größte Interesse haben, ihre Intcrna möglichst zu verheimlichen. Da man nun aber niemals den Volkscharakter, die Lcbcns-verhältnifse und die socialen und politischen Institutionen eines Landes richtig erkennen und würdigen kann, wenn man nicht auch die religiösen Zustände klar ins Auge faßt, so habe ich mich im Laufe meiner Neise überall bemüht, Notizen einzusammeln, und wenn ich auch keineswegs behaupten kann, etwas Erschöpfendes darüber geben zu können, so weiß ich doch am 6nde mehr davon, als andere Fremde, und selbst als die Mehrzahl der Russen, die Beamten und Behörden nicht ausgeschlossen. Ich fand an einigen andern Orten, die ich aber nicht nennen will, Gelegenheit, mich einigen der am meisten verbotenen Secten zu nähern, ihr Vertrauen zu gewinnen, und selbst ihrem geheimen Gottesdienste beizuwohnen. Ich gebe hier eine kurze Uebersicht, das Ausführlichere und Gründlichere einer eignen Abhandlung über die religiösen Zustände Nußlands vorbehaltend. Das Christenthum verbreitete sich vom neunten Jahrhundert an in Nußland, und zwar ward das Land ein Filial der orientalischen Kirche, namentlich des Patriarchats vonKonstantinopcl. Zwar war die Zeit der gnostischcn Häresie,: damals schon vorüber, doch haben sich im Orient stets gnostische Ideen und Anschauungen erhalten, die Kreuzfahrer brachten dergleichen nach dem Occident, und selbst unter den Muhamedanern finden wir sie noch jetzt verbreitet. Die innere russische Kirchengeschichte ist noch nicht aufgeklärt, noch völlig dunkel; wenn ich also die Meinung aufstelle, daß gnostische Ideen auch in Rußland im Mittclalter Eingang gefunden haben, so kann ich darüber einen wirklichen Belvcls nicht führen. Ich kann nur anführen, daß sich bei einigen Scctm Rußlands wirklich unverkennbare Spuren von gnostische,, Bcschauungcn finden, ob sie aber unmittelbar vom Orient und bereits im Mittelalter eingedrungen, oder vom Occident, was doch unwahrscheinlich ist, erst seit dem Ende des siebente»« Jahrhunderts herüber gekommen sind, wage ich nicht zn entscheiden- .^0 Das ruffische Volk ist nicht zu philosophischen Grübeleien und Spitzfindigkeiten geneigt, wie die contemplativen Völker des Orients, man erwarte daher nicht völlig ausgebildete Systeme bei den neuesten dortigen Sccten, mit Ausnahme der Dllchoborzen, dort zu finden. Es sind meist nur einzelne isoint stehende Ideen, die aber eben deshalb wie partieller Wahnsinn wirken, und zum grauenvollsten Fanatismus führen. Hier traten uns zunächst die sich völlig oder theil weise Aufopfernden (Morclschiki) entgegen. Die Lehren der ersteren sind völlig unbekannt, nur hin und wieder, aber fast jährlich und in alle», Theilen des Reichs, jedoch vorzugsweise nn Norden, in Sibirien, im Gouvernement Saratow :c. sich wiederholend, taucht irgend ein gräßliches Factum auf, welches ihr Dasein und ihr ferneres Bestehen bezeugt. — Mit besondern Feierlichkeiten und Ceremonien wird eine große, ti^fe Grube irgendwo ausgegrabcn, mit Stroh, Holz und anderen brennbaren Materialien rings umgeben. Dann tritt eine kleine Gemeinde dieser Fanatiker, 20, 30, 50 bis 100, in der Mitte der Grube zusammen, zünden unter Anstimmung wilder Gesänge die Brennmaterialien von allen Seiten an, und verbrennen sich so selbst mit stoischem Gleichmut!). Oder sie versammeln sich auch in einem Hause, welches sie vorher von Außen mit Stroh umhäuft haben, und zünden es dann an, Die Nachbarn versammeln sich um sie, aber Niemand stört sie, denn sie sind heilig, und „erhalten die Feuertaufe." Behörden und Polizei erfahren die Sache erst, wenn sie lange geschehen ist, und also nicht mehr verhindert werden kann ^). Welche Ideen ') Die frühere,, Neistudcn Pallas, GmNin, Gcorgl, Leftuchi» :>'. erzählen alle gleichmäßig diese Faela. Mir ward erzählt, daß auf dem bw>e eines Herrn von Guriew auf dem linken Wolganfer lwr einigen Iahrm cinc I!>i>u ^mmid» dirscr Ecttc sich zusammmgrfundm und d>' schlossm H,1!!>, s,ch zur !i7pfnuu^ Uütcr mwndrr zu N'mordm, N>,,l> grwissrn ^'il ^^>>!, Schon wan» ,'i,i r.is^l'.,! nnu'ld!'!, da erwachte dic ^> ,!^ cutstol) in cm l'Niachl'art^' Dorf. ?^a„ zog nun nach dcm Schaupla^' dcr That l!!,b fa„o ,,ml, ? kbmdl' V.'ör-drr, >il?>r 47 Gcmordcll', Die ciusscsangenen Mörder erhielte» otc jtiuU!', Nohlolltcn aber bc< jedem Hiebe ül'cr daö erlaugtt Malinchum. ' 22 " :N0 zum Grunde liegen, ist nicht ermittelt, nur das Wort: „Feuer-t a use," steht als ein vereinzeltes Symbol da, welches uns irgend einc dunkle, geheime und fanatische Lehre ahnen läßt. Eine Art Lehre und System aber muß vorhanden sein, es muß einc abgesonderte Secte bestehen, weil sich das Factum unter ganz gleichen Umständen fast jährlich an den verschiedensten und weit von einander entfernten Drten, und nachweisbar schon seit länger als einem Jahrhundert wiederholt! Von der zweiten Art sind die sich verstümmelnden Skopzi (Eunuchen). Ob sie sich, wie Origines, auf ein paar Bibelstellen beziehen, ist nicht ganz klar, da sie die Evangelien sowie die ganze Bibel für verfälscht und untergeschoben erklären uud glauben, daß das wahre Evangelium nur in ihren Händen gewesen, aber von Peter III., welcher einer der Ihrigen, ja ihr Haupt und eine neue Emanation des Christus sei, in der Kuppel der Andreaskirche auf der Wasilij-Ostrow in Petersburg vermauert worden sei. Ueberhaupt scheint diese sanatische Verstümmelung in gar keinem innern Zusammenhange mit ihrem theologischen Systeme (wenn man von einem solchen reden kann, da sie eigentlich nur einzelne verworrene Lehren und Ideen zu haben scheinen) zu stehen*). Sie lehren, im Anfange sei nur Gott der Bater, einS, untheilbar gewesen, dann habe er die Welt erschaffen und dieser sich nun verschiedentlich offenbart, als Sohn in Ehrisius, der aber doch nur l>pl»llnm l>w->;lilIilU, der von Gott Geweihete, der von Gott .Durchdrungene, welcher nach Eingebung Gottes gesprochen habe, nicht ein Selbst-Gott gewesen sei. Als heiliger Geist offenbare sich aber Gott stets unv täglich in seinen wahren Kindern (den Skopzi) ^). ') IIisl.oirc dos «cctcs ruligicnscs [Kir !U. HvcgoWe 7 Piiris 181.J-, Tom. II, |>. -50(i : I.e t;<'l«>l)r« rhinirpfion Ousi'iiufl iis.surnil q»1' «luns (|iiel([iios cantons \\<: hi ciilcviinl, Chiiinpii!hll'„ drr dri,tschs„ rütioualistischr» ?h^,lo.,!>l lind Wlosophm hcibm sich nicht so l'c'lcm^lt ,u,v ,»i nci,,^,, 'pi^csl.ilUis «nls s,i-, üü^l'Üdc«!', I„i>l>to!l!,'Zaüntikn sind vm> srU'sl, Christus ist nicht und nie gestorben, wandelt beständig auf Erden, geschlechtslos, unter irgend einer Gestalt, gegenwärtig als Peter UI., der keineswegs datnals auf die in der Geschichte bekannte Weise seinen Tod gefunden hat (beim Begräbniß ist vielmehr ein ihm ähnlicher Soldat untergeschoben), sondern er ist damals nach Irkuhk entflohen, und seitdem wird alles Heil aus Osten kommen! Er wird bald kommen und auf dem Kreml in Moskau die große Glocke der Uspenskij-Ssabor (der Himmelfahrtskirche) läuten, daß seine wahren Jünger (die Skopzi) es in allen Wclttheilen hören und sich um ihn sammeln. Dann beginnt das ewige Reich der Skopzi in aller Herrlichkeit der Welt! Sie glauben nicht an die Auferstehung der Veiber; kennen keine Feier des Sonntags, Sie haben eine Art mystischer Communion in einem Brode, welches durch Hineinlasfung >'n das Grab einer ihrer mystischen Personen eine geheime Weibe erhält, und wovon jeder am ersten Ostertage, der außerdem der einzige Festtag im Jahre ist, ein kleines Partikelchen genießl. Meist versammeln sie sich in der Nacht vom Sonnabend auf den Sonntag, wo sie allerlei wunderliche und geheimnißvolle Ceremonien verrichten. Sie nennen sich selbst Karablik, d. i. ein kleines gebrechliches Schiff, das sich auf den Wellen wiegt. Bei ihren Zusammenkünften singen sie lim^in» nach recitativartigcn Melodien gewisse Gesänge, von denen hier eins in der Uebcrsetzung folgen mag. Als sie es sangen, verstand ich die Worte nicht,, allein die scharfen Stimmen, die düstre Gluth, die wilde Begeisterung, die aus dem Gesänge hervorleuchtete, machte auf mich einen unauslöschlichen, wenn auch peinlichen Eindruck, Gesang der Skopzi. Haltet zusammen, ihr Schiffslcute, Lasset das Schiff im Sturme nicht untergehen! U>M ,c V^'N dnttslhm Tl)l'»w>M ttchüü zu habm, d.iram (M'mmm! 57l' di>s zur «rhättlüiq und Verherrlichung, odcv zm' Vnsp^'Mm,, ti.ftr Echini limm mm>'!c, nl'N'lliffm wir dilli,^ dm siäi bclämpfmdm Par trim ^ur ^nlsilnidlm^ in 1,','ülbig« Bl'Nlüzm!^, .!42 Der heilige Geist ist bei uns! — Fürchtet die Brandung nicht, und nicht die Stürme! Unser Vater und Christus ist bei uns! Seine Mutter Akulina Ivanowna ist bei uns! — Er wird kommen! Er wird erscheinen! Er wird die große Glocke Uspenskij läuten! Er wird alles gläubige Schiffsvolk zusammenrufen! Er wird Masten setzen, die nicht fallen! Er wird Segel spannen, die nicht reißen! Er wird ein Steuerruder setzen, das sicher leitet! Er ist bei uns, Er ist mit uns! Er wirft Anker am sichern Ort! — Wir sind angelandet, wir sind angelandet! — Der h. Geist ist mit uns! Der h. Geist ist bei uns! Der h. Geist ist in uns! —- Die Mitglieder der Secte haben geheime Erkennungszeichen unter einander. Eins derselben ist, daß sie ein rothes Tuch auf das rechte Knie legen und mit der rechten Hand darauf schlagen. Ucberall sindct man das Portrait Peter's lll. bei ihnen; er ist stets gemalt im bloßen Kopfe, mit kurzem schwarzem Bart, in blauem Kaftan mit schwarzem Pelz von oben herab besetzt; auch auf seinem rechten Knie licgt ein rothes Tuch, und die rechte Hand ruht darauf. Die Skopzi sind sehr verbreitet. Ein großer Theil der Juweliere und Gold- und Silberhändlcr in Petersburg, Moskau, Niga, Odessa lc. gehört zur Secte. Sie sind sehr eifrig, um Andere zu ihren Lehren zu bekehren und dann jene Operation an diesen ihren Schülern vorzunehmen. Sie suchen diese besonders häusig unter den Soldaten und zahlen große Summen, oft mehrere tausend Rubel. Wer 12 Schüler der Sccte zugeführt hat, erlangt dadurch die Würde eines Apostels, eine Würde, deren Bedeutung ich aber nicht ermitteln konnte. In einzelnen Gouvernements, z. B. in Orell, giebt es ganze Dorfgemeinden dieser Sectc. Acußcrlich sieht man dort den abnormen Zustand auf den ersten Blick keineswegs. Man sieht gut eingerichtete Haushaltungen, Weiber, Kinder :c. Hier heirathcn 343 die Mitglieder der Sccte wirklich, und erst wenn sie einen Sohn haben, unterwerfen sie sich der Operation. Die meisten Kinder sollen jedoch von Männern und jungen Burschen aus der Nachbarschaft herrühren. Das macht aber keinen Unterschied! Die Skopzi leben höchst verträglich mit den angetrauten Weibern, und sorgen für deren Kinder, wie nur wirkliche Väter thun könnten. Ossiciell möchten etwa 2—Z000 Skopzi bekannt sein und unter polizeilicher Beachtung stehen, in der Wirklichkeit sind aber deren wohl mehr als das Zehnfache an Zahl vorhanden. Da sic über große Reichthümer gebieten, so kann die Polizei in der Regel wohl ihr Geld, aber nicht sie selbst erblicken und finden! Eine Sectc, die in Bezug auf die Lehren den Skopzi nahe zu stehen scheint, da diese sie als Brüder und Vorläufer anerkennen, sind die lzhlistowtschini, die sich Geißelnden oder Kasteienden. Da sie als ziemlich harmlos angesehen und nicht eben vcrsolgt werden, so würde man vielleicht bei ihnen am leichtesten über die philosophischen oder theologischen Lehren etwas Umfassenderes erfahren können, allein Niemand hat es bis jetzt der Mühe werth gehalten, diesen psychologisch so merkwürdigen, wunderlichen Verirrungen des menschlichen Geistes nachzuspüren*)! Von ihren Lehren und ihrem Glauben weiß man nichts Bestimmtes. Bei ihren Zusammenkünften in Zimmern, in dc- ') Seit länger als einen, Jahrhunderte sind durch ganz Nußland Fremde, besonders Deutsche, und zwar aus dm gcl'ildelcn Standen: Aerzte, Apotheker, Hauslehrer, Professuren, lutherische Prediger u>. zerstreut. Man findet in jeder Stadt einige, aber nuch hat sich Niemand gefunden, der die Natur, den Standpunkt, die Theologie und Wissenschaft, und die Secten der russischen ilii'che unt>efangcn und gründlich studirt hätte. Namentlich trifft dieser Vmwurs die lutherischen Prediger! Aber diese Her ren, wenn sie üderhauftt wissenschaftliche ^ichlnu.M versulgcn, bekümmern sich allmsat!5 um deutsche theologische Eirciligkriten, nehmen PaNei snr ^calwnaliuinuö, oder Pietismnö, aber auf die Entwickelungen und die Verhältmsse, sowie die Sectcn der russischen Kirche, die doch offenbar in der nächsten Zeit eine ludenlendc Rolle in der Weltgeschichte spielen wko, schcn sic „ut seldsigcüilgsamcm Hmlmm!!, driad' ,144 nen keine Bilder geduldet werden, springen und trampeln sie in Kreisen hinter einander her und geißeln sich. Ein Faß mit Wasser steht in der Mitte, nach gewissen Zwischenräumcn benetzen sie sich den Kopf damit oder schlürfen es aus der Hand, bis sie endlich vor Müdigkeit umfallen *). Alsdann entstehen ^) An einem Tage im Jahre sinken die Männer nach jeuem wahnsinnigen Springen um Mitternacht auf Bänke, die rliud umher stehen, nieder, dic Weiber aber fallen unter dic Bänke. Plötzlich "werden alle dichter gelöscht und eS beginnen grauenvolle Orgien. Sie nennen dies 8>vil!-nij ssi-ie<:!> ^^ die Sünden beim Zusammcuwälzen. Ich hattc in Moskau eineil Schreiber, einen verarmten deutschen Apotheker, der lange in der Gcgmd von Rosiow eincl Vrmucrei vorgestanden und dort l^elcgcn-heit gefunden hatte, mit Mitgliedern dieser Seclc nähere Vetanutschaft zu machen, dic ihn auch »lit zu ihren Versammlungen genommen hatten. Das, was er erzählte, grenzt an das Unglaubliche, doch hal'c ich ihn in den 3 Monaten, dic er bei mir war, nie auf Lügen ertappt, Nr behauptete, die Skopzi und die tthlisii oi)er «hlistowtschim siäudeu in genauer Verbindung und ergänzten sich wechselseitig. Die bhlisti seien , aber keineswegs harmlose Leute, wie ich sie oben bezeichnet habe, sondern eine ganz gräuliche Seete. In dcu Zusammenkünften, denen er beigewohnt hat, ist zwar eben nichts Entsetzliches Paffirt, wohl haben sic ihn aber zu einer Zusammenkunft geladen, die nur einmal im Jahre uud mit den Skopzi gemeinsam gehalten wird. Allein sie haben die Bedingung gemacht, daß er dann vollkommen zn ihrcr Srctc übertreten müsse, und das hat cr denn doch nicht gewollt. Sie haben ihm jedoch als einem ihnen halb Angehörigen offen erzählt, waö Alles bei jener Zusammenkunft geschehe. Daß dies aber wirNich geschahe, habe sich voMom>m>l als wahr ansgewiesen, als die Polizei in Moskau im Jahre 1640 an einem frühen Murgen am Hn,'>>l>rs!vv >>l>«c:Imi!l (Wasserlhore) in einem großen abgelegenen Hause eine solche Vn'sammlung während ihres 0>l)t-tesdicnstes überfalle» und gefangen genommen habe, wo sich dauu aus dem Berichte der Polizei und den Protocollen, die die Aussagen der Theiluchmer enlhalten, und die cr selbst gelesen, da cr sie zum TY"l habe abschreiben müssen, die Wahrheit seiner eigenen Erfahrungen herausgestellt habe. — In den Alissagen wird behauptet, die Skopzi und Misti seien dieselbe Eecte uud hätten dieselben hehren i Adam oder l'hri-sMö habe sie gestiftet und sie bewahrten seine geheimsten Weisungen. 2" (Gouvernement Nowgorod habe zur Zeit des Alexei Michailowitsch eil»' große Propheün gelebt, Marsa Passatnize, die Frau eines Oduoworzeu, welche alle ihre kehren gesammelt uud in Bücher zusammmgeschmb>n 345 häufig Couvulsionen bei einigen von ihnen, wo dann der Geist über sie kommt, und sie zu prophezeien anfangen. habe, dic aber verborgen wärm und nimmermehr aufgefunden würden. Auf die Darlegung der Lrhrcn ist dic untersuchende Polizei nicht Weiler eingegangen, es tommcn mir ganz Ucrciuzclle Sätze vor, z. B. daß sic den Sonntag nicht für heilig halten, sondern in dcn Nächten vom Diens-taa anf dm Mittwoch nnd voni Donnerstag auf dm Freitag zusammcn-touunen, und von 1H Uhr, bis 4 Uhr ihren Gottesdienst abhalten. Sie vcrabschcum die Hunde, die scim vo», Teufel bcscsscn, aber lieben dic 5tatzm. Die schwarzen, Tarakane (Inscctcn) scicn Schutzgcister, und sic todten sci Sündc. Un^cachtct sic khristus als ihrm Sliftci anschm, lnnffcn doch dic, wclchc ihvcm Hauptgnttcsdicnstc zum crstcn Malc bci-wohnm^ ihu vorhcr vnspottcn lcrncn uud scin Bild anspcicn. Sie cr-tcnum tcinc Ehc an, sondcrn habcn Gcmcinschast dcr Wcibcr, doch lasscn sic, nm dic ^irchcnpolizci zu tälischcn, sich paarwcisc von dcn Popen co-pnlircn. Alle ,ttiudci gchiirm der Gcmmidc und wcrdcn ihr iu eincin sscwisscn Älter feicrlich ülicrgcbm. Am-zugswcisc sind es dic Ekopzi, wclchc cincn Hliusstand bilden, sich eine Frau amopulircn lasscn :e. Tic Mist, trttcn später häufig zu dm Stopzi als cincr höhcrn Weihe ubcr. Man will dic Bcmcikung gemacht haben, das?, wmn cinc Fran dieser Scrtc nach dem Tode ihrcö sogenannten Manncs, des Skopzi, eincn wirtlichen Mann, der nicht zur Scctc gehört, hcirathet, nnd er hat etwas von diesem Nlsen eifahrcn, etwa seiner Frnn abgclanscht oder abgefragt, und lästt sich taö dann mcrt'm, spolltt, schwant, so verschwindet er bin-nm .fturzciu spurlos. — In dcr ^stnilacht versammeln sich die Skovzi und (: der Mittc nach der linlen Brust erst einen tiefen Schnitt, lüftn ihr dann dic Brusi ab und stillen das Blut bewunderungswürdig schnell. Wälnmd der Operation wird ihr ein mystiftbeö Bild des h, Oiciftts in die Hand gegeben, «m sich in dessen Anblick zu vertieft,,. Die abgeschnittene Brust wird anf ciml Schüssel in lleiue Stücke zerlegt, welche von allen amvc-sendm Mitgliedern der Gemeinde verzehrt nn'rden, dann wird das Vläd^ chcn in der W,nme a»s cinrn in der Nähe stehenden Altar gehobm, inld dic ganzc Oemeinde tanzt wild um denselben >!>r uud singt dabei: po plasachom |io fjoriichoi» mi SiousUiijii rloru. Auf zum Tanzcn! Auf zum Springen! ?>ach SionS Bergen. Das Springen wild immer toller lmd wilder, Mehl werdm plötzlich alle 34tt Bei den Chlistowtschini, mitunter aber auch bei den Skopzi, findet man zuweilen einzelne Männer, welche zu ihrer Abtodtung alte Panzerhemde beständig auf dem bloßen Leibe tragen, oder auch Hemden aus Pferdehaaren gewebt. Ich fand einen, und hörte, daß dies oft vorkomme, der vorn auf der Brust ein kleines metallenes Kreuz, hinten auf dem Rücken ein metallenes kleines Bildchen von mir unbekannter Bedeutung trug. Diese beiden Bilder hingen an einem ledernen Riemen um den Hals, allein sie waren zugleich durch zwei kleine Kettchen unter den Armen her verbunden, und diese waren durch die Haut gezogen. Eine Secte, von deren Lehren und selbst von deren äußeren Ceremonien man gar nichts weiß, sind die Bcßlowestnigc, die Stummen. Wer sich der Secte anschließt, wird plötzlich stumm, und nichts vermag von dem Augenblicke an wieder einen Laut von ihm zu erpressen. Das Gouvernement hat sich vergebliche Mühe gegeben, Ausklärungen über sie zu erlangen. Einzelne Beamte sind in ihrem Eifer so weit gegangen, die Armen auf mannigfache Weise zu quälen, aber vergebens!-^ Ein bekannter Gcneralgouverneur von Sibirien zur Zeit Katharina's II., Namens Pestel, hat sie auf daö grausamste martern lassen; er hat sie unter den Fußsohlen kitzeln, er hat ihnen brennendes Siegellack auf den Leib tröpfeln lassen, — sie haben keinen Laut von sich gegeben! — An diese durch cin völliges oder thcilwcises Martcrthuw sich aufopfernden Secten scheinen sich noch einige Scctcn anzuschließen, die sich auf einzelne mystische Lehren oder Anschauungen gründen; so giebt es eine, die man die Secte des verherrlichten Erlösers nennt. Wir haben oben bei der Beschreibung des Klosters Troitze die Legende von dem Bildnisse Christi angeführt. Nach der Legende der lateinischen Kirche ist es das Antlitz des schmerzhaften Heilandes, daö in Lichtn- gelöscht, und jene üben MMbcntcten gräulichen Orgien ln'M" mn! — Mem obgcdachlcr Schreiber hatte mehrere solcher dm», sicw wie Heiliqc verehrten Mädchen kennen gelernt, und sa.^!, sie halten >">> 19—2N Iahrrn Ixrciiö ausgesehen, alu oli sic 5l» 1Ü !""'' sie stürben in der Regel auch iwr dem 3U. Icchrc. Eine wme jcdoch verheiratet «icwcsn, l>no hiille '2 iundcr gehabt. 347 dem Schweißtuche der Veronica sich abgebildet, nach der der orientalischen Kirche aber das Bild des verherrlichten Erlösers, wie cr aufgefahren ist zum Himmel. Dieses letztere Bild bildet nun bei der genannten Sccte den Mittelpunkt ihres Cultus, alle anderen Bilder sind verbannt, ja die Eingeweiheten enthalten sich jedes andern Gottesdienstes. In den Stunden ihrer Andacht sollen alle ihre Ideen sich concentriren und vertiefen in der Anschauung dieses geheimnißvollen Bildes, und sie dabei in den Zustand tiefen Entzückens und himmlischer Seligkeit gerathen. Dies ist aber auch Alles, was ich von der Secte habe erfahren können. Ich habe noch die Namen mehrerer Sectcn der Art geHort, "bcr von ihren Lehren nichts in Erfahrung bringen können^). Eine eigenthümliche Secte sind die Sabatniki (Sabbath-Verehrer). Nach Karamsin sind sie 1470 in Nowgorod entstanden, wo cin Jude aus Kiew, Namens Zacharias, einige Priester verführte und überredete, daß nur das Gesetz Moses daS einzige göttliche sei. Die Lehre verbreitete sich von da trotz mehrerer Verfolgungen, wovon die von 1503 mit Feuer und Schwert gegen sie einschritt, nicht wenig, und noch jetzt soll die Zahl besonders in Sibirien sehr angewachsen sein. — Sie können und lernen kein Hebräisch, sondern benutzen die slavonische Uebersctzung des alten Testaments. Sie hoffen auf einen irdischen Messias, glauben aber, wie die Sadducäer, nicht an die Auferstehung, treiben viele kabbalistische Künste und ste-hm daher als Wahrsager und Zauberer in geheimem Ansehen ''^). Eine zweite Art und Reihe von Sectcn ist aus dem Schisma bes 17. Jahrhunderts hervorgegangen. *) E>u Erzliischof Dimitiij von Rusiow hat ein Blich über die russischen Seelen im Anfange des l8. IahrlinndnlS geschrieen, aNein in russischer Sprache, daher für mich unzugänglich i er soll gegen '200 verschiedene, Scttrn auffuhren, die aber zum grusien Theil erloschen sind, wogegen aber anch wieder »iele neue seitdem aufgetaucht sind. ") <5ö rMiit ein Manuscript cines Mönch« m>ö dem l U.IMHimdrrt, polemisch gegen diese Secle geschrieben, welches aus rinr ilbcrrcischendc Wcisc z>>gc>' soll, daß damals in den Mösiein Rnßlandö die scholastische Philosophic und das Studium drö ÄrisluttlcS eifrig u„d lebendig bclriel'Ni ist. 348 Die Uebcrsctzung dcr heiligen Schriften in die altslavonische Sprache durch die Heiligen Eyrillus und Metodius ist nach dem Urtheile dcr Kenner, z. B. Griesbach's, vortrefflich. Sie kam mit den liturgischen Büchern der orientalischen Kirche bei Einführung dcö Christenthums nach Nußland. Damals begann dort namentlich in den Klöstern Cultur und Wissenschaft aufzublühen. Das bezeugen denn auch die religiösen und liturgischen Manuscripte bis Ende des 13. Jahrhunderts herab; sie sind schön und völlig correct geschriebn:. Allein unter der Mongolenhcrrschaft ging alle Gelehrsamkeit und Cultur unter-Geistliche und Mönche verstanden die Kirchcnsprache nicht mehr, es schlichen sich viele Fehler und Irrthümer in die liturgischen Handschriften ein. In jedem Theilfürstenthmne fast bildeten sich besondere Gewohnheiten, Ceremonien, religiöse Gebräuche aus. 6s entstanden Lesarten in den heiligen Büchern, die vollkommenen Unsinn oder entschiedenen Irrthum enthielten. ^ Als nun das Grvßfürstenthum Moskau die Einheit Rußlands wieder herstellte, und besonders als durch die Errichtung des Patriarchats alle kirchlichen Verhältnisse mit größerer Energie ersaßt wurden, traten jene Irrthümer und Mißbräuche greller hervor. Die Patriarchen, von den Ezarcn aufgefordert, begannen ernstlich daran" zu denken, diese Irrthümer auszumerzen, die Texte der liturgischen Bücher überall wieder zu purificiren, den Urtext wieder herzustellen. Allein die Patriarchen und ihre Schulen waren selbst nicht ganz sicher, selbst Philareth, dcr Romanow, ließ aus Unkenntniß Manches stehen und erkannte es gewissermaßen als richtig an, was offenbar durch Verfälschung sich eingeschlichen hatte. Erst der gelehrte Patriarch Nikon verfuhr gründlich. Er sandte gelehrte Mönche nach dem Berge Athos, um die ältesten Handschriften zu Rathe zu ziehen, und nach langen Vorarbeiten trat er endlich mit dem hergestellten Urtext, mit den verbesserten liturgischen Büchern hervor, und befahl U»7»<) ihre allgemeine Einführung, und die Cassirung dcr bis dahin gebrauchten^). -^ >) Dir Litln^ic ward gedruckt, und vcrlwlm, von nun an sich micr ,1>' schl'icbmm zu bcdimcn. Dic Etcnonnr^n >mlnn b,S zch« inn «v'jchlu l'me, und vcl'dmmin!, jld^ qrdnlä'tt, Dil- ihnsim wn'dm M lh" NmmmtlöslN'U slcls von nnu'ni alMschlicl'N!, Allein bald traf er auf energischen Widerstand. Statt anzuerkennen, daß er nnr in der Liturgie daö Älteste und Richtigste mit der ganzen orientalischen Kirche Gemeinschaftliche wieder hergestellt habe, warfen viele Priester, und eine durch diese fanatisirte Menge ihm vor, er suche Neuerungen einzuführen, neige sich zu den Polen, zum römischen Katholicismus :c. Andere sagten, der deutsche Luther habe auch behauptet, er stelle das Urclmstenthum wieder her, und habe dann alles umgeworfen, die Messe und fünf Sacramente abgeschafft :c. Da die orientalische Kirche kein höheres unabhängiges Haupt anerkennt, dessen unantastbare Autorität den Streit entscheiden konnte, so ward eine Einigung bald unmöglich, das Schisma immer Flößer, Jede, auch die kleinste Abänderung in den Unwesens lichstm Ceremonien kann dann vor der Masse des Volks nicht gerechtfertigt werden. Das innerste Wesen der orientalischen Kirche ist die Tradition. Alles, auch der geringste Zierach des vorhandenen Baues der Kirche, ist von den Vätern überkommen, und Niemand des lebenden Geschlechts hat das Recht, etwas zu ändern und aufzugeben, vielmehr die Verpflichtung, es den kommenden Geschlechtern ungefährdet zu überliefern. Die Hierarchie ist in dcr orientalischen Kirche nur die Trägerin des Cultus, nicht die Regentin und Lenkerin, nicht einmal Auslegcrin, weder der Dogmatik noch selbst des Ceremonials.*) ) Man hört im übrigen Europa und auch, wiewohl nur bei einrr kleinen Faction, in Nußland oft dm Vvrwnrf, in Rußland habe dir Elaat die Kirche vijllig grt'm'cl'tt'l, und ihr altes ininrc fortschreitende Leben ge^ raub,. — Die russische Kirche, als eine katholische, ran» uicht ohne mi Xentrmn, »hm cine äußere Direction riistiren. Dir übrige, katholische Wci! findtt dieses im Pabsl, und dci uucrmcßlichs Vortheil hiervon liegt in dessm uuabhängi^cr Stellung und seimr Erhebung über alle Natiumilitätcn, su daß er es vcvilwchtt, gegcn jede ^üilion uud jcden Staat eine gewisse gleichmäßige Billigkeit und (>>Uö daß man in Nusiland nicht stetö init gewissem ?.X'ißlrauen auf ihn gel'lickt I,äll^. al di>s in^hrnnils her vor,) «'i' ,;,^ ,,, ,^ch,,n.iig l'l,n>! ^viechischlii ^aiscr, a!.- daß man nicht 350 Nikon hatte wohl in dcr Sache selbst vollkommen Recht, dic übrigen Patriarchen des Orients billigten sein Unternehmen, dennoch würde er bei der Masse nicht durchgedrungcn sein, hätte ihm nicht die weltliche Macht, die ein noch größeres politisches Interesse fur die vollkommene Umfonnität des Cultus hatte, als selbst das Patriarchat, zur Seite gestanden. Es zeigte sich hierbei die ohnmächtige, und nur geringe Wurzeln im Volke habende Stellung des Patriarchats, was auch allein die Leichtigkeit erklärt, womit Peter I. später das Patriarchat beseitigte, und die Einheit von Staat und Kirche in seiner Person völlig concentrirte, wiewohl in Rußland die weltliche Macht schon stets auch vorher die Kirche in ihrer äußern Gestalt beherrscht hatte. ^ Das unter Nikon beginnende Schisma hat erst seit Peter I. einen bestimmten Charakter angenommen, und ein festes Ge- politischc Intriguen und Machinationen hätte furchten sollen. Später als er unter türkische Herrschaft kam, war seine Stellung zu sehr rrim-drigt, als daß man in ihm dies wahre Haupt dcr Kirche hätte sindcn tonnen. S« ward dann das russische Patriarchat in Moskau consiituill-Allein es war eigentlich nur durch den politischen Staat hervorgerufen, ts war nicht aus einer nothwendigen innern Entwickelung der Kirche u"b ihres Lebens hervorgegangen, daher warf es auch weder in ihr, noch l" der Nation tiefe Wuseln, l5in solches rein nationales Patriarchat al'N hätte stincr Natur nach allmählich zur größten Intoleranz und Vcl" folgung, zur cxelustvrstcn Äbschliesmng der Kirche, des Volks und zulci'l selbst des Staats führen müssen. Das fühlte Peter I. uud sehte da!.'" statt des Patriarchen ein ^on«?!Iinm ix^iolimm pätcv wieder in Vergessenheit gericth. Von Katharinas Zeiten "n geschahm Versuche, sie mit der Kirche wieder auszusöhnen, lnter d^> Regierung des Kaisers Alexander und deö jetzigen 352 Kaisers machte das Gouvernement große Anstrengung, auf gütlichem Wege eine Bereinigung zu Stande zu dringen. Man gab ihnen in der Hauptsache vollständig nach, man erklärte alle ihre Abweichungen von der Liturgie und dem Kirchengebrauche für durchaus nicht ketzerisch, man gestattete ihnen feierlich, bei denselben bleiben zu dürfen, man gab ihnen den Namen Iedinowerzi (Glcichgläubige), man forderte nur, daß sie ihre Geistlichen, in deren Erziehung und Unterricht man sich gar nicht zu mischen versprach, durch die Bischöse der Kirche zu Priestern sollten weihen lassen, und selbst diese Weihe sollte ganz nach ihren alten Gebrauchen, nicht nach dem neuen Nituß geschehen. Dennoch ist der Erfolg gering gewesen. Im Verhältnisse haben sich auf diese Weise nur wenige Gemeinden lose mit der russischen Staats-Kirche vereinigt, und selbst diese halten sich spröde in möglichster Entfernung. Auch sehen die Laien ihre Priester mit Mißtrauen an, sie fürchten, daß die weihenden Bischöfe einen ungebührlichen Einfluß auf sie ausüben möchten. Die Mehrzahl der Starowerzcn zieht es vor, mit sogenannten Läusiingen sich zu behelfen, nämlich mit Priestern der Staatskirche, die wegen Verbrechen abgesetzt, entflohen, oder um irdischer Vortheile, die sie ihnen oft im hohen Maße bieten, zu ihnen übergetreten sind. Frühcrhin sollen im Norden, tief in den Wäldern, Klöster der Starowcrzen eMirt haben, wo noch Bischöfe von ihrem Ritus gelebt haben. Allein sie wurden entdeckt, aufgehoben und alle Bewohner fortgeführt, und seit langer Zeit sind ihre Bischöfe, durch die sie noch eine Zeitlang gewcihete Priester erbalten konnten, ausgestorben. Sie behelfen sich, wie gesagt, jetzt mit Läusiingen. Die Starowcrzcn üben auf Rußland lind sein Gouvernement einen geheimmßvollcn und großen moralischen Einfluß. V" ftder Frage der Gesetzgebung, der kirchlichen Verhältnisse, der innern Politik, bei allen vorgeschlagenen Verbesserungen nnv Veränderungen, fragt man sich im Geheim zunächst: Was werden die Starowcrzi dazu sagen? ^ Die Starowerzcn sind die Krystallisation des Altrussen thums, sie repräsentiren in Rußland das Prinzip der Stabilität oder vielmehr 0er starren Vergangenheit. Sie sind der Reglilator, 353 an dcnen man beobachten muß, wie weit man bei Veränderungen gehen darf! Wer die nationalen Eigenthümlichkeiten des großrussischen Volks studiren will, muß dies bei den Starowerzcn thun. Es ist dies aber selbst für den Fremden nicht so schwierig, als man denken sollte. Der ächte Nationalrusse ist von Natur gesellig, gesprächig, zutraulich, besonders gegen Fremde, er unterscheidet sich darin wesentlich von den germanischen Völkern, den Deutschen, Engländern, Holländern, die in der Regel zurückhaltend, wortkarg, selbst mißtrauisch gegen Fremde sind. Der Nüsse gleicht hierin mehr dem Franzosen. Dabei schmeichelt es ihm ungrmein, wenn ein Fremder Interesse an ihm, seinem Verhältnisse, an Volkssittcn und Gewohnheiten zeigt. Ungeachtet ich der Sprache nicht mächtig war, mich also nur durch einen Dolmetscher mit ihnen unterhielt, antworteten sie nicht bloß offen und zutraulich, selbst über ihre Familienverhältnisse, Gemeindesachen, Verhältnisse zu ihrem Gutsherrn?c., sondern zeigten alles mit Eifer und ohne Scheu, Hauseinrichtungen, ihren Ackerbau, die Frauen oder Töchter mußten ihren Sonntagsstaat anlegen, sie sangen ihre Nationallicdcr, erzählten ihre Mährchen u. s. w. Kurz wenn ich die hinreichende Zeit gehabt hätte und der Sprache mächtig gewesen wäre, so würde ich in dieser Beziehung Beobachtungen und Sammlungen haben machen können, wie bei keinem andern Volke. Die Starowcrzen sind im Allgemeinen viel einfacher, sittcn-reiner, nüchterner, zuverlässiger, als die übrigen russischen Bauern. Ja man kann sagen, je näher die russischen Bauern den Starvwcrzcn in Sitten, Trachten, Gewohnheiten stehen, desto besser sind sie! — So wie der russische Bauer dagegen slch europäisirt, seinen Bart abschert, seine Tracht ablegt, ein lNoderncg Haus bauet ?c., so traue ihm niemand, er ist in der "legcl ein Spitzbube geworden! Die Starowerzen haben meist eine gewisse Bildung, und sind darin den übrigen Nüssen weit überlegen. Die meisten können lesen und schreiben, wiewohl sie hierbei meist nur die altslavonischen Buchstaben kennen und brauchen (die neuere 23 354 russische Schrift halten sie für ketzerisch)."") Alle kennen die Bibel sehr genau, und wissen sie fast auswendig. Ihr Verstand übt sich an theologischen Spitzfindigkeiten. Ich kann hiervon einige Beispiele anführen, die von der dialektischen Gewandtheit dieser Bauern ein Zeugniß ablegen. Als ich gegen den oben bezeichneten Starowerzen äußerte: Ich fände es zwar sehr recht und hübsch, daß sie fest an der Sitte der Väter hicltm, und sich die Bärte nicht abschören, es sähe männlich und schön aus, und ich würde meinen Bart gewiß nicht abscheeren, wenn dies nicht gegen die Sitten meines Baterlandes anstieße, allein eine Sünde könne ich darin nicht finden, doch wolle ich gern seine Belehrung dabei annehmen; antwortete er: Bist Du ein Christ? Ich. Ja wohl! Er. Glaubst Du, daß Christus der Sohn Gottes ist, und daß wir alles thun müssen, was er uns geboten hat? Ich. Allerdings! Er. Glaubst Du, daß die Bibel, und namentlich die vier Evangelisten wirtlich Gotteswort sind, und daß wir das, waS Christus uns darin geboten hat, auch verpflichtet sind zu thun und zu halten? Ich. Das glaube ich allerdings. Er. Sagt Christus nicht: Ich bin gekommen, nicht um das Gesetz aufzuheben, sondern um es zu erfüllen? Ist das Gesetz, wovon er spricht, nicht das Gesetz Moses? ') In tm Nonnenklöstern der Starowerzen, deren es in den Wäldern des Nordens noch einige giebt, beschäftigen sich die Nonnen mit Adschrciben ihrer liturgischen und religiösen Bücher, m,b diese sind fast alle hübsch imd zierlich geschrieben. In diesen Klüsttrn soll aber außerdem g"!^ ZuchtlusiMt herrschen, Wie man mir rizahlte, leben in einem Kloster an eincm See im Gouvernement Olonetz, Mönche und Nonnen ohm' Scheit zusammen. Kinder, die geboren werden, sollen sie häufig ersänsen-Alle paar Jahre käme dann der IöftraoniÜ des Orts (die Polizei) ""° kündige an, er wolle den See besichtigen lassen, dann entstehe gn'iw' Nllmor, es würden Summen (Geldes zusammen gebracht nnd >>>»' !^ schenkt, damit «r dies unterlasse. Beruft sich nicht Christus häufig selbst auf das Geseh, und gebietet, cs zu befolgen? Ich konnte alle diese und mehrere ähnliche Fragen nur bejahen. Er. Ist nicht überall im neuen Testamente der Sinn klar, daß das, was vom Gesetz Moses von Christus mcht ausdrücklich aufgehoben ist, auch für die Christen gültig bleiben sollte? Ich. Das scheint mir allerdings! Er. Unstreitig gehören nun aber wohl die 10 Gebote zu denen Gesetzen, welche beibehalten sind! Es sieht aber im lNten Capitel des .'tteu Buchs Moses, wo die 10 Gebote ausgelegt Werden, ausdrücklich: Ihr sollt euer Haar am Haupt nicht Nmd umher abschneiden, noch euren Bart gar abschecren!" Ich wußte nichts darauf zu erwiedern, und war mit meinem Latein zu Ende! Er. Wir haben also das Gebot der Bibel unmittelbar für uns, allein wir haben auch die Tradition der Kirche für uns. Unsere Bäter und Vorväter haben stets einen Bart getragen, und so lange wir Russen Christen sind, von Generation zu Generation uns gelehrt, daß das ein Gesetz sei. Die Bilder Christi und der Heiligen, die uns die Kirche zu verehren gebietet, und deren Beispiele wir folgen sollen, stellen deren Gestalten stets mit dem Barte geziert vor. Ich war vollkommen aus dem Felde geschlagen, und versicherte dem braven Manne, ich wolle, sobald ich in mein Vaterland zurückgekehrt sei, dort seine schlagenden Beweise für "ie Beibehaltung der Bärte offen verkündigen, und hoffe um 'v mehr Eingang damit zu finden, als die jüngere Generation, ^as junge Europa, die Vornehmsten nicht ausgeschlossen, schon seit mehreren Jahren sich die Bärte nach Möglichkeit wachsen ließen, und vielleicht schon unbewußt Starowerzen geworden wären. Hiervon könnte vielleicht auch das als ein Beweis gelten, daß sie allerhand Heimlichkeiten trieben, welche von den Regierungen nicht günstig angesehen würden, und daß "'an hiebei ihre Bärte für die Hauptbeweise und offenbaren Elchen jener Heimlichkeiten hielte. Cm zweites Gespräch schrieb ich in Moskau fast wörtlich nach drr Erzählung eines der Theilnehmer auf und nach. Es 35N gewährt mit allen dabei einwirkenden Umständen cincn tiefen Blick in den Charakter und die Sitten des ruffischen Volks. Seit alter Zeit hat sich in Moskau die eigenthümliche Gewohnheit auögebildet, daß in der freudigen Woche (der Woche nach Ostern) an jedem Tage des Morgens sich das Volk in großer Maffe im Kreml, auf dem Platze vor der berühmten Kathedrale Usspcnskij Ssobor (zur Himmelfahrt des Herrn), versammelt, um Ncligionsgespräche und Dispute zu halten. Es ist bloß das Volk dort, weder Geistlichkeit, noch Beamte, noch Adel nimmt daran Theil. Die Polizei ignorirt diese Versammlungen, und man bemerkt keinen von ihren Beamten. Sie ist dort auch völlig unnöthig, denn es herrscht die größte Nuhe und Ordnung, und nie fällt ein Exceß vor. Das Volk selbst hält die Ordnung aufrecht, und straft schon jedes zu laute Wort. Auf der einen Seite sammeln sich die Anhänger der orthodoxen Kirche, ihnen gegenüber die Roskolniki aller Sccten, insbesondere aber die Starowerzen der verschiedenen Schattirungcn. Es bilden sich dann verschiedene Gruppen, in deren jeder sich einige Kämpfer finden, die irgend einen religiösen Sal.> vertheidigen oder angreifen. Das Gespräch wird hierbei mit der größten gegenseitigen Höflichkeit und Ruhe geführt; man zieht den Hut, verbeugt sich tief gegen seinen Gegner und bittet ihn um die Erlaubniß, auf seine Sätze oder Fragen antworten z" dürsen. Keiner unterbricht den Andern in der Rede. Das Gespräch wird dabei zugleich mit der größten logischen Dialektik geführt. Bleibt dann Einer stecken oder kann sich nicht nn'lN' helfen, so wird gleich einer seiner Hintermänner vortreten und ihm aushclftn, oder selbstständig das Gespräch übernehmen-Wenn Jemand heftig wird, schreiet, oder auch nur ruft: „das ist nicht wahr!" so werden gleich die Seinigen ihn ermähne" und zusprechen: „p^ollii» nu <1n i nic^t — das ist kein Zu"^ gesvräch mehr!" Ja sie würden ihn augenblicklich in »lM Haufen zurückziehen, würde er nicht ruhig! Die höheren oder gebildeten Stände nahmen früher weinst Notiz von dieser interessanten VolkSgcwohnhcit. Allein da iw letzten Iahrzehend, wie im übrigen Europa, so auch in Rußland die Erforschung und das Studium des nationalen Lebens M 357 verbreitete, so kamen 5 junge Männer aus der höheren Gesellschaft auf den Gedanken, einmal jener eigenthümlichen Dispu-tation beizuwohnen. Es waren fünf der geistreichsten und begabtesten Männer, die Moskau befitzt, unter ihnen ein ausgezeichneter Dichter, Herr von E., dem die Gabe natürlicher Beredsamkeit im hohen Grade verliehen ist. Alle fünf kleideten sich möglichst national und gingen Ostern ^41 nach dem Kreml, um das Ganze zu beobachten, und wenn es anginge, gelegentlich Theil daran zu nehmen. Sie fanden eine dichte Volksmenge, und drängten sich möglichst durch, um den in der Mitte Redenden und Disputirenden nahe zu kommen. - Herr v. <5. mischte sich zuerst in daö Gespräch. Er ward anfangs übersehen, vielleicht auch, weil er scheinbar unberufen sich einmischte, etwas über die Achsel angesehen; als er aber bei Gelegenheit, als der Kämpfer der orthodoxen Kirche einmal stecken blieb, etwas sehr Schlagendes für ihn antwortete, wurden Alle aufmerksam, lind allmählich überließen sie ihm und seinen Gefährten die Leitung des ganzen Disputs. Auch von Seiten der Scctircr trat nun einer der gewiegtesten Häupter entgegen; es war cm Starowcrze von derSecte der Pomoranen odcr Bcspopowtschina (Priesterlosen), ein schv-Urr ausdrucksvoller Kopf mit prächtigem, langem, wcisiem Barte. Das Gespräch hatte sich zu dem Punkte hingewendet, daß der Noökolnik folgenden Sah aufstellte: Der R o s k o I n i k> ES giebt keine äußere Kirche; Christus hat gelehrt, seine Jünger seien die Kirchen, dicse aber sind bei den Verfolgungen auf die Berge und in die Wälder gestoben, ^nn Hag cmch die steinerne Kirche? Herr v. l5. Bruder, du sagst den Bibeltext falsch. Es heißt nicht: Ihr (Jünger) seid dic Kirchen, sondern die Kirche. ^" Apostel sagt: Wer die Kirche nicht hört, wer der Kirche ""hi grhurcht :c. — Es ist also die Gemeinschaft der Gläu^ b'Nen mit den Bischöfen und i>l den Gotteshäusern, welche ^irchc genannt wird. D. R. (Auf ein anderes Thema überspringend.) Aber die ^acramentc; wie kann man die Sacramente administriren unv empfangen, da geschrieben sieht: Wer in der Sünde ist, der empfängt im Sacramcnte den ewigen Tod? Aber wie ist der Mensch ohne Sünde? Hat er eben gebeichtet, er hat schon wieder gesündigt, wenn er das Abendmahl empfängt! Nur einen Augenblick giebt es, wo der Mensch frei von Sünde ist, der Augenblick des Todes! Dann abcr reicht ihm der Schutzengel unsichtbar das Sacrament. Hr. v. C. Wie doch, Bruder? Christus hat ja das Sacrament wirklich und wesentlich eingesetzt. Lr sagt: (5fset, trinket, das ist mein Leid, mein Blut. — Christus sagt auch: Ich bin ein Gott der Lebendigen! — Du aber willst einen Gott der Todten aus ihm machen! — Die Bischöfe und Priester aber hat er eingesetzt, um das Sacrament zu admmistrircn. D. R. Was willst du mit den Bischöfen? Es sind Lntte, Sünder wie wir! Zieh ihnen die Kleidung ab, sie sind durch Nichts von uns unterschieden. Hr. v. C. Du sagst recht, es sind Menschen! Der Czar ist auch nur ein Mensch, und doch gehorchst du ihm! Aber du gehorchst nicht ihm, sondern dem Amte und der Macht, die in ihm wohnt. So ist es auch mit den Bischöfen und Priestern, durch sie spricht die Kirche. D. R. Du sprichst mir stets von der Kirche, aber wo ist sie im Unglück und Leiden? — Wenn ich auf einer wüsten Insel oder in dem Lande der Heiden bin, so bin ich außer ihr! Ich kenne sie nicht! Hr. v. C. Du kennst nicht die Kirche, Bruder, aber sie kennt dich! Sie betet in jeder Messe alle Tage für dich! Deß^ halb bist du in ihr, du seiest auch körperlich noch so weit "0>l ihr entfernt! D. N. (Nach einigem Schweigen auf einen andern Pu"" übergehend.) Wie ist eö mit dem Kreuz? Es giebt nur l'in>', und doch macht ihr das Kreuz anders, als cs Christus macht-Sich nur alle alten Bilder von ihm an, er vereinigt Daumen kleinen Finger und Ringfinger, und hebt die andern Fing^ zum Segnen empor. Ihr abcr vereinigt die drei ersten Fing^, wenn ihr das Kreuz macht ^). ^ Ich laim !,!lh! muhm, hill cinr« c^rspmchs zu üwälmrn, wclchcü Freund voil mil, ein NalhoM, imt cmcm ^lalowclM gchabt ^ 359 Hr. v. <5. Das Kreuz, womit Christus uns segnete, ist daher auch nur ein segnendes, und nur er darf es machen. Deßhalb machen es denn auch die Bischöfe und Priester, wenn sie in seinem Namen das Volk segnen, denn dann segnet durch sie die Hand Gottes das Volk! — Aber wir sind alle sündige Menschen, wir können uns selbst nicht segnen. Deß zum Zeichen bekreuzen wir uns mit den 3 Fingern, und bitten damit die h. Dreieinigkeit, uns zu segnen. Daher machen auch unsere Bischöfe und Priester, arme sündige Menschen wie wir Alle, wenn sie sich selbst bekreuzigen, das Kreuz nur auf diese Weist. ' D. N. (war offenbar in Verlegenheit, hierauf zu antworten; er ging daher auf einen persönlichen Angriff gegen seine besser als die übrigen umstehenden Nüssen gekleideten und vor allen Dingen keinen Bart tragenden Gegner über, wobei er von der Sympathie aller Bartruffen überzeugt seit: konnte). Warum schoercn Viele von euch den Bart, es ist Sünde! — Ihr verunstaltet daö Ebenbild Gottes; ihr werft etwas weg, das Gott hat wachsen lassen. Christus trug einen Bart, und die Heiligen, und wir sollen ihnen doch ähnlich sein und werden! Hr. v. (5. Einen Bart tragen und sein Kinn nicht schee-ren ist gut, ich lobe es. Aber ihn scheeren ist keine Sünde. Hat Gott einen Körper? Ist dein Körper sein Ebenbild? Nein, dein Geist, deine Seele! — Ist dem nicht so? Mein Freund batt» ihn gefragt, ob rr wohl wisse, das? in nltm Zeiten alle sihristen, auch die Vorfahren der Starowerzm, den Papst in Nmn als das Oberhaupt dei ganzen Christenheit angesehen hätten? Er ant-wurtete, das habe ei auch gehört, "ber zugleich, daß cinst ein Papst ge-wcscn Namens Formosns, welcher zuerst daö Eichbelreuzigen mit den A ei'sim Fingern eingeführt; da hätten sich allc Rechtgläubigen von ihm abgewendet, und vm, da an den Papst als Ketzer, nicht mehr als das Oberhaupt anerMmrn »vollen. Nach dem Tode hätte man aber dm Formosns ausgcgral'm nnd ihm die Finger abgehauen. — Welche sonderbare Sage, und wie wunderbar sich Traditionen verbveitm nnd erhalten! — Vaioninö erzählt nämlich auch, daß im !). Jahrhundert wirklich der Papst Stephan VI. scinen Vorfahr, den Papst Fornwsus, habe ausgraben und enthaupten lassm. Dasi rr ihm zugleich die Fing« habc abhauen lassen, führt zwar Naronius nicht an, es ist aber leicht möglich! 300 D. N. Ja; aber Christus? Hr. v. C. Hatte Christus einen Bart, als er Knabe war? Du sollst Christus ähnlich werden; aber welchem? Dem Knaben, der im Tempel lehrte, oder dem Manne, der für uns litt? Wie kannst du eine körperliche Aehnlichkeit mit Christus fordern? Und nun die Mutter Gottes und alle heiligen Jungfrauen und Frauen, und alle Weiber überhaupt, sind sie nicht auch nach Gottes Ebcnbilde geschaffen? Und doch haben sie keine Bärte! D. N. Aber den heiligen Männern sollen wir doch möglichst nachstreben, und siehst du, sie haben alle Barte! Hr. v. C. Der heilige Georg hat keinen, wie du auf seinen Bildern sehen kannst. D. N. Er war ein Krieger und wird wohl dem Befehle seiner Qbcrn haben Folge leisten müssen. Hr. v. C. Auch der heilige Laurentius hatte keinen Bart. D. R. Doch, er hatte! Hr. v. C. Nein! D. N. Ja! — Doch da ist kein ferner Streiten, l»l,8<:Il!u na 0 rnickc» In'ßm, habc ich gehün, .lU3 land. Die meisten Starowerzen erkennen nicht einmal die Taufe der orthodoxen Kirche als richtig an, sondern taufen wieder. , Folgende Anekdote mag hier als Zeichen ihrer altväterlichen nationalen Anschauungen Platz finden. Einer von der Sccte, welche den Eid verwerfen, wird zum Soldaten ausgehoben. Als er den Fahneneid leisten soll, weigert er sich. —- „Warum willst du nicht?" „Meine Religion verbietet es mir, aber wenn es mir auch erlaubt wäre, so schwöre ich doch nicht dem, den ihr Kaiser (Imperator) nennt; ich würde nur dem ächten, dem weißen Czar schwören. Unsere Bücher und Bilder enthalten seine wahre Abbildung; er hat die Krone auf dem Haupte, das Zepter und den Reichsapfel in den Händen, ist eingehüllt in ein langes goldenes Gewand; dieser Kaiser hat ja einen Hut auf, eine Uniform an, einen Degen an der Seite, wie alle Soldaten, die ich gesehen habe; er ist Unsersgleichen, aber nicht der ächte Czar." — Der Eid soll diesen Leuten später erlassen sein. Man unterscheidet .t Hauptabtheilungen, die sich eine aus der andern entwickelt hat, von denen aber die letzte sich wieder in unzählige kleine abweichende Secten gespalten hat. l) Die Icdinowerzen oder Blagoslowennye (die Gleich-gläubigen oder Gesegneten). Den ersten Namen hat ihnen das Gouvernement und die russische Kirche beigelegt, mit dem zweiten bezeichnen sie sich selbst. Es bestehen durchaus keine wesentlichen Untcrschcidungslehren zwischen ihnen und der orthodoxen russischen Kirche. Alle Unterschiede betreffen Ceremonien und symbolische Gebräuche. Die Starowerzen bekreuzen sich, indem sie Daumen, kleinen Finger und Ringsinger zusammenlegen, die Orthodoxen, indem sie Daumen, Zeigesinger und Mittelfinger zusammenlegen. Die Starowerzen halten das Ab-Heeren der Bärte für eine Sünde, der gemeine orthodoxe Russe 'M Grunde seiner Seele auch. Die Starowcrzen behaupten, der Name Jesus müsse dreisilbig ausgesprochen werden. Bei Proccssionm gehen sie rechts um die Kirche; der Patriarch Nikon hatte geboten, links zu gehen. Sie tragen und beten sämmtlich Rosenkränze, während in der orthodoxen Kirche dies nur die Mönche thun. Die Starowcrzen singen Ostern das Allcluja nur zweimal/ die Orthodoxen dreimal. Die Starowcrzm halten 3tt4 das Tabakrauchen für Sünde, nach dem Spruche: Nicht was in deinen Mund hineingeht ist Sünde, sondern was von ihm ausgeht. Kasseetrinkm und Thcetrinken ist auch sündlich. Die Kartoffel ist eine Frucht des Teufels. Sie deuten nicht übel an, die Frucht, womit die Schlange die Eva und Diese Adam verführt habe, sei eine Kartoffel gewesen u. s. w. Wie alles dieses eine Spaltung hat veranlassen können, begreift man kaum! Aber jene Zeit des 17. Jahrhunderts war eine Zeit haarscharfer religiöser Begriffsspaltungen. Es wehere eine Zugluft der Art über ganz Europa, die casuistischcn Disputationen der Jesuiten und der protestantischen Theologen geben hiervon Zeugniß. In Rußland disputirte damals auch alle Welt, Priester und Laien, öffentlich, alls den Straßen, selbst auf dem Markte von Moskau über religiöse Gebräuche :c. Auch war eben damals ein theologischer Streit entbrannt zwischen der Schule von Kiew und der von Moskau. Die theologische Schule von Kiew galt damals und fast noch gegenwärtig (wenn die Petersburger sie nicht jetzt überflügelte) für die gelehrteste. Der Streit betraf einen Punkt der Euchanstie; ob nämlich die Wandlung in der Messe in dem Augenblicke geschehe, wo der Priester die Worte ausspricht: Dies ist mein Leib :c., oder erst, wenn er die Hostie (das Brod) opfernd in die Höhe hält. Die Kiewsche Schule und mit ihr die k lein russischen, wcißrussischen und litthauischen Bischöfe adoptirten die erste Meinung, welche zugleich mit der römischen Ansicht übereinstimmt. Die andere Meinung ward von der Moskauer Schule und dem Patriarchen Nikon im Ein-verständniß mit Konstantinopel gelehrt und vertheidigt. Damals begann Nikon seine liturgischen Verbesserungen. So war es denn ziemlich natürlich, daß in der disputirsüchtigcn Zeit auch hierbei sich eine Oftposition bildete und die Starowerzcn sich constituirten. Die Kiewsche Schule und die westlichen Bischöfe nahmen sich auch anfangs ihrer eifrig gegen Nikon an, und da fehlte es denn freilich nicht, daß man ihnen und bald auch den Starowerzen römische Sympathien vorwarf, wie dies un^ gekehrt die Starowerzen dem Nikon thaten. Peter l ließ spater den Silvester Mcdwediw enthaupten, der auch zu den Sta-rowerzen gerechnet wird und der entschieden unter dem Einflüsse 363 des Simeon Poltzk und einer römisch-katholischen Richtung stand. Simeon Pvlsk war der erste in Rußland, der in der Kirche predigte. Der Patriarch verbot es ihm, aber der Czar schützte ihn. 2) Die zweite Abtheilung sind die Starovbradzi. Sie stimmen in allen Dingen völlig mit den vorigen überein, aber sie verschmähen jede Verbindung mit der orthodoxen russischen Kirche. Statt also Subjecte bei den russischen Bischöfen zu Priestern weihen zu lassen, behelfen sie sich mit Läuflingen, ausgestoßenen oder flüchtigen Popen, die sie dann erst vorher jede Verbindung mit der Kirche abschwören lassen, worauf sie ein Gebet über sie halten. Sie nennen das die Besserung. Die Secte ist zahlreich. 3) Die dritte Abtheilung sind die Pomorane (die am Meere Wohnenden) oder BespopoMchina (die Priesterlosen). Diese haben, da sie keine Priester mehr haben und auch nicht mehr für nöthig halten, sich in unzählige Unterabthcilungcn gespalten, die sich meist nach ihren Führern Filivftos, Fcvdo-sius, Abakun: Filipponen, Feodosiani, Abakuni ic. nennen, jedoch unter einander und selbst mit den beiden früheren Abtheilungen der Starowcrzen namentlich der Kirche gegenüber in bestimmter und enger Verbindung stehen. Es ist auch nicht unwahrscheinlich, daß sich mit ihnen auch einige von den oben bezeichneten älteren Secten, die ich zum Theil für Reste gno-stischer Secten halte, vereinigt haben. Diese Secten sind eigentlich nur dadurch entstanden, daß sie, ursprünglich zur zweiten Abtheilung gehörig, entweder aller Mühe ungeachtet keine Priester-Läuflinge erhalten konnten, oder baß sie Zweifel an der Nechtmäßigkeit der Priesterweihe, weil sie von ketzerischen Bischöfen vollzogen war, erhoben hatten, ungeachtet diese Priester von der russischen Kirche abgefallen und zu ihnen übergetreten waren. Da sie nun ihrer Meinung nach ohne ihre Schuld der rechtmäßigen Priester und somit der allein durch diese zu vermittelnden und zu spendenden Sacramente entbehren mußten, so bildeten sich bei ihnen zwei verschiedene theologische Systeme aus. Die Einen sahen sich wie Katholiken an, die auf eine wüstc Inftl verschlagen sind, und die, da sie dic Sacramentc W6 nicht empfangen können, durch völlige Hingebung an den Willen Gottes, durch Gebet und Frömmigkeit geistiger Weise der Segnungen der Sacramente theilhaftig werden. Sie halten aber an der Hoffnung fest, daß die übrigen Russen dereinst sich wieder zu ihnen bekehren, die Irrthümer des Nikon abschwören und durch neue Priester- und Bischofsweihen, welche sie von den übrigen rechtgläubigen orientalischen Kirchen erhalten müßten, wieder eine ächte Kirche herstellen würden. Die Andern aber meinen, das Neich des Antichrist habe mit Nikon und dem allmählichen Ausstcrbcn des ächten rechtgläubigen Priesterthums begonnen. Die rechtgläubigen Christen müßten daher als verirrte Schafe umherirren und die nahe vom Antichrist erlösende Zukunft des Herrn erwarten. Einer drückte sich gegen mich in folgender Weise aus: „Die Welt hat vier Epochen gehabt: einen Frühling oder Morgen, von Adam bis zur Erbauung des Tempels Salo-monis; einen Sommer oder Mittag, von da bis zu Christus; einen Herbst oder Abend, von Christus bis zu Nikon oder Antichrist; jetzt ist es Winter und Nacht, bis der Herr erscheint und das Reich deß Antichrist bricht. Wir leben daher so viel als möglich nach den Geboten Christi und der Kirche; wir glauben an alle 7 Sacramcnte, aber sie sind uns außer der Taufe nicht mehr nöthig, weil es unmöglich geworden ist, sie zu empfangen." Diese beiden Hauptrichtungen zerfallen nun aber noch, wie oben gesagt ist, in unzählige Unterabtheilungcn ^), die in Klei- *) Bei einer derselben, die aber nicht zahlreich, ist vMommmc Miler-gcmemschaft eingeführt. Auch lml'en sic keine eigentliche feste »der gar unauflösliche Ehe, sondern sie schliefen b'oiitnntt' auf bestimmte Jahre oder ilündigung. Da kein Albrecht erislirl, st' gehören die Kinder auch nicht den Mem, sunder!: dcr Gemeinde an. (Unsere modernen Saint^ Simunistcu, Communism: n. thäicn klug, bei diesen heulen in deren Praitisch,' Cchule zu gehen). Im GunUcrmmmt Orel besitzt eine russische Dame eiu Gut, zu dem ein Dorf mit Einwohnern von dieser Serie gehörte. Die Dame gab sich Mühe, die Leute zu belehren, allein ein Baucnueib dea,cnm mit ihr zu diöpntiren, und war, da es das uruc Testament vollkommen von Wort zu Wort auswendig wußte, dergestalt überlegen, das? sie ihm nicht mehr zu antworten wnsNc! uud dennoch 367 nigkeiten, in einzelnen Gebräuchen, unwesentlichen Ceremonien und Lesarten der liturgischen Bücher von einander abweichen. Diese Abtheilungen sind vielleicht aus den in den Theilfürsten-thümern entstandenen abweichenden Gebräuchen und verschiedenen Lesarten der liturgischen Bücher entstanden, denen Nikon damals entgegentrat. -^ Zwei Untcrabtheilungen habe ich selbst nun ziemlich genau kennen zU lernen Gelegenheit gehabt, die Mipponen und die Fcodosiani. Die Filipponen lernte ich schon 1837 in Ostpreußen kennen, wohin ein Theil derselben bereits 1825 aus Polen her, etwa 400—5,00 Köpfe stark, eingewandert war. Ich berichte über ihre Lehren und Lebensweise Folgendes: Die Filipponen haben, wie angeführt ist, keine Priester, aber sie haben Kirchendiener oder Aelteste (Stariki). Ein Vater bestimmt einen seiner Söhne "on Kindheit auf hierzu. Der Knabe darf dann nie Fleisch und am Tage nur ein mal warm essen, keine hitzige Getränke trinken, darf, erwachsen, nie heirathen. Ein benachbarter Starik führt ihn, sobald er ein angemessenes Alter erlangt hat, bei seiner neuen Gemeinde ein, betet kniend mit ihm gewisse Gebete und umarmt ihn dann. Damit ist die Einführung geschehen; er darf aber bei dieser Gelegenheit nicht das Kreuz über ihn schlagen, das würde wie eine Ordination aussehen, bie sie nicht dulden. Alle Stariks sind im Range gleich, es klistirt kein Unterschied, keine hierarchische Gradation unter ihnen. Sie tragen einen langen schwarzen wollenen Rock wie ein Mönchsgcwand lind eine schwarze Mütze mit rother Einfassung, leben nur von Almosen. Sie können von der Gemeinde wegen schlechter Aufführung, nachdem jedoch benachbarte Stariks Alles untersucht habet,, entlassen werden. — Ihre Functionm bestehen in Vorlesen, Psalmcnsingen, Beten beim Gottesdienste. lo„ntc das Weib wed« lesen noch schrribm, Die Dame gab nun ihrem Verwalter den Auftrag, noch fernere Vekehrungsvcrsnche zu machen; der aber erwiederte, das winde ganz gegen dir uiattrirttm Interessen der Dame anstoßen; gegenwärtig stien diese Leute die fleistigstm, ordentlichsten Arbeiter und Wirthe, nie Säufer, nie Dicke, nie Lügner und Betrüger, ob sie das aber blieben i wenn sie belehrt wären, nwchtt mehr als zwek fclhaft sein! 368 Die Stariki taufen nach dem überall vorgeschriebenen Ritual. Communion, Firmung und letzte Oelung kennen die Filipponen als Lehre der Kirche, empfangen diese Sacramente aber nicht, weil ihnen die spendenden Priester fehlen. Sie beichten 3 mal im Jahre ihre Sünden einem Heiligenbilde in Gegenwart des Stank, der ihnen dann eine Buße auferlegt und danach spricht: „Mögen dir deine Sünden vergeben sein!" Die Ehe wird durch gegenseitig ausgesprochenen Willen vor dem Altare und in Gegenwart dreier Zeugen ohne Zuziehung des Stank geschlossen. Getrennt kann sie werden aus drei Gründen: Ehebruch, Epilepsie und versuchte Tödtung des Ehegatten, aber auch dann nur von Tisch und Bett. Von der Bibel haben sie nur die liturgischen Theile, die vom H. Kyrillus übersetzt sind. Ein Buch des Kyrillus Ierusalemski steht in hohem Ansehen. Ferner die Kormtschaja Kniga, welche als Nechtsbuch bei ihnen gilt. Sie kennen und haben die gewöhnlichen kirchlichen Glaubensbekenntnisse. Sie glauben an Gott den Vater, der die Erde erschaffen hat. Als diese sich dem Himmel fest vereinte, habe er Jesum Christum, seinen Sohn, darauf gesetzt und von der Mutter Gottes geboren werden lassen, um die Menschen zu erlösen und zu bekehren. Der h. Geist ist vom Vater, ausgegangen, um die Menschen zu heiligen. — Sie verehren Maria, die Mutter Gottes, und andere Heilige, glauben, daß sie ihre Bitten bei Gott vermitteln, daß selbst ihre Bilder eine geheime göttliche Kraft haben; glauben an den Teufel und seine Einwirkungen; glauben an ein jenseitiges Leben und eine Vergeltung nach dem Tode, die aber nicht gleich, sondern erst am jüngsten Tage nach dem Weltgerichte eintritt. Bis dahin sind die Seelen in einem gleichgültigen Zustande. Beim Weltgerichte erscheinen die Bösen mit ihren Leibern, die Guten aber körperlos. Die Guten werden sich im Paradiese an Wohlgerüchen laben, die Bösen aber in der Hölle durch stinkendes Feuer gemartert werden. Jeder muß eine Anzahl heiliger Bilder haben und täglich drei mal sein Gebet, besonders das Vaterunser, vor denselben halten; die Fasten der griechischen Kirche: jeden Mittwoch, weil Christus da verrathen wnrde, jeden Freitag, weil er da gekreuzigt IM) wurde, dann die vollen 7 Wochen vor Ostern, 2 Wochen vor Peter und Paul, 2 Wochen Ende August, 6 Wochen vor Weihnachten, werden streng gehalten. Branntwein und Bier sind streng verboten, Wein nur dann erlaubt, wenn er von Glaubensgenossen (allen Starowcrzcn) gekeltert ist. Der Eid ist bei ihnen verboten, doch haben sich die, welche nach Polen und von da nach Preußen ausgewandert sind, einer Art Eidesformel unterworfen. Sie legen die Finger ihrer rechten Hand zusammen wie bei ihrem Kreuzschlagen, Zeigefinger und Mittelfinger ausstreckend (Zeichen der beiden Naturen in Christo), Daumen, Ringfinger und kleinen Finger zusammendrückend (Zeichen der Dreieinigkeit), dann treten sie vor ein Kreuz und sagen: „,j<'i, ^i, i«i i»i'lnvlw! --- es ist, es ist, es ist wahr!" Ueber ihre bürgerliche Verfassung gebe ich folgende Notizen. Sie haben keine Familiennamen, sondern kennen nur Taus-namcn. Eigentliche bürgerliche geschriebene Gesetze haben sie nicht. Sie unterwerfen sich im Allgemeinen den Gesetzen der Länder, wo sie sich eben befinden. Ihr Gemeinde- und Familienleben regeln sie aber nach alten Gewohnheiten und Gebräuchen. Ihre Streitigkeiten entscheidet ihr Stank mit Zuziehung einiger Familienhäupter. Unter den Ehegatten ist Gütergemeinschaft, aber der Mann disponirt allein. Der überlebende Theil bleibt im Besitz des Ganzen. Uneheliche Kinder haben nur Recht an der Mutter Gut, An den Kindern haftet kein Makel, aber die Gefallene muß sich in der Tracht auszeichnen; sie musi 2 Zöpfe ihrer Haare uach vorn über die Brust hangen lassen, während eine verbcirathete Frau nur einen Zopf nach hinten herab hängen läßt. Die Nechtsbegriffe von Kindestheil, Psiichttheil, Mündigkeit und Unmündigkeit, und Vormundschaft sind ihnen fremd. Nach dem Tode der Eltern nehmen die Söhne Alles, theilen aber in der Negel nicht, sondern bleiben in der Gemeinschaft unter der Herrschaft des Aeltesten sitzen. Dies thut auch oft noch die nächste Generation. Wenn aber getheilt wird, so erhalten alle Brüder gleich viel. Die Schwestern werden von den Brüdern willkürlich ausgestattet. Sind keine Söhne vorhanden, so erben die Töchter, sind keine Kinder da, die Ascendcnten, und dann die ssollateralcn. Sind keine Verwandte vorbanden, so 24 370 fällt Alles an dir Gemeinde. Der Grund llnd Boden gehört auch bei den Filipponen, wie bci allen Russen, nicht zur Erbschaft, da er der Gemeinde angehört u>ld stets unter alle männlichen Gemeindcglieder zum Nießbrauch gleichmäßig vertheilt wird. Ob die hier angedeuteten Nechtsgewohnheitcn bei den Filipponen in Rußland selbst gelten, oder ob sie sich in Polen, wohin die von mir beschriebenen schon vor langer Zeit eingewandert waren, erst gebildet haben, weiß ich nicht. Da ihre Ehen in Rußland nicht anerkannt werden, so können natürlich auch die Kinder die Väter nicht beerben. Da helfen sie sich dann durch Schcinvertragc, durch Donationcn und Uebcrtragungen bei Lebzeiten. Die Feodosiani habe ich in Rußland selbst kennel» gelernt. Durch Vermittelung des oben bezeichneten Freundes, der als Arzt mit ihnen in freundlicher Beziehung stand, ward ich in seiner Begleitung an einem Sonntagmorgcn zu ihrem Gottesdienste eingeladen und zugelassen. Wir fuhren nach einem einsam liegenden Gehöfte, und wurden an dessen Eingänge von den Aeltesten empfangen, die uns über einen großen Hof nach einem weitläufigen einstöckigen Gebäude führten, welches sich im Acußern nicht von einem gewöhnlichen Wohnhause etwa eines russischen Adligen, oder Fabricanten unterschied. Durch mehrere Gemächer, die von Gemeindegliedern angefüllt waren, welche uns ernsthaft mit tiefer Verbeugung grüßten, kamen wir in einen völlig als Kirche eingerichteten großen Saal, der noch leer war, weshalb wir Zeit hatten, die ganze Einrichtung zu übersehen und uns dabei nach Allem zu erkundigen. Die Einrichtung war folgender Gestalt: Z?1 ^. Ein mit 4 Fuß hohen Brettern abgetheilter Raum für die Katcchlnnenen. N. Der eigentliche Betsaal der Gemeinde, ohne Bänke, da Alles während des Gottesdienstes steht. l^. Nanm für die Aeltestm und die Sänger. I). Der Naum vor dcr Ikonostase (Bilderwand), wo die Vorleser und Vorsänger an fünf Pulten stehen, auf denen die liturgischen Biichcr, auf dem mitteisten vor einem Crucifixe, liegen. Hinter der Ikonostase steht in den russischen Kirchen das Sanctuanmn, wo der Altar, zu dem drei Thüren durch die Ikonostase führen, in der Mitte steht. , Dieser Naum und der Altar fehlte hier, die drei Thüren der Ikonostase waren angedeutet, aber verschlossen. Auf dcr Ikonostase war in der Mitte das Bild deS segnenden Christus, links neben ihm die Mutter Gottes von Smolensk (mit dem Kinde auf dem linken Arme), neben ihr der h. Dnnitri Priluzki, rechts neben Christus der h. Nikolai, und neben demselben noch ein anderer Heiliger. Darüber eine Menge Bilder für die heiligen Feste. Ganz oben in der höchsten alleinstehenden Nische dcr Ikonostase das Bild Christi auf dem Tuche abgedruckt. Es ward uns eine Bank zum Sitzen unmittelbar am Fenster vor der Ikonostase angewiesen, von wo wir Alles auf das genaueste übersehen konnten, Nach und nach füllten sich allc Näume, jedoch nur mit Männern, denn wir waren zunächst in den Betsaal der Männer gekommen (später sahen wir auch den von diesem völlig abgesonderten Betsaal und Gottesdienst der Weiber). Der Gottesdienst begann, einer der Vorleser trat an den Betpult rechts und, las in monotoner Weise ein langes Gebet vor, dessen Cnde ein 4l) Mal wiederholtes (io^mlli i>l»milui (Herr erbarme Dich unser!) war. Nach dessen Beendigung trat der Aclteste der Gemeinde, mit herrlichen langen weißen Locken und Bart, vor den mittclsten Bctpult, verbeugte sich mehrmals vor der Ikonostase und sprach einige Worte, worauf die rechts und links stehenden beiden Sängerchöre abwechselnd sangen. Es war ein mouotouer, einfacher Gesang, uni««»«. Dann las vor dem Betpulte links ein Vorleser daß Evangelium des Tages, rechts 24 5 372 ein anderer das Credo, dann ward das Tedcum und zum Schluß der Lobgesang Maria von den Chören gesungen. Es herrschte tiefe Stille, große Andacht, ein schwermüthiger Ernst unter den Leuten! Nun führte man uns durch mehrere Gemächer über einen andern Hof in den eben so großen Bct-saal der Weiber. Dieser Saal hatte dieselbe Einrichtung, wie der vorige, aber die Ikonostase hatte einige andere Bilder, statt des heiligen Dimitrij war hier Johannes der Täufer, und statt des Christus auf dem Tuche war hier in der höchsten Nische das Bild des Gottes Zebaoth mit ausgebreiteten segnenden Armen. Der Gottesdienst der weiblichen Kirche war im Wesentlichen derselbe, aber außer uns Fremden war nur ein Mann in der Kirche, welcher das Evangelium des Tages vorlas. Das übrige Vorlesen geschah durch Frauen oder vielmehr durch alte Madchen, die bei den Starowerzen einer besondern Verehrung genießen. Bei den Starowcrzcn unter den uralischen Kosaken heißt daher ein unverheirathetes altes Mädchen ^ln'>8l.<»ni» ncnvjl^ll» — eine Braut Christi. Dies ist doch edler und chevaleresker, als die öffentliche Meinung in Westeuropa, wo dir armen alten Mäd-chen, „die alten Jungfern", zum Stichwort einer Art socialer Mißachtung dienen! Die Melodien der Gesänge hatten große Aehnlichkeit mit den Chorgesängen in den römisch katholischen Kathedralkirchen. Kopf, Stirn und selbst den untern Theil des Gesichts der Weiber bedeckte, fast wie bei den mahommedanischen Weibern, ein langes weißes Tuch, welches auf dem Rücken breit herabhing. Nach dem Gottesdienste wurden wir von den Aeltesten der Gemeinde in ein ziemlich modern möblirtcs Zinnner geführt, und, um den Contrast zwischen allrussischem Wesen und modern europäischem Leben zu vervollständigen, mit Champagner und Apfelsinen bewirthet! In Moskau lernte ich die Wohlthätigkeitsanstalten dieser Bespopowtschina kennen. Durch Vermittelung eines gelehrten Mannes erhielt ich einen Empfehlungsbrief an einen ihrer Aeltrstcn, denn der Zutritt ist sonst nicht leicht. Am 5. Dec. 184^ holten mich ein paar Freunde in ibrem Schlitten ab. 373 6s war cm schöner, sonnenheller, nicht kalter Morgen. Wir kamm in entlegene Gegenden des ungeheuren Moskau's, zwei Mal über weite-, öde Felder in eine der Vorstädte, die ganz wie schöne russische Dörfer gcbauet sind, mit nur einstöckigen, von übereinander geschichteten Balken aufgebaueten Häusern, sämmtlich in Gehöften liegend, welche mit Bretterwänden und einer (5'infahrthür von der Straße geschieden sind. Hier passirte uns nun das (>uriosum, daß wir länger als eine Stunde muh erfuhren, ehe wir den Mann auffinden konnten, an welchen unser Empfehlungsbrief gerichtet war. Weder ein Vorübergehender noch selbst die Straßenpolizei wollte den Namen des angesehenen und reichen Mannes kennen. Erst als mein russischer Freund einem uns Begegnenden den Brief zeigte und sagte, von wem er herrühre, wurden wir bereitwillig an sein ansehnliches, keineswegs verborgen liegendes Gehöfte geführt, und dann auch, nachdem er den Brief gelesen, auf das freundlichste und gastfrcieste aufgenommen! -, Er führte uns zunächst in eine Art Hauskapellc, wie sie jeder von ihnen, nach seiner Aussage, neben seinem Schlafzimmer hat. Sie dient zugleich zum Wohnzimmer, aber eine der Wände ist in der Weise der Ikonostasen der russischen Kirchen ganz mit Bildern bedeckt. Es dienen hierzu nur ganz alte Bilder auf Goldgrund gemalt, oder solche die von den Malern der Secte genau nach den altern ' Mustern copirt sind. Schon die streng orthodoxen Russen der Staatskirche sehen nicht gern moderne, im weltlichen und occi-dentalischen Styl gemalten Bilder in ihren Kirchen. Bei allen Arten der Starowerzen gilt dies aber völlig für sünd-lich, ja ketzerisch. Die alten Bilder sind nicht, wie die neueren, Erfindungen der Maler, sie gelten vielmehr als wirkliche Portraits der Heiligen, oder vom Himmel geschenkte oder gefallene miraculöse Bilder. Man hat einen Bilderbogen, worauf sämmtliche Abbildungen der Jungfrau Maria, welche eine kirchliche Geltung haben, in Holzstich abgebildet sind. Vs sind ihrer 77, und jedes hat seinen besondern Namen und gilt als ein wundcrthatiges vom Himmel geschenktes Bild. Da giebt es eine heilige Mutter Gottes von Kasan, cine von Smolensk, von Wladimir :c, Aber auch eine German ska ja und eine Nimskaja ist darauf abgebildet. Die Gcrmanskaja oder deutsche soll ein wunderthätiges Bild in Salzburg, die Nimski, römische, das dem Evangelisten 3ukas zugeschriebene Bild der Maria in Loretto sein. Die Bilder auf der Ikonostase unsers Starowerzen waren alle sehr alt. Hinter einigen standen die Namen der früheren Besitzer mit einem siuspulli ^nmilui (Erbarme Dich unser), wenn es das Bild Christi, oder: Bitte für uns, wenn es das Bild eines Heiligen war. Darunter befand sich mehrmals der Namen der berühmten Familie Stroganow. An den übrigen Wänden befanden sich mehrere Portraits von neuern Männern der Sccte, die sich unter ihnen ausgezeichnet hatten — etwa gemartert waren. Darunter die Portraits eines Fürsten Me-scherski und seiner drei Enkel oder Söhne, die zur Zeit Peter l. als zu den Strarowcrzcn gehörig gegolten hatten. Nach dem Frühstück führte uns nun unser Wirth nach ihren Hospitälern, welche übrigens bei der Polizei nur unter dem Titel ihrer Begräbnißplätze sigurircn. Auf einem weit ausgedehnten Platze lagen zwei ungeheure festungsartige Bierecke. Hohe Mauern mit Thürmen, überbaueten großen gewölbten Thoren, über welche wieder aus dem Innern die vielen Kuppeln mehrerer Kirchen hinüberragten, standen vor uns. Das Gan^c gewährte einen' imposanten Anblick, die Architektur im Einzelnen war interessant und sehr eigenthümlich, namentlich siel mir ein herrliches Portal von Sandstein mit seltsamen Basreliefs am Eingangsthore zum Frauenhospital auf, welches aber offenbar einem früheren sehr viel älteren Gebäude Moskau's, vielleicht einem allen Czarenpalastc, angehört hatte, und hier nur bciucht und verwendet war. Die Bierecke waren im Innern rundum von einer großen Menge meist zusammenhängender Gebäude umgeben, welche die Wohnungen der Armen, Alten und Kranken, die Ställe, Magazine, Küchen :c. bildeten. In der Mitte der Bicrcckc lagen zwei prächtige Kirchen mit vielen Kuppeln, mit derselben Einrichtung wie ich sie oben beschrieben habe, nämlich nur eine Ikonostase, aber keinen Altar enthaltend. Zuerst führte man uns in das Thorhaus, wo sich eine vollständig eingerichtete Canzlci befand, welche auch wohl als nothwendig erscheint, wenn man bedenkt, daß in einem solchen Vierecke stets vielleicht mehr als 1000 Menschen wohnen! In großen Sälen der Wohnhäuser wohnen meist 50 bis l>0 Männer (im Fraucnhospital Weiber) zusammen. Eben so viele sind dann in dcn Schlafsalcn vertheilt, wo jeder aber sein besonderes Bett: Strohsäcke, Kopfkissen lind wollene Decke, hat, Von einem Saal zum andern führt ein offener Gang, welcher von beiden Seiten kleine abgesonderte Zellen hat für schwer Erkrankte. Von diesem Saale führt dann wieder ein solcher Gang mit Zellen rechts und links in einen großen Betsaal, ganz wie die oben beschriebenen Kirchen eingerichtet und verziert. Dergleichen Betsäle gab es in jedem Vierecke vielleicht (» bis 6 außer dcn beiden wirklichen Kirchen in der Mitte. Die Kranken und ganz Alten und Schwachen, wenn sie kcin Vermögen haben, werden aiF allgemeine Kosten ernährt und verpflegt, Rüstigere müssen für ihren Lebensunterhalt etwas arbeiten. Im Allgemeinen ist jeder verpflichtet, 10 Stunden des Tages dem Gottesdienste in dcn Betsälen beizuwohnen, wovon nur jene diSpcnsirt werden, die für den nöthigen Lebensunterhalt arbeiten müssen. Dieser Gottesdienst, in der Weise, wie er oben beschrieben ist, ausgeführt, dauert Tag und Nacht durch, und die Vorleser und Sänger wechseln alle zwei Stunden. In dem Vierecke der Weiber sind dies natürlich Vorleserinnen und Sängerinnen. Verpflegt wurden in diesen Anstalten etwa 200 Männer und 7 bis d00 .Weiber. Kinder sah ich nirgends. Alle gehören der Secte. Wcnn Arme einsprechen, die nicht zur Eccte gehören, so werden sic gespeiset, dürfen aber nicht über Nacht bleiben. Alle Einrichtungen mögen unvollkommen und noch roh sein, man wird sie nicht mit denen in geregelten europäischen Hospitälern im Detail vergleichen können; aber man bedenke, daß diese doch im Ganzen großartigen Einrichtungen von Leuten ausgegangen und vollendet sind, deren Bildung die der deutschen Bauern lange nicht erreicht hat, die gar keine Unterstützung, nicht einmal eine Anleitung vom Gouvernement erhalten, die mit Fremden und Gebildeten anderer Völker in gar keiner Verbindung stehen. Sic sind überall auf Hindernisse gestoßen, und haben doch auf eigne Faust und allein mit eigenen Kräften gehandelt, und am Ende ein Institut gegründet, welches an Um- :i70 fang und Ncichthllln die meisten Privatinstiture der Art übertrifft. — llnd wcr sind sic? Russische Bauern, ohne Priester, ohne Adel, ohne Cultur und europäische Bildung, voll Mißtrauen, voll Bomrtheilc gegen jede Art des Fortschritts! *) — Diese schon so lange dauernde, geschlossene und feste Organisation solcher rohen Massen, ohne consequentes System, ohne Theologie, ohne Adel, ohne Priesterthum hat etwas Wunderbares! Nur der ungemein starke Associationögeist und die daraus hcrvorgewachsene unvergleichliche Gemcindeverfassung des großrussischen Stammes erklärt sie. Die dritte Art und Neihe von russischen Sccten sind die seit Peter I. aus der russischen Kirche, offenbar durch Einwirkung occidentalischer religiöser Anschauungen, hervorgcgangenen, wobei sich jedoch auch Neste älterer russischer Secten angeschlossen haben und in dem neuen Namen aufgegangen sein mögen. Es mag hierbei vielleicht eine Menge von Sectcn und Unterabtheilungen derselben geben, man faßt sie aber unter den Namen Malakanen und Duchaborzen zusammen. Diese Secten haben keine geschlossene Kirchenverfassung, sie bilden nicht einmal feste Genossenschaften. Es ist aber viel mehr philosophisches und theologisches System bei ihnen zu finden, als bei allen übrigen russischen Sccten. Diese Systeme sind jedoch solcher Ausdehnungen und Abweichungen fähig, daß man eine Menge wichtiger einzelner Sätze und Meinungen aufstellen kann, die man in einer Gemeinde findet, in einer andern ganz benachbarten aber nicht, so daß dann vielleicht der eine läugnen wird, bei ihnen gesunden zu haben, was der andere als einen ihrer Glaubenssätze aufstellt. Wenn wir bei den Starowerzen das strengste, ängstlichste Festhalten an dem traditionell Hergebrachten, die Reaction des *) In neuester Zeit sind zwar rcichc Äauslmtc und Falmmnttn Selten. 377 (wenngleich mißverstandenen) conservativen altkatholischen Kir-chenclcmcnts haben beobachten können, so sehen wir hier reformatorische, die Grundprincipien der Kirche auflösende Elemente. Jene sind eine völlige Versteinerung des äußern Kir-chenthums, des Ceremonials, diese eine vollkommene Verflüchtigung desselben. Betrachtet man die Richtung und das Prophetische, was in den Grundgedanken der netteren Secten liegt, so kann man sich nicht der Ahnung einer vielleicht nahen innern Umwandlung der orientalischen Kirche erwehren. Diese geistigen Secten sagen nämlich durch ihr Dasein, ihre geistige Richtung und ihren Bestand: „Das Christenthum hat, um raschen Eingang bei den sinnlichen Heiden zu finden, auch einen möglichst sinnlichen Gottesdienst und strenge äußerliche Kirchenreformen adoptiren müssen. Allein es ist im Orient dann auch ganz hierin untergegangen und versteinert. — In jetziger Zeit nun aber, wo das Heidenthum längst völlig untergegangen und vergessen ist, bietet dennoch die Kirche, wie sie dies ihrer Richtung nach doch sollte, dem gläubigen Volke nichts vom Kerne und vom wahren Geiste des Christenthums. Wir also, die wir eben diesen suchen, finden in ihr nicht die Befriedigung dieses Bedürfnisses. Wir müssen uns daher von ihr trennen, das Ganze des sinnlichen Gottesdienstes ausgeben, um das reine, das geistige Christenthum zu finden und zu erwecken." — Es scheint uns hiernach klar, wenn die orientalische Kirche jetzt nicht und nicht bald aus dem Nimbus ihrer Aeußerlichkeit heraustritt, ihre Theologie entwickelt, ihre Belehrungen gewährt, die sie doch am Ende in ihren apostolisch christlichen Grundlagen wirklich besitzt, so wird sie, den geistigen speculativen Richtungen der jetzigen Zeit gegenüber, die sich schon in diesen ihren Sccten ankündigen und mamfcstiren, offenbar verlieren, und werden ihr tiefe Wunden geschlagen werden. Dies wird wahrscheinlich zunächst ihr Fall in Griechenland selbst sein, sobald die moderne Cultur sich dort mehr und mehr verbreitet. Die amerikanischen Missionaire haben dort schon jetzt ziemlich thätig vorgearbeitet! ....... In Rußland hat sie freilich noch einen ungeheuren äußeren Halt, indem sie s» Mlig mit der Nationalität und größten theils mit den Nationalgcsühlen indcntificirt worden ist, daß sic sast ihren 378 Anspruch auf Allgemeinheit (Katholicität) aufgegeben hat, um eine Nationalkirchc mit einem Nationalcultus zu werden. — Aber welche Nation vermag am Ende dem sich unmcrklich, aber auch unwiderstehlich verbreitenden Miasma der modernen Cultur, der geistigen Richtungen, die sich von Volk zu Volk mit rasender Schnelle verbreiten, zu widerstehen! Die römisch-katholische Kirche war im ltiten Jahrhundert in einer analogen Lage, aber sie hatte eine selbständige (die scholastische) Philosophie, sie entwickelte eine gewaltige conse-quente Theologie, große geistige Richtungen, neue kräftige und thätige, kirchliche Institutionen, namentlich im Mönchsthum, und überwand daher, trotz des Abfalls eines Viertels ihres Bestandes, in ihrem Innern siegreich die zersetzende Zeit. Allein freilich, sie hatte bei allen ihren geistigen Bestrebungen und inneren Kämpfen einen Ungeistern und Anker in ihrem ^mttl-um unilnli», was der orientalischen bis jetzt fehlt. Man darf sich daher nicht wundern, dasi das Sectenwescn, welches überdies, wie wir oben gesehen haben und weiter unten sehen werden, mitunter zu den furchtbarsten Gräucln dort geführt hat, vom Gouvernement möglichst niedergehalten wird. Die Zeit der Entstehung und der Entwickelung dieser russischen Scctcn ist völlig dunkel. Spuren einzelner Lehren scheinen im Anfang des !8tcn Jahrhunderts aufzutauchen ^), ausgebildete theologische Systeme sind aber in der ersten Hälfte des 18ten Jahrhunderts nicht zu erkennen. Doch war 1734 in Moskau cinc Untersuchung über eine auftauchende Secte gc- *) Proeop Lupün, cm gemeiner Cttelitz, lehrte, die Kirche sei vom ächten Geiste des Christenthmns verlassen, er aber sei berufen, ihn wieder zn eiwcckm. 6i ward !7ll) zum Todr vN'M'thcilt, Echoil fnih« ha!>^ ein nach NiipllMü ssrkommmcr Schll'sicr j'nllman zl Dimitrij Twarir ralviinstischc ^chre!» »utt^r den StN'Nhm, nnlcln' w>n!^!ll'»s dic äusü'i'ü Ccrnnoninl vcrwlivfln, doch von innerer Offmbanmg nichtü anosprach»». Diese Lehren würden aus der lehten .ffirchmveisammllMli, die in »iüsi-la»d gehalten ist, !7l4, gerichlet und derwursen. ^o,l allci» Dieseln möge» Ideen nnd Splircn üdril) geblieben sein, welche die Enlsiehmiss der vln-^en irntlich eonstitnirten Seclen erleichtcri haben, 379 wescn, die an eine innerliche unmittelbare Offenbarung glaubte, die Sacramcnte: Taufe, Abendmahl und Ehe, nur im geistigen Sinne gelten ließ, und deren Anhänger unter heftigem Springen und Hüpfen den in ihren Gliedern wohnenden heiligen Geist anriefen, worauf sie dann häusig in Convulsionen und ekstatische Zustände verfielen, prophezeiten :c. Ich vermuthe, daß diese Leute zu jenen schon oben beschriebenen ältern Scctcn gehört haben, aber allerdings haben ihre nicht theologisch ausgebildeten Lehren den Grund geebnet, worauf die Malakanen und Ducha-borzen ihr System unter Beihülfe westeuropäischer Ideen und Lehren aufgebauet haben. Die Malakanen möchten wohl die ältere Secte sein. Die Duchaborzen sind entweder aus ihnen unmittelbar hervorgegangen, oder ihre Lehren sind doch wenigstens durch die der Malakanen erweckt und angeregt. Eine Verbindung cxistirt jedoch unter ihnen keineswegs, vielmehr leben sie, wenn sie sich nahe wohnen, beständig in Feindschaft. Wenn der politische Einfluß der Starowerzcn in Rußland offenbar von großer Bedeutung ist, so ist dies bei diesen Sec-ten durchaus noch nicht der Fall. Aber wie gesagt, es liegt ein modernes Miasma geistiger Einwirkung in ihnen. Ich habe viel über diese Secten gesammelt, und werde in meiner Abhandlung über den Bestand und die Stellung der russischen Kirche, auch über sie, wie über das gesammtc Secten-wesen, Alles möglichst gründlich zusammenstellen. Hier mögen einige allgemeine Andeutungen, und Einiges, was ich selbst unmittelbar erfahren und erlebt habe, genügen. Ich habe dabei außer den eignen Erfahrungen und ausier dem, was nur der deutsche Mennonit Johann Kornies im taurischen Gouvernement seiner der interessantesten Männer, die ich in Nußland habe kennen gelernt, und der viele Jahre der nächste Nachbar der stärksten Malakanen- undDuchaborzcncolonien war) mündlich mitgetheilt hat, vorzugsweise aus mehreren Glaubensbekenntnissen welche von den Scctcn selbst aufgesetzt und theils im BM von Herrn Kornics waren, theils in einer gründlichen Untersuchung und Darstellung der Secte der Duchadorzcn vom Professor Drest NowilM in Kiew, im theologischen Journal Opyti fluche), Kiew 1822, Th. ll. in russischer Sprache abge-muctt erschienen, wovon mir. ein Freund eine deutsche Ueber. setzung als Manuscript schenkte, mitgetheilt waren, benutzt, wo-bei ich noch bcmcrke, daß, wo ich dcu schriftlichen Quellen gefolgt bin, dies meist wörtlich abschreibend geschehen ist, was ich denn auch durch Anführungszeichen angedeutet habe^). Bis jetzt findet sich keiner aus den gebildeten Gaffen unter diesen Secten. Kein russischer Geistlicher ist jemals zu ihnen übergetreten, oder hat sie angeführt. Kein Adeliger oder Beamter findet sich unter ihnen. Es sind nur gewöhnliche russische Bauern. Unter .Hunderten von ihnen kann nicht einer lesen, unter Tausenden nicht einer schreiben. Es giebt, bis vielleicht auf zwei äußerst seltene, durchaus keine Bücher unter ihnen^), welche ihre Lehren enthalten und darstellen. Alles ist Tradition! Selbst die oben angeführten Glaubensbekenntnisse haben sie nicht zu ihrer eigenen Belehrung, zum eignen Gebrauch verfaßt, sondern um sich beim Gouvernement, oder ihnen freundlich gesinnten Männern, wie Kornies, zu rechtfertigen. Um so merkwürdiger ist der große Scharfsinn des Verstandes, die Tiefe der Phantasie, welche sich bei ihnen offenbaren. Sie zeugen von den großen Geistesgaben, welche noch verborgen im gemeinen russischen Volke schlummern. Die Secte der eigentlichen Malakanen ist wenig zahlreich. Ihr theologisches System ist nicht völlig ausgebildet, nicht fest geschlossen. Sie sind selbst unter einander nicht völlig in den Lehren einig, und sehr häusig treten die mehr lind mehr aufgeregten Malakancn zu den Duchaborzen über, die zwar auch nicht völlig unter einander übereinstimmen, aber meist die Con-scquenzen der Lehren bis zum äußersten Punkte verfolgen. Die Malakanen haben sich ungefähr um die Mitte des l^ten Jahrhunderts zuerst im Gouvernement Tambow gezeigt. Das Volk nannte sieMalakani (Milchesser), weil sie an Festtagen Milch asicn. Sie selbst nannten sich I iti ni (5 hristia n e (wahr- ') l« Ou^lmiim'ci« 'I'Ile<»>,I>. !^!»!u/. l1<>!->>: ihre drei Dörfer als ein unantastbares Asyl ansehen, und jedem entlaufenen Verbrecher Zuflucht und Verheimlichung gewähren. Man hat Falschmünzer, Verfertiger falscher Pässe, verlaufene Mönche :c. bei ihnen entdeckt, weshalb jetzt ab und zu bei ihnen visitirt wird. Im Allgemeinen halten sich die Malakanen friedlich und still, doch erwacht zuweilen auch bei ihnen Fanatismus. So war kurz vorher, ehe ich im Gouvernement Saratow war, in der Gegend von Nikolajew ein Malakan während einer Procession in deren Reihen gesprungen, hatte das Heiligenbild gefaßt, niedergeworfen, mit Füßen getreten u. Allein vas Volk war nach dem ersten Schrecken bald seiner Meister geworden, und hatt«? ihn ohne Weiteres erschlagen. 2,^ 388 Selbst unter den Malakanen hatten sich einst leise Traditionen von den wunderbaren Zügen eines occidentalischen Helden verloren. Als aber Napoleon seinen Zug nach Rußland begann, da glaubten sie in ihm jenen in ihren alten Psalmen bezeichneten Löwen des Thals Iosaphat zu erkennen, der berufen sei, den falschen Kaiser zu stürzen und den Thron des weißen Czaren wieder aufzurichten. Die Malakancn aus dem Gouvernement Tambow wählten eine Deputation aus den Ihrigen, welche, mit weißen Kleidern angethan, ihm entgegen gehen und ihn begrüßen sollten. Diese Leute drangen 1812 südlich durch Klcinrußland und Polen bis an die Weichsel, wo sie gefangen wurden. Einer entkam und erreichte glücklich die Sei-nigcn wieder, von den Uebriqen haben sie nie wieder etwas gehört. Wenn man in den Malakanen doch gewiß eine christliche Secte anerkennen muß, so ist das mit den Duchaborzen wenigstens in ihren Extremen nicht mehr der Fall. Wann die Secte der Duchaborzen entstanden*), ist noch dunkler als die Entstehungszeit der Malakanen; doch scheint es, daß sie jünger, und daß sie eben aus jener, und zwar sclbst-ständig an verschiedenen Orten, mit verschiedenen Lehren, die nur einen gemeinsamen Charakter tragen, entstanden sind, und daß man ihnen nur dieses letztern Umstandcs halber einen gemeinsamen Namen beigelegt hat. Der Name Duchaborzen soll ihnen vom Erzbischof Ambro-sius von Iekatrinoslaw beigelegt sein, der um 1785 eine Untersuchung ihrer Lehren vornahm. Es bedeutet Duch — Geist oder Licht, borossja — ringen, kämpfen. Es soll aber zweideutig Geistbekämpfer und Geistkämpfer, Lichtbekämpfer und Lichtkämpfer heißen können. Im ersten Sinne hatte es wohl der Erzbischof gemeint, im zweiten hatten sie diesen Namen selbst adoptirt, und nennen sich seitdem gern so. Das ') Die Duchabm-zcn selbst wissen nichts iiber ihre ßntstehlmg m,d Geschichte zu sagen. Eic brhciiifttei, einfach, vo„ den drei iNiaben ,m sm,ilim Ofen, welche das Vild des Ntlmradinzar nicht anbeten wollten, herzu flammen. Schriftliche Nachrichten, (shrmnlei, ü. hat ma,, l',6 jeht iml'! lel >h»>'!i ^efimdeü, 389 russische Volk aber nennt sie Iarmason (l'»»»« mm'o,,)''). Fill-her wurden sie hin und wieder Stschelmki genannt, mich Iko-noborzen ^-- Bildcrstürlner. Die Duchaborzen scheinen zuerst im Gouvernement Ieka^ trinoslaw aufgefunden zu sein, allein bald darauf erscheinen sie fast in allen Theilen .Nußlands, in Altsinnland, auf der Insel Descl, in Moskau, Kaluga, Kursk, Woronesch, Charkow, Tam-bow, Saratow, bei den donischen Kosaken, in den kaukasischen Ländern, in Irkutsk in Sibirien, selbst in Kamtschatka. Es ist höchst merkwürdig, daß von einem sinnischen Stamme, von den Mordwinen, sich eine Anzahl zu dieser Scctc bekannt hat, Sie haben sich von ihren Stammgenossen getrennt, und waren nach der Malotschna zu den übrigen Duchaborzen gezogen Siehe v. Koppen: Ueber einige LandcSvcrhältnisse zwischen dein untern Dnjepr und dein Asowschen Meere. Petersburg !^4."). Seite 5»li. Was ihre Lehren betrifft, so würde es hier viel zu weit führen, wollte ich sie gründlich aus einander sehen. Sie bilden ein vollständiges theologisches und mystisch-philosophisches System voll großartiger Anschauungen und von großer innerer Konsequenz; ich begnüge mich daher, hier einige allgemeine Züge zu geben. Als die Duchaborzen dem Gmwerneur Kachowski in Ieka-trinoslaw, der eine Untersuchung gegen sie führte, l7<>! ihr GlaubcnSbekcnntniß überreichten, thaten sie dies mit folgender schriftlicher, einfach schöner Erklärung (sic ist wörtlich getreu alls dem Russischen überseht): „Wir sind gar schief an der Zunge vor jedem. Die Schreiber sind theuer, und uns, die wir in Gefangenschaft sitzen, ist es nicht leicht, sie zu suchen; daher ist unsere Aussage so übel geordnet. Dieses erwägend bitten ') Wie merkwürdig! Es war dirsrlde Zcit, wo in Westcu>^'p<, die Illu, miimim ihr Wrsm lricbrn! und wclch dmMcl Instiml b.'ö VoM, dirs.' Duchaborzm (Lichlkampftr odrr IllnmimKm!) auch Frei m a l> rrr zu nrnncn. («ml »on dm srmizüsischn, Frrimaurnn als >,.iss,sch m,.r!m>i,ko Buch vmi Si. Mmtiui „l)o« crr«»r8 ei, Haupllchre i.brr dc„ F^l drr Sccic v,r brr Erschaffung drr ,ctzigm Wc,t fast cl'M so wic di^ Duchal'o,zm! ^ W,r kmnt dir .^heimm Vrrl'iodungN! und VczichuUl;c,l im Menschengeschlecht,,'? wir dich, Herr, uns, die wir des Schreibens wenig kundig sind, die Unordnung der Gedanken, die Undcutlichkeit und Mangel-hastigkeit des Ausdrucks, das ungeschickte der Nede und die Unreife der Worte nicht übel zu nehmen; und wenn wir die ewige Wahrheit in grobe Worte gekleidet und dadurch ihr göttliches Antlitz entstellt haben, so bitten wir, ihrer darum nicht überdrüssig zu werden, da sie an sich in alle Ewigkeit schön ist." — Wir werden hier weiter unten sehen, ob diese Bitte, ihre Einfalt und die Mängel ihrer Sprache zu übersehen, wirklich begründet ist. Mir scheint, als ob diese einfältigen Bauern dem Herrn Gouverneur an Geist und Sprache unendlich überlegen waren, denn sein begleitender Bericht ist nüchtern und langweilig genug. Ueber die Gottheit drücken sich die Duchaborzcn in folgender Art aus: „Gott ist nur Einer, aber er ist Liner in der Dreiheit. Diese heilige Dreieinigkeit ist ein unergründliches Wesen; der Vater ist das Licht, der Sohn das Leben, der h. Geist die Nuhe; in dem Menschen aber wird begründet der Vater als das Gedächtniß, der Sohn als die Vernunft, der h. Geist als der Wille." — Die Duchaborzen statuiren demnach kcine essentiellen unvermischten drei Personen in der Gottheit, sondern nur eine dreifache Erscheinungsweise des Einen Wesens*). „Die menschliche Seele ist ein Ebenbild Gottes und ein himmlisches Angesicht; dieses Ebenbild ist in uns nichts Anderes als das Gedächtniß (Erkcimungsvcrmögcn?), die Vernunft und der Wille. Die Seele eristirte vor der Schöpfung der sichtbaren Welt (ob sie überhaupt geschaffen oder von Ewigkeit her eine Emanation der Gottheit sei, beantworteten die Duchaborzen, die ich fragte, nicht!) und fiel noch vor der Erschaffung der Welt, zusammen noch mit vielen andern Gei- Wic e»mmm di'sc schlichlm, »ngcdildctm, drs i.^smö »nd Echn'ibmö viillig »mlmidissci, nissischm VlNlcm cms dicsc tirf spcmllUivm, schansm-«igcil Idccn? Wir zu dich'i philosophisch^! Sprachr? Nlickm lmr nicht Ncste tcr Gnosio durch? Dir SlU'rlÜmin' haltt» ahinichc Aüsich-!m, und n, spätci-n Z.ilcn dic Abrahlnnittn. 39l stern, die dainals sielen in der geistigen Welt, in der Höhe ^'). Daher muß dcr Fall Adam's und Eva's, dcr in der h. Schrift ! beschrieben wird, nicht bloß im gewöhnlichen Verstande genoin-men werden; sondern dieser Theil der h. Schrift ist ein Gemälde, worin dargestellt wird: erstens der Fall dcr menschlichen Seele in der Geistcrwelt von hoher Reinheit, ehe als sie in diese Welt kam, zweitens dcr Fall, der von Adam in dem Anfange der Tage dieser Welt wiederholt, der unserm Fassungö-vermögen angemessen ist, drittens der Fall, der seit Adain auch jetzt von uns Menschen in allen Generationen geistig und fleischlich wiederholt wird, und der biö zur Zerstörung der Welt j wiederholt werden wird. Ursprünglich geschah dcr Fall dcr > Seele, daß sie sich selbst anschauete lind nur sich zu lieben begann, so von der Anschauung und ^iebe Gottes sich abwendend, und dann zweitens durch willkürlichen Hochmuth. Als die Seele zur Strafe in den Kerker des Körpers gehüllt war, fiel sie als Adam zum zweiten Male durch die Schuld dcr verführenden Schlange, d. h. des bösen verdorbenen Willens des Fleisches. — Gegenwärtig geschieht der Fall in uns allen durch die Verführung derselben Schlange, die durch Adam bei uns Eingang gefunden hat, durch den Genuß von der Frucht des verbotenen Baumes, d. h. durch den Hochmuth, die Ruhnp , sucht des Geistes und die Ueppigkeit des Fleisches. Die Folge i des ersten Falles, jenes der Seele in der Höhe, war der Verlust des göttlichen Ebenbildes, ihre Einkerkerung in die Materie. Das Gedächtniß des Menschen wurde geschwächt, und nun vergaß er, was er früher war; seine Vernunft wurde verdunkelt und sein Wille verdorben. Auf diese Weise erschien Adam in dieser Welt mit einer schwachen Erinnerung von der früheren höheren Welt, ohne hellen Verstand und gerechten Willen. Seine Sünde, die in seinem auf Erden wiederholten Falle lag, geht jedoch nicht auf seine Nachkommenschaft über, sondern Jeder sündigt und wird selig für sich selbst. Obgleich übrigens nicht der Fall Adams, sondern die Willkür eines jeden Einzelnen die Wurzel dcr Sünde ist, so ist doch keiner der ') Dicsc ganze 3chrc ist mlschn'dm gnostisch. Satmninus imd VasMt^ Ichrtcn sic im zwcilcu InhchundcN, auch Onginrü neigt sich zu ihr. 'W2 Menschen frei von Fall und Sünde; dcnn Jeder, der in diese Welt kommt, siel schon früher und brachte die Neigung zu cincm neuen Falle mit sich *). Nach dem Falle der Seele in der Höhe schuf Gott für sie diese Welt, und stürzte sie nach seiner Gerechtigkeit aus der Welt der Reinheit des Geistes in diese Welt, als in ein Gefängniß zur Strafe der Sünde, und jetzt versenkt und vergräbt sich in dieser Welt unser in dieses Gefängniß gesetzter Geist in den Kessel der in ihr gährcnden Elemente. Andrerseits ist sie herabgeführt in dieses gegenwärtige Leben als auf einen Schauplatz der Reinigung, damit sie hier mit Fleisch übergössen und, ihrer Vernunft wie ihrem Willen folgend, in sich entweder im Guten oder im Bösen wurzele, und dadurch entweder Vergebung für ihre frühere Schuld erlange, oder ewig ballernder Strafe verfalle. — Wenn für uns in dieser Welt das Fleisch gebildet wird, so ergießt sich aus der Höhe unser Geist auf dasselbe, und der Mensch entsteht. Unser Fleisch ist die Borrathskannner, in der unsere Seele aufgehoben wird, und in welcher sie die Erinnerung und das Gefühl dessen verliert, was wir einst vor unserer Fleischwerdung waren, es ist das dünne Wasser der Elemente in dem wallenden Kessel dieser Welt, dieser Welt des Herrn, wo unser Geist zu einem reinen ewigen Spiritus, der besser als der vorige ist, geläutert werden muß; es ist der Cherub mit dem feurigen Schwerte, der uns den Weg versperrt zum Baum des Lebens, zu Gott, zum Versinken in seine Gottheit; und hier wird an jedem Menschen erfüllt jene göttliche Bestimmung: Nun aber daß er nicht ausstrecke seine Hand, und breche auch von dem Baume des Lebens, und esse und lebe ewiglich!" Da Gott den Fall im Fleische von Ewigkeit voraussah und wußte, daß der Mensch aus eigner Kraft von diesem Falle nicht ') Diese ganze Vchaupttma, von emcm vorwcltlichen Süudmfallc dcr mcusch-lichc,, Seele, voll tichc ssuuseaumzm fnr dic ganze Lehre der Dnchal'or-zcn, ist cntwrdrr ciue willkürliche philosophische Annahme, und da ist es völlig unerklärlich, wie diese Bauern zun'st darauf gcfummcu sind, oder es liegen uralte, lhucn auf ivqcnd eine Weise zugeflossene oiimtalischc gnostische Traditwueu zum Grunde. aufzustehen vermochte, so beschloß die ewige Liebe, nieder zu / steigen auf die Erde, Mensch zu werden und durch seine Leiden der ewigen Gerechtigkeit genug zu thun. „Jesus Christus war der Sohn Gottes und selbst Gott.^ Man muß aber bemerken, daß, wenn man ihn im alten Testamente betrachtet, er nichts Anderes ist, als die himmlische Weisheit Gottes des Allcrhalters, der sich im Anfang in die Natur der Welt, und darauf in die Buchstaben und Schrift des geoffenbarten Worts kleidet. Christus ist das göttliche Wort, das zu uns im Buche der Welt und in der Schrift redet; die Kraft, welche durch die Sonne auf die Schöpfung und in die lebendigen Geschöpfe wunderbar leuchtet, Alles bewegt, Alles belebt, und in Zahl, Gewicht und Maß überall da ist; die Kraft Gottes, die in den Vorfahren, so wie auch jetzt in uns verschiedentlich wirkt. ^- Wenn man ihn aber im neuen Testamente betrachtet, so war und ist er nichts Anderes, als der flcischgcwordene Geist der höchsten Weisheit, Gotterkcnntnisi und der Wahrheit, der Geist der Liebe, der Geist der von oben Fleisch gewordenen unaussprechlichen heiligsten Freude, des Trostes, des Friedens in der Genüge, jedes Klopfens des Herzens der Geist der Keuschheit, Nüchternheit, Mäßigkeit." Man sieht, wie consequent der Begriff der Duchaborzcn von der Göttlichkeit Christi ihrem Begriffe von der Dreieinhcit entspricht! Die Ausdrücke sind figürlich, unbestimmt, dunkel. Sie waren Gefangene, standen vor ihrem gefürchteten Richter, wollten nicht zu sehr anstoßen, aber doch kann der Einsichtige leicht erkennen, daß sie Christus nicht als eine Person der h. Drci-cinhcit betrachten, sondern als eine gewisse göttliche Wirkung und Kraft, die sich in der Natur und im Menschen offenbart. In diesem Sinne können alle Gläubigen Söhne Gottes sein, indem sie von Gott den Geist der Weisheit und der Heiligung empfangen, oder wie die Duchaborzen an einer andern Stelle sich ausdrücken: „im Geist versiegelt werden zu ewigen Söhnen Gott dem Vater, wie Jesus es im Fleische war, indem sie m seinen Tugenden zunehmen." Entweder wollten die Ducha-borzcn von l?!)l sich nicht deutlich aussprechcn, oder es ist auch bei ihnen mit der Zeit die nackte Consequcnz schärfer hervor- 394 getreten. Die an der Malotschna, die ich selbst genauer kennen lernte, hatten H. Kornies offen gesagt: „Christus war Sohn Gottes, aber in einem solchen Sinne, wie anch wir Söhne Gottes genannt werden; unsere Alten, versicherten sie, wissen noch mehr als Christus, fragt sie nur"')!" „Christus war auch Mensch, denn er wnrde, uns gleich, im Fleisch geboren. Allein er steigt auch herab in jevcn von uns durch die Verkündigung Gabriels, und wird geistig empfangen wie in Maria, er wird im Geist jedes Glaubigen geboren, begicbt sich in die Wüste, nämlich in das Fleisch desselben, wird vom Teufel in jedem Menschen versucht durch Brod, die Ueppigkeit und die Weltehre. Wenn er sich in uns be-ftstigt hat, redet er Worte der Lehre; er wirb verfolgt, leidet und duldet bis zum Tode am Kreuze; wird in das Grab des Fleisches gelegt, steht am dritten Tage auf im Licht der Herrlichkeit, in der Seele Derjenigen, die Kummer leiden bis zur zehnten Stunde; er lebt in ihnen vierzig Tage lang, entzündet alle Liebe in ihrem Herzen und führt sie, gen Himmel fahrend, empor, und bringt sie auf den Altar der Herrlichkeit als ein heiliges, wahrhaftes und liebliches Opfer dar." *) Eine durchgeführte Vergleichung der Anschauungen lind Lehren dieser ms-sischci» Scctc Dun der einen Sritc mit unsern ältern Philosophen, I.uob Böhme n,, von der andern mit dm jungem Hegelianern Strausi, Feuer-l'ach, Bauer, wäre sehr interessant. Welche Wegcnsätzc! welche Aehulich-leiten! welche Vcrglcichungspuuete! — Dir platten Rationalisten wiegen freilich wie Spn'u gcgen bicse russischen Idioten! — Mir fällt eben ei» kleines Büchrlchm in die Hände: „Der ideale Protestantismus von Will,, Hannr, Niclcfl'ld l843," welchrö eine gute Uebersicht des gegenwärtigen Standftuncts der herrschenden Dmtrincn enthält. Ich entlehne ihm so! gendc wörtliche Stellen, die merkwürdige Vergleichungöpunttc mit den Lehren der Duchaborzm gewähren. S. 177: „Festzuhalten ist an dem Dogma der Dreieinigkeit in drin Sinne, das, der allgemeine Menschen, grist selbst der wesensgleiche Sohn des ewigen Vaters ist, nnd daß derselbe sich alö zeitlich wcrdcnder Mottmcnsch in jedem einzelnen Ich zum individuellen Gottessöhne zu besondern slrebt." — S. 179: „Festzu halten ist eben so der lyednnle, daß l^oü in «hristo die Welt ewig e" löset und mit sich versöhnt hat nnd noch sietö versöhnt. Aber alo der wesentliche Erlöser und Versöhner kaun nicht der historische (vlmswS, sondern musi der ideale Christus gedacht werden." 395 Wenn daher die Duchaborzen den historischen Christus, die Geburt Christi im Fleische, nicht gerade läugnen, so beziehen sie wenigstens sein Leben auf seine gcheimnißvolle Geburt und Wohnung im menschlichen Geiste. — Von den Wundern Christi aber sagen sie: „Wir glauben, daß er Wunder verrichtet hat; wir selbst waren durch unsere Sünden todt, blind und taub, und er hat uns wieder belebt. Aeußerliche körperliche Wunder aber kennen wir nicht!" — Der Geburt und dein Leben Christi in unserm Innern gemäß wird denn auch ein innerer Glaube eben an den Christus in uns von den Duchaborzen gefordert. Der historische Glaube an Jesus Christus ist zur Seligkeit nicht gerade nothwendig. Daß das Leben Christi dann aber nur in den ächten Du- ! chaborzen, die allein ihn wahrhaft erkennen, aufgeweckt wird, daß er also nur in ihnen thätig und essentiell lebt, in allen übrigen aber schlummert oder gar todt ist, versteht sich von selbst. In Bezug auf das ganze äußere Leben gehen dann aber ^ von hier an die Lehren der Duchaborzen in zwei Richtungen auseinander, je nachdem sie das größere Gewicht auf das Erstehen vom Sündcnfalle, auf die Buße hiemedcn oder auf den Glauben an den innern Christus legen. Die erste ist die finstere mystische asketische Richtung, die zweite ist die heitere, im Frieden und der Ruhe des innern Gottes beruhende. Die Sittenlehre der ersteren ist die strengste. Die Leidenschaften sind nach ihnen der wesentliche Ursprung des Bösen im Menschen, und da diese Welt der Ort der Strafe, das Gefängniß für den ersten Sünden fall der Seele, der Leib der Kerker der Seele ist, so ist die Welt und alle ihre Freuden zu verachten, und alle Genüsse des Leibes nichtig und zu meiden. Alle Leidenschaften sind zu verdammen, selbst diejenigen Aeußerungen derselben, die von allem Verbrecherischen gereinigt, eine löbliche und nützliche Richtung in der Gesellschaft haben können. So z. B. wird jedes Streben nach Ruhm und Ehre streng verboten, weil es seine Wurzel im Hochmuthc, der Ursache des ersten Falls, habe. Ls wird eine gänzliche Verachtung aller sinnlichen Freuden gefordert, „selbst die reinen Freuden der Natur, die Blumen der Crdc, der Gesang der Vögel, wie 890 schön und unschuldig die Lust an ihncil auch sein mag, dürfen unsern Geist nicht anziehen und beschäftigen, sonst wird er von ihnen verlockt und bleibt, von ihnen entflammt, hienieden gefesselt in seinem Falle liegen, und vermag sich nicht zu erheben." Dieser strengen finstern Sittenlehre huldigt aber die zweite Richtung, die sich eine höhere Entwickelung nennt, keineswegs. Sie bestreitet nicht die Wahrheit jenes Sittengesetzcs, allein sie sagt, daß gilt nur für die, welche und so lange, als sie mit uns sich nicht auf die Höhe des innern Glaubens geschwungen haben! „Ist der Glaube in uns wahrhaft lebendig, so empfangen wir Christus, er wird in uns erweckt, wir werden selbst Christus, wir werden Gott, und dann ist die Sünde eine Unmöglichkeit; Alles, was wir dann thun, ist gut, denn der Gott in uns thut es; selbst wenn es den äußern Schein des Lasters hatte, so wird es ein gutes Werk, sobald wir es thun. Dagegen ist Alles, was Andere, Nichtgläubige oder Andersgläubige thun, Sünde, selbst das Gutschcinende." Ueber die gesellschaftlichen Verhältnisse sprechen sich die Duchaborzen dahin aus: „Alle äußeren Unterschiede bedeuten nichts, sondern in der Wahrheit sind alle Menschen ähnlich und gleich, denn alle sind gefallen, alle sind der Versuchung unterworfen. Es giebt keine Herren, keine Knechte. Man kann sich der Hülfe eines Andern bedienen, allein auch dann wird der Hülfcleistende nicht unser Knecht, sondern unser Bruder, uns gleich." Von der Familie und der häuslichen Gesellschaft zu der großen, dem Volke, dem Staate übergehend, tragen die Duchaborzen auch hierher ihren Begriff von der allgemeinen Gleichheit über. Sie sprechen aber hierüber natürlich sehr vor- j sichtig. ! Der Begriff der Kirche ist folgerecht nur auf die Gemeinde ^ der Duchaborzen eingeschränkt. Die h. Schrift erkennen sie als ganz von Gott gegeben an, aber AlleS darin hat einen gcheimnißvollen, nur den Duchaborzen verständlichen lind aufgeschlossenen Sinn. Alles darin ist Bild und Symbol. Die Geschichte von Kain ist ein Bild von den Verderben bringenden Söhnen Adams, welche die unsichtbare Kirche, oder Abel, verfolgen; die babylonische Sprachverwirrung ist nichts als die Trennung der Kirchen; das Er- 397 trinken Pharao's ist das Vorbild von dem dereinstigen untergehen des Satans mit allen seinen Mächten im rochen Meere der Feuer, durch welches die Auserwählten, die Duchaborzen unbeschädigt hindurch gehen werden. Auch im neuen Testament bedeutet z. B. „die Verwandlung des Wassers in Wein durch Christus auf der Hochzeit in Cana, daß Christus bei der ge-hcimnißvollcn Hochzeit mit unserer Seele in unserm Herzen das Waffer der Reuethrä'ncn in einen heilig-paradiesischen geistigen Wein, in einen Nektar der Engel, in den Trank jeder Freude und Wonne verwandelt :c." „Es ist somit klar," sagen sie ferner, „daß man bei der Erklärung der Schrift sich nicht von den Urtheilen seiner eignen Vernunft leiten lassen muß, noch weniger von den allgemein angenommenen Urtheilen der äußern Kirche; der Richtscheid und Maßstab für die Erklärung deö äußeren Worts muß die innere Erleuchtung, die Ausgießung des Geistes au das Herz des Menschen sein, und folglich steht diese innere Erleuchtung oder dieses innere Wort seinem Werthe nach höher, als die b. Schrift selbst, indem sie nicht die unmittelbare Ausgicßung des Geistes, sondern die abermalige Wirkung dieser selben Aus-giesiung ist." Daß sie die äußeren Sacramcnte nicht statuiren, versteht sich von selbst. Ihren innern Sacramenten geben sie eine bei weitem mystischere und symbolischere Bedeutung, als die Ma-lakancn. - Das Sacrament der Ehe ist in dem Bekenntnisse von 17!)! noch sehr ernst aufgefaßt, wenn auch die Ceremonie der Trauung als unwesentlich verworfen ist. Die Duchaborzen an der Malotschna äußerten sich darüber sehr frivol: „Die Grundlage der Eingehung der Ehe ist die Einwilligung der Verlobten, die Grundlage der Fortdauer derselben ist die Liebe, die ihrem Wesen nach göttlicher Natur ist; eben so muß sie also auch wieder getrennt werden können, wenn die Eheleute einwilligen, oder die Liebe aufhört^). Denn wenn die Liebe auf- ') Eine ähnliche Lchre, nur mit cm« wmigrr glänzenden Logik, lehrt »nd trägt oor der Professor in Nrcslau, der zu bm sogenannten Nelckalholiken übergetreten ist. Eö wird ihr hi« alsu allein der Ruhm der Frechheit,, "be,- keineswegs drr der Nmhcit imd der Erfindung verl'lnbm müssm. 398 hört, so ist die göttliche Grundlage der Ehe untergegangen, und das Fortbestehen des bloß fleischlichen Verhältnisses würde dann eine Sünde sein." Die Priesterweihe und ein besonderes Pricsterthum statuiren ^ sie natürlich nicht. „Jeder wahrhaft durch das Wort Erleuchtete kann und muß das Gebet zu Gott für sich verrichten." — Das Bekenntniß von l7!)1 giebt in dieser Beziehung am Schluß einen bezeichnenden Vers, der, im Versmaß des Originals übersetzt, mir mitgetheilt ist. Was bin ich endlich denn? — Ein Tempel, Gott zu weihn, Gebäud' und Priester, auch das Opfer soll ich sein: Altar sei unser Herz, das Opfer sei der Wille, Der Priester unser Geist, der dies Gebot erfülle. / Daß die Duchaborzcn hiernach keine Kirchen haben, und ! diese eigentlich nicht einmal haben dürfen, auch keinen gemeinsamen Gottesdienst, denn jeder ist in seinem Verhältnisse Gott gegenüber völlig isolirt gestellt (bei ihren Zusammenkünften i kann eine gegenseitige Belehrung, aber dem Princip nach kein gemeinschaftliches Gebet Statt finden), versteht sich von selbst. Dennoch ist der natürliche Gesetligkcitstrieb der Menschen stärker, als die Principien! So haben sie denn auch wirklich einen gemeinschaftlichen Gottesdienst. Hin und wieder haben sie Gebetsäle, die danu aber völlig leer, ohne irgend eine Zierrath ! oder ein Bild sind; selbst ein Kreuz oder sonstiges Symbol ^ fehlt. In der Mitte steht ein Tisch, auf dem Brod und Salz ' liegt. Die Duchaborzen im Gouvernement Tambow versammelten sich an bestimmten Tagen"") in einem solchen Saale; die Männer stellten sich auf der einen Seite, die Weiber auf der andern Seite in Reihen nach dem Alter geordnet auf, und begannen zuerst nach einer Kirchenmelodie eine Hymne zu singen, die aus einzelnen Bruchstücken, meist aus den Propheten, ') Sie fncni weder SM'litl), noch Sonn- lind Feiertage, dennoch haben sic cine grhcimniiMllc Zeiteinlhrilung und bestiünulc Feiertage, von denen man aber nichtü in Eifahnmg hat bringen tonnen. Dieselben schrincn mit ihre» wcilcr mUeu angedeutelm Myfirncn im Zusammrn-hainic zu stehen. zusammengesetzt ist. (Alle ihre Hymnen, Psalmen, Gebete sind aus der Bibel genommen, aber stets sind sie von ihnen auf das seltsamste aus einzelnen Sätzen derselben zusammengesetzt, niemals gebrauchen sie z. B. irgend einen Psalm Davids vollständig.) Nach dem Gesänge nähert sich der zweite von den Männern dem ersten und ältesten, beide machen zwei tiefe Verbeugungen gegen einander, küffen sich und machen die dritte Verbeugung. Darauf verbeugt sich der dritte gegen die ersten beiden, und küßt sie, darauf der vierte gleichermaßen, und so fort bis zum letzten. Hierauf wiederholen die Weiber dieselbe Ceremonie unter einander, welche nach ihren Andeutungen ein Bekenntniß der Dreiheit Gottes enthalten soll, so wie die Anerkennung dieser Dreiheit in jedem von ihnen. (Auch bei Besuchen begrüßen sie sich auf diese Weise, und recitiren dabei die Worte: Ich bin der Herr dein Gott, du sollst keine andern Götter haben neben mir!) — Die Duchaborzen an der Ma-lotschna hatten, als ich sie besuchte, keinen Bctsaal mehr, sondern hielten diesen Gottesdienst unter freiem Himmel, wobei aber Männer und Weiber zwei gesonderte Kreise bildeten. Beim Zusammentritt der Versammlung begrüßten sie sich hier in der Art, daß die Männer mit den Frauen sich die rechte Hand faß-len, sich dreimal gegen einander verbeugten und sich dreimal küßten, wobei sie einige unverständliche Worte sagten. Sie heißen diese drei Verbeugungen und Küsse auch hier ein Gedächtniß der Dreicinheit, das Fassen Hand an Hand aber „ein Zeichen des Bundes der Liebe, der guten Botschaft, der Erkenntniß, der Weisheit, des Erkennens des verborgenen Gottes." Außer diesen öffentlichen Zusammenkünften und diesen allgemeinen Ceremonien haben sie aber noch geheime. Es ist fast sicher und man hat bestimmte Andeutungen, daß sie geheime Mysterien haben, und zwar, nach vorhandenen Anzeichen, mit grauenvollen Ceremonien und mit Orgien verbunden, allein über den Inhalt derselben herrscht tiefes Geheimniß. Selbst die, welche in neuerer Zeit aus der Secte an der Malotschna zur Kirche übergetreten sind, beobachten darüber ein ängstliches Schweigen, wiewohl ihr ganzes Verhalten bei dem Fragen da-"ach, und selbst einzelne abgebrochene Aeußerungen es klar sollen, daß die Sache vorhanden ist. Alle oder die meisten 400 wissen wohl lim die Sache, aber nur wenige sind Eingeweihte und Theilnehmer. — Db folgende in den von mir gesammelten Papieren enthaltenen Notizen diesen dunkeln Verhältnissen angehören, mag ich nicht entscheiden. Einige befreundete, von ihnen zu ihren Versammlungen zugelassene Zuschauer hatten bei einer solchen Zusammenkunst in Nowgorod im Jahre !,8W bemerkt, daß der damalige Vorleser der Psalmen in der Sophicnkirche, der ein geheimer Anhänger der Duchaborzen war, Iwan Iwanow, ihnen das Evangelium vorlas. Nach der Vorlesung eines Capitels beginnen Alle zu singen, indem sie sich dabei stets mit den Händen auf das rechte Knie schlugen *). Dann folgte wieder Vorlesung und Gesang, und so wechselweise viermal. Darauf verbeugten sie sich vor einander und baten sich gegenseitig um Verzeihung, und endlich nippten sie zweimal etwas aus einer Schale, welches aber die Zuschauer nicht erkennen konnten. Als sie den Psalmenvorlescr darüber befragten, gab er eine ausweichende Antwort. Bei einigen Duchaborzen hat man bemerkt, daß in gewissen Tagen ein schöner weißgekleideter Jüngling auf eine Art Altar gestellt und von Allen kniend angebetet wird, als Symbol des in Jedem lebenden Gottes ^*), Es sollen zwei geschriebene Bücher bei ihnen cMiren, das eine betitelt: Schlüssel des Verständnisses oder des Geheimnisses, das andere eine Art Lehrbuch über alle ihre Lehren. Allein bis jetzt hat es weder dem Gouvernement, noch selbst den Freunden der Duchaborzen gelingen wollen, sie zu erhalten; sie sind äußerst geheim damit, und selbst Hrn.Kornies, den sie als ihren Wohlthäter verehren, hat es troh Bitten und Anbietung bedeutender Summen nicht gelingen wollen, sie jemals zu sehen. Dagegen erhielt H. Kornies von ihnen einen ') Ueber das Schlagen mit der Hand auf das ,Üme vergleiche, was obe» bci der Darstellung der Stoftzi-Scett' hierüber ebenfalls vorkommt, ") Dic chcvalcrcökm Franzosen stellten ja während der Revolution statt eines Knaben junge schöne Mädchen als (Mltinnen der Vernunft a»f den Altar und beteten sir an. Die Duchaborzen lullten in dem Knaben auch den Logos, die göttliche Nenumsl, an! — Es gicbt nichts Nem's unler dcr Sonne und Alles ist eitel, spricht der Prediger! — 401 Psalm und einige Gebete, die ich hier in der Ueberschung folgen lasse. Psalm. Wer ist es anders als Johannes, der neue Moses, welcher von der unverweslichen Jungfrau aus dem Worte Gottes geboren wurde. Gott sagte uns viel Weisheit; das Fleisch soll gekreuzigt und der Mensch erlöset werden, spricht der neue Moses von der Erlösung der Menschheit, aber es ist nöthig zur ewigen Erlösung, daß der Sohn Gottes, Jesus Christus, Mensch wird, und daß wir glauben und bekennen, daß unser Herr Jesus Christus der Sohn Gottes und ein Mensch ist. Der Herr spricht mit menschlichem Munde: Höret, jetzt ist ein Reich, seht nach Osten, wo der Berg Sion ist, da gehet hin und sehet auf ihn! Aus der Mitte deö Berges rinnen.Quellen und spülen ab die Unreinlichkeit von den Söhnen der Töchter Israels. Die auf dem Berge Sion befindlichen Himmel sind bedeckt mit Wohlthätern. O Kinder in cinrm weißen Meßgewandc, im Meßgcwande mit feurigen Sternen geschmückt! Dieselbigen Himmel verkündigen den Nuhm Gottes, und auf der ganzen Erde gchct aus ihr Schall, auch bis ans Ende der Welt ihre Stimme. Auslegung «ach Belchrunq cines Duchaborzcn. Was ist ein Duchaborz anders, als derjenige, den Johannes, Moses und Christus vorstellen? Was von Christi Flcisch-wcrdung gesagt wird, ist in ihm erfüllt. Die Gottheit wohnt im Fleische, das das Wort Gottes ist, mit und durch welches Gott redet und große Weisheit ausspricht. Das Fleisch wird hier von den Menschen zwar gequält, das inwendige Wesen wird aber durch die Verwandlung beim Tode in einen bessern Leib übergehen, und dadurch erlöset werden, denn es ist nöthig, dasi dies hohe Wesen, ja dieser Gottessohn Jesus Christus Fleisch an sich habe und auch ein Mensch sei, denn mit menschlichem Munde redet Gott. Das Ncich von Osten und der Berg Sion ist im begeisterten Tone gemeint die Duchaborzcngcsellschaft, die Mitte des Berges bedeutet den unter ihnen mit der höchsten Weisheit und Kraft ausgerüsteten Gottmcnschcn, von ihm gehet aus die Quelle zur Glückseligkeit seiner Gläubigen, deren Tugend mit Wohlthaten bedeckt, und die glänzend weiß und prächtig geschmückt sind. Diese 20 402 Tugenden breiten aus denNuhm unier den Weltmenschen, deren Ende kommen wird, sie aber werden alsdann gewaltig hervortreten mit Schrecken für den Menschen. Das Oberhaupt der Duchaborzen wird alsdann der einzige verehrte König sein, um ihn wird sich Alles versammeln, doch wird sich vorher bei den Duchaborzen noch Trübsal und Noth einstellen, sie werden aber singen und die Welt mit ihrer Hand bezwingen; der Kampf wird groß sein, aber sie werden siegen und den Thron der höchsten Verehrung besteigen, von einer Verwandlung bis zur andern. Wenn das Ende dieser Welt sein wird, alsdann thun sich die Himmel auf, die Donnerstimmen und der Blitz zeigen sich, die Menschen erschrecken und das Reich wird in Bewegung gesetzt. Alsdann werden alle Sprachen sich in ein Land, wo das Reich des weißen Czaren ist, versammeln, dort wird sich zeigen der Thron des neuen Davids. In dem Hause Davids wird der Schrecken groß sein, wenn der Herr in der Gestalt eines Erzengels mit der Posaune Gottes vom Himmel herunter kommen, und sich setzen wird auf den Thron des neuen Davids, zu richten die Lebendigen und die Todten; alsdann wird der Erzengel Michael posaunen mit der großen Posaune, er fängt an zu streiten mit der alten Schlange, die Schlange stürzt, Habel vertilgt sie mit der lebendigen Schrift, stürzt den Satan vom Throne und zerstört seinen Thron, auch geht die Herrlichkeit desselben zu Grunde; alsdann spricht der Herr Amen, Amen, macht euch auf ihr Himmel! Der Herr wird herrschen in seinen Himmeln von Ewigkeit zu Ewigkeit. Gebete, iu der Versammlung hergesagt. Zu wem soll ich hingehen von Dir mein Herr, zu wem soll ich hinsiiehen vor Deinem Angesichte? Führe ich gen Himmel, 403 so bist Du da, ginge ich hinunter in die Hölle, so bist Du auch da, nehme ich Flügel der Morgenröthe und lasse mich nieder am äußersten Meere, so wird mich da Deine Hand lehren und Deine Rechte mich halten. Zu wem gehe ich hin, wo wende ich mich hin, ewiges Leben, als nur allein zu Dir, mcin Schöpfer? Wo fliehe ich hin, uud wo finde ich bei einem Andern Trost, Freude, Zuflucht und Nuhe für mcinc Seele? Zu wem gehe ich hin von Dir, Herr mcin Gott, denn Du bist das Wort des ewigen Lebens, welches in mir ist? Du bist die Quelle des Lebens, der Geber alles Guten. Meine Seele dürstet nach Dir, mein Herz dürstet nach Dir, Gott meines Lebens! Laß uns erquicken an Deinem heiligen Namen, an Dir, unser süßer Herr Jesus. Meine Seele, mein Herz ist verwundet, nichts wird mir lieblicher sein in meinem ganzen Leben, als Dein allcrheiligster Geist. Deine Worte werden meinem Gaumen und meinem Munde süßer sein, denn Honig, Deine Rechtfertigung, Herr, wird mir werther sein, denn Gold und Edelsteine, und viel süßer, denn Honig und Honigseim. II. Wen soll ich rufen, wen soll ich lieben, als Dich, Herr mein Gott, denn Du bist mein Leben. Du bist meine Errettung, mcinc Ehre und Ruhm. Du bist mcin Reichthum, Du bist mein ewiger Schah, Du bist meine Hoffnung und Erwartung, Du bist meine Freude, meine ewige Ruhe. Sollte ich mehr eine eitcle, eine unbekannte, eine verkehrte, eine verderbliche, falsche Sache lieben, als Dich, mcin wahres Leben? Du bist mein Leben, mein Heil, auf Dich allein also setze ich mcinc Hoffnung, all mein Vertrauen, alle meine Wünsche, all mein Flehen; Dich, Herr, suche ich von ganzem Herzen, von ganzer Seele und aus allen Kräften, aus der Tiefe meines Herzens rufe ich zu Dir, in Dich allein ergießet sich mcin Herz, ich werde ganz in Dir und Du in mir sein. Ich rufe an und erkenne in mir den einigen wahrhaftigen Gott, und den Du gesandt hast, Jesum Christum, in Deinem Lichte ersehen wir das Licht der Gnade Deines heiligen Geistes. 2«"' 404 Es scheint nicht, als ob die Duchaborzcn cin gemeinsames Haupt haben oder jemals ssehabt haben. Die einzelnen Gemeinden sind häufig uneinig unter einander, aber überall sieht man aus ihrer Mitte Führer hervortauchen, die dann bald cinc unbedingte Gewalt über ihre Umgebung gewinnen, und vollkommenen unerschütterlichen Gehorsam finden. Ein solcher war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts für die Ickatcrmoslawschen Duchaborzcn Sylvan Kolisnikow, im Dorfe Nikolök, von dem die l?M in Untersuchung gekommenen Duchaborzen lange nach seinem Tode noch mit großer Verehrung sprechen, ja ihn als ihren Lehrer und den Stifter ihrer im Gouvernement Iekaterinoslaw angesessenen Gemeinde bezeichnen. Er soll nach ihnen haben lesen und schreiben können, cin für einen damaligen russischen Bauern unerhörter, Talent! Von Natur mit Geist, einem beredten und eindringlichen Vortrage begabt, streng in seinem Leben, wohlhabend und sehr wohlthätig, war sein Haus bald dcr Mittelpunct der ganzen Umgegend. Dort trug er besonders an Sonn- und Feiertagen seine Lehren vor, fand fast bei Allen Eingang und ward als ihr allgemeines Haupt verehrt. Auch ging nach seinem Tode Lehramt und Macht auf scine Söhne Eyrill und Peter bis zu deren Absterben über. Von den Bekanntgewordenen ist aber dcr bei weitem interessanteste I. Kapustin, über den ich bei den Mennonilcn an der Malotschna, die seine nächsten Nachbarn waren, viele Notizen erhielt. Ueber dic Herkunft, den Namen und das frühere Leben des I. Kapustin herrscht völliges Dunkel. Einer Sage nach soll er ein Leibeigener ^) gewesen und Verbrechen halber zum Soldaten abgegeben worden sein. Als verabschiedeter Unteroffizier dcr Garde in Petersburg ging er ins Gouvernement Tambow und hielt sich zu den dort verbreiteten Malakancn. Ob er schon früher zu den Meinungen der Duchaborzen sich geneigt, oder ob sich diese allmählich selbstständig in ihm entwickelt hatten, ') Daö wäre eine Ausnahme von der Ncgcl, denn man lM bcmrrkt, daß die Settc dcr Duchaburzcn nur bci freien Lculrn, Krunbauem, Kosatm is., Eingang findet, niemals bei Lcilicigcnm! 405 genug, er begann seine Meinungen unter den Malakanen zu verbreiten, wobei ihm sein Schwager Uklin unterstützte. Das verursachte eine Trennung unter den Malakanen, und da um diese Zeit die Duchaborzen aus dem Gouvernement Tambow größtentheils nach der Malotschnaja wody (im Kreise Melitopol des taurischcn Gouvernements) zogen, so zog er und sein Anhang mit ihnen, und siedelte sich dort an. Es hatte sich nämlich im Jahre 1801 der Rest der Ducha-borzcn aus dem odengenanntm Dorfe Nikolsk im Gouvernement Iekaterinoslaw, 30 Familien stark, mit Bewilligung des Kaisers Alexander an der Malotschna angesiedelt, und da diese kleine Colonie, von Niemand angefeindet und gedrückt, schnell cmporblühete, so kamen aus allen Gegenden des Reichs die Duchaborzcn dorthin und siedelten sich an mit Erlaubniß des Gouvernements. Kapustm's ausgezeichnete Persönlichkeit, seine herrliche Gestalt, seine großen Naturanlagen, sein Geist, seine Beredsamkeit gewannen bald die Oberherrschaft über Alle; Alle untcrwarsen sich ihm freiwillig, er herrschte wie ein König oder vielmehr wie ein Prophet über sie. Während er die allgemeinen Lehren der Duchaborzcn vortrug, wußte er sie aber auch noch zu seinem besondern Vortheil auszudeuten und auszubeuten. Er brachte unter ihnen den Glauben an die Scelcnwandrrung, wiewohl er schon vorher vorhanden war, zu besoliderer Anerkennung. Er lehrte zwar auch, daß in jedem Gläubigen Christus wiedergeboren werde, daß Jeder von Gott durchdrungen wäre, denn indem das Wort Fleisch geworden, sei es wie jede göttliche That für ewige Zeit Fleisch, d. h. Mensch auf der Erde geworden; allein es sei doch jede menschliche Seele, wenigstens so lange die geschaffene Welt bestehe, ein besonderes Individuum. Nun habe Gott, als er zuerst in die Individualität des Jesus als Christus niedergestiegen sei, den vollkommensten und reinsten Menschen aufgesucht, den es je gegeben habe, und so sei denn also auch die Seele von Jesus die vollkommenste und reinste aller Menschenscclen gewesen. Nun sei zwar Gott, seit er sich zum ersten Male in Jesus offenbart habe, stets beim Menschengeschlechte geblieben, und lebe und offenbare sich in jedem Gläubigen, allein die individuelle Seele Jesu, wo sei 406 dann sic geblieben? Vermöge des Gesetzes der Seelenwanderung habe sie nothwendig einen andern menschlichen Körper beleben muffen! Jesus habe dies auch selbst gesagt: „Ich werde bei euch bleiben bis ans Ende der Tage!" — So habe dann diese von Gott vor allen Menschcnscelen hochbcgnadigtc Seele Jesu von Geschlecht zu Geschlecht stets einen neuen Körper belebt, und sie habe vermöge ihrer höheren Eigenschaften und auf besondere und nothwendige Anordnung Gottes das voraus, daß sie das Bewußtsein der früheren Zustände immer wieder beibehalten habe. Jeder Mensch, den sie bewohne, wisse demnach, daß die Seele Jesu in ihm sei. In den ersten Jahrhunderten nach Christus sei das so allgemein unter den Gläubigen anerkannt gewesen, daß jeder den neuen Jesus gekannt hätte, und der habe dann auch jedesmal die Christenheit geleitet und beherrscht und alle Glanbensstreiligkeitcn entschieden. Man habe den jedesmal wiedergeborenen Jesus Papst genannt. Allein bald hätten sich falsche Päpste deS Throns Jesu bemächtigt. Der wahre Jesus aber habe nur ein kleines Häufchen Getreuer und wahrhaft Gläubiger um sich behalten, wie er dies im neuen Testamente auch vorausgesagt habe: „Viele sind berufen, wenige auserwählt." Diese wahrhaft Gläubigen sind die Duchaborzen, unter ihnen ist daher Jesus beständig, und seine Seele belebt einen von ihnen. — „So war Sylvan Ko-lisnikow in Nikolsk, den viele Alte unter euch noch wohl gekannt haben, wirklich Jesus, jetzt aber bin ich, so wahr der Himmel über mir ist und die Erde unter meinen Füßen, wahrhaft Jesus Christus euer Herr! Drum fallet nieder auf die Knie und betet mich an!" Und Alle sielen auf ihre Knie und beteten ihn an^)! ! ') Zur Vcrgleichmig führe ich an, basi David IörgiS mis Dcsst, im lli. Jahrhundert mis dm Wiedertäufern hervorgegangen, sich ebenfalls für Christus, süi dm neuen David, für dm Messias ausgab, allc Prophezeiungen deü allen Tesiamenls auf sich dcuttle, und wnNich einigen Än-l)M!>i fand, Cn slinb in Bastl. — Ich,S hatte selbst cö piophczeie!, dcisi salsche Pruphrlm aufsichen würde», die sich sin' Christus miS^'wi. MaUhmiö XXIV, 2^. Mm, hat sich alft, »icht zu wmldcrn, das, cs !i>' schshm ist, aber wohl, daß sir Glauben gcsundm habe». Leute, die an 407 Die Duchaborzen siedelten sich an der Malotschnaja wody in !) Dörfern an, denen sie bezichungsrciche Namen gaben: Terpenic -^ Geduld (hier nahm Kapustin seinen Sitz und beherrschte von hier alls alle andern), Bogdanowka — Gottesgabe, Troitschatka — Dreieinheit, Nowo-Spaßkaja ---- das neue Heil:c. Im Jahre 1833 mochten etwa 4000 Duchaborzen dort wohnen. Kapustin führte vollständige Gütergemeinschaft unter ihnen ein. Die Felder wurden nach seiner Anordnung gemeinschaftlich bearbeitet, die Ernten von ihm unter Alle vertheilt, Magazine für Hungerjahre angelegt; es bildeten sich allerhand Industriezweige, man verfertigte gute Gurten, hübsche wollene Mutzen u. s. w. Die Colonie blühcte sichtbar auf. Etwa um 1^14 gcrieth Kapustin wegen Proselytenmacherei in Untersuchung und ward ins Gefängniß gesetzt, aber bald gegen Caution wieder freigelassen. Sein ferneres Schicksal ist von nun an dunkel. Es hieß bald darauf, er sei gestorben und begraben. Die Behörde wollte sich davon überzeugen, ließ das Grab öffnen und fand darin einen Mann mit langem rothem Barte, während Kapustin brünett gewesen war und den Bart stets geschoren hatte. Gesicht und Figur waren nicht mehr kenntlich. Die Frau des Kapustin wohnte damals schon seit einiger Zeit auf einer Infel beim Ausflusse der Malotschna, eine Meile von Terpcme, dem Wohnorte Kapustin's, nahe am Ufer des Asowschen Meeres. Bald nahmen die angeschensten Duchaborzen häufig Pässe nach Lujan, angeblich um Pferde zu kaufen. Die Behörde schöpfte Verdacht, ließ bei der Frau und m der Umgegend nachforschen, entdeckte aber Nichts. Erst viel später und als Kapustin wirklich todt war, entdeckte der jüngere KornieS um 1820 in der Nahe der alten Wohnung Ka-pustin's eine Höhle, worin er die letzten Jahre seines Lebens gelebt hatte. Ich habe sie auch selbst .gesehen. Eine schr schmale Spalte, früher wahrscheinlich mit einer Thür geschlossen, führt vom Ufer durch einen im Zickzack laufenden Gang d,e Göttlichkeit Chlisti und smni Worte, dic cin dic Nil'cl glauben, ha-den Betrügern, dic Christus selbst als solche bezeichne!, Glauben geschenkt! Welche wunderliche Vcrichrlhcit im Geiste dcr Menschml 406 in cine Art Felsenzimmer, worin eine Bettstelle und ein Ofen stand. Licht erhielt die Höhle durch eine zu Tage auskaufende hölzerne Röhre, die unter Gestrüpp versteckt war. Nach dem Tode des Kapustin ging die Christuswürde auf seinen Sohn über. Er soll seinen Leuten versichert haben, die Seele Jesu habe die Macht, sich mit jedem menschlichen Körper zu vereinigen, den sie wolle, sie würde sich in den Körper seines Sohnes niederlassen. Dieser Sohn hieß Larion Kalmykow. Um ihn nämlich vom Soldatenstande zu befreien, sandte Kapustin seine schwangere Frau zu ihrem Bater Kalmykow, ließ sie dort ihre Niederkunft abhalten und heirathete sie später von neuem mit dem nun als unehelich geltenden und Larion Kalmykow genannten Kinde. — Dieser Larion mochte etwa 15 Jahre alt sein, als der Vater starb. Die Duchaborzen, um sobald als möglich Nachkommenschaft von ihm zu erhalten, legten ihm, als er kaum 16 Jahre alt war, nach und nach 6 junge Mädchen zu! — Aber der Geist des Baters ruhete nicht auf ihm, er ergab sich dem Trunke, die Ordnung verfiel unter den Duchaborzcn, die Gütergemeinschaft lösete sich auf; er starb 1^41 in Achalzik in der kaukasischen Provinz in der Verbannung, und hinterließ zwei unmündige Knaben, von denen die Duchaborzen hoffen, daß einer von ihnen im dreißigsten Jahre als Christus sich offenbaren werde. Beim Verfall der gemeinen Ordnung nahm der Despotismus der Führer und Alten zu. Kapustin hatte einen Rath von 30 Alten, von denen 12 als Apostel fungirten, um sich versammelt. Nach seinem Tode leiteten diese unter seinem schwachen Sohne Alles. Man hatte aber zu Viele in jene geheimen Mysterien eingeweiht, nun entstand Argwohn, Mißtrauen, Angeberei; man fürchtete Entdeckung. Jener Rath der Alten constituirte sich als ein grauenvolles Inquisitionsgericht. Der Grundsatz: „Wer seinen Gott verleugnet, soll durchs Schwert umkommen," fand jede beliebige Auslegung. Das Gerichtshaus hieß: Rai i muka ^ der Ort des Paradieses und der Qual; der Richtplatz war auf der Insel am Ausflüsse der Malotschna. - Schon jeder Verdacht des Verraths oder eines Uebertritts zur russischen Kirche ward mit Marter und Tod bestraft. Binnen ein paar Jahren verschwan- 400 den gegen 400 Menschen, meist spurlos! — Eine zu späte Untersuchung von Sciten der Behörde ergab entsetzliche Resultate; man fand lebendig begrabene, viele verstümmelte Körper! Die 1834 begonnene Untersuchung beendete ihre Arbeiten 1839. Der Kaiser entschied nun, daß sämmtliche Duchaborzen all der Malotschna in die kaukasische Provinz übergesiedelt werden sollten, wo sie zu vertheilen und unter strenge Aufsicht zu stellen seien. Nur denen, welche zur russischen Kirche übertreten wollten, sollte gestattet sein, hier zu bleiben. Der Befehl ward ihnen durch del: Gencralgouverneur Grafen Woronzow kund gethan. Ich gebe ihn hier in einer wörtlich getreuen Uebcr-setzung. Von dem Gcncralgouvemeur von Neurußland und Bcfs-arabien. Den Einmohnern des Dorfs Ephranowka, Duchaborzi genannt. Bekanntmachung. Alle Handlungen, die unsere rechtgläubige Kirche verletzen, oder die öffentliche Nuhe stören, sind durch unsere Staatsgesetze verboten, und die Verletzung dieser Gesetze wird durch strenge Strafen gerügt. Diese Gesetze ergehen aber von der von Gott eingesetzten Gewalt, da nehmen sie ihren heiligen Ursprung, und verpflichtcu Jeden und Alle, ihnen zu gehorchen und sie Pünktlich zu erfüllen, so daß derjenige, der dieser Gewalt widersteht, sich gegen Gottes Einsetzung selbst empört. Ihr, Duchaborzi, seio von den Dogmen, denen die rechtgläubige Kirche seit allen Jahrhunderten folgt, abgefallen, und durch Mangel an Aufklärung und verkehrte Begriffe von dem Worte Gottes eine besondere Lehre unter Euch bildend, habt Ihr die Nuhe der Kirche verletzt, und durch Eure ungesetzlichen Handlungen die öffentliche Ordnung gestört. Als Gegner der Obrigkeit und ihrer Verordnungen habt Ihr schon längst eine gerechte Nüge und Straft verdient. — Allein der in Gott ruhende Kaiser Alexander, der durch Sanftmut!), Geduld und Liebe Euch bekehren wollte, hatte nicht nur in seiner Großmuth alle Eure Schuld vergessen und die über Euch zu verhängende Strafe abgewandt, sondern auch 4l0 befohlen, Euch Alle, die Ihr wäret zerstreut und die Ihr in der Dunkelheit verborgen lebtet, in eine Gemeinde zu sammeln, und Euch überdem bedeutende Strecken Landes mit allen Nutznießungen verliehen; — und für alle diese Gnadenbezeugungen und Wohlthaten hatte Er nur eins verlangt: daß Ihr in Friede und Ruhe leben und die Staatsverordnungen nicht stören solltet. — Welche Früchte aber hat diese väterliche Fürsorge für Euch getragen? Kaum wäret Ihr auf dem Euch angewiesenen Grund und Boden angesiedelt, als Ihr im Namen Eures Glaubens und auf Befehl Eurer angeblichen Lehrer Menschen ge-tödtet, sie grausam behandelt, desertirtc Soldaten bei Euch verborgen, die von Euren Brüdern begangenen Verbrechen verheimlicht, und der Obrigkeit überall Ungehorsam und Verachtung entgegengesetzt habt. Um solche Handlungen, die allen menschlichen und göttlichen Gesetzen widersprechen, haben viele Eurer Mitgläubigen gewußt, und solche der Obrigkeit nicht nur nicht angegeben, sondern sie zu verheimlichen gesucht; viele von Euem Brüdern sind daher noch jetzt in Verhast und erwarten die gerechte Strafe ihrer Missethaten. Alle Eure Uebelthaten sind also nun entdeckt und das heimlich und öffentlich vergossene Blut schreit um Vergeltung. Die Gnade dcS Gesalbten Gottes, die Euch bis jetzt beschirmt und beschützt hat, habt Ihr nun selbst verwirkt, denn durch Eure Verbrechen habt Ihr die Bedingung verletzt, unter der sie Euch verhießen wurde. Eure Handlungen, die aus Eurem die öffentliche Nuhe störenden Glauben entspringen, haben die Langmuth der Regierung erschöpft, die sich davon überzeugt hat, daß es die öffentliche Ordnung erfordert, daß Ihr nicht mehr hier geduldet, sondern in solche Gegenden entfernt werdet, wo Euch die Mittel genommen sind, Euren Nächsten zu schaden. — Eure Handlungen haben endlich die allerhöchste Aufmerksamkeit des Kaisers auf sich gezogen, — vernehmet nun seinen Willen: Seine Kaiserliche Majestät haben befohlen: Alle Diejenigen, die sich zu Eurem Glauben halten, nach dem Kaukasus zu übersiedeln. Dabei verleiht Euch unser Herr, der Kaiser, folgende Gnadenbezcugungcn: 4U 1. Als Ersatz des Landes, das Ihr jetzt von der Krone in Besitz habt, werden Euch andere Grundstücke in dem Grusino-Imiretischcn Gouvernement im Achaltzikschen Kreise angewie-sen. — Zugleich wird Euch kund gethan, daß von nun an alle Diejenigen Eurer Gemeinde, die sich nach dem Kaukasus übersiedeln, von der Nckrutinmg nicht befreit sind. 2. Den Uebersiedlern wird es frei gestellt, ihre beweglichen Güter zu verkaufen oder mit sich zu nehmen. — 3. Für die unbeweglichen Güter, als wie: Häuser, Gärten, wird, nach der Taxation einer besondern Commission, eine Vergütung bestimmt. 4. Grundstücke, die den Uebersicdlern als Eigenthum gehören, können verkauft oder der Krone für einen gewissen Preis überlassen werden, mit der Bedingung aber, daß, wenn diese Grundstücke zu der zur Uebcrsiedlung bestimmten Zeit, welche auf die Mitte Mai dieses 184lstcn Jahres bestimmt ist, nicht verkaust oder der Krone überlassen werden, die Uebcrsiedler, denen sie gehören, dennoch nicht länger an ihrem jetzigen Wohnorte verweilen dürfen. — Zugleich haben aber Seine Kaiserliche Majestät zu befehlen geruht, Euch kund zu thun, daß Diejenigen unter Euch, die, ihren Irrthum erkennend, sich zum wahren Glauben bekehren und in den Schooß der rechtgläubigen Kirche, unserer allgemeinen Mutter, eintreten, und ihrer auf das Wort des Erlösers und des Apostels gegründeten Lehre folgen wollen, — an ihrem jetzigen Wohnorte und im Besitz ihrer ihnen gehörenden und von der Krone verliehenen Länder bleiben dürfen, und daß allen Solchen immerdar besonderer Schutz und Gnade erwiesen werden soll. — Diesen Willen unsers allergnädigsten Hcrrn kund zu thun, schicke ich Euch Euren Eivilgouvcrnenr, den wirklichen Staats-rath Muromtzow, und den Eollegicnrath Klutcharew. Ich rathe und bitte Euch, alles Obenerwähnte in reifliche Erwägung zu 412 ziehen und mir in der Folge eine Antwort über Cure Absichten zukommen zu lassen. Odessa, den 2tt. Januar 1841. (Unterz.) Generalgouverneur von Neurußland und Bessarabien: Graf Woronzow. I>: Folge dessen wllrden nun noch in demselben Jahre 1841 die am meisten gravirten Hausväter mit ihren Familien, 809 Köpfe stark, nach dem Kaukasus übergesiedelt, unter ihnen La-rion Kalmykow mit seiner Familie. 1842 wurden abermals 800 Köpfe, und 1843 900 Köpfe übergesiedelt. Ein Theil hat es vorgezogen, zur russischen Kirche überzutreten und hier zu bleiben, Viele kehren auch aus ihrer neuen Heimath, wo es ihnen ziemlich trübselig geht, wieder zurück, indem sie ihren Ucbertritt zur Kirche erklären. Dasi dieser Uebertritt nur ganz äußerlich geschieht, ist mehr als wahrscheinlich. Ja, wollte das Gouvernement Schulen anlegen, tüchtige, fromme und thätige Geistliche aussuchen und herschicken, so möchte bei der rohen Masse ein ehrlicher Uebertritt durchzusetzen sein, sonst wird es sich hier gewiß nur einen Hausen schlimmer Heuchler bilden! — Ehe ich zur Beschreibung meines Besuchs bei diesen Leuten übergehe, will ich noch eine Anekdote mittheilen, die mir von I. Kornies erzählt ward. — Im Jahre 1816 oder 1817 waren 2 Quäker in Nußland, Allan aus England und Drighet aus Permsylvanien. Damals hatte sich allmählich die Ansicht verbreitet, die Duchaborzen hätten dieselben Neligionßgrundsätze wie die Quäker. Der Kaiser Alexander, dem die beiden braven Männer vorgestellt wurden, munterte sie selbst auf, die Sache zu untersuchen. Sie reiseten eigens nach der Malotschna, und der damalige Director der Mennonitcncolonie, Staatsrath Contenius, brachte sie her und veranstaltete eine Art Ncligions-Colloqumm zwischen ihnen und einigen angesehenen und klugen Duchaborzen (Kapustin war damals schon todt oder verborgen). Das Gespräch ward natürlich durch Dolmetscher geführt und dauerte einen halben Tag. Won Seiten der Du- 4l3 chaborzcn leitete es ein gewisser Grischki, ein gewandter rcdc^ begabter Mann. Die Duchaborzen sprachen ausweichend, doppelsinnig, zweideutig, was sie mit großer Kunst verstehen, aber die Engländer hielten wacker bei der Stange, und zuletzt vermochten die Duchaborzen nicht mehr auszuweichen. Und als sie nun auf die ganz entschiedene Frage: „Glaubt ihr an Christus, den eingeborenen Sohn Gottes, die zweite Person in der Gottheit?" — antworteten: „Wir glauben, daß Christus ein guter Mensch gewesen ist und nichts weiter!" — da bedeckte Allan seine Augen mit der Hand und rief aus: „Finsterniß!" Unmittelbar darauf reiseten die beiden Engländer ab. — Ich benutzte auf meiner Neise meinen Aufenthalt bei den Mennonitcn an der Malotschna, um unter Führung des Menno-niten I. Kornies die Duchaborzcn persönlich kennen zu lernen. Am 20. Juli a. St. (7. August) 1843 fuhren wir nach dem Duchaborzcndorfc Bogdanowka, und wurden von einem der angesehensten Einwohner, die Kornies gut kannte, gastfrei aufgenommen. Bald sammelte sich das halbe Dorf in und um das Hans unsers Wirths. Das Aeußere des Dorfs, die Hof-und Hauseinrichtungcn, die Volksklcidung zeigten keinen wesentlichen Unterschied von den umliegenden russischen. Nur hatte das Ganze ein besseres Gepräge von Wohlhabenheit, Ordnung und Reinlichkeit, und als ich durchs Dorf ging und die Kinder sah, und nachher die versammelten Einwohner im Hause und Hofe unsers Wirths) so sielen mir die auffallend schönen Formen sowohl der Männer als der Weiber, und der Ausdruck von Gesundheit und Kraft bei ihnen auf*). ^) Sehr begreiflich! denn dic Duchaburzm todten ohne weiteres jedes ver-knippcltc oder schwächliche Kind! Sic sagen: „Dic Seele, das Ebenbild Gottes, muß in einem würdigen, edlen, kräftigen Mrper wohnen. Fin--dm wir sic in cimr schwachen und schlechten, ft sind wir verpflichtet, sie at. Wem, er, wie der bekannte Reisebeschreiber Kvhl bemerkt, nicht einmal die Nch'e einer Frnchl erwarte» tan», st' hat er noch weniger die Ausdauer, welche dazu erfordert wird, einen jungen Baum zu pflanzen „nd biö uim fruchtbringenden Alter zu vflcqm. 423 Budenstraße gelangen, in welcher das Gewühl von Menschen, Pferden und Wagen am dichtesten erscheint, und wir uns rechts auf die lange Schiffbrücke wenden, welche über die Oka und eine von diesem Flusse zum Theil überschwemmte, wo sie aber trocken war, ebenfalls zu Buden und Waarenlagern benutzte Niederung zu der untern Stadt führt. Es begegneten uns hier Züge von Wagen, meistens die kleinen russischen Frachtwagen, wie wir sie auf den russischen Landstraßen schon viel gesehen haben. — In der untern Stadt verließ man die Dili-gencen, und eine Droschke brachte mich hinauf in die obere Stadt, deren Stille einen auffallenden Gegensatz zu der unten herrschenden Lebendigkeit bildete. — Auch hier, im fernen Osten des europäischen Rußlands, giebt es eine deutsche lutherische Gemeinde, deren Mitglieder freilich wohl größtentheils aus den russischen Ostseeprovinzen stammen*), und der Prediger derselben (Herr Pastor L.) nahm sich meiner freundlich an, wie es in der mir ganz fremden Umgebung nöthig war. Aus der obern Stadt ging ich täglich zum Marktplatz hinunter. Der Weg, den ich durch die Festung und neben derselben nehmen konnte, bietet eine reiche Aussicht dar über die weite, grüne Ebene, welche die Wolga bespült, sowie über den Markt und die untere Stadt. Man kann dabei die reizende Lage des auf der Höhe und am AbHange bclegcncn Palastes und Gartens des Gouverneurs, und das Denkmal der Befreier Rußlands von den Polen, Minin und Poscharskij (einen 75 Fuß hohen Obelisk von finnischem Granit), in Augenschein nehmen. Die Messe von Nishnij-Nowgorod wird noch zuweilen die Makariewsche genannt, weil sie früher bei dem, ungefähr elf Meilen weit östlich von jener Stadt belegenen Kloster Makariew gehalten ward. Wie Alles, was im russischen Volke einen dauernden Halt gewinnen sollte, sich, wie es scheint, an das *) Insbesondere gehören zu den Deutschen, wie wohl allenthalben in Nußland, Aerzte und Apotheker. — Einer der dortigen Aerzte, I)r. I., der zu Berlin seine Studien gemacht hat, war auf dem Markte mein gefälliger Führer. — Das gastfreundliche Ehepaar, bei welchem ich lu-girle, war zur Hälfte, nä'uUch die Frau (cine Nevcücnsenn), deutsch. 424 religiöse Element anschließen mußte, so war es auch mit den zahlreichen Märkten der Fall, welche, wie schon Storch bemerkt, von den Kirchenfesten herrühren, die zur Feier der Heiligen gehalten werden, deren Namen Kirche oder Kloster führen. So entstand die Messe bei dem genannten Kloster, nachdem im Jahre 1524 der Czar Wassilij Iwanowitsch den russischen Kaufleuten verboten hatte, Kasan zu besuchen; und nach der im Jahre 1544 geschehenen Zerstörung des Klosters durch die Tataren, als es im Jahre 1(>24 wieder aufgebauet war, belebten die herbeiströmenden Wallfahrer aufs neue die Handelsgeschäste, wie denn auch die Mönche alle ihre Kräfte anstrengten, um die Wichtigkeit des Marktes zu heben. - Im Jahre 1817, nachdem im vorhergehenden Jahre der Bazar von Makariew durch Feuer zerstört war, ward der Markt nach Nishnij-Nowgorod verlegt, wo die Lage und Drtsverhältnisse bedeutende Vortheile darboten. — Man hat die Zahl der Menschen, welche sich dort während der Dauer der Messe zusammenfinden, zu Zeiten auf 200,000 und mehr (ein Schriftsteller sogar auf 600,000) angegeben. Ich möchte die Menge, welche ich zu einer und derselben Zeit dort versammelt fand, nicht über 20,000 anschlagen; indessen ist eine einigermaßen richtige Schätzung in einem so weiten Umfange, bei der ab- und zuströmenden und durcheinander wogenden Menge sehr schwierig. Die schon erwähnte, in der Richtung der Okabrücke fortlaufende große Budenstraße bietet mit ihren Umgebungen den Anblick eines großen Kram- und Trödelmarktes dar. Hier drängt sich hauptsächlich die Menschenmenge, besonders das Bauernvolk zusammen. Kleider und sonstige zum Hausbedarf und zum Schmucke dienende Sachen mancherlei Art sieht man hier ausgestellt, und hat Gelegenheit, die Gewandtheit und Zungenfertigkeit der Verkäufer zu bewundern. Einige Buden erregen besonders die Aufmerksamkeit der vorbeigehenden Baucr-weiber durch die ausgelegten alten und neuen Frauenkleider, z. B. glänzende Duschagraiken von rothseidenem Stoffe, mit Pelzwcrk, silbernen Frangen und dergl. verbrämt, wie man sie bei wohlhabenden Bauerfrauen sieht. Andere Buden ziehen die Männer an, z. B. Hutläden, wo die Filzhüte von der bei den russischen Bauern gewöhnlichen Form, rund mit schmalem 425 Rande, vielleicht schon sehr abgetragen, aber so eben neu geschwärzt, ausgeboten werden. Dem Bauerburschen, der einen Hut zur Probe aufsetzt, wird ein Spiegel vorgehalten, in welchen er selbstgefällig hineinsieht. — Auf einer Stelle stehen unter freiem Himmel Tataren als Verkäufer von Schafpelzen, die sie auf der bloßen Erde liegen haben, das unentbehrlichste Kleidungsstück des russischen Bauern. Trotz der brennenden Sonne zieht oft ein solcher Verkäufer einen Pelz an und macht darin verschiedene Bewegungen, um ihn den Kauflustigen in seiner ganzen Vollständigkeit und Schönheit zu zeigen. — Es versteht sich, daß unter den ausgestellten Producten russischer Industrie Metallsachen, von Messing, Zinn, Eisen und Stahl, wie sie in Tula und Paulowa verfertigt werden, als Ssamo-waarr, Leuchter, Schlösser, Messer«, s. w., eine der bedeutendsten Stellen einnehmen. Bon groben Leinen werden viele taufende von Arschinen an Bauern verkauft. Hölzerne Geräth-schaften, ferner Kachelösen, auch Thurmglocken liefert Nishnij-Nowgorod selbst oder die Umgegend, Lcder vorzüglich Kasan. Aber eine Reihe von Buden fällt dem Beschauer auf, welche lauter hölzerne, bunt bemalte, mit Weiß- und Schwarzblech beschlagene Kasten, zur Aufbewahrung von Sachen, auch als Neisekoffer brauchbar, enthalten, die, wie mir gesagt wurde, in Dörfern verfertigt werden. Ein solcher Kasten, etwa 4 Fuß lang, über 1 Fuß breit, ward für 2 Rubel Silber verkaust. Es waren auf der Messe für 20,000 Rubel Silber dergleichen Koffer und Kasten vorräthig, die fast alle verkaust wurden. — In einer andern Budenreihe finden sich Weine des Inlands, nämlich donische (Sudak und andere Sorten, gewöhnlich halber Champagner genannt) und kaukasische, namentlich von Kißljar kommend. Auch die ^eife fehlt nicht unter den russischen Producten. Artikel anderer Art, Gegenstände des Großhandels sah man, besonders in der Nähe der Flußufer unter freiem Himmel oder unter Schutzdächern in großen Massen gelagert; so an einheimischen Producten Rmdßhäute, ferner Pottasche, die meistens von Orenburg und Kasan kommt, Räderfelgen von Wjatka und anderen Gegenden, Bastmatten, das Product der Lindenwälder von Kostroma; aber die wichtigsten, hierher gehörigen Artikel 42t> sind wohl Eisen und Kupfer, welche am Strande der Oka lagern. Die Reihe der Eisenlager und der dazu gehörigen kleinen Buden, in welchen sich die Verkäufer aushalten, nehmen eine Länge von ungefähr tausend Schritten ein. Wir finden hier das Eisen in den verschiedenen Formen, die ihm durch die Arbeiten der ersten Hand in den Eisenhütten deß Urals und der anderen an diesem Product ergiebigen Gegenden Rußlands gegeben werden, als Stangen, Schienen, Bänder, Reifen, Platten (womit in russischen Städten die Häuser gedeckt werden) und dergl.; auch Stahl, sowie Gußeisen in Formen von Schalen, Töpfen, Oefen, Thüren und dergl. Die Zufuhr von Eisen auf den Markt betrug in diesem Jahre (1843) 3,300,000 Pud (zu 40 russischen Pfunden)'*), außer dem Gußeisen, welches 150,000 Pud betrug. — Das Eisen vertheilt sich von hier über ganz Rußland. Unter den Kaufleuten, welche mit diesem Artikel zur Messe gekommen waren, befand sich ein ehemaliger Leibeigener deS Grafen Schc-remetjcw, der 4 bis 5 Millionen Rubel im Vermögen haben soll "). — Daneben lagerten 48,000 Pud Kupfer, größtcn-theils aus den Dcmidowschen Hüttenwerken in der Gegend von Katharinellburg herrührend. Wir hörten hier im Vorbeigehen von einem so eben abgeschlossenen Handel in Kupfer zum Betrage von 1,200,000 Rubeln. — Unter den ausländischen Waaren bemerken wir vor allen andern die ungeheuren Theelager am Strande der Wolga. Es sind in diesem Jahre -'!0,000 Kisten Thee *"), außer 0000 Kisten Ziegelthee, auf dcn ') Das russische Pfund betragt ungefähr 28 Loth preußischen Gewichts. ") Unter Nudeln, ohne dcn Zusatz Silber, werden immer Papirrrubel verstanden. Ein solcher Nudel ist beinahe 10 Sgr. preußisch Cuurant gleich, und verhall sich zum Silberrubcl wie 2 zu 7. Zum Letztcrn verhält sich ein preußischer Thaler, wie l)l zu 100; noch genauer wird der.Wcrlh dcs Thalers zu 91 «/4 Kopeken angegeben. ""> Die Theekisten haben eine Umhüllung von einer Hant (ich weiß nicht von welchem Thiere), womit stc, wie ich hörte, zu Machta versehen werden. Ob dies zur Gltlärung der Vortresslichkcit dieses zu Lande trcmö-portirten Thees dienen kann, vermag ich nicht zu entscheiden. Man skcilcl meines Wissens darüber', ob der zur See transporlirte Thcc 427 Markt qefühlt, beträchtlich weniger, als im vorhergehenden, da damals ein bedeutender Theil unverkauft blieb. — Unter manchen andern Gegenständen war mir die rohe Baumwolle merkwürdig, welche von Bucharen über Astrachan herbeigeführt wird, und zum Theil aus Chiwa kommen, zum Theil aber auch indischen Ursprungs sein soll, wie das gelbliche Palmholz, welches in Stücken oder Blöcken ausgelegt ist, und zu Tischlerarbeiten verwandt wird. Die ganze Gegend des Marktes, von welcher bisher die Rede war, kann man die äußere nennen. Es befanden sich daselbst in diesem Jahre 2333 hölzerne Buden oder Baracken, größtcntheils als Waarenläden oder Waarenbehältcr, theilweise auch zu anderen Zwecken dienend, wovon hernach noch einiges zu erwähnen sein wird. — Es würde viel zu weitläufig sein, alle vorkommenden Waaren zu erwähnen. Wir gehen vielmehr zu demjenigen Theile des Marktes über, welchen man seiner Lage nach den innern nennen kann. Dies ist der steinerne Bazar, in Gestalt eines großen Parallelogramms, bestehend aus 2521 steinernen, auf Pfahlwerk erbauetcn Buden in 60 Abtheilungen, auf drei Seiten von einem Kanal, in Form einer langen halben Ellipse umgeben, den man gegraben hat, während man den von ihm eingeschlossenen Platz beträchtlich erhöhte, um ihn den Uebcrschwemmungcn zu entheben, — ein kostspieliges, aber großartiges Werk. — Im Hintergrunde ist eine stattliche griechische Kirche, und an der Vorderseite bildet der Regierungspalast, in welchem während der Messe der Gouverneur, der Marktdirector und die Polizeibehörde restdiren, wie sich denn auch die Post und das Comtoir der Commerzbank dort befinden — mit den an den andern Seiten angebaueten Buden einen großen viereckigen Platz. — Vier über den Kanal führende Brücken dienen zur leichtern Verbindung dieses Theils mit den andern Gegenden des Marktes. — Hier findet man hauptsächlich Manufacturproducte und andere werthvolle Waaren, namentlich die Budcnreihen der moökowitischen Tücher, der russischen und ausländischen Baumwollen- und Seidenzeuge, durch dm Transport vcrschlcchttrt wcrdc, udcr schon an sich vine schlech-ttlc Galtnng sci, als jnnr. 428 der persischen Seidenwaaren, der sibirischen, astrachanischen, bucharischen und anderer Rauchwaaren und vieles andere. Eine Reihe von Buden heißt die chinesische von der Form der Buden; Chinesen hierzu sehen, würde man aber vergeblich hoffen, da in der Regel kein Chinese sein Baterland verlassen darf. Es finden sich in diesen Buden theils russische Theehändler, theils Fabricanten und Kaufleute verschiedener Nationen aus Petersburg und anderen russischen Städten, namentlich auch deutsche, z. B. Mobilienhändler, Uhrenhändlcr und dergl. — In dem ganzen steinernen Bazar ist wenig Menschengedränge: es geht dort, im Vergleich mit den andern Gegenden des Marktes, ziemlich still zu. Die Kaufleute in ihren verschiedenen nationalen Trachten (man sieht insbesondere, außer dem nationalrussischen und dem modernen europäischen Co-stüme, tatarische, armenische und etwa persische, seltener türkische Tracht) sitzen häusig ruhig vor ihren Buden, und man bemerkt meistens nur einzelne Vorkehrende und Unterhandelnde. Es ist dies nämlich die Region der großecn Handelsgeschäfte; über Tausende und Hunderttausende von Rubeln wird hier in wenig Worten verfügt. Neben der griechischen Kirche, jedoch außerhalb des erwähnten Kanals, befindet sich auf der einen Seite ein armenisches Gotteshaus, auf der andern eine tatarische Moschee. So ist für die geistlichen Bedürfnisse der großen Mehrzahl der Marktbesucher gesorgt. Eben so wenig fehlt es an der Fürsorge für die leiblichen Bedürfnisse. Die Apotheker von Nishnij-Nowgo-rod haben ihre Buden auf dem Markte, hauptsächlich freilich wohl deshalb, weil ihnen die aus Sibirien kommenden Bestellungen von Arzneiwaaren viel zu thun machen (es war sogar aus Irkutsk ein Apotheker, der mit ihnen verkehrte, anwesend). — Schenken und Speisebuden giebt es natürlicherweise genug. Die letzeren, so viele davon für das gemeine Volk bestimmt sind, lassen den Vorübergehenden ziemlich weit in ihr Inneres blicken: man sieht Fische, Pilze, Gurken, auch Kartoffeln und Anderes mehr zubereiten. Aber auch elegante Restaurationen für die Vornehmer« finden sich an verschiedenen Stellen des Marktes, wo freilich die russische Küche, namentlich der Gebrauch des Oels statt der Butter, dem nichtrussischen Gaumen nicht in 429 allen Stücken zusagt, wie denn auch die russischen Speisekarten wegen der schwierigen Handschrift, ungeachtet mancher deutschen Speisenamcn, den Fremden geniren; aber eine große Anzahl höflicher Kellner in der bei den Russen gewöhnlichen Tracht dieser Classe, nämlich in ziemlich feinen weißen Oberhemden oder Kitteln, zeigt sich sehr bereit, alle Wünsche der Gäste zu erfüllen, auch sie, wenn sie es verlangen, zum Nachtische mit angezündeten und angerauchten langen Pfeifen zu versorgen. — Russische Weise herrscht in allen diesen Localen; auch das an einer Kette hängende Waschgefäß am Eingänge, wie es die russische Sitte fordert*), fehlt nicht. — 'Für die Kleidung ist durch Schneiderbudcn gesorgt, in denen man hin und wieder auch deutsche Meister oder Gesellen antrifft. Auch die gewöhnlichen Vergnügungen kann man auf dem Marktplätze finden. Es giebt da nicht allein Possenreißer, Carroussels, wandernde Musikvirtuosen, sondern auch ein ordentliches russisches Schauspiel in einem ansehnlichen, doch wenn ich nicht irre, nur von Holz aufgeführten Gebäude. Ein eleganter Concert- und Ballsaal befindet sich in dem erwähnten Regierungsgebäude, ward aber meines Wissens, während meines Aufenthalts nur einmal benutzt, nämlich durch ein von dem ausgezeichneten Violoncellspieler Schubert aus St. Petersburg veranstaltctes Concert, welches aber nur wenig Zuspruch fand. Was die zeichnenden Künste betrifft, so gab es einige Buden mit Kupferstichen und Bildern, die aber wohl nur wenig Anspruch auf Kunstwerth machen konnten. Ein Daguerreotypist hatte sich auch eingefunden, und bot seine Dienste (ich weiß nicht, ob mit Erfolg) an. — Priesterinnen der Venus, von deren angeblich zahlreicher Anwesenheit ich reden gehört hatte, glaube ich nur wenige gesehen zu haben. — Die dem Russen unentbehrlichen Bäder fehlen nicht, und außerdem ist für die Reinlichkeit durch eine Merkwürdige Einrichtung der Abtritte gesorgt, welche sich in zwei unterirdischen Gallerten befinden, die nicht nur der freien ') Dieses Gefäß, Welches ich, su viel ich mich erinnere, in jedem russischm Namrhanse gefunden habe, ist schon früher, wenn ich nicht irre, namentlich von Storch, nebst dem Dampstade, zur Widerlegung beS den Russen gemachten Vorwmfs dn ttm'smlichkeit angeführt wordm, 430 Luft zugänglich, sondern allch mit einer Vorrichtung zum Durchlassen des Wassers auß dem erwähnten Kanal, wodurch sie täglich gereinigt werden, verschen sind. Der Kanal sieht in Verbindung mit der Wolga und Oka. Was die Hülfsgeschäfte des Handels auf der Messe betrifft, so giebt es dort keine beeidigte Makler, sondern nur etwa Commissionäre oder Vermittler, die als Privatpersonen das Zutrauen der Kaufleute besitzen. Es giebt einen solchen, der allgemein bekannt ist, und zwar armenischer Nation; außerdem aber Notare, die namentlich die von der Commerzbank zu dis-contirenden Wechsel beglaubigen, welche ausgestellt werden, wenn (wie es bei den Geschäften des Großhandels thcilweise der gewöhnliche Fall ist) auf Zeit gekauft wird*). Sie haben ebenfalls ihre Buden auf dem Markte. — Der Waarentransport geschieht nicht bloß zu Wasser, sondern auch großentheilß zu Lande; daher die große Menge der Wagen und Pferde, die in langen Reihen seitwärts vom Markte halten. — Auch die mit Ochsen bespannten Wagen der Kleinrussen fehlen nicht. — An und auf den beiden Flüssen herrscht natürlicherweise große Lebendigkeit. Sie sind in der Gegend des Marktes mit mannigfach gestalteten Barken bedeckt. Mit Aus- und Einladen der Waaren sieht man viele Menschen beschäftigt. Einige Artikel, wie z. B. Talg, werden auch auf den Schiffen verkauft. — Es giebt eigene Beschreibungen der verschiedenen Arten von Barken, insbesondere derer, welche die Wolga befahren. Manche zeichnen sich durch ihre bunten Verzierungen, besondes am Spiegel oder der Hinterseite, aus. Die Verdecke einiger haben die Gestalt von Häusern oder Pavillons mit Gallerien und dergleichen. Andere sind einfache, ganz stäche sehr lange und breite Kahne ohne alles Verdeck. — Auch das Dampfschiff sah ich, welches regelmäßige Fahrten nach Astrachan macht. Ungeachtet der großen Volksmenge scheinen wenige Störungen der Ordnung vorzukommen. Ein besonderes Marktgc- ') ES werben Wechsel auf die Messe don Irbi» (in Sibirien), die um ein halbes Jahr spälcr einfäll!, oder auf die st'lgcude Messe von Nislmil' Nowgorod, also auf rm Jahr, ausglsicll« und von dcr Lommerzba»!', wenn dir vorgeschriebenen Bedingungen oorhandcu sind, dis,l)n»irt. 431 richt giebt es nicht. Kleine Streitfragen werden nach der allgemeinen russischen Einrichtung von dem mündlichen Gerichte geschlichtet, welches der Polizeibehörde einverleibt ist. — Die zur Erhaltung der Ordnung auf dem Marktplatze stationirte Kosakenwache scheint eben so gut ihre Bestimmung zu erfüllen, wie man es von der frühern Kalmückenwache gerühmt hat. Aber ich habe nur einmal (ungeachtet ich fast zwei Wochen hindurch täglich den Markt besuchte), bemerkt, daß sie thätlich einschritt, und auch dieser Vorfall schien nur unbedeutend; soviel ich mich erinnere, war es nur ein Schlag, den der Kosak mit seiner Peitsche austheilte. Der gutmüthige und sanfte Charakter des großrussischen Volks zeigte sich mir auch auf dieser Messe in einzelnen auffallenden Zügen. Ich sah, wie dem Bettler selbst von dem ganz geringen und vielleicht nur aus der nächsten Stufe über der eigentlichen Armuth stehenden Manne ein Almosen gespendet ward. — Daß die bis zur Demuth gehende Höflichkeit des Russen geringen Standes sich nicht nur gegen Höhere, sondern auch gegen seines Gleichen äußert, hatte ich auch hier Gelegenheit zu bemerken. Ich sah, wie ein Mensch vor zweien oder dreien, die allem Ansehen nach nicht zu den vornehmen Ständen gehörten (vielleicht waren es kleine Handelsleute) auf der Erde lag und Miene machte, ihnen die Füße zu küssen, wahrscheinlich um ihnen em Vergehen abzu-bitten (ich war der russischen Sprache nicht »nächtig genug, um zu verstehen, was gesprochen ward). Einer der letztern, den es hauptsächlich anzugehen schien, sprach ihm ganz ruhig zu, schien ihm Verzeihung zu gewähren lind entfernte sich endlich, indem er ihn, den auf der Erde vor ihm Liegenden, durch Abnehmen der Mütze höflich begrüßte. Für die Wichtigkeit der Messe giebt der geschätzte jährliche Gesammtwerth der heimgeführten Waaren einen Maßstab. Derselbe hat in den letzten zehn Jahren bis 1842 immer zwischen 40 und 50 Millionen Rubel Silber betragen. XV. Abreise von Nishnii.. Zweiter Besuch im Lager. Die ssantonistcnkindcr. Die Maschine auf der Wolga. Kosmodemiansk. DaS Tschercmissendorf. Das Tscheremissengehüft, Das Volk der Tscheremissm. Trachten. Wohnung. Volksderfassung. Vulkscharakter. Religiöse Gebräuche und Beschauungen. Abreise. Begegnung mit nach Sibirien Verwiesene». Die Colonisation in Sibirien. Ihre Demoralisation durch die Gold-Wäscher. Die Tschuwaschen. Ihre Charakteristik. Ihre Religion und Aberglauben. Ankunft in Kasan. Um Abend des 12. Juni schifften wir uns in der Nähe des Petscherskischen Klosters auf der Wolga ein. Zuvor machten wir noch einen Besuch in dem eine halbe Meile von Nishmj entfernt liegenden Lager des Carabimerregiments. Es war aus sogenannten Cantonisten gebildet. Alle Kinder der Soldaten gehören in Nußland der Krone an; sie werden auf öffentliche Kosten erzogen, genährt, gekleidet, und alle, die nicht untauglich sind, muffen Soldaten werden. Sie bilden einen erblichen Soldatenstand. Sie werden in einer Art von Cadettenhäusern erzogen, und von früher Kindheit an in allen Leibesübungen, Fechten, militairischem Ererciren, Turnen, dabei im Lesen, Schreiben, Rechnen, Zeichnen :c. unterrichtet. Die durch geistige Eigenschaften sich Auszeichnenden können auch höheren Unterricht erhalten. Sie bilden eigne Regimenter, wobei die 10—12jährigcn Knaben besondere Abtheilungen bilden. Das Regiment, welches wir hier 433 besuchten, war aus solchen Soldatcnsöhnen, die man Canto-nistenkindcr oder kurzweg Kantonisten nennt, zusammengesetzt. Ein ein Bataillon des Regiments commandirender Major war selbst ein Cantomstenkind und hatte sich durch Tüchtigkeit emporgeschwungen. Daß diese von ihrem siebenten Jahre an in allen militainschen Exercitien geübten Leute darin eine unge-meinc Fertigkeit erlangt haben mußten, war natürlich; sie übertrafen darin aber auch wirklich Alles, was ich bisher gesehen hatte. Nachdem wir durch die Zeltlinien gegangen waren, bildeten sich Gruppen von Sängern. Sie stellten sich in einen Kreis, in der Mitte der Borsänger, der bei dramatischen oder komischen Gesängen zugleich den Grimaffeur, Grotesktänzer, Lustigmacher und Actcur machte. Es waren Nationalgcsängc, aber mit bewunderungswürdiger Präcision vorgetragen. Meist begann eine Stimme, dann sielen die andern ein. Eine Stimme hielt stark und scharf einen Ton durch, nur selten, wo die Melodie es durchaus erforderte, in einen andern fallend, wie eine Schlange durch das Gewühl der übrigen Gesangstöne sich durchwindend und durchschießend ! Es ward auch ein vom General Lbow componirtes Lied zu Ehren der Schlacht von Borodino gesungen, welches völlig den Charakter russischer Nationalmelodie trug. Mitten während eines Liedes bat uns der uns begleitende Oberst, die Uhr zur Hand zu nehmen, und gab dann ein Zeichen zum Allarm-blasen. Im Nu stob der Sängcrchor auseinander, Alles stürzte nach den Zelten zu den Waffen, und während wir langsam zum Allarmplatze vor dem Lager gingen, kamen schon Einige völlig cquipirt an uns vorüber. Binnen l'/? Mmnten war Alles zusammen, und binnen 2 Minuten war das ganze Regiment völlig formirt. Das nunmehr beginnende Exerciren, der Ceremonialmarsch, der Laufmarsch :c. wurden mit bewunderungswürdiger Präcision ausgeführt. — Es macht doch einen merkwürdigen Eindruck, eine eben noch formlose, wüste Masse im Nu sich in ein wohlgeordnetes gegliedertes Ganzes verwandeln und nun als solches sich in bewunderungswürdiger Gleichmä- 28 434 siigkeit lind Raschheit wie ein einziges Körvcrungcheuer bewegen zu sehen! Die Nacht, welche wir im Schiffe auf der Wolga zubrachten, war heiter und rein, allein es ging uns doch herzlich schlecht. Die Mücken plagten uns in einer Weise, daß an Schlaf nicht zu denken war. Kein Mittel hilft gegen die zahllosen blutgierigen Schwärme. Wir brachten die folgenden beiden Tage und Nächte auf der Wolga zu. Ueberall ist das rechte Ufer 50 bis 150 Fuß hoch, das linke ganz stach, unabsehbare Wiesen und Moräste bildend, im Hintergründe von Wäldern geschlossen. In dem meist schroffen rechten Ufer der Wolga findet man in der Höberen Lehmschicht überall unzählige kleine, oft tief hineingehende Löcher, es sind die Wohnungen und Nester der Schwalben! In den langen Felswänden der südcaucasischen Länder und der Krimm sieht man ebenfalls unzählige cingehauene Löcher, welche zu Höhlen führen, Wohnungen vorgeschichtlicher Völker. Die menschlichen Troglodytrn scheinen die Art des Wohnens von den Schwalben angenommen zu haben! Die Wolga ist sehr belebt. Ucbcrall begegneten uns Maschinas (auch im Russischen so genannt), Fahrzeuge, welche die beladenen Schiffe den Fluß herauf ziehen, die plumpen schwerfälligen Vorläufer künftiger Dampfschiffe! Es sind Schiffe mit einem Rade, welches, statt durch Damps, durch Pferdekraft in Bewegung gesetzt wird. Lin Anker an einem langen starken Seile wird in einem Kahne weit vorausgeschickt und geworfen, dann windet sich das Fahrzeug an dem Stricke zu dem Anker hin. Der Strick windet sich auf ein oben auf dem Fahrzeuge stehendes Rad auf, und dies wird durch Pferde umgetrieben, deren oft 00 auf einem solchen Fahrzeuge sich befinden. Kommt das Fahrzeug in die Nähe des Ankers, so wird schon wieder ein anderer Anker in einem Kahne vorausgeschickt und ausgeworfen, und so kommt man langsam hinauf. Das Fahrzeug, die Maschina, zieht oft 5 bis <» schwer beladene Schiffe die Wolga hinauf. 4.-j5 28 ^ Miischma, Aus ditstr sind gewöhnlich dis L9 Pferde. 436 Der Wind war uns beständig contrair, daß Schiff zu leicht geladen, der Steuermann ungeschickt, der defensive Krieg mit Millionen von Mücken völlig ohne Aussicht auf Sieg; so riß denn bei uns der letzte Geduldshaken, und wir stiegen am 15. Juni Nachmittags bei der Kreisstadt Kosmodcmjansk wieder ans Land. Vor 20 bis 30 Jahren soll noch sehr große Unsicherheit auf der Wolga geherrscht haben. Räubereien, Mord und Diebstahl waren auf dem Flusse sehr gewöhnlich. Jetzt herrscht die tiefste Sicherheit. Die Polizeieinrichtungen bei so vielen Völkerschaften, Sprachen und weiten Entfernungen, die gegenwärtig in Rußland die vollkommenste öffentliche Sicherheit gewähren, müssen vortrefflich sein, sind mir aber sehr räthselhaft geblieben! In Kosmodemjansk fanden wir bei dem Districtschef der Reichödomainen, Herrn Fenenko, eine freundliche Ausnahme. Es war ein Mann von lebendigem Geiste und von Sinn für nationale Eigenthümlichkeiten. In dieser Gegend beginnen die Wohnsitze eines sinnischen Volkßstammcs, der Tschercmissen. Herr Fencnko hat über ihre innere Organisation, über ihre nationalen Eigenthümlichkeiten und Sitten Untersuchungen angestellt, Volkslieder, Sagen und Mährchen gesammelt, was gewiß der Bekanntmachung sehr werth wäre. Der finnische, oder wie die Russen ihn nennen, der tschudischc Volksstamm ist wohl das Urvolk des ganzen nördlichen Europa's, so wie eines Theils von Nordasien. Seine Ursitzc erstreckten sich wahrscheinlich bis tief in Deutschland, Polen und Rußland bis zu den Steppen hinab. Die germanischen und slavischen Völker haben ihn allmählich immer mehr nach Norden hinausgedrängt, und viele einzelne Zweige sind schon untergegangen und verschwunden, die übrigen, außer den eigentlichen Finnen, den Esthen und etwa den Syrjanen, sind ihrem Erlöschen und ihrem Ausgehen in fremden Nationalitäten, namentlich der russischen, nahe, wiewohl dies Factum sich ganz von selbst, ganz ohne Zuthun des Gouvernements aus dem natürlichen Gange der Geschichte, wie bei den Urbewohnern Nordamerika's, entwickelt. Um so nöthiger für die Wissenschaft ist es, aufzuzeichnen, was sich noch irgend Nationales erhalten hat, ehe alles völlig 437 untergegangen ist! Die Gemahlin des Staatsraths und Arztes v. Fuchs in Kasan hat es nicht verschmäht, eine längere Zeit unter den interessanten Völkerschaften der Tscheremissen und Tschuwaschen sich aufzuhalten, und ihre Sitten und Gebräuche mit Eifer und Liebe zu erforschen. Ihre Briefe an ihren Gemahl hat dieser 1840 in russischer Sprache herausgegeben. Eine Anzeige und ein Auszug des Buchs findet sich in Er-manns Archiv 1841, 2. Heft (Berlin bei Reimer). Herr Fe-nenko beabsichtigte, seine Sammlungen und Beobachtungen demnächst ebenfalls zu veröffentlichen. Was ich hier über die Tscheremissen und Tschuwaschen gebe, beruht theils auf eigner Beobachtung, theils auf mündlichen Notizen des Herrn Fencnko und den Notizen aus obengenanntem Buche. Wir fuhren noch an demselben Tage mit Herrn Fencnko in das 2l) Werst von Kosmodemjansk liegende Tschercmissen-dorf Kulikalowo. Der Anbau des Tscheremissenvolks giebt der Gegend ein anderes Aussehen, einen andern Charakter. Es wohnen hier überall auch Nüssen, aber nur am Ufer der Wolga und an den in dieselbe mündenden kleinen Flüssen. Die Tschcrcmissendörfer liegen im Innern des Landes alle an und in den kleinen Thaleinschnitten deß hügeligen Landes. Während die Gehöfte der Russen alle regelmäßig längs einer graben Strasie liegen, liegen die Gehöfte der Tscheremissen in einem unordentlichen Haufen durcheinander, ordentliche Straßen cxistircn in den Dörfern nicht. Aber in einem russischen Dorfe findet man in der Regel keinen Baum, kein Gebüsch, keine lebendige Hecke. Das Ganze, mit seinen grauen Häusern und Dächern, in einer baumlosen Ebene, umgeben von Nadelholzwaldungen, gewährt einen melancholischen Eindruck! In den Tschercmissendörfcrn erblickt man aber überall lustige Baumgruppen, Linden, Birken, Eichen, blühende Obst-bäume, die grauen Dächer blicken meist zwischen fröhlichem Grün hervor, das Auge wird nicht durch die monotone Regcb Mäßigkeit grader Linien und Straßen beleidigt. Ein großes Gehöft eines wohlhabenden Tscheremissen Namens «8 Nodivanow Iuricw^) nahm unS auf. Wir wurden gastfrei empfangen. Da es aber ein schöner Abend mit dem Anschein einer folgenden herrlichen Nacht war, so schlugen wir unser Lager auf dem großen Hofe unter zwei herrlichen Linden auf, brachten Stroh zusammen, leglen unsere Matratzen, Kissen und Mäntel darauf, und bald dampfte lustig der Theekessel (Sßamo-war), der in Rußland nirgends fehlt, in unserer Mitte! Die Emrichtllng des von uns besuchten Gehöftes lasse ich inor im Grundrisse folgen. Beschreibung des He Höfts. I. Das rechte Wohnhaus. II. Vorrathshaus, Äaratnil (ein russisches WuN). III. Kurumagazm, jUel (cm lettisches Wort). IV. Viehstall, Tarai (russisches Wort); ursprünglich ist es bei dm Tschcrc-missen nur eine offene I1,!izäu!Ni,!g ohne Dach, und heisit dann Lewitsch. V. SommerwDhuuiig, iluda, mildem Frm'l'hrrb i„ dei Mitte. VI. und Vll. Das chcmalisse WohühlUiS, jetzt zur Aufbewahll»!li ^0,1 alleihaud Vorräthe» benutzt, VIII. Ei» fi'ir riurn lierhrirlitheteu Sl,'h>l ucugcbaulcs Wohnhaus, Dom (russisches, mspruusslich lateinisches Wort). ^V. Grasplatz. It. Gemiise.M'tm, Saut (eil, russisches Wort), <'. Hopfen^'rlcii, l>. Naumgartell und Vieumhof. ^. Zwei hohe ^indru, Pisti gcuaunt, i<'. Thür nach der Dorfsirasie. Das ganze Gehöft ist sorgfältig ciügezaunl. (viurichtung des Wohnhauses. (Die imtrrn Räume dieneu bloß zur Aufbewahrung der Sachen und Vorräthc). - l, l5ine Treppe fuhrt in die Wohnung, hinter ihr eine offmc (^allerie, die im Sommer Wohnstube, Port. 5,. Kammer, Sulan. l hlil'Mi «iber Hnr Fmmko erzählte rs uns, und dic Tschcrrlmssm, dic wir fniglm, bcsia^ tigim >'s. 443 daher nicht etwa einen Theil der Ländereien seines Vaters abgetreten, sondern fordert von der Gemeinde seinen Antheil. In den Dörfern, die ich hier sah, wurde alle Feldarbeit gemeinsam verrichtet. Zu den landwirthschaftlichen Arbeiten zieht das ganze Dorf, Jung und Alt, Mann und Weib hinaus, und arbeitet Tag und Nacht, bis die Arbeit beendigt ist, so zur Saat, zur Heuzcit, zur Ernte; es darf sich Niemand ausschließen und zu Hause bleiben oder ausruhen. Hier wird dann auch die Ernte auf dem Felde unter alle Haushaltungen gleichmäßig vertheilt, also nicht die Felder vorher. Die Tscheremiffcn wohnen in kleinen Dörfern von 10, 2(1, 30, selten mehr Gehöften; ein solches Dorf heißt Asbar oder Dkolotsch. Es bildet in der Regel mit einigen andern zusammen eine Gemeinde mit einer gemeinsamen Feldmark. Die Bildung dieser Gemeinde scheint auf uralten Volkseintheilungen, die selbst mit religiösen Ideen zusammenhängen, zu beruhen. Eine solche Gemeinde heißt ein Keremeth, allein auch die uralten Dpfervlätze mit den heiligen Bäumen heißen Keremeth. Das Dorf, worin wir übernachteten, bildete mit zwei andern benachbarten eine solche Gemeinde, und diese hieß Kuli-kalowo. In allen drei Dörfern waren zusammen 63 Gehöfte mit 103 männlichen Seelen. Jedes Dörfchen hat natürlich noch einen besondern Namen, allein diesen verheimlichen die Tscheremissen aus abergläubischen Gründen, und die russischen Beamten erfahren ihn selten. Herr Fenenko aber hatte sich bei ihnen beliebt gemacht, und so wußte er denn auch den Namen unsers Dorfs: Iemancive. Nach der Versicherung des Herrn Fenenko sollen die Tscheremissen eine vollständig und sehr verständig organisirte Volks-versassung von großer innerer Kraft und Festigkeit haben. Das Gouvernement duldet sie, theils weil sie eine Bürgschaft für Ruhe und Ordnung gewährt, theils weil sie dieselbe nicht kennt, da das Volk sie den Behörden gegenüber sehr geheim hält, theils aber auch, weil das Volk eine passive Widerstandskraft und eine Zähigkeit des Handelns und der Gesinnung besitzt, der nicht beizukommen ist. Die Tschercmissen bekennen sich zwar jetzt größtcntheils zur N'ssischen Kirche, machen aber nicht viel Gebrauch vom Chri- 444 stenthum, und sind nebenbei noch immer halbe Heiden. Sie standen einst unter eigenen Stammesfürsten, und Rytschkow führt an, daß sich dunkle Traditionen hievon bei ihnen erhalten hätten; Herr Fenenko aber versicherte uns, daß sie auch noch gegenwärtig ein allgemeines Oberhaupt hätten, dessen Dasein aber in ein tiefes Geheimniß gehüllt werde. Jedes Dorf hat ein Haupt, Kaschtan genannt: in der Regel ist es der Klügste, Reichste und Geachtetste im Dorfe; mehrere Aßbarc stehen wieder unter einem Kaschtan höherer Ordnung, und so in hierarchischer Gradation hinauf bis zum obersten Bolks-kaschtan, der im Gouvernement Wiatka wohnen sott. Jeder Kaschtan ernennt seinen Nachfolger, aber doch stets nur den, welchen die öffentliche Meinung, die Volksstimme, als den Tüchtigsten zum Nachfolger bezeichnet hat. Die Kaschtane sind verpflichtet, ihren Untergebenen in ihrem Reffort auf jede Art zu helfen mit Rath, Geld, Urtheil und hauptsächlich mit Zauberei, die überall sehr verbreitet ist. Dann erhalten aber die Kasch-tani eine große Wichtigkeit und Wirkung, weil der ganze Handel mit allen Producten des Landes und Volks in ihren Händen ist, indem jeder Tscheremiffe seine Erzeugnisse, selbst die geringste Kleinigkeit außer seinem nothwendigen Bedarf, ihnen abliefert. Hierdurch entsteht überall in diesem Lande eine Art Großhandel, der allerdings viel vortheilhafter sein mag, als der Verkauf im Kleinen, aus der Hand des einzelnen Bauern, der gezwungen ist, sein Product loszuschlagen, während jene in einer geregelten Verbindung unter einander und zu dem gemeinsamen Haupte stehenden Kaschtanc glückliche Conjumturcn abwarten und selbst herbeiführen können. Die Kaschtane berechnen sich mit jedem Einzelnen, und behalten den fünften Theil des Verkaufspreises für Unkosten, Mühe, und die von ihnen zu berichtigenden Kronabgaben zurück. Die Kaschtane sind in der Regel alle reich, ungeachtet sie noch einen Theil ihres reinen Gewinns dem obersten Kaschtan abgeben müssen. Nach der Versicherung des Herrn Fenenko, der im täglichen Verkehr mit den Tscheremissen lebt und 5aher ein cvmpetcntes Urtheil haben kann, sind die Tscheremisscn langsam, weilig schlau und daher wenig industriös, etwas melancholischer Ge- 445 müthßart, launig und eigensinnig, aber durchaus ehrlich*). Der Diebstahl erscheint ihnen als das größte, fast einzige Laster, und ihre Volksobrigkeiten bestrafen ihn auf das strengste, ohne daß je die Gerichte nöthig hätten, sich hinein zu mischen. Sie schassen den Dieb, der stets entdeckt wird, entweder unter die Soldaten, oder sie bringen ihn an den Bettelstab, indem die Kaschtane seine Producte nicht annehmen, ihm Niemand hilft und unterstützt, er gleichsam verfehmt wird; oder er verschwindet auch unter den Lebenden, und es ist dann den russischen Gerichten und Behörden nie möglich gewesen, auch nur die leiseste Spur von ihm zu entdecken. Dies letzte Schicksal soll besonders größere Verbrecher, betrügerische Kaschtane, Pferdediebe und Getrridediebe bettessen, wiewohl die Fälle überhaupt sehr selten sind. Wir fanden nirgends etwas verschlossen, und auf den Höfen, wo wir waren, und wo sich immer viele Menschen sammelten, gingen alle ungestört in allen Gebäuden umher, ohne daß der Hauswirth und die Seinigen Acht auf sie gaben. Frau v. Fttchs sagt: In Feindschaften sind sie sehr hartnäckig und zu überdachter Rache geneigt. Es ist vorgekommen, daß sie sich auf des Feindes Hofe selbst erhängt haben, um diesen in das größte Unglück zu bringen, das der Tschercmisse kennt, nämlich der Untersuchung der russischen Gerichte anheim zu fallen. In den Häusern der Tscheremissen sieht es im Ganzen reinlich aus. Sie halten sehr fest an den alten Sitten der Vorfahren, widersetzen sich jeder Neuerung. Wehe dem, der andere als weiße Kleider und andere als schwarze Fußlappen tragen, oder gar sein Haus anstreichen wollte, er würde ohne Gnade bei der nächste,, Recrutirung der Trommel folgen müssen. — ') Georgi 1774 nennt sic eigensinnig, hartnäckig, ohne die Lebhaftigkeit und dm geschwinden Verstand der Nüssen, allein boshaft, diebisch und widersetzlich seien sie nicht. — Erd man („Beiträge zur Kenntniß deß Innern von Rußland, 1822," ein sonst vortreffliches Blich!) sagt da° gegen, ste seien behende, aber furchtsam und bequem, in, Charakter störrisch, capricibs und betrügerisch. Das Letzte scheint offenbar falsch. Ich felbst kann nur nach dein äußern Eindruck, urtheilen, nnd mir zeigten sich Alle, die ick, sah, uffen »nd zutraulich. 446 Herr Fenenko behauptete, die Tscheremissen hätten ein eige-neö früher geheim gehaltenes Alphabet, es sei auch etwas darin in Kasan gedruckt worden, wir vermochten es aber dort nicht aufzutreiben. Die wenigsten können .Russisch, und gegen russisches Lesen und Schreiben sträuben sie sich hartnäckig. Die Eltern eines Bauerknaben, den Herr Fenenko zu sich genommen hatte (in Folge eines Ministerialbefehls wegen Bildung von Ge-meindeschreibern aus den Bauerkindern), hatten ihm 100 Rubel geboten, wenn er den Knaben zu Hause und ungeschult lassen wollte. Frau von Fuchs bemerkte, daß man junge Cheleutc stets vorerst in den Kormnagazinen wohnen lasse; dies bringe Glück, sie würden reich! — Während der Kornblüthe, etwa drei Wochen lang, arbeiten die Tscheremissen gar nicht; das sei Sünde. Nur Unkraut dürfen sie dann ausreuten. Am Ende dieser Zeit ist ein großer Feiertag, dann ziehen sie (selbst wenn sie Christen sind) in den Wald nach den alten Opferplätzen, und bringen Kühe, Schafe und Hausgeflügel zum Opfer. Dies muß vorher gekauft werden, wobei aber nie gedungen werden darf. Das sei Sünde*). ') Gcorgi hat dies Fest in seinem Werte, über Rußland beschrieben. Ich selbst hörte über diese Feier auch noch Manches, lmd Frau von Fuchs erzählt darüber ausführlich, sic sagt, cö wäre dieß das Hochs»!- Fest der heidnischen Tschercmissen, dem Imn, Imna oder höchsten Gotte geweiht, daher Iumon Bairan, auch Schurem genannt, tvs fällt nm die Zeit von Iohannis, nnd scheint mit der im ganzen scandinavischcn lind germanischen Norden, ja auch im «^nizen übrigen Europa verbreiteten Io-haumsfeicr, wovon nuch die danu aus den Bergen selbst noch ill Deutschland gcbränchlichen, in der Iohauniönacht angezündeten Feuer übrig geblieben sind, identisch zu sein. Im Walde in einem Thalc steht ein lmsaunr hoher heiliger Baum, meist eine Eiche, der den Qpftrplatz (uxemel) bezeichnet; er ist umzännt und hat I Zugänge, von Westen, Süden und Osten. Dort versammeln sich Alle, doch niemals Weiber, Sie bleiben 3 Tage vereint, wo Niemand raucht, Tabat schuupft, Branntwein und Nier trinkt, wohl aber Mcth getrunken wird, der jedoch an dem Opferortt selbst bereitet sein muß. Nie waschen sich unaufhörlich. Jeder steuert zum Msanfe der Opsertl,iere bei. Der oberste Mnschan oder Kart (Priester) zü-udet 447 Sie kehren sich an die Fasten der russischen Kirche, die so streng von den Russen gehalten werden, gar nicht. Nur an dem ? Feuer in einer Linie von Nordwest nach Südost an, und breitet vor jedem ein Tuch aus, auf das die Kuchen- und Trankopfer gestellt werden. Das nordwestlichste Feuer ist dem Iuma, das nächste dabei der Iumon Awa fGottcsmntter) :c. gcwcihct. Der Priester des Feuers des Iuma, der oberste Priester, hebt dann das Brod aus einem Teller und einen Becher mit Meth hoch vor dem Feuer empor und betet. Die (Gemeinde hinter ihm steht mit entblößten Häuptern und die Gesichter gegen die Feuer gekehrt, neigt sich beständig und ruft: Amin! (Amen? Sollte dies ein Vorbild oder cine karri ca tur der Messe sein?) Nnn werden die Thiere, welche zum Opfer angeboten sind, vor die Feuer geführt, und jedem Wasser nuf den Nucken gegossen. Schaudert es, so ist es zum opfern gut. Dies darf höchstens bis zum siebenten Male wiederholt werden, schaudert dann das Thier nicht, so gilt es als von dem Gottr verworfen. Jedes Opfcrthicr wird dann vor eins der Feuer gestellt, ein Hengst vor das Feuer des Iuma, eine Kuh vor das Feuer dcr Iumun Awa n'. Dann wirb es geschlachtet, wobei jeder Priester dafür sorgt, daß daß Blut feines Thiers in das Feuer seines Gottes sprüht, oder er fangt das Blut auch auf und gießt es ius Feuer. Daß Fleisch wird in Kesseln zum Kochen an die 7 Feuer gestellt. Alsdann geht dcr oberste Priester zu dem heiligen Baume und steckt ein brennendes Licht auf einen Ast. Alle folgen und bald ist der ganze Baum illnminirt. Dann falle» Alle auf die Knic, beugen häufig das Gesicht bis zur Erde und beten laut ein Gebet von 16 Bitten, das Frau von Fuchs niedergeschrieben hat: 1. Wer Gott ein Opfer gebracht hat, dem gebe Gott Heil und Gesundheit ! 2. Den Kindern, die zur Welt kommen, schenke er Geld, Brod, Bienen und Vieh die Fülle! 3. (5r lasse dir Bienen im neuen Jahre schwärmen und Honig im Ueberfluß bereiten! 4. Er segnc unsre Jagd auf Vogel und Wild! 5. Er schenke uns Gold und Silber zur Genüge! (l. Laß nns, o Gott, den dreifachen Werth unserer Waare» einnehmen! 7. Vergönne, das? wir aller Schätze habhaft werden, die in der ^rdc und in aller Welt sind! (Wie naiv!) 8. Sehe uns in den Etand, die kaiserlichen Steuern zu enttnliten! !>. Wenn der Frühling tommt, so laß die >j Arten Viel, am d,e !i 448 Tage, wo von der neuen Ernte das erste frische Brod gebacken wird, fasten sie. Es ist dies aber offenbar noch eine heidnische Sitte, denn bei den noch auf dem linken Wolgaufer unter ihnen sich befindenden Heiden tritt an diesem Tage, wo sich alle Bewohner des Dorfs im Hause des Aeltesten oder deß Kaschtan versammeln, der Zauberer oder Priester der Gemeinde, der Kart, herein, und bestimmt Jedem, zu welchem der Götter er beten soll, ob zu dem obersten Gottc, oder zur Gottesmutter, oder zum Gottcssohnchen u. Alsdann wird die nach Osten liegende Hausthür geöffnet, und Alle beten dahin gewendet. Nun schenkt der Kart jedem der Betenden in seinem in der Hand gehaltenen Becher Bier ein, welches sie austrinkcn, dann schneidet er das Brod an, und Jeder verzehrt ein Stückchen. Endlich gehen die Söhne, die Frauen und Kinder zu den Ael-tern, verbeugen sich bis zur Erde und sagen: „Wir bitten Gott, Wege hinaus, und schütze sie vor tiefem Kothe, vor Barm, Wölfen und Dieben! 10. Laß unsere güstm Kühe fruchtbar werden! 11. Laß die magern Kühe durch Kindcrglück fett werden! 12. Laß uns die güstcn Kühe mit einer Hand verkaufen, und mit der andern das Geld in Empfang nehmen! sHicr erscheint allerdings die gerühmte Ehrlichkeit etwas zweifelhaft!) 13. Schicke uns, Gott, einen wohlmeinenden Freund! 14. Wenn wir in die Ferne reisen, so behüte uns vor l'ösm Menschen, schlimmen Krankheiten, dummen Menschen, bösen Richtern und verläumderischcn Zungen! 15. Wie der Hopfen prall ist und voll, so segne uns mit Glück und Verstand! 16. Wie das Licht hell brennt, so laß uns leben und schenke uns Gesundheit! 17. Wie das Wachs sich gleichförmig setzt, so schenke uns das Glück, beständig zu leben! !8. Verleih, daß der da bittet, empfange! Nach diesem Gebete legt der Priester Kopf, Herz, Lunge und Leber seines Thiers in eine Schaale und opfert rs seiner Gottheit mit einem Gebete vor dem Feuer, darauf essen sie und beginnen dann wieder zu beteni so dauert cs 3 Tage und 3 Nächte durch, ohne zu schlafe». Was sie dann nicht aufgezehrt haben, werfen ste, so wie die Knochen und Eingeweide der Thiere, in die stets unterhaltenen Feuer. 449 daß ihr lebendig sein möget, und daß der Gott uns wieder nächstes Jahr um neues Korn beten lassen möge."— Der Rest des Tages vergeht bei Jubel und Tanz. — Das Ganze sieht fast wie eine Carricatur der Communion aus! Die Mythologie der heidnischen Tscheremissen scheint wenig ausgebildet, wenigstens ist sie bis jetzt noch nicht näher aus-gemittelt. Sie haben eine oberste Gottheit, Iuma oder Kogu Iuma, und sein Weib, aber auch eine Mutter desselben, Iumon Awa; überhaupt nennen sie keinen Gott, ohne zugleich dessen Mutter zu nennen. Dann nennen sie einen besondern Sohn Gottes, und außerdem viele Untergötter, welche sie auch die Kinder Gottes nennen. Sämmtliche Gottheiten heißen die Gottesfamilie, Iumon Schuktse. Besonders verehrt wird der Gott deß Getreides, Terkul. Der Freitag ist bei ihnen der Ruhetag, was wohl von den muhamcdanischm Tataren in Kasan, denen sie ehemals gehorchten, angenommen ist*). Den guten Göttern stehen die bösen gegenüber, an deren Spitze der Schaitan steht, dessen ächt tscheremissischer Name aber Iö ist"). Er wohnt im Westen und ist besonders zur Mittagszeit gefährlich. Sie glauben eine Fortdauer nach dem Tode, im Ganzen eine Fortsetzung des gegenwärtigen Lebens, auch mit einer Art Vergeltung, d. h. sie leben jenseits glücklich oder unglücklich, je nachdem sie hier gut oder böse gewesen sind. Böse Menschen werden nach dem Tode böse Geister, kommen wieder und plagen die Lebenden. Sie, wie ihre Nachbarn, die Tschuwaschen, machen daher besonders feste und starke, oft mit Eisen beschlagene Särge, schlagen auch wohl solchen Todten, die sie für besonders böse halten, Nägel durch die Fußsohlen und durchs Herz. Das scheint eine Andeutung von dem bei den slavischen ') Bei den Weißrussen ,md Klcinrussm gilt der Freitag als ein böser. unglnckbringender Tag! ") Das Wort Schaitan (Satan) scheint sich durch die Muhamedancr bei dm finnischen und sibirischen Völkern allgemein verbreitet und mit den inländischen Begriffen von bösen Göttern ibcntifieirt zu haben, und hat bm inländischen Ramm meist verdrängt. Zu Gcorgi's Zeiten kannten di« Tschrremissm noch den inländischen Namen Iii; Frau d. Fuchs hörte nur noch den Namen Schaitan. 29 450 Völkern so sehr verbreiteten Glauben an Vampyre zu sein! Der Todte wird mit dein Kopfe nach Westen ins Grab (Wü-nam) gelegt und ihm allerhand Geräth mitgegeben. Sie stellen brennende Kerzen aufs Grab, verzehren unter Klagen einen Kuchen, von dem Jeder 3 Bissen auf das Grab legt und dabei sagt: „Daß ist für dich!" Dann rathen sie dem Todten, mit seinen Nachbarn Ruhe und Frieden zu halten, und bitten ihn, nicht zu ihnen, den Lebenden, zurückzukommen und sie zu beunruhigen. Für jeden Todten werden drei Gedä'chtnißfestc, am 3ten, am 7ten und am 40sten Tage nach dem Tode, auf seinem Grabe begangen. Außerdem feiert jede Gemeinde (Ke-remeth) jährlich ein Mal an einem Abende ein Gcdächtnißfcst aller ihrer Abgeschiedenen (Om Scraik). Die Sprache der Tschercmissen ist ein sinnischer Dialekt, aber stark mit tatarischen, weniger mit russischen Wörtern gemischt. Meine Begleiter, die ctwaö Esthnisch verstanden, konnten Vieles verstehen. Die Zahlworte vier, fünf, sechs, sieben waren dieselben; Gott, esthnisch Iumal, tschcremissisch Iuma*), Wasser, „ wett, „ witt, Feuer, „ tulte, „ tolte, kommen, „ tulle, „ tolai, Wir fuhren am Vormittage noch durch mehrere tschercmis-sische Dörfer. Das Land ist eine Hochebene mit vielen Thal-cinschnitten, an denen und in dcncn die Tschercmissendörfer ganz reizend liegen. Herrliche Eichenwälder wechseln hier mit Frucht-fcldern ab. Wir erreichten wieder die große Straße nach Kasan und Sibirien. An derselben liegt ein unter Katharina II. künstlich angesäeter Eichenwald, der aber mit den benachbarten, ") Bei den alten Bjarmcn am weißen Meere, deren die standlna!)isch>'!« Sagas so oft erwähnen, hieß der höchste Gott auch Iumala. In Pommern heißen die Iohannisfeuer in der Iohannisnachl an einigen Orten Iul. Inl ist sonst in der germanischen Mythologie der Gegensatz des Iohannisfestcs i es ist Weihnacht, der kürzeste Tag, die Wintersonnenwende, während Iuhamiis der längste Tag, die Sommersonnenwende isi. Siehe Grimm'S Mythologie. 451 von der Natur ohne menschliche Hülfe aufgewachsenen Eichenwäldern die Vergleichung nicht aushält. An der Landstraße steht hier eine ganz wie eine Tanne gewachsene Eiche, deren Zweige erst 80 Fuß hoch an dem schnurgeraden Stamme beginnen. Es steht ein kleines Denkmal von Stein darunter, zum Andenken, daß einst Kaiser Paul eine Stunde unter ihr ausruhete. In einem Thale überschritten wir einen kleinen Fluß, und gleich war auch ein russisches Dorf statt eines tscheremissischen hier zu siudcn! Wir erreichten gegen Nachmittag die ersten Dörfer der Tschuwaschen, die hier an die Tschercmissen grenzen, und hielten auf der Station Stari fundir neben einem Tschu wasch endorse an. Hier ist eine Station für die nach Sibirien verwiesenen Verbrecher, und wir trafen es so, daß gleich nach uns eine Abtheilung derselben anlangte, welche hier die Nacht zubringen sollte. Da wir unangemeldet und zufällig kamen, und also die Staiionsbehörde überraschten und von ihr nicht gekannt waren, so konnten wir über die Behandlung Notizen sammeln und Bemerkungen machen. Die Stationßhäuser liegen in großen wohlverwahrten Höfen. In ihnen befinden sich mehrere große luftige Säle, die gut gereinigt waren und deren Thüren und Fenster offen standen. An den Wänden waren Britschcn mit dünnen, doch frischen Strohschichtcn, als Schlafstellen sür die Gefangenen. In der Küche waren große Kessel Mit der russischen Kohlsuppe (Schtschi) und Grütze, nicht eben schlecht bereitet. Nun kam der Zug der Gefangenen, immer zwei mit den Füßen oder Händen durch eine Kette zusammen geschloffen; jeder trug sein Bündel; die Weiber waren nicht geschloffen, viele von ihnen gingen freiwillig, ihren Männern folgend. Ein Paar Wagen transportirten Kranke und Alte, sowie Lebenßmittel. Der Zug mochte aus 136 Köpfen bestehen. Es sollten zwei degradirtc Stabsossiciere darunter sein. Nachdem sie sich in Neihc und Glied gestellt hatten und Appell über sie gehalten war, lagerten sie sich auf dem Hofe in Gruppen, und nun wurde es sehr lebendig. Man konnte eben nicht bemerken, daß sie niedergeschlagen waren. Der Russe ist von Natur sehr sorglos und ergiebt sich schnell in das Unabwendbare! Auch geht 29 * 452 es den Gefangenen biß hinter Kasan leidlich gut. Der tägliche Marsch, 15 bis 25 Werst (2>; bis 3V- Meilen), ist nicht übermäßig anstrengend, die StationShäuscr sind gut. Sie leiden an Nichts Mangel, denn die Wohlthätigkeit des russischen Volks gegen diese Gefangenen ist, wie schon oben angeführt wurde, unerschöpflich. Ueberall, wo sie durchkommen, werden sie gelabt und beschenkt, an den Stationshäusern warten immer eine Menge Weiber und selbst ganze Wagen mit Lebensmitteln und Kleidungsstücken auf sie. Und so war es denn auch auf der Station, wo wir uns befanden. Ich hörte bei dieser Gelegenheit, daß, so großmüthig die gemeinen Nüssen gegen die Gefangenen, ohne Unterschied woher sie kommen und welchem Volke sie angehören, sind, die Tscheremissen und Tschuwaschen ihnen dagegen gar nichts schenken und mittheilen. Kaum daß sie ihren eigenen Landsleuten, wenn welche darunter sind, Lebensmittel umsonst geben. Wir hörten, in früheren Zeiten wären jährlich gegen iw,000 durch Kasan gekommen, jetzt vielleicht nicht 10,000. An dem Orte ihrer Bestimmung kam davon früher kaum ^/, an, der Rest starb unterwegs; später ging etwa die Hälfte verloren, jetzt soll der Verlust nie über 25, meist nur 15 Proccnt betragen. Bis an die sibirische Grenze sind die Faliguen nicht groß, sie erhalten durch die Wohlthätigkeit des Volks jede Hülfe und Erleichterung. Allein dort in menschenleeren Gegenden hören die Hülfslcistungcn der Wohlthätigkeit auf, die Aufsicht über die Stationshäuscr und ihre Controlc kann auch nicht mehr hinreichend sein, durch das Zusammensein so vieler Menschen entwickeln sich pestilenzialische Dunstkreise, ansteckende Krankheiten lc., dann kommt das rauhe Klima, alles Ungemach deß Wetters; die Reise dauert '/, Jahr, und fällt daher stets in einen Theil des sibirischen Winters! Selbst der beste Willen des Gouvernements würde hier nicht das Ungemach und die Gefahren abwenden können! Man müßte eigene Gegenden im westlichen Sibirien als Sammelplätze organisiren, wo die Gefangenen den ersten Winter ruhig zubrächten, und also, statt in einem Jahre, in zwei Jahren am Orte ihrer Bestimmung anlangten. Diese Orte der Bestimmung sind sehr verschieden. Die schwersten Verbrecher kommen in die Bergwerke nach Ner- 45^l tschinsk im Gouvernement Irkutzk, 6400 Werst (914 Meilen) von Moskau. Das Loos der Gefangenen soll hier früher fürchterlich gewesen sein. Man sagt, sie wären in die Schachte hinabgestiegen und hätten das Tageslicht nie wieder erblickt. Späterhin kamen sie immer nach 3 Wochen ans Tageslicht. Der jetzige Kaiser hat aber ihr Schicksal sehr gemildert und besonders geordnet. Die Gefangenen brauchen nur die 6 Wochentage täglich 8 Stunden zu arbeiten, und bringen die übrige Zeit in ihren Häusern, oft in ihrer Familie zu. Das Loos Derer, die in die sibirischen Städte verwiesen sind, ist nicht ganz übel, wenn sie Unterstützungen von ihren Verwandten erhalten können. In den sibirischen Städten herrscht sogar viel Luxus, und nirgends wird mehr Champagner getrunken, als dort! Die zur Colonisation Verwiesenen kommen größtcntheils in Gegenden des südlichen Sibiriens^), die Alle, welche dort gewesen sind, als wahrhaft paradiesisch schildern. Die Gegenden fast ohne Unterschied romantisch schön, das Land unendlich fruchtbar, das Klima wundervoll, im Winter zwar kalt, aber bei stets heiterem Himmel, gesund wie keins; nirgends giebt cs so viele kräftige alte Leute, als dort! - Die dortigen Bauern, die Nachkommen der früheren Verwiesenen, sind sämmtlich wohlhabend, zum Theil sehr reich. Es bedarf nur Fleiß, Ordnung und der Anstrengung von ein paar Jahren, um zu einem soliden Hausstande zu kommen. Die ganze äußere Stellung ist von Anfang an cine höchst günstige zu nennen. So wie die Verwiesenen in Sibirien angekommen sind, liegt nicht bloß ihr vergangenes Leben wie ein Traum hinter ihnen, es ist auch rechtlich und politisch völlig beendet, ihr Verbrechen ist vergessen, Niemand darf es ihnen vorwerfen, Niemand darf sie auch nur Verbrecher nennen; selbst in öffentlichen Schreiben der Behörden wie im gewöhnlichen Lebensgcbrauche werden sie nur „die Unglücklichen" genannt. Sie sind völlig freie Leute; in ') Besonders glücklich sind dic, welche tu der Prodmz Omsk an^esitdell werben, wo alle Südfrüchte: WeiiUraubm, Aprikosen. Pfirsiche n., !?<" dcihc,,. 454 Sibirien ist die Leibeigenschaft gesetzlich verboten. Die Selbstregierung der Geimindcn herrscht dort im ausgedehntesten Sinne, nirgends sind die Leute weniger von habsüchtigen und betrügerischen Beamten geplackt als dort, weil es deren unge-mcin wenig giebt. — In Sibirien sind die alten einfachen und edlen patriarchalischen Sitten noch vorherrschend; es ist in dieser Beziehung das wahre Altrußland in besserem Sinne; die allergrößte Gastfreiheit und gegenseitige Hülfe herrscht dort. Alle unbefangenen Reisenden und Beobachter bestätigen diese Schilderung, allein seit einigen Jahren wird dort der moralische Zustand des Volks untergraben. Aus dem wunderbaren Goldreichthume des Landes entwickelt sich das moralische Verderben des Volks. Die uralten Sagen von dem Lande im Nordosten, wo die Greife unermeßliche Goldhaufcn hüten, sind keine Fabel! Alle östlichen Abhänge sämmtlicher Gebirge vom Ural bis Kamtschatka bilden Thäler von Flußsand, und nimmt man eine Hand voll davon aus, so hat man mehr oder weniger Gold in der Hand! 6s giebt aber Stellen, wo unermeßliche Reichthümer zusammen gehäuft sind. Die Ausbeute des Jahres 1843, welche amtlich constatirt wurde, betrug fast 1300 Pud oder 48,N0U Pfund Gold, allein cffectiv möchteil wohl leicht 70,000 Pfund gefunden worden sein, d. h. doppelt so viel, als alle übrigen Bergwerke der Welt zusammen jetzt jährlich gewähren!— Und bis jetzt ist es nur das durch die Fluthen abgespülte Gold, was man gefunden hat, wo mag aber der Goldstock liegen, von dem abgespült worden ist? Bewachen die alten Greife ihn noch brütend für ein folgendes glücklicheres und kühneres Geschlecht als das unsrigc? -- Seit einigen Jahren durchschwärmen unzählige Aventuriers Sibirien und suchen Gold, aber sie finden keine Menschen, die ihnen bei der Arbeit helfen, keine Lebensmittel, sich zu erhalten! An den günstigeren Stellen sind daher Arbeitskräfte und Lebensmittcl im höchsten Preise, und dabei kann man nur 3 Monate in diesen Gegenden, des Klimas halber, arbeiten. Der Arbeitslohn ist mitunter auf 15 Rubel Silber (17 Thlr.) für den Tag gestiegen. Da gehen denn auch die Kolonisten, statt dem soliden lind die Reinheit 455 der Sitten erhaltenden Landbau sich zu widmen, jener verführerischen Goldsuchcrei nach, und schon jetzt greift das Sitten-verderbniß rasch um sich. Bis jetzt ist das Goldsuchen dort noch ein fast freies Gewerbe *). Jeder bekommt einen Schürfschein und soll das Gold an die Behörde abliesern, welche ihm den Werth nach Abzug von 10 bis 25 Procent baar auszahlt. Welche Wirkungen diese zu erwartende Ueberfluthung von Gold auf die Geldverhältnisse der ganzen Welt und insbesondere Rußlands künftig haben wird, ist noch gar nicht zu berechnen. Das aber wird sehr bald eine politische Nothwendigkeit werden, daß das Gouvernement die ganze Angelegenheit unter eigne Leitung und strenge Controle nimmt. Zu unsern sibirischen Verwiesenen zurückkehrend, bemerke ich also, daß die Lage derselben, wenn sie an Ort und Stelle angekommen und colonisirt sind, eine sehr günstige zu nennen ist. Die harte Strafe beruht nur in dem Verluste der Heimath, in der Durchschneidung aller früheren Familien- und VatcrlandFbande und in den unendliche!: Gefahren und Beschwerlichkeiten der langen Ncise. Wir besahen uns hierauf das Tschuwaschcndorf. Die Anlage desselben stimmt mit der der Tschcremissendörfer üderein, auch hier sind es kleine Haufen unordentlich durcheinander liegender Gehöfte, die das Dorf bilden. Die Tschuwaschen**) gehören nach neueren Untersuchungen einer ganz andern Völkerfamilie an, als die Tschercmissen. Während Diese dem finnischen Stamme angehören, sind Jene dem türkisch-tatarischen Stamme zuzuzählen. Ihre Gestalt und Gesichtsbildung, vor Allem aber ihre Sprache soll dies zeigen. Dennoch schließen sie sich in Bezug auf Lebensart, Sitten, Kleidung, Charakter und Urreligion des Volks nicht den ihnen benachbarten und stammverwandten, sie ehemals sogar beherr- ^) In Petersburg hat sich eine Gesellschaft für Golbwäscheie, (sulow ,„ iizki) qebildcti die Attic z>, 5000 Nnbes B. gewährt jetzt mehr als 5,0 Proemt. ") Tschuwaschen ist ihr einheimischer Name; die Russen nennen sie Wymß, die Tataren Total, die Mordwmm Wjette, dir Tschncmissm ilorkmari (Vergmänner). 45tt schenden kasanschen Tataren an, sondern vielmehr den von ihnen durchaus geschiedenen Tscheremissen, und doch vermischen sie sich auch nicht einmal durch Heirachen bedeutend mit ihnen. Das ist ein seltsames, nicht aufzuklärendes historisches Räthsel! Das Gehöft des Tschuwaschen, das wir genauer besichtigten, welches aber den übrigen, die wir sahen, ähnlich war, hatte im Ganzen dieselbe Einrichtung, wie das vorbeschriebene des Tscheremissen; eine Menge einzelner Häuserchen für die verschiedenen Bedürfnisse lagen im Kreise des geräumigen Hofes umher. Da war ein Viehhaus (Utwidi), ein Kellerhaus (Nuigrepp), die kühle Stube oder das Sommerhaus (Lasj). Aber darin unterschied es sich von dem tscherenüffischen Gehöfte, daß das Wohnhaus frei in der Mitte des Hofs lag, auch eine andere Gestalt und eine andere Einrichtung hatte. Der untere Theil des Hauses war auch hier zu Bewahrräumcn eingerichtet, aber statt an der Dachseite, führte an der Giebelseitc eine bedeckte Treppe ohne ncbcnliegende Gallcric in die Wohnung hinauf, C5m Tschuwaschcngchdft zwischen Koömodcmiimsk mid K^s>n>. die nur aus zwei Räumen, Küche und Stube, bestand. Hausthür, Hofthür, liegt stets nach Osten. Das Haus war, wie bei Russen und Tscheremissen, aus übereinander gelegten Balken gebaut, ein Blockhaus, das Innere nicht so reinlich wie 457 bei d«n Tscheremissen. Neben der Thür ist der Ofen ohne Kamin (Siguna), und rings an den Wanden breite Bänke (Nari). An der Wand hing ein Kupferstich, daß Portrait deS Kaisers vorstellend. Wie leise schleichen sich die Zeichen der modernen Cultur überall, selbst dei halbwilden Völkern, cin! Auf dem Tische stand ein allerliebstes nationales, aber fast antik geformtes irdenes Wassergefäß. Die Tschuwaschen sind von Charakter sanft, gefällig und gehorsam; sie stnd nicht so groß und wohlgebaut, als dieTsche-remisscn, breiten bleichen Gesichts, haben dunkelgraue eng-geschlitzte Augen, dünnes schwarzes Haar und gleichen Bart. (Früher schoren sie sich den Kopf glatt, jetzt selten.) Die Tracht gleicht der der Tschercmissen, die der Weiber desgleichen. Weiß ist die vorherrschende Farbe bei ihnen, wie bei den Tscheremis-sen; für gewöhnlich weißes Leinen, an den Rändern bunt ausgenäht, an Feiertagen wcißgraues wollenes Zeug mit schwarzem Besatz. Die Weiber siechten ihre Haare in zwei lange Flechten, wobei sie aber stets den Kopf sorgfältig mit einem Tuche verhüllen, die Mädchen jedoch nicht. Ich sah ein Weib mit einem eigenthümlichen Schmuck: hinter den Ohren herab hingen, auf einen ledernen Riemen befestigt, 2 Zoll im Durchmesser haltende, in einander fassende messingene Ringe; dieser Schmuck heißt Surpan. Bei den Tschercmissen fand ich als Ackerwerkzeug die gewöhnliche russische Sacha, jedoch so leicht gebaut, daß sie den Boden nur etwa 3 Zoll tief aufritzt. Auf dem linken Wolgaufer im Gouvernement Wjatka soll bei ihnen die Kassale gebräuchlich sein. Bei den hiesigen Tschuwaschen sah ich auch die Sacha, ich hörte aber, daß dort, wo sie an die Tataren grenzen, der bei diesen gebräuchliche Räderpflug, der Sabin, in Gebrauch sei. Ich traf an dem Wege und in den Wäldern große Pferdeheerden, und hörte, daß sich gewöhnlich 2, 3 bis 4 Gemeinden vereinigten zur gemeinsamen Hütung, besonders in der Zeit, wo keine Arbeit für die Pferde ist. Es fiel mir auf, ausgedehnte Ländereien zu finden, auf denen einzelne starke Eichen sporadisch standen, unter denen eine regelmäßige Cultur war und das Korn schr üppig stand. Die Eichen gehören den Ge- 458 meinden, das Land ist ben Einzelnen zur Bebauung überwssen. Bei den Tscheremifsen und Tschuwaschen hatte sich die Idee festgesetzt, daß die Gemeinde die einzige Eigenthümerin alles Grundes und Bodens sei. Den Einzelnen ward er zur Benutzung zugetheilt, doch ließ man dem im Hofe folgenden Sohne meist das Land, das der Vater bebaut hatte. Eine so künstlich ausgleichende Theilung wie bei den Russen hatte sich nicht ausgebildet, meist erhielt Jeder in jedem der drei Felder nur ein oder ein paar Stücke, daher ich die einzelnen Ackerstreifen viel breiter wie bei den Nüssen fand; auch fand ich überall die einzelnen Felder durch sogenannte Raine oder Grasstreifen, wie in Mitteldeutschland, geschieden, was andeutete, daß die einmal vorgenommene Feldeintheilung nicht mehr verändert wird. Daß die einmal vorgenommene Feldvertheilung nicht immer die gerechteste sein möchte, indem meist iu huunto gleich, aber in czuali sehr ungleich getheilt ist, mag richtig sein, auch mögen wohl einzelne Klagen vorgekommen sein. Die Behörden wollten daher die ruffische Bertheilung einführen, und da sie den Grundsatz aussprachen, alles Land gehöre der Krone, nicht den Gemeinden, so ordneten sie dieselbe förmlich an. Als nun dazu vor ein paar Jahren die Einführung und Pflanzung von Kartoffeln befohlen ward, um künftiger Hungersnoth, die Rußland so oft heimsucht, vorzubeugen, so wurden die Gemüther in diesen Gegenden sehr schwierig. Die ausführenden Beamten hatten Alles etwas unvorsichtig eingeleitet; sie hatten befohlen, daß je 100 Seelen einen Morgen mit Kartoffeln für das Ge-meindcmagazin bestellen sollten; sie hatten den Morgen für das erste Jahr bestimmt, dann im zweiten Jahre einen andern Morgen Landes. Als sie nun im dritten Jahre abermals einen andern Morgen bestimmten, glaubten die Leute, man wolle ihnen so nach und nach alles Land fortnehmen. Dazu kam der Widerwillen gegen die Kartoffeln, welche die muhamedani-schen Tataren*), so wie die russischen Altgläubigen, für eine ') Die Tatarm erboten sich überall, Geld ans Magazin zu zahlen, wenn man es ihnen nur erlassen wollte, selbst Kartoffeln zu bauen! — Duch das Gute dringt am Vnde überall durch; als ich in diesen Gegenden war, fingen schon bei allen diesen Völkern Einzelne an, Kavlosstln mit Appetit zu essen. 459 sündhafte Frucht erklärten; die eigensinnigen Tscheremissen und Tschuwaschen waren aber nicht einmal zu überreden, auch nur einen Versuch zu machen, sie zu essen. Endlich hatte sich auch das Gerücht verbreitet, man »volle sie zu Apanagebauern machen, die nicht für Freie gelten. So brach denn eine förmliche kleine Rebellion aus, die 38 Menschen das Leben kostete. Sie ward bald gestillt, und man verfährt jetzt vorsichtiger. Auch bei den Tschuwaschen bilden mehrere kleine Dörfer eine Gemeinde. Ein solches kleines Dörfchen heißt Akalotki. Sie liegen, wie die tscheremissischen, an Bächen und Anhöhen, stets mit einem kleinen Haine von herrlichen Bäumen umkränzt. Die Gemeinde, welche ich besuchte, bestand aus drei kleinen Dörfern, zusammen 34 Gehöfte und 98 männliche Seelen haltend. Auch hier vermochte ich nicht, die Namen der einzelnen Dörfer herauszubringen; sie verheimlichen diese sorgfältig. Die Hauptnahrungsmittel der Tschuwaschen sind Brod, besonders Gerstenbrod, das mit Molken geknetet und daher schnell sehr trocken wird, und sauer gegorne Milch. Von Fleisch ziehen sie das auf der Jagd erlegte, selbst Naubthicre, Füchse, Marder :c., allem übrigen vor; die heidnischen essen nie Schweinefleisch. Den Tollfisch, der in der Wolga sehr häufig ist und den die Russen nicht essen, ziehen sie allen anderen vor. Sie bereiten Meth und vortreffliches Hopfenbier (Braga). Vor dem Essen sprechen die heidnischen (aber auch häusig noch die Christen): Thore bar tyra — Thore, gieb Brod! und nach dem Essen: Thore syrlack — Thore, verwirf mich nicht! — Ihr Reichthum besteht in Korn, welches, auf jene oben beschriebene Art einfach gedarret, 30 bis 40 Jahre liegen kann, ohne zu verderben, in Bienen und Vieh. Jeder hat einen qro-ßen Hühnerhof, und die Eier bilden einen bedeutenden Handelsartikel. Es gehen jährlich viele Millionen auf der Wolga hinauf durch die verschiedenen Canalsysteme nach Petersburg. Auch die Tschuwaschen kaufen ihre Weiber. Der Kaufpreis heißt wie bei den Tataren Kalijm; er besteht aus 10 bis 80 Rubel, einem Eimer Branntwein und 1 Pud Honig. Es ist Sitte bei ihnen, die Frau stets außer dem Dorfe zu suchen; sie sagten darüber an Frau v. Fuchs: „Es ist eine Schande, Söhne oder Töchter in demselben Dorfe zu verheirathen, denn 4ttU Alle könnten denken, daß sie sich schon vor der Heirath geliebt hätten; es ist sündig, sehr sündig, das Mädchen zu heirathen, daß man täglich gesehen hat, nnd es bringt kein Glück! Wie kann man eine Heirath eingehen, ohne aus den Feldpfählen hinaus gefahren zu sein!" — Die Eltern des Bräutigams machen stets, ohne den Sohn zu fragen, dieHeirath, und zwar so, daß er wo möglich seine Braut nie vorher gesehen haben kann. Erst wenn die verschleierte Braut abgeholt ist und in ihrem neuen Hause am Tische sitzt, hebt der Vater des Bräutigams ihren Schleier auf und sagt zum Sohne: „Siehe das Licht! Glück zu Brod und Kindern!" — Die Braut darf nicht zu Fuß in das Bräutigamshaus gehen, sie wird stets dorthin gefahren oder getragen. Das erste Mal, wo die junge Frau ihr Haus verläßt, muß sie den Zauberer des Dorfs (bei den Tschercmissen Kart, bei den Tschuwaschen Iomsa genannt) besuchen. Sie kniet vor ihm nieder, und er reicht ihr eine Schale Bier mit einer hinein geworfenen Münze; sie trinkt dreimal, nimmt die Münze heraus und bewahrt sie sorgfältig. Dann macht sie mehrere Besuche, und die Frauen und Mädchen begleiten sie, bis sie 7 Weiber und li Mädchen zusammen hat, mit diesen kehrt sie zum Iomsa zurück und kniet mit den 7 Weibern vor ihm, die <» Mädchen aber stehen hinter ihnen und bücken sich nur. Der Iomsa legt ihr die Hand auf das Haupt und spricht: „Thora gebe dir langes Leben, Thora gebe dir Kinder und lasse dich Enkel erleben, Thora möge dir gewähren, daß deine Schwiegertochter dir gehorche, so wie du deiner Schwiegermutter gehorchen sollst. Lebe ruhig und friedlich, liebe und fürchte deinen Mann!" Ich habe oft darüber nachgedacht, wie so bedeutungsvolle symbolische, sinnige und beziehungsreiche, oft edle Gebräuche und Ceremonien wohl bei so rohen Völkern entstanden sein möchten. Sie sind uralt, aber selbst auf der Stufe der Cultur, auf der wir diese Völker jetzt kennen, und die unstreitig und geschichtlich constatirt doch etwas höher ist, als die vor einigen hundert Jahren, müjsen wir anerkennen, daß diese Völker ganz unsähig wären, viel zu wenig Geist und Erfindungsgabe besitzen, solche Gebräuche gegenwärtig zu erfinden 46! und bei sich einzuführen. Von wo schreiben sie sich denn her? Sollten die Völker in eincr unbekannten Vorzeit von höheren geistigen Anlagen gewesen sein und auf einer höheren Stufe der Cultur gestanden haben? Die Tschuwaschen haben, wie die Tscheremissen, eine große Angst vor der Rückkehr der Todten. Schon bei dem Begräbnisse legen sie allerhand Lebensmittel und Kleidungsstücke auf das Grab, und beten und rufen: „Wir feiern euer Gedächtniß, wir entziehen euch nichts, wir beten zu Thora für euch! aber nun bleibet auch ruhig, zanket euch nicht unter einander dort unten, und beunruhigt uns nicht, kommet nicht wieder zu uns! Da habt ihr Essen und Trinken und Kleider, stehet auf zur Nacht und esset euch satt! Da habt ihr auch Handtücher, euch den Mund zu waschen!" Als Frau von Fuchs, die dies erzählt, sich zurückzog, fand sie hinter den Gebüschen russische Bettler, welche die Nacht erwarteten, um Alles von den Gräbern wegzutragen. Doch gilt dies bei den russischen Bauern für schändlich und verächtlich, und „du Gräbrrdicb" wird als Schimpfwort gebraucht. Der Todte wird mit dem Kopfe nach Westen begraben. Auf den ältesten Begräbmßplätzcn sollen dagegen die Füße nach Süden, der Kopf nach Norden liegen. Am 3ten und ?ten Tage begehen sie, wie die Tscheremissen, ein Gedächtm'ßfcst. Einmal im Jahre aber (nach Georgi am Gründonnerstage) wird in jeder Familie eine große Gedächtnißfcier der Verstorbenen gehalten. Dann werden so viele auf besondere Weise bereitete Lichter angezündet, als Verstorbene in der Familie waren. Der älteste Sohn nimmt dann zuerst von dem Brode ein Stückchen, wirft es in eine Schale und spricht: „Vater, wir gedenken dein; da hast du Brod und verschiedene Gerichte, alles steht vor dir, nur beunruhige uns nicht und komme nicht zu uns." Dasselbe wird für alle andern Todten wiederholt. Nach Beendigung dieser Gebete wird die Schale mit Brod hinausgetragen und vor der Thüre den Hofhunden gegeben, damit sie auch der Todten gedenken sollen. Fremde Hunde aber werden sorgfältig abgehalten. Die Tschuwaschen sind bis auf ein paar Tausend seit 1743, wo man sie von Abgaben befreite, nominell Christen, wenig/ 4l>2 stens getaust. Neben dem Bischen Christenthum, waö sie begriffen haben, halten sie auch noch den größten Theil ihres früheren Heidenthums fest. Sie feiern die christlichen Feste mit heidnischen Gebräuchen. Daß christliche Sichbekreuzigen haben sie zwar gelernt, allein sie bedienen sich dieses Zeichens fast nie, als beim Anfang und Ende ihrer Tänze, wo sie gar andächtig daß Kreuz schlagen! Die heidnischen Tschuwaschen haben mit den heidnischen Tscheremissen dieselbe Mythologie und denselben Gottesdienst, nur die Namen der Götter :c. sind verschieden. Der Iama der Tscheremissen heißt bei den Tschuwaschen Thora. Er hat eine Gemahlin, Thor Amisch, die zugleich die Sonne vorstellt und eine Mutter der Sonne. Dann kommt der Sohn Gottes, dann viele andere Götter, aber stets, wenn sie einen Gott nennen, nennen sie zugleich dessen Mutter. Sie scheinen nach Georgi auch vergötterte Menschen zu kennen, die sie Irisin nennen. Keremeth ist eine Gottheit und zugleich der auch von den Tscheremissen so genannte Opscrplatz. Bei den Tschuwaschen heißt er mitunter auch Irsan. Er ist im Walde in der Nähe einer Quelle, auf oder an einer Anhöhe, im Bicreck umzäunt. Er hat drei Eingänge, nach Osten, Norden und Westen. Durch den östlichen Eingang werden die Dpferthiere hineingebracht, durch den nördlichen wird das nothige Geschirr hineingetragen, durch den westlichen tritt die Gemeinde hinein. Das oben bei den Tscheremissen beschriebene Fest der Sonnenwende, Iumon Baijron, feiern sie eben so. Das Opfer eines weißen Pferdes ist von allen das höchste. Bei allen Festen spielen die Iomsijs (die Karts der Tscheremissen), welche zugleich Priester, Zauberer und Aerzte sind, die Hauptrolle, wo möglich müssen sie in der heiligen Vierzahl zugegen sein. Weiber dürfen bei keinem Opfer zugegen sein. Der Freitag ist geheiligt und der Ruhetag. Im Frühling opfert jeder Wirth, ehe er den Pflug einsetzt, im Kcremeth durch den Iomsij vor 7 Feuern einen Kuchen und eine kleine Schale Milch. Wenn sie ein Unglück trifft, so opfern sie dem Schaitan ein Füllen, welches sie ungeheuer martern, lebendig verbrennen. Aus dem halbverbrannten schneiden sie die Leber aus, welche al§ sehr heilsam für Kranke erachtet wird. 463 Die Iomsijs zaubern mit den sogenannten Kuckuksthränen, mit Wachs, mit Salz und Brod, mit Geld im Wasser. In jedem Hause steht im Winkel der Stube das Haushei-ligthum, der Ierich. Kr besteht aus einem zusammengebundenen Bündel von 15 im Herbst geschnittenen, ungefähr 4 Fuß langen Zweigen vom wilden Rosenstrauch. Niemand darf das Heiligthum berühren, bis man es im Herbst, nachdem das Laub abgefallen ist, in das fließende Wasser wirft und durch ein neu gesammeltes ersetzt ^). Eß existirt bei ihnen auch eine Art Gottesurthcil. Unter großen Verwünschungen und Verfluchungen muß der Schwörende ein Gericht von Mehlklößen (Salma) verzehren. G eorgi behauptet, die Tschuwaschen hätten keine nationale Zeitrechnung, doch kennen sie die Eintheilung des Jahrs in Winter und Sommer und in zwölf Monate. Es beginnt im November mit dem Opfermonat Tschukoich, wo den Göttern von der neuen Ernte die ersten Opfer gebracht werden. Die Woche beginnt mit dem Ruhetage, dem Freitag. Die Tschuwaschen haben Volkslieder. Sie behaupten aber, sie nicht anders singen zu können, als durch den Gegenstand, den sie betreffen, unmittelbar angeregt; die Waldlieder also nur im Walde, die Flußlicder nur auf dem Flusse :c. Nur die Verliebten singen Liebeslieder! Frau v. Fuchs erzählt als ein merkwürdiges Factum, daß in einem von Nüssen bewohnten, von Tschuwaschen umgebenen Dorfe, welches ihrem Bruder gehörte, die Russen ihre Nationalität, ihre Sitten und Gebräuche fast ganz aufgegeben hätten. Sie hatten Alles von den Tschuwaschen angenommen, und sprachen sogar mehr Tschuwassisch als Russisch. Sonst ist es im Allgemeinen eine wahre Bemerkung, die im russischen Journal ") «Lei den Woljakrn, die theils im Kasanschcn, theils im Orcnbmgschcn und im WMaschen Gouderm'ment wohnen, und die ebenfalls zu der finnischen Mlkerflnuilie gehören, findet sich ein ganz ähnlicher Gebrauch. Dort sind es aber zusammengebundene Fichtenzweigc. Dort heißt dies Heiligthum Modor. Auch die Wotjakrn haben im Wesentlichen dieselbe Mythologie, wie die Tscheremissen und Tschuwaschen. Ihr oberster Go!t heißt Imnar, der Böse wohut ebenfalls im Wasser. Sie hadm ebenfalls die oben beschriebenen Opferftlatzc, die auch Krremeth heißen n. 464 deß Ministeriums des Innern vom October 1838 sich findet: „Die Schilderung des jetzigen Zustandes der Wotjaken, Mordwinen, Tscheremissm:c. ist das letzte Document der Geschichte, denn ihre Physiognomie beginnt unterzugehen, überall verschlingt die russische Ansiedlung das sinnische Element." Die Tscheremissen sind sämmtlich freie Leute; die Tschuwaschen bis auf 2703 Köpfe (1838). Bei beiden Völkern findet sich keine Spur von eingeborenem nationalem Adel. Ueber die Verbreitung und Seelenzahl dieser Völker gebe ich folgende, dem Werke des nach Möglichkeit zuverlässigen Statistikers Koppen: „Rußlands Gesammtbevölkerung im Jahre 1838, Petersburg 1843," entnommene Notizen. Tscheremissen. Im Gouvernement Kostroma waren ansässig 1691 Männer, 1666 Weiber. Im Gouv. Nishnij-Nowgorod befanden sich 2060 Männer, 2270 Weiber. Im Gouv. Wjatka waren 34,788 Männer, 38,721 Weiber. Im Gouv. Perm waren 2275 Männer, ? Weiber. Im Gouv. Kasan waren 34,476 Männer, ? Weiber, unter ihnen 1334 Ungetaufte. Im Gouv. Orenburg waren 1005 Männer, ? Weiber. In Allem waren demnach 76,295 männliche Seelen, oder im Ganzen in runder Zahl noch etwa 155,000 Köpfe von dieser in früheren Zeiten zahlreichen und weit nach Westen verbreiteten Nation vorhanden. Tschuwaschen. Im Gouv. Kasan befanden sich 12,935 Männer, ? Weiber, darunter 1895 Ungetanste. Im Gouv. Simbirk 46,490 Männer, 50,015 Weiber, darunter 1275 Männer und 1430 Weiber Leibeigene. Im Gouv. Ssaratow 3272 Männer, 3580 Weiber. Im Gouv. Orenburg 28,625 Männer, ? Weiber. Im Gouv. Wiatka 9 Männer, 8 Weiber. Es waren also 91,331 männliche Seelen und im Ganzen in runder Summe etwa 183,000 Köpfe vorhanden. Diese beiden Völker wohnen nur in Dörfern, nirgends in Städten; sie verabscheuen diese, während die Tataren gern 405 Vorstädte und besondere Viertel der russischen Städte bewohnen. Beide Völker sind, wie man behauptet, aus Nomaden Ackerleute geworden. Nachdem wir noch einige Tschuwaschendörfer passirt hatten, bekam die Gegend 30—40 Werst vor Kasan einen andern Charakter. Wenn wir bisher eine Hochebene mit Thaleinschnitten durchzogen hatten, so kamen wir jetzt in ein wirkliches Bergland; langgezogene Nucken mit einzelnen Kuppen, die freilich 5—600 Fuß wohl nirgends überschritten, bildeten breite und enge Thäler. Hier kamen denn auch wieder große russische Dörfer mit schlecht gedeckten Strohdächern vor. Auf den Feldern sah ich hin und wieder Gruppen von Weibern, welche jäteten, was Fleiß und Sorgfalt im Landbau andeutete. Endlich erreichten wir die Höhen der Wolga, die eben hier ein Knie macht und ihren bisherigen westöstlichcn Lauf in einen nord-südlichcn verwandelt. Nasch fuhr nun der Wagen hinab, und bald hielten wir am Ufer des majestätischen Stromes. Etwas Elenderes, als die Einrichtung der russischen Fähren anfallen Flüssen, giebt es nicht! Statt in die Spitze der Fähre hinein zu fahren, werden die Pferde abgespannt und der Wagen an der breiten Seite mit unsäglicher Mühe hinüber gehoben und quer über die Fähre gestellt! Die gleiche mühsame Arbeit ist dann vorzunehmen, wenn der Wagen auf der andern Seite des Flusses wieder herausgehoben wird! Auf allen Flüssen fanden wir diese unbequeme Art, nur am Don kamen wir später einmal an eine Fähre, welche aber von deutschen Colo-nistcn gehalten wurde, und da bestand die gewöhnliche, im ganzen übrigen Europa übliche Weise, daß man vorn hineinfuhr, zum Zeichen, daß es nur des Ei's des ColumbuS bedürfte, um die russischen Fuhrleute auf die richtige Manipulation zu führen! Am l7. Juni gegen Mittag erreichten wir die Kasanka, und hatten nun die herrlich gelegene alte Tatarenstadt vor uns. Nachdem wir noch eine Stunde durch langsame Ucberfahrt und abscheuliche Snmpfwcge aufgehalten waren, erreichten wir Kasan, und fanden Quartier bei einem deutschen Gastwirth. 30 XVI. Kasan. Vrand vm, l^42. Staatsratb von Fuchs. DaS von Osten nach Westen wandernde und vorrückende Ungeziefer. Dir Universität. Tic russische Schweiz. Professor Kowalewsfij. Notion ubcr «hina. Der kasanschc Adel. Ncsuch des tatarischen Gottesdienstes. Bl'snch im Hause zweier tatarischer Kaufleute, Hauöeinrichtnngm, Trachtc>i, Körper: bilbung, gcistigc Anlagen, (vharatter, ^cbcnöart der Tataren. Ihrr Vulksporsir. Russische Taufe. Hnligcnbilder. Ncichthum der russischen Sprache an Diminutiven. Die ssuitlirfähisskcit der Tataren. Ihre politische Bedcutlma,, wenn sie Christen würden. Dic ,^nutenstraft drr Kindesmiirdcriu. Aufhebuiu; der Knutenstrafe. Die Bodmerzeiigiiisse, dns Klima, die Ackergcrälhschastril, Feldwirthschaft im GoiU'emcinciN Kasan. Das kasanschc Nou>ie„f!lister. Erziehungsanstalt der Poprn-tüchter. Dir Wichtigkeit rinrr ^üs^in, der Nonnenklöster, um Erzir-hlingsaustaltm daraus zu bildm. Das Tatarrndorf Irpcm Aschino. l'sin tataiischrs Gchöst und seine Einrichtung. Dorfcinrichtungen. Stellung der Moliahs. Verhältnisse der Weiber. oVasan lag noch zum großen Theil in Trümmern. Ein ungeheurer Brand hatte die mächtige Stadt im vorigen Jahre, mit Hainburg zu gleicher Zeit, in Asche gelegt. Die Fcuerlösch-anstalten sind in Rußland in allen Stücken überall gut, in Moskau und Petersburg vortrefflich. Petersburg mit seinen steinernen Häusern und breiten Straßen möchte weniger Brandunglück, als irgend eine Stadt zu fürchten haben. In Kasan waren unter 47,0t) Häusern nur etwa 509 steinerne, die übrigen russische Blockhäuser. Außer einem Paar Straßen in der Stadt war alles Uebrige ungepflastert, allein nach Sitte russischer Städte liefen statt des Trottoirs an beiden Seiten der Häuser auf hölzernen Bocken etwa einen halben Fuß hoch liegende Tannenbohlen für die Fußgänger her. Diese Bohlen- 467 reihet, wurden bald vom Feuer ergriffen, und dies lief auf denselben alle Straßen hindurch, und zündete an vielen Orten zugleich. C'Z war schon mehr als ein Jahr nach dem Brande verflossen, aber die Stadt begann erst, als ich sie sah, sehr langsam sich aus der Asche zu erheben. — Es schlt bei solchen großen Gelegenheiten in den Städten des innern Nußlands sehr an Geld, was schon aus dem hohen Zinsfuß hervorgeht; unter 8 bis 12 Procent ist nirgends Geld zu leihen! Der Kaiser hatte gleich nach dem Brande einige Millionen angewiesen, welche denen, die wieder aufbauen wollten, auf gewisse Jahre zinslos vorgestreckt werden sollten. Man erzählte mir, diese Hülfe sei im Ganzen nur sehr wenig von den Neuaufbauern benutzt worden, weil die geforderten Legitimationen, Sicherheitsbestcllungen :c. der Benutzung jener Gnade unüber-steigliche Hindernisse entgegengesetzt, und sie illusorisch gemacht hätten. Das Formcnwesen und die bureaukratischen Weitläufigkeiten sind in wenigen Ländern so arg, als in Rußland, und doch sind sie hier nicht einmal aus dem überfeinerten Culturzustande und den Verwicklungen der modernen Vcrdcrbniß hervorgegangen und durch sie zum Theil nothwendig geworden! In Rußland sind im Allgemeinen die Sitten zwar roh, aber gesund und fest, daher die socialen Verhältnisse einfach, nicht verwickelt. Die unglückliche Nachahmungssucht hat hier das westeuropäische Formenwesen eingeführt und damit unermeßliche Hemmungen in alle Verkehrsverhältnisse. Wir machten die nöthigen Besuche beim Gouverneur, den Präsidenten des Domaincnhofs, des Apanagenhofs, dem Poli-zcimeister:c., besahen die Stadt, ihre Umgebungen, und ich ging dann am Abend noch zum Staatsrath v. Fuchs, an den ich empfohlen ward. Er war ein geborner Rheinländer, aber seit langen Jahren in Nußland. Früher Professor an der Universität Kasan, Arzt, tüchtiger Naturforscher, lebte er jetzt ganz seiner Wissenschaft; er hatte herrliche naturhistorische Sammlungen, war dabei ein origineller Kopf, offen freimüthig, feiner Beobachter, im höchsten Grade gastfrei. Ich war während Wich 468 meines Aufenthalts in Kasan am meisten in seiner Gesellschaft und verdanke seiner Belehrung unendlich viel. Seine Gemahlin war die schon oben angeführte Dame, welche ein so interessantes Buch über die Tschcremissen geschrieben hat. Sie hatte auch unter besonders günstigen Umständen viele der verschiedenartigsten russischen Sectirer (NoSkolnik) kennen gelernt und eine Zeit lang unter ihnen gelebt. Auch über die Roskolnik hatte sie ein Buch geschrieben, allein die Censur wird wohl nicht gestatten, daß es erscheint. Herr von Fuchs erzählte uns manches naturhistorischc Cu-riosum, namentlich über die Züge und allmähliche Verbreitung einiger Ungezieferarten. So sagte er, daß die Tarakancn, eine Art kleiner Käfer (Blatta), welche eine unendliche Plage in den russischen Häusern sind, von China aus allmählich bis zur Wolga vorgeschritten sind. Gegen 1?W erschienen sie am Don bei den Kosaken, die eben aus dem siebenjährigen Kriege zurückkehrten, und nun die neuen unbekannten und unbequemen Gäste in der Meinung, sie selbst hätten sie vielleicht unbewußt mit aus Deutschland gebracht, Prussaki benannten. Scndcm sind sie immer weiter nach Westen hin gewandert, und haben sich allmählich über Nußland verbreitet. Gegenwärtig sollen sie schon bis nahe an die altpolnische Grenze vorgerückt sein, und wir haben also zu erwarten, daß uns diese Plage etwa in dreißig Jahren auch in Deutschland erreicht! — Eben so erinnert sich Fuchs gar wohl, daß 1807 plötzlich längs der Wolga herauf eine ungeheure Menge großer Ratten ankamen, die binnen vier Jahren alle einheimischen Ratten und Mäuse in Kasan vertilgten, dafür aber selbst eine ungeheure Plage geworden sind, indem die Katzen ihrer nicht Meister werden können. Auch sie rückten allmählich nach Westen vor, und sollen schon Nishnij-Nowgorod erreicht haben. Man findet 'sie in Persien, und sie scheinen hier vom kaspischcn Meere her eingewandert zu sein. Sie sehen schmutzig gelb auS, mit einem schwarzen Streifen längs dem Nucken, und sind fast halbmal größer als die gewöhnlichen Ratten. — Im Jahre 18 >0 oder 1820 verbreitete sich plötzlich in Kasan, wahrscheinlich durch Orangenbäume von Astrachan herübergebracht, eine Art ganz kleiner Ameisen svon Evcrsman und 469 Fuchs: i"u!'lni«:a Mali!, benannt), die ebenfalls eine große Plage geworden ist. Wir besuchten die Universität ^). Sie liegt auf einem einsamen Hügel und war in ihren wichtigsten Theilen: Bibliothek, naturhistorische Sammlungen, Sternwarte :c., vom Brande verschont geblieben. Die Bibliothek war nur in einer Beziehung wichtig: ein eigener Saal enthält nichts als chinesische, mongolische, thibetanische Manustripte, zum großen Theil noch in mächtigen Kisten unausgepackt! Keine Bibliothek der Welt möchte einen solchen Reichthum asiatischer Manustripte besitzen, als diese, aber bis jetzt noch fast unbenutzt, es eristirt noch nicht einmal ein vollständiger beschreibender Katalog derselben! — Die naturhistorischen Sammlungen sind sehr verständig angelegt, man hat vorzugsweise Rußland, Sibirien und Nord China ins Auge gefaßt, und sieht die naturhistonschcn Seltenheiten hier in einer bewunderungswürdigen Vollständigkeit beisammen. Die Ausstopfung, Ausstellung u. ist vortrefflich. Den Abend brachten wir beim Gouverneur auf dessen Landhause zu. Dies liegt in der sogenannten russischen Schweiz. Die nordöstlich der Stadt sich herziehenden Höhen bilden nach der Kasanka hin tiefe bewaldele Einschnitte, die recht pittoreske Ansichten gewähren. Ich lernte an diesem Abende den Professor Kowalewskij kennen, der mit dem Botaniker Bunge lange in China gewesen") ist. Er beantwortete meinen Fragen über Anbau des Landes, Gemcindeversassung :c. sehr freundlich, und ich lasse daher hier einige Notizen folgen. Da er eigentlich ') Als die Universität zuerst gestiftet war, fand man nur deutsche Pwfesso-reu. Im Jahre I81U waren vierzehn Deutsche m,d ein Nüsse, 4815 warm nur acht deutsche Professoren vurhandrn. Gegenwärtig sind nur noch einige vorhanden, die Mohrzahl sind Nnssm, und einige Mm. ") El zeigte uns auch bei einem zweiten Besuche in einem Saale der Universität die von ihm mügebrachlen chinesischen Merkwürdigkeiten: Kleidungsstücke, Zicrathm, Hausgerälh. Unter andern auch das in Wachs nach der Natur geformte Modell eines Fnsics eincö vierzehnjährigen chinesische Mädchens, der regelrecht m,aesch,n,rl und eingezwängt war. Die Zrhen waren sämmtlich unterwärts gebunden, die Länge des Fußes war nur 2»/,, Zoll. 470 nicht Studien über die chinesische Verfassung gemacht hat, so ist das, was er erzählte, wohl nicht allgmcin gültig, er gab nur seine eigenen, unmittelbaren Anschauungen, und Alles gilt daher nur für die Gegenden, die er gesehen hat. Die Reisenden hatten den gewöhnlichen Weg über Irkutzk und Kjachta genommen, und waren durch die Mongolei nach Peking gegangen. Der Weg erhebt sich von Irkutzk an beständig und sehr bedeutend bis zu dem Ientei-Kamcn, .W0 Werst jenseit Kjachtas, von wo er wieder ziemlich steil abfallt. Der Ientci-Kamcn liegt mit den Bergen, auf denen die Mauer herläuft in gleicher Hohe, so daß also das eigentliche Innere der Mongolei eine Art großen Bassins bildet, dessen Boden die deutlichsten Spuren ehemaligen Mecrgrundcs tragen. Das Klima der Mongolei ist rauh, so daß die Reisenden dort im October in doppelten Pelzen fuhren, in Peking dagegen einen Monat später in offener Uniform schwitzten. Die chinesischen Landstriche, durch welche die Reisenden kamen, sind durch ungemcin zahlreiche Dörfer angebaut, die aber nicht nach Art der russischen längs einer oder mehrerer Straßen liegen, sondern verworrene Haufen von Höfen, gerade wie die tschercmissifchen Dörfer, bilden. Ein Anbau durch einzeln gelegene Höfe findet sich aber nirgends. Die Reisenden sahen sogar nie einen einzeln gelegenen Hof! In Bauart der Häuser, Form der Hausgeräthe, der Ackerwcrkzcuge :c. herrschte überall längs des ganzen langen Wegs die größte Gleichförmigkeit. Alle Häuser sind von Stein, da Holz überhaupt sehr rar ist, die Thorpforten mit großen steinernen Schwellen, in welche zwei Gleise eingeschnitten sind, um die Wagenräder durchzulassen, ein deutlicher Beweis für jene Gleichförmigkeit. Das Land ist den Chinesen sehr spärlich zugemessen, so daß bisweilen die Bewohner ganzer Dörfer, um Boden zu gewinnen oder zu ersparen, sich Hvhlenwohnungcn in einem benachbarten Berge gegraben haben. — Die auf diesen Landstrichen vorzugsweise angebaueten Getrcideartcn sind Sommerweizen, Gerste, Reis und ein sonst unbekanntes Gewächs, das sie Go-u-lan nennen. Dies bildet eine gegen 5 Fuß hohe Staude mit starken breiten Blättern und einer Aehre mit Körnern, die mit Hirse Aehnlich-keit baben. Diese gewähren ein gutes Mehl, die Blätter ein 47 l beliebtes Gemüse und die Stengel Viehfutter. Von Vieharten findet man auf dem Lande fast nur kleines Vieh: Schaafe, Schweine, Federvieh. Pferde und Rindvieh sind äußerst selten, wahrscheinlich der Unterhaltungskosten halber, indem aus Man-qcl an Grund und Boden nur wenig zur Viehgewinnung ab-qeqebcn werden kann. Zudem gilt das Rindvieh einigermaßen als geheiligt und wird daher nie geschlachtet. Fleisch als Nahrung ist daher in China äußerst kostbar. Jedes Thier: Hunde, Katzen, Ratten!c., wird ohne Bedenken gegessen. Schaaf- und Schweinefleisch, ja selbst das Fleisch obiger Thiere wird in den kleinsten Gewichten zu unerschwinglichen Preisen verkauft. Auch Holz wird nach Gewicht verkauft. Kuhmilch giebt es nicht, aber hin und wieder Kameel- und Hundemilch. Bei dem Mangel an Zugvieh wird der Pflug fast durchschnittlich von Menschen gezogen. Es ist überall Mangel an Dünger, dagegen finden sich wohleingerichtete und wohlunterhaltene Bewässerungssysteme. Ueber die Einrichtungen des Dorfgemeindewesms vermochte mir Professor Kowalewskij keine Notizen zu geben. Die Städte in China sind durchschnittlich groß und volkreich, mit langen und breiten Straßen, von einstöckigen Häusern gebildet. Die Polizei ist dort so vollkommen organisirt, wie dies nur in irgend einem europäischen Staate sein kann. Jede Stadt ist in mehrere Polizciquartiere getheilt, die unter besondern Beamten und Unterbeamten stehen. An der Spitze steht eine Art Polizeiminister, eine der höchsten Chargen des Reichs, gegenwärtig ein Verwandter des KaiserL! ^ Jedes Stadtquartier ist von dem andern durch hohe Mauern geschieden, welche Thore haben, die Nachts geschlossen und unter keiner Bcdingnng vor Tagesanbruch geöffnet werden. Von der Bestechlichkeit der Polizei wird jedoch auch in China gesprochen, wie bei uns. Der Kaiser gilt als das Oberhaupt aller drei m China herrschenden Religionen, des Lamaismus oder Buddhismus, des Schamaismus und der Do-an-si, d. h. Schüler des Verstandes, die, wie man behauptet, aus den Lehren des Kon-sut-tse ein Neligionösystcm zusammengestellt haben. Die Schamanen haben Tempel, aber keine geistliche Hierarchie, keine Priester. Der Lamaismus ist aber vollständig hierarchisch organisirt. Der 472 Gottesdienst ist regelmäßig eingerichtet, wird aber wenig besucht; der Chinese ist sehr abergläubisch, aber nicht fromm. An gewissen hohen Festtagen ist feierlicher Gottesdienst, wo auch in Peking dem Kaiser, in den Provinzialstädten dem Gouverneur bestimmte Opfer dargebracht werden. Professor Kowalewsky hatte in China eine besonders gute Aufnahme bei den dortigen Katholiken gefunden, deren Religion besonders im nördlichen China sich sehr auszubreiten beginnt; in Peking selbst soll man gegell 40,000 finden. Zu der Soiree beim Gouverneur hatten sich auch einige aus dem Adel des Gouvernements mit ihren Familien eingefunden. Cs mochten wohl nur wenige aus altrussischem Blute, vielmehr Abkömmlinge von tatarischen Mursas sein. Die Physiognomien, Haare und Augen zeigten dies deutlich, allein Kleidung und Benehmen war schon völlig durch die mvellircnde Cultur nach moderner Art geregelt. Auch die äußere Bildung ist hier an der asiatischen Grenze ganz europäisch, man spricht in den Familien fast mehr Französisch als Russisch! Das war noch wohl vor W bis 40 Jahren anders. Da kannte der kasanische Adel nur vier gedruckte Sachen: den Swctzi, ein Gebetbuch, kalenderartig nach den. Heiligen geordnet, es lag meist stets und wenig berührt unter dem Heiligenbilds die moskausche Zeitung in unermeßlicher Verbreitung, in monatlichen Heften den Leuten übcrschickt; den moskauschen Kalender, und ein Traumbuch von einem gewissen Satek, aus ältern der Art zusammengestellt. — Um jene Zeit ward dann auch in Kasan eine russische Bücherbude etablirt, worin man ins Russische übersetzte, elende deutsche und französische Romane fand. Am 19. Juni, an einem Freitage, wollten wn dem muha-mcdanischen Gottesdienste beiwohnen. Ein Polizeibcamter, von Geburt ein Tatar und selbst Muhamcdaner, aber in Uniform und mit geschorenem Bart, holte uns ab. Die Moschee (die Tataren nennen sie Metsched) war ein einfacher, großer, aber niedriger Betsaal. Nur ein Pult und eine Art Katheder oder kleiner Kanzel, aber kein Stuhl und keine Bank befand sich darin, in der Mitte hing ein kleiner Kronleuchter herab. Im Borsaalc standen alle Schuhe der Tataren in Reihen, da die 473 Gläubigen die Metsched stets barfuß betreten ""). Wir kamen etwas zu spät, der Küster (Asantschi) hatte den einleitenden Spruch: „Neigt Luch ihr Gläubigen, denn das ist das Gesetz," gesungen, der Mollah seine an Feiertagen gewöhnliche Rede schon geendet, und das Gebet der Gemeinde hatte bereits begonnen. Da das Gesetz den Gläubigen verbietet, sich während des Gebets umzudrehen, oder sich durch irgend etwas stören zu lassen, so geschah unser Eintritt völlig unbeachtet von der Gemeinde. Vom Gebete sahen wir natürlich nur die äußeren Zeichen. Diese bestanden in häusigen Niederwerfungen, wobei zuerst beide Hände mit der Handstäche aufwärts, bis zur Höhe des Kopfes erhoben wurden, so daß der Daumen den untern Nand des Ohrläppchens berührte. Darauf ließ sich der Betende auf beide Knie nieder und setzte sich nach orientalischer Sitte auf die nach innen gedrehten Füße. Aus dieser Stellung warf er sich dann auf die Hände und schlug mit der Stirn den Boden. Dabei bewegten sich bei vielen die Lippen, als wenn sie ganz leise die bekannte Gebetformel: „Gott ist groß :c." ^), aussprächcn. Alle waren bedeckten Hauptes, doch hatten nicht alle Turbane. Die aber Turbane hatten, banden die Enden derselben während des Gebets los, so daß sie auf dem Nucken herab hingen. Viele, doch nicht alle, hatten Rosenkränze, die nach dem Gebete im Turban verwahrt wurden. Das Gebet mochte in beschriebener Art wohl länger als eine Biertelstunde dauern, während welcher Zeit wir bei manchen sechs und zwanzig solcher Niederwerfungen und Berührungen des Bodens mit der Stirn zählen konnten. Es herrschte während des Gebets die tiefste Stille, jeder einzelne war völlig in seiner Andacht versunken, keiner ließ sich durch irgend etwas um ihn her darin stören. Diese stumme, sich vor Gott in tiefer Andacht, in ') Man vergleiche über alles dieses: Beiträge zur Kenntniß des Innern von Nußland von Dr. Ioh. Fried. Erdmann, Dorpat 1822, ^.85. Eins dcr besten Bücher, die ubcr Rußland mstiren. ") Diese Formel heisit aus arabisch: I.:» ill«!. I.e il !<11:>li, Nehmet ira-«ul iMlill. Sic wird von allen Muhamcdaucrn, Türken, Persern, Tataren, die sonst selbst nicht Arabisch verstehen, stets in arabischer Sprache ausgesprochen. 474 Hoffnung und Reue niederwerfende Versammlung von Menschen, die sich in der Einheit ihres Glaubens fühlen, macht einen wahrhaft erhebenden Eindruck auf jedes unbefangene Gemüth! —Nach Verlauf der bemerkten Zeit gab der Mollah durch irgend ein unverständliches Wort ein Zeichen. Die ganze Versammlung setzte sich auf oben beschriebene Art nieder, jeder bedeckte ganz flüchtig das Gesicht mit beiden zusammen gelegten Händen und hielt dann diese wie ein aufgeschlagenes Buch, worin man zu lesen scheint, von sich. Nun begann der Mollah laut aus dem Koran zu lesen oder vielmehr zu singen. Die Melodie war eine sehr eigenthümliche einförmige, in wenigen Noten wechselnde, Nase, Gaumen, Gurgel, alles wirkte mit, um die fremdartigsten, wunderbarsten Töne hervorzubringen ^). Dieser Gesang dauerte, von einem kurzen Gebete, wie das oben beschriebene, unterbrochen, vielleicht zehn Minuten, dann beteten die Gläubigen noch einige Zeit, und jeder band seinen Turban wieder auf und verließ die Metsched, wie er gerade seine Gebete beendet hatte, also nicht alle gleichzeitig. Von hier fuhren wir mit unserm tatarischen Pvlizeibeam-ten zu zwei wohlhabenden tatarischen Kaufleuten, Brüdern, die in demselben Hause zusammen wohnten. Ich hatte den Wunsch gehegt, eine echt nationale tatarische Hauswirthschaft zu sehen, allein dergleichen existirt wenigstens in Kasan nicht mehr, auch dies Volk ist schon von der europäischen Cultur berührt. Das Ameublcment in den Zimmern, in die man uns führte, war ganz europäisch. Ein Sopha statt eines Divans, Stühle, Tische, Glasschränke mit sehr hübschen chinesischen Porzellan, zwei Spiegel an den Wänden, Alles geschmackvoll, wie man es bei uns vor 20 bis 30 Jahren sah. Cine herrliche persische Porzellanvase von höchst eigenthümlicher Form stand auf einem Seitentische. In einer der Glasschränke stand eine steinerne Schale mit Sprüchen aus dem Koran. Ein Glied der Familie, *) Der Gesang der Starowcrzm, der Armenier, der Iudcn bewegt sich in ähnlichen Tönen. Im ganzen Orient üben die Leute bei dm religiösen Gesängen die Nasal- und Gurgcltöne vorzugsweise, was nach unserm europäischen Geschmack unö abscheulich lautet. Vinigc Orden, z. B. die Karmclill^ haben diese Sitte mit mis dem Orient gebracht. 475 welches die Wallfahrt nach Mecca gemacht, hatte sie von dort mitgebracht, und sie schien besonders in Ehren gehalten. Bor dem Fenster standen Blumentöpfe mit blühenden Orangen, Feigen, Doppclpalmen und kleinen Blumen. An der Wand hing ein persischer Säbel (Schaschka) und ein Dolch in Scheiden, die mit jenen Häuten überzogen sind, welche nur die Bucharen zu bereiten verstehen. Auf einem Tische lagen ein Kalender in Form eines Thierkreises, ein Koran in arabischer Sprache, ein anderer in tatarischer Uebcrsetzung und einige tatarische Gebetbücher. Einen Theil des Fußbodens bedeckte ein dunkler sehr schöner persischer Teppich, der Thür gegenüber war auf der weißen Wand mit großen schwarzen Buchstaben ein Vers aus dem Koran geschrieben. Die Thüren waren mit grünem Saffian beschlagen, auf dem von rothem Sassianstreiftn mit Messingnägeln allerlei Figuren ausgelegt waren. Man vergönnte uns auch einen Blick in das anstoßende Schlafzimmer. Hier lief längs der ganzen Fenstcrfeite eine sechs Fuß breite Bank her, die als gemeinsame Schlafstätte der ganzen Familie dient. Kiffen, Decken, Matratzen, Oderbetten waren in einer Ecke bis fast an die Decke aufgcthürmt. Die Tataren lieben, sehr weich zu liegen, und decken sich mit Federbetten so warm zu, wie die Norddeutschen. Die innere Einrichtung des Hauses konnten wir nicht genauer untersuchen, da die Weiber, die man nicht sehen darf, darin waren. Diese, wie alle Evatöchter neugierig, huschten verschleiert mehrmals vor den geöffneten Thüren vorüber, kamen aber doch nicht näher. Die Tracht *) der hiesigen wohlhabenden Tataren besteht aus einem runden, fest an den geschorenen Schädel anschließenden Käppchen (Kollabnsch), welches meist hübsch, ost reich mit Gold gestickt ist, weite weiße baumwollene Beinkleider (Slan) werden in bunten Saffianstiefeln ohne Sohlen getragen, über welche man Pantoffeln mit niedrigen Absätzen (Baschmak) oder Ucberschuhe von gewöhnlichem Leder zieht, die man selbst im Zimmer selten ablegt, so daß jene Stiefel gewissermaßen als Strümpfe anzusehen sind. Das Hemd (Kulmank) ist meist von Leinewand, und läßt den Hals ossm und bloß. Darüber wird ') Vcrgl. Erdmann ", a, O, p. 98. 476 eine Art Rock oder Kamisol (Arschaluck), meist von gestreifter Seide, vorn mit Schleifen zusammengebunden, getragen, der bis ans Knie reicht, und mit einem Kuschak (Gürtel oder Shawl) gegürtet ist, darüber wird noch ein offner, langer und weiter flatternder Rock, wie unsere Schlafröcke, getragen, der selten schwarz, wie bei den polnischen Juden, sondern meist von hellen Farben ist. Das ist das Costüm wohlhabender tatarischer Kaufleute. Die tatarischen Bauern, Fuhrleute und Handwerker tragen über dem wirklich schmucklosen Käppchm einen spitzen weißen randlosen Filzhut, und statt des weiten offenen Rocks ein langes um den Hals und an den Aermeln (wie bei den Tschcrcmissen) bunt ausgcnähtes Hemd, dann meist blaue leinene Hosen und Fußlappen mit Filzschuhen. Nur bei feierlichen Gelegenheiten wird ein Turban getragen, der dadurch gebildet wird, daß über das Käppchen eine spitze, hohe Filzmütze gesetzt und um diese ein feiner weißer wollener oder baumwollener Shawl gewunden wird, so daß die Spitze der Mütze hervorblickt. Nur einen einzigen grünen Turban bemerkten wir in der Metsched. Die Tataren gehören zu den gastfreiestcn Völkern des ruffischen Reichs und so nahm uns denn auch jenes Brüderpaar ungemein freundlich auf. Diener waren im Hause nicht zu sehen, unsere Wirthe und der Sohn des einen bedienten uns persönlich. Es mochte etwa halb zwölf Uhr Morgens sein. Das uns vorgesetzte Dejeuner bestand (wie dies dort immer sein soll) vorzugsweise aus frischen und trocknen Früchten und Eingemachtem : Apfelsinen, Cedernüffen, getrockneten Aprikosen, Fei-gen, Rosinen ohne Kern, (Kischmisch), Pastillen, Gelees lc., dann kam vortrefflicher Thee mit Mronenscheibchen in Gläsern, zum Schluß eine herrliche Melone. Dagegen waren weder Brod noch Kuchen vorhanden, was wahrscheinlich auf Nationalsitte beruht. Wir erwarben uns durch unser resolutes Zugreifen beim Essen und Trinken die ganze Freundschaft der braven Leute, sie deuteten uns dies nach tatarischer Sitte durch Darreichung und Druck beider Hände an. Die Tataren wohnen in Kasan größtcntheils zusammen in einem besondern Stadtviertel. Sie, ehemals das herrschende 477 Volk, sind in die Vorstadt gedrängt, während die eigentliche Stadt von dm Russen bewohnt wird. Sie treiben mehr Handel als Handwerke. Es giebt darunter Kaufleute aller Gilden, selbst Ehrenbürger. Die kasanschcn Tataren gehören nach Körperbildung und geistigen Anlagen zu den edlcrn Völkern. Sie sind ein Mischlingsvolk. Von den im südlichen Sibirien ansässigen und nomadisirenden turktatarischen Völkern siedelte sich ein Stamm bei Zerstörung des Reichs Kaptschak durch Timur, am Ende des 14ten Jahrhunderts, in diesem alten Lande der Bulgaren, eines uralten ugrischen Kulturvolks, an. Schon im 18ten Jahrhundert hatten die Mongolen unter Batu Chan das alte Reich der Bulgaren zerstört, dafür aber das Kaptschak errichtet. Die alte bulgarische, so wie die emgedrungcne mongolische Bevölkerung ist völlig in der tatarischen untergegangen. Die mongolische hat noch Spuren in der Körperbildung der Tataren hinterlassen. Herberstcm beschreibt sie als halbe Mongolen^). Auch ich fand noch häufig die mongolische eigenthümliche schiefe Lage der langgeschnitztcn Augen, in den übrigen Zügen des Gesichts aber nichts Mongolisches mehr. Das Gesicht ist oval, die Augen sind schwarz und lebendig, die Nase ist edel gebogen, der Mund sein, die Zähne vortrefflich, der Teint ist der der kaukasischen Race, weiß und roth. Sie sind mittlerer Statur, schlank gebaut, selten fett. Alle ihre Bewegungen sind gewandt, zierlich, oft edel. Die Weiber sind klein, und stets durch die Schminke entstellt. Die Tataren haben große Geistesanlagen, aber der Islam duldet ihre Ausbildung nur bis zu einem gewissen Grade. Ihre Schulen sind gut, fast alle können lesen, schreiben und rechnen auf dem russischen Rechenbrette, sie haben auch einige Litteratur"'), und der Koran wird eifrig studirt. Es cristiren auch *) Herberstein, Rerum Moscov. comment, pag. 89 : Tartari simt homines statnra mediocri, lala facie, obesa, oculis intortis et concavis, sola barba horridi, cetera rasi. Tnsigniores tantum viri crines contortos eosqne nigcrriiiiüs secinuhim aures babent. ") Die tatarische Sprache nimmt im Olicnt dich-lbe Stelle cin, wie im Occident die französische, Oestlich von Persim l>is China, westlich durch 478 einige höhere Schulen, wo Arabisch und Persisch gelehrt wird. Ihre Mollahs bilden sich meist in Gargali, zwei Meilen von Orenburg, wo eine berühmte tatarische Schule ist, aus. Viele gehen auch nach Buchara, wo nach ihrer Behauptung der Sitz großer Gelehrsamkeit sein soll. Mit Buchara cristiren überhaupt viele Verbindungen^), sowohl in Betreff desHandels als der Religion. Die letztern hat das russische Gouvernement abzuschneiden gesucht, indem es einen muhamedanischen geistlichen Mittelpunkt in Ufa, durch Ernennung eines Mufti, bildete, dem die ganze geistliche Gerichtsbarkeit über alle Muhamedancr des Reichs anvertraut ward. Der Charakter der Tataren ist liebenswürdig, sie sind verträglich, ehrliebend, freundlich, zutraulich, ordentlich, reinlich. Gegen die Russen herrscht noch alle Antipathie und großes Mißtrauen, doch sind sie dem Gouvernement ergeben und gehorsam. Gegen Fremde, besonders Deutsche, sind sie offen, herzlich und gastfrei, in ihrem Familienleben liebevoll, und ihre Kinder erziehen sie sehr gut. Ihr Lebenswandel ist in der Regel moralisch. Die Mollahs üben in dieser Beziehung eine sirenge Censur, welche sich so weit erstreckt, daß bei notorischen Verbrechen das ehrliche Begra'bniß von ihnen verweigert wird. Eine Strafe, wofür die Tataren die größte Scheu haben. Die Tataren in Kasan treiben Handel, meist mit tatarischen Fabricaten. Die Lederarbeiten sind berühmt. Die kasanschcn Stiefel sind vortrefflich. Wir sahen welche mit schönen Gold-und Silberstickercien, von denen das Paar hier am Orte <)5 Rubel Banco kostete. Die Tataren auf dem Lande sind sehr fleißige Bauern und vortreffliche Bienenväter. Sie sind fast alle persönlich frei. Nur giebt es unter ihnen einige Mursas (eine heimische Fürstensamilie), denen der Czar Ivan Wasiliewitsch Dörfer geschenkt hat. Die Einwohner derselben sind Leibeigene, doch alle türkischen Länder, selbst noch in Tunis kann man durch sic sich verständlich machen. Die herumziehenden armenischen Dichter, Inprovisa-turcn, welche ,hre langen Heldmgcschichteu in Pcrsicn und Kleinasien singen, dichten Alleö in tatarischer Sprache. *) Mcharischc Kaufleute sieht man häusia, in Kasan. Sie erkaufen sich dort gern tatarische Weiber, meist Mädchen vun 12 bis l3 Jahren. 470 soll die Leibeigenschaft der Sitte nach sehr eingeschränkt und milde sein. Ihre Nahrungsmittel sind vorherrschend Fleischspeisen. Schweinefleisch vermeiden sie, weil der Koran es verbietet, Pferdefleisch gilt bei den gemeinen Tataren als die größte Leckerspeise, Honig und Milch lieben sie sehr und bereiten aus Honig guten Meth*). Die Bornehmen trinken sehr viel Thee, und da in ihren Händen ein großer Theil des Theehandels liegt, so trinkt man bei ihnen die vortrefflichsten Sorten. Ich hörte einige tatarische Lieder singen. Sie lauteten curios gomlg, wiewohl sehr unmclodisch. Inhalt und Ausdruck ist aber poetisch. Die Verse ^') bilden, wie bei vielen orientalischen Völkern, stets einen Gedankenparallelismus, wie wir ihn oft im alten Testamente finden: „Der Gürtel von rother Seide ist der Schmuck der Hüften, Der schöne Jüngling ist der Schmuck des Dorfs!" Zum Diner waren wir beim Staatsrath v. Fuchs. Die Gesellschaft war bunt zusammengesetzt. Ein Collegiemath Simeonow, der mit Kotzcbuc und Krusenstern die Ncise um die Welt gemacht hatte, ein gelehrter Perser, als Orientalist bei der Universität angestellt, ein tatarischer Mollah, angeblich sehr gelehrt, bildeten die ausgezeichnetsten Theilnehmer. Der Perser hieß Mursa Chassim Beg und hatte einen herrlichen, orientalischen Kopf: er war Protestant geworden und wollte jetzt die deutsche Sprache studiren, um von seiner Seite aus linguistische Vergleichungen nut den persischen Idiomen anzustellen. Als ich nach Tische ein an der Wand hängendes russisches Bild betrachtete, sagte mir Herr v. Fuchs, es sei das Opraß *) ssidmaun a. a. O. p. l»9 hat drei treffliche tatarische Gerichte, dm Blocf, dm Düsh und den ttahk, beschrieben. Ich kann aus eigner Erfahrung bestätigen, dasi sic srhr wuhlschmeckcnd sind. ") Eidmann a. a. O., Th. II., p. 10 hat eine Anzahl solcher Verse mitgetheilt, auch rin paar Madien. 480 seines Töchterchcns. Wenn nämlich ein neugebornes Kind sehr schwächlich scheint, so lassen die Nnjsen es durch den Popen messen, und dann ein Bild des Heiligen, dessen Namen das Kind trägt, und seiner beiden Schutzengel malen, welches genau jenes Maß haben muß. Dies Bild soll eine heilsame Kraft besitzen und wird daher das ganze Leben hindurch sorgsam aufbewahrt. Hier war es das Bild der heiligen Sophie mit ihren drei Töchtern: Glaube, Liebe und Hoffnung. Gleich nach der Geburt wird das Kind vom Popen eingesegnet und mit dem Namen benannt, den es führen soll. Die Taufe geschieht erst später. Es müssen dabei nothwendig zugegen sein der Pope und sein Diakon, und als Pathen stets ein Paar, ein Taufvater und eine Taufmutter. Man kann noch mehrere Pathen hinzuziehen, aber stets nur paarweise. Die Eltern des Kindes aber dürfen nicht gegenwärtig sein. Als ich den Wunsch äußerte, einige russische Heiligenbilder zu besitzen, fragte Herr v. Fuchs seinen Bedienten, einen Leibeignen, ob er wisse, wo welche zu kaufen seien. Derselbe rcctificirte ihn aber sogleich, indem er antwortete, sie würden nicht verkauft, sondern nur umgetauscht. Worauf ihn Herr v> Fuchs sehr höflich um Verzeihung bat, daß er den unrichtigen Ausdruck kaufen gebraucht habe. Es herrscht viel Feinheit und Urbanität in allen gesellschaftlichen Verhältnissen Rußlands! Beim Sprechen des Herrn v. Fuchs mit seinem Töchterchen und seiner Frau hatte ich Gelegenheit, den Reichthum der russischen Sprache an Diminutiven zu bemerken. Aus Sophie wird Sophinka, Sonitschka, Sonka (dies letztere hat aber eine Itivi« niiieula), aus Märlä wird Mascha, Maschinka, Maruschka, Maruschinka. Aber auch Verstärkungen oder Vergrößerungen kommen vielfach vor. So wird das Wort Dom (Haus) verkleinert in Domök, Domotschik, Domischka, aber auch vergrößert in Domik, Domitschc. Am andern Morgen trieb ich mich, spazieren gehend, in der Tatarcnstadt umher. Sie sieht mehr wie ein ungepsiastertes Dorf, als eine Stadt aus. Ich zählte acht Mctscheds. Die Vorliebe für Blumen ist bei den Tataren im Gegensatz zu den Russen bemerkbar, selbst vor den kleinen Fenstern der elendesten Hütten stehen Blumen in Töpfen. Das ist ein leises, aber wohl zu. 481 beachtendes Zeichen der Culturfa'higkcit! Ich bin überzeugt, würde dieses geistreiche, liebenswürdige Tatarcnvolk zum Christenthum übergeführt, es könnte nicht nur selbst eines der ersten Culturvölker werden, sondern auch Christenthum und Cultur durch ganz Asien verbreiten. Nicht bloß den übrigen Tatarenstämmen, die mehrere Millionen zahlreich Mittelasien bevölkern, würde allmählich Beides gebracht, sondern auch den mongolischen Stämmen, die mit den Tataren seit Uralters in den mannigfachsten Verbindungen stehen. Das russische Gouvernement macht seit langer Zeit Versuche, die Tataren zu Christen zu machen, allein es hat nicht bloß mit der nationalen Antipathie zu kämpfen, vorzugsweise trägt die Unfähigkeit der Mehrzahl der russischen Geistlichkeit zu den Missionsgeschäften die Schuld. Zunächst ist eine größere geistige und moralische Ausbildung der russischen Geistlichkeit das dringendste Bedürfniß, sowohl um die Fortbildung des russischen Volks selbst zu fördern, als auch Christenthum und Cultur den übrigen Völkern des russischen Reichs zu bringen! Die Tataren in Kasan sind gegenwärtig den umwohnenden Russen in geistiger und moralischer Hinsicht überlegen, sie werden sich also nicht gereizt fühlen, das Christenthum anzunehmen, so lange es ihnen nicht die inwohnende' Ueberlcgcnheit des Geistes und der Moral und die in ihm liegenden Keime einer höheren Ausbildung zeigt und beweist. Aufgefordert vom Gouvernement geben sich auch jetzt einige Popen mit der sogenannten Bekehrung der Tataren ab. Aber die Mehrzahl treibt es wie ein Geschäft, welches weltliche Belohnung und Beförderung verspricht. Es wird daher nur auf den äußern Schein, nicht auf das Wesen gesehen! Man begnügt sich, von dem übertretenden Tataren Dreierlei zu fordern, daß er die Haare des Kopfs wachsen lasse und sie nicht mehr scheere, daß er kein Pferdefleisch mehr esse (was aber nie gehalten wird), daß er die Bilder verehre und das Kreuz schlage. Dann taufen sie ihn! Daß sich dann nur schlechtes Gesindcl bereitwillig finden läßt, daß der Tatar die Strenge des Muselmanns verliert, und den Geist der Liebe und der Cultur des Christenthums nicht gewinnt, ist klar. Als ich aus der Tatarenstadt nach dem Bazar gehen wollte, 31 48s begegnete mir eine Frau von Soldaten begleitet, welche so eben die Strafe der Knute ausgestanden hatte. Sie ging nicht blosi ganz rüstig, sondern es waren nicht einmal die Spuren von Aufregung und Thränen über ausgestandene Schmerzen zu bemerken. Sie hatte ihr eignes Kind ermordet. Man sagte mir, das Gericht habe die Ansicht ausgesprochen, der Mord des eignen Kindes sei nicht als ein so schweres Verbrechen anzusehen, als etwa der Mord eines fremden Kindes. Wenn eine Mutter ihr eignes Kind ermorde, so müßten die Motive überwiegend und übermächtig sein, welche die natürliche Mutterliebe überwältigten und die That herbeiführten. Fin unzurechnungsfähiger augenblicklicher Wahnsinn mache sie nur möglich; der Mord eines fremden Kindes aber sei in der Regel Folge des kalten Borbedachts oder des straffälligen Ausbruchs einer Leidenschaft. Darum war denn auch die Strafe dieser Kindeß-mörderin so gelinde im Spruch, wie augenscheinlich auch in der Ausführung ausgefallen. Die Strafe der Knute ist schon lange in Rußland eine seltene geworden. Sie kann nie durch die Polizei, sondern nur durch die Cviminalgcrichtc verhängt werden. Früher wurden bis zu 2W bis .'!00 Knutenhiebc erkannt, spater wurde durch daö Gesetz W Hiebe als Maximum festgesetzt. Dabei ist bestimmt, daß, wenn ein Gericht Jemanden die Kmile zuerkannt hat, und es wird bei etwa späterer Revision des Processes gefunden, die Strafe sei nicht durch das Gesetz begründet gewesen, so muß das Gericht dem Unschuldigen jeden unrechtmäßigen Knutcnhieb mit 2W Rubel Silber vergüten. Die Gerichte nehmen sich daher sehr in Acht, zu schwere Strafen zu verhängen. Die (5riminalgesctze Rußlands sind weniger mit Blut geschrieben, wie z. B. die französischen und englischen. Die Mißbrauche Rußlands in dieser Richtung liegen nicht hier, sondern auf einem andern Blatte! Nicht die Lriminalstrafen, sondern die Polizeistrafen unterliegen der Kritik einer tadelnswerthen Willkür. Die Knute aber ist deßhalb eine unzweckmäßige Strafe, weil ihre gelinde oder grausame Handhabung durchaus in der Willkür und Geschicklichkeit des Henkers liegt, dessen eigner oder 4t^ von oben insiuiter Wille die Strafe leicht oder tödtlich machen kann. Der Denker kann, wenn er will, mit drei Knuten-Hieben einen Menschen todten! - Wohl deshalb ist in neuester Zeit die Knutenstrafc so gut als abgeschafft. Der Bazar war für mich durch dlc verschiedenen Völkerschaften, die aus demselben repräsentirt wurden, interessant. Russen, Tataren, Tscheremissen, Tschuwaschen, Wotjaken, Mordwinen :c. im buntesten Gemisch durcheinander! Viel Geschrei, viel Hast, und viele dicke häßliche Weiber und wohlaussehende Männer! Auch die Waaren sind interessant genug, die trefflichen Ledcrsachcn, Stiefel, Mützen, Pferdegeschirr; dann bunte tatarische Zeuge, endlich jene Buden mit der unübertrefflichen kasanschen Seife, die aus Stutenmilch bereitet wird. Den übrigen Theil des Tages brachte ich auf dem Lande zu. Ich fuhr nämlich nach einigen tatarischen Dörfern, um über Anlage, Hauswirthschaft und Ackerbau einige Notizen zu sammeln. Der Boden des Gouvernements Kasan gehört zu jener berühmten schwarzen Erde, die zwischen den Abhängen des südlichen Urals und den Karpathen aus mehr als 20,000 ^Meilen sich als die fruchtbarste Humuserde abgelagert hat. Hier im Gouvernement Kasan sind einige Strecken lehmicht und außer^ dem in den Niederungen viele Sümpfe, Steine aber finden sich nicht. Das Terrain ist wellig, hin und wieder hügelicht, Berge aber finden sich nirgends. In den Wäldern finden sich fast eben so viel Laubholzartcn, besonders Eichen, als Nadelholzarten. Von Gctreideartcn wird im Winterfelde fast nur Wintcrrocken gebaut, ins Sommerfeld wird Sommerweizen, Sommerrvcken, Gerste, Hafer, Spelt, Hirse, Buchweizen gesäct. Alles Getreide giebt hier in der Regel das zehn- bis zwölffuche der Aussaat als Ernte zurück, wenn nicht Mißjahre eintreten. Auch Erbsen und Linsen, Rübsen, Lein und Hanf werden gebaut. Gartengewächse sind in großer Zahl und Auswahl vorhanden. Das Klima, ungeachtet Kasan fast mit Memcl unter demselben Breitengrade liegt, ist kalt und rauh, im Winter friert zuweilen das Quecksilber, und Eis und Schnee dauert fast ohne Unterbrechung vom November bis März. Mitte April bricht d>e Wolga auf, lind nun beginnt der Frühling. 484 Von Ackergeräthschaftcn ist der Pflug ohne Räder und sehr einfach*). Er besteht nur ans einer Pflugschar mit einer beweglichen Schaufel dahinter, und wird von einem Pferde gezogen. Die Egge wird meist nur aus Tannenzweigcn geflochten und hat nur hölzerne Zinken. Das Getreide wird mit der Sichel geschnitten, die Sense nur bei Erbsen und Buchweizen gebraucht. Das Getreide wird in Dimmen (Klad) aufgespeichert und bewahrt. Vor den Dörfern werden sie auf einer Unterlage von Balken aufgebaut, meist viereckig, selten rund wie in Deutschland; sie werden oben mit Stroh gedeckt, und bleiben oft mehrere Jahre stehen, ehe sie zum Ausdreschen kommen. Zum Trocknen und Darren des Getreides vor dem Ausdreschen bedient man sich, wie in allen nordischen Landern, des Feuers, dcr livla'ndischen Riege (Twijns), mit einigen Verschiedenheiten im Bau. Man findet hier, wie im Gouvernement Ssimbirsk, auf den adligen Höfen häufig eine gut construirte Dreschmaschine. Die Dörfer, die ich an diesem Tage sah, waren weniger interessant, als ein tatarisches Dorf, wo ich nach meiner Abreise von Kasan das erste Nachtquartier nahm, und welches ich ausführlicher zu beschreiben gedenke; ich übergehe daher die Beschreibung meines heutigen Besuchs. Den 22. Morgens besuchte ich mit dem Polizeimeistcr v. Krüdener das Nonnenkloster der kasanschen Mutter Gottes. Auf dem Flecke, wo jetzt die Wintcrkirche des Klosters sieht, ward einer Legende nach ein Bild der Maria in der Erde gefunden, welches seitdem als miraculös einer hohen Verehrung genießt. Ihm ist unter andern die berühmte kasansche Kathedrale in Petersburg geweiht. — Das Kloster gehört zur ersten Elasse, und wurde 1579 gestiftet. Es hat noch einen kleinen Theil seines ehemaligen Vermögens, einige Ländereien, einige Fischteiche und eine Mühle, die etwa 500 Rubel einbringen, gerettet; von der Krone erhält es 30W Rubel S. Competenz; außerdem besteht es durch Almosen lind den Erwerb für ver- ') Frhr. v. Hall bcrg ,u scmcr Rciso, Stuttgart 1844, Th. !, ,». 2!5>, bl'mrrk«, daß dcr hicsiqc einfache Pfluq drrsclbc fti, drr auch im siidlichc» Krcmireich mid in mm,, großen Theile des Orirxts dvltmmnl. 485 kaufte Arbeiten. Diese letzteren sind Verfertigung von Heiligenbildern, Webereien, Goldstickereien an geistlichen Ornaten :c. Die Arbeiten scheinen nicht so gut, wenigstens nicht so gesucht zu sein, als die im Kloster zu Arsamaß, welches ich oben beschrieben habe. Dennoch müssen die aus allem diesem sich bildenden Revenuen groß und die Oekonomie muß gut sein, dein: es werden davon nicht bloß 52 Nonnen erhalten, sondern diese haben auch ein Waisen-Erziehungshaus angelegt, wo 200 Waisen, Töchter verstorbener Popen, ernährt, gekleidet und erzogen werden. Außerdem haben die Nonnen seit 40 Jahren die beiden Hauptkirchcn mit einem Aufwande von mehr als 400,000 Nubel Silber neu gebaut, und jetzt neuerdings zwei Flügel des Klosters, und zwar mit großer Eleganz, mit hohen Fenstern, Flügelthüren, Sälen:c. aufgebaut. Wir wurden freundlich empfangen und von der Ockonomin des Klosters überall umher, selbst in die Zellen der Nonnen geführt. Alles war sehr reinlich und nett; in jeder Zelle wohnen zwei Nonnen zusammen. Wir betraten einige Säle. In einem wurde den ganz kleinen Kindern von 6 bis 10 Jahren Unterricht im Lesen, Schreiben und in der Religion ertheilt, in einem andern den schon etwas größeren Kindern im Sticken, Nähen :c. Mit dein 16ten Jahre ist die Erziehung beendet, dann können sie austretcn, heirathen :c. Wollen sie aber noch vorläufig im Kloster bleiben, so werden sie Arbeiterinnen; sie erhalten dann, nachdem für Kost und Kleidung das Nöthige abgezogen ist, den Rest von dem, was sie verdienen, angerechnet und bei ihrem Austritt ausgezahlt. Die Lebensweise der Nonnen wie sämmtlicher Kinder und Mädchen ist, daß sie um 4 Uhr aufstehen, anderthalb Stunden in der Kirche die Metten beten, dann frühstücken, von 6 bis 9 Uhr wird Unterricht ertheilt und gearbeitet, von 9 bis 10 Uhr ist die Messe, von 10 bis 12 Uhr wird gearbeitet, um 12 Uhr gegessen, dann gearbeitet bis 5 Uhr, um 5 Uhr geht man wieder eine Stunde in die Kirche, dann wird zu Abend gegessen, noch eine Stunde gearbeitet, eine halbe Stunde dauert die Abendandacht, und um l) Uhr geht Alles zu Bett. Die Nahrung ist die gewöhnliche, wie in allen Nonnenklöstern Rußlands, höchst kärglich, nie Fleisch, nur Fastcnspcisen. Bei 48ss der Kleidung ist zu bemerken, daß auch sämmtliche Waisen das Nonnengewand tragen, allein die Kinder tragen die hohe Nonnenmütze hinten offen, die Arbeiterinnen tragen sie geschloffen, die Nonnen tragen über die geschlossene noch den Schleier. Die Oekonomin des Klosters führte uns, wie gesagt, umher, wir besahen alle Kirchen, die Kirchcnschätze, das ganze Kloster. Es war Mittag geworden; wir traten in den Speiscsaal, in dem an langen Tischen oben an die Nonnen, dann die Novizen, die Arbeiterinnen, die Kinder saßen; bei unserm Eintritt standen Alle auf und verneigten sich tief, ohne sich jedoch zu uns umzudrehen. Novizen traten herein mit vorgebundenen weißen Schürzen, und auf einer weißen Serviette einen Napf mit Offen tragend. Dies war stets die Cvmpetenz von 4 Personen. Sie stellten es zwischen sie und verneigten sich dann tief. Mir ward auf einem Teller Brod und Salz präsentirt. Eine Nonne trat an ein Lesepult und las eine Legende vor, „damit die Mädchen nicht durch weltliches Sprechen zerstreut würden." Die Idee, welche dieser Anstalt zum Grunde liegt, könnte in ihrer richtigen Ausführung eine der fruchtbarsten, wohlthätigsten und nütz'lichstcn für Nußland werden. Die Erziehung des ruffischen Bolks kann nur durch seine Geistlichkeit vollendet werden, allem diese Geistlichkeit bedarf selbst nur zu sehr der Erziehung! Für die geistige Ausbildung der Mönche und Popen in den Seminarien ist in neuerer Zeit Vieles geschehen, aber was kann daö helfen, wenn die Grundlage des Ganzen, die erste Erziehung im elterlichen Hause, so elend und erbärmlich ist? Durch die Mütter muffen die Popenkinder zuerst erzogen werden, also diese Mütter muß man erziehen! Gegenwärtig sind die Popenwciber durchaus roh, und um Nichts gebildeter, als die gemeinen Bauerweiber! — Da die Popen der Sitte nach nur wieder Popentöchter heirathen dürfen, lo käme es also darauf an, überall Anstalten zu gründen, iu denen die Poventöchtcr zu tüchtigen und braven Hausfrauen und Müttern ausgebildet würden. Dies könnte nicht leichter und zweckmäßiger geschehen, als wenn überall die Nonnenklöster zu solchen Erziehungtzhäusern der Popentöchter umgebildet würden. 487 Allein hierzu gehört auch eine Reformation dos Kloster- und Nonnenwcsens in Rußland! Die Ausführbarkeit der Idee zeigt das Nonnenkloster in Kasan. Die Ausführung selbst aber ist sehr mangelhast. Die Popentöchter werden hier nicht zu Hausfrauen, zu tüchtiger Arbeit erzogen, sie lernen feine Arbeiten, die ihnen im praktischen Leben unnütz sind; alter Unterricht, die ganze Lebensweife ist eingeschränkt und führt nicht zum praktischen Leben an. Die ewige Stubenluft, die zu kärgliche Kost, besonders in den Kindcr-Entwickelungsjahren, wirkt sehr nachtheilig auf die Gesundheit. Viele sehen bleich, fast alle schwächlich aus. So kommt es denn auch, daß diese Popentöchtcr hier im Kloster nur sehr schwer paffende Heirathen thun. Bürger und Bauern können die schwächlichen, an keine Arbeit gewöhnten Mädchen in ihrem Haushalt nicht gebrauchen, Popen nehmen sie selten, weil sie ihnen die herkömmliche Mitgift *) nicht bringen können, es sind meistens nur die niedern Kirchenbedientcn, die Diakonen :c., welche einige von ihnen heimführen. Ich fuhr noch an diesem Tage von Kasan nach dem etwa 60 Werst entfernten Tatarendorfe Iepan Aschino ab, dessen Wirthschafts- und Communawerhältnisse ich etwaS genauer zu untersuchen gedachte. Wir verspäteten uns aber durch Zufall so, daß wir erst am Abend ankamen. Wir wurden ohne weiteres in einem großen tatarischen Bauerhause einquartiert. Ich wachte sehr früh auf, es war ein herrlicher Morgen, und ich ging hinaus, um das Haus und das Dorf zu zeichnen, und cinen Grundriß von einem hiesigen Gehöfte aufzunehmen. ') Die hciki'mmlichc Mitgift, dir der M'e von seiner Brmit verlangt, be-siiht m folgendem: y Dem langen Pricstcrstocke mit dem silbernen Knöpft, der elwa l2 Nubel Panw tostet. 2) Dem breiten runden Pnojwhutl, der auch etwa 10-12 Rubel kostet. Z) (vinem vollständige» Vette, 40 Nudel kostend. 4)12 neurn Hemdm nnd 12 Schnupftüchern. 5>) Dr», Necsa, dem seidenen lcmgm Obettlcidc des Pupm, welches 40—50 Nn--brl kostet, und iußerdem .'WN—500 Rubel Vanw bc,r. 488 Tatarciidorf G^^^tschow, 60 33crst südlich von Kascn!, Daß Gehöft (tatarisch 8üry unsers Wirths, des tatarischen Bauern Sachredi im Dorfe Iepan Aschino, war ei» längliches oben spitz zulaufendes Viereck, vollkommen geschloffen, mit einem Fahrthor vorn beim Hause. Man kann hier schon bemerken, daß kein Ueberstuß an Holz vorhanden ist: nur das Wohnhaus und die äußern Wände der übrigen Häuser sind von übereinandergeschichteten Balken, die Wände nach den Höfen und die innern Wände sind größtenthcils von Flcchtwcrk. Ich gebe hier Alles in folgenden Zeichnungen: 480 Dir äußere Länge des Gehöfts maß 134 Schritte. Die breite Seite 72 Schritte von außen, die schmale Spitze 15 Schritte. Im Verhältniß zum Ackerbau und dem vorhandenen Viehstande ist das Gehöft ungemein weitläufig, und es scheinen viele Baulichkeiten überflüssig. Folgendes ist die Eintheilung und der Name der einzelnen Theile: :,. Das Wohnhaus (tatarisch Üi). d. Der erste Hof, der Haushof (Ischigoldc). o. Ein Schuppen, vorn offen, aufHolzpilaren stehend (Aüslik). Geschirrkammer (Surai). Ii. Ein Schuppen (Aüslik), unter dem eine große Wage (Geer) aufgehangen ist. i. Das Magazin (Klet), ein Theil für Hafer, der übrige für Ackergeschirr. k. Der zweite oder Pferdehof (Obsaroldc). l. Der Pfcrdestall (Otsarai). m. Ein Schuppen (Aüslik). n. Ein Kellerhaus (Basklet). o. Der dritte, oder Vichhof, für Kühe, Schafe, Ziegen (Utar). l>. Die verschiedenen Stätte dieser Vieharten. Für die richtige Schreibart der Namen kann ich nicht einstehen. Ich durfte nicht ausführlich fragen. Ein Theil der Namen ist offenbar russisch, z. B. Klet, Sarai; ob sie von den Tataren angenommen sind, oder mein Wirth mir die ruffischen statt der tatarischen vorsagte, kann ich nicht entscheiden. Die Einrichtung des Wohnhauses, welches 33 Schritt lang, l? Schritt breit war, war folgende: 32 490 Vin Tatareiigehöst in Gcpantschow, zwischen Kasan und Ssimbirök am linü'n Wl'lssm,ftr, Das Haus ist in zwei Hälften getheilt: die Hälfte rechts ist die Wohnung der Männer sunscr Wirth wohnte mit vier Brüdern in ungetheilter Wirthschaft zusammen), die Hälfte links die Wohnung der Weiber und Kinder. :». Die größern Wohnstuben (Tau bulma). !>. Die Kammern (Skma bulma). <^. Der Theil der bedeckten Treppe, die zur Männerwohnung führt. Die weiße Treppe (Agi baökisch).