Filozofski vestnih Volume/Letnik XXV • Number/Številka 2 • 2004 • 51-67 "CERTE RATIONEM ORDINIS NON ESSE"1?: ZUR KONSTITUIERBARKEIT EINER VERNÜNFTIGEN ORDNUNG DER NATUR BEI COPERNICUS, BRUNO UND SCHELLING Myriam Gerhard I. Copernicus Die augenscheinlichen Ungleichmäßigkeiten der Planetenbewegungen auf eine rationale Grundlage, ein mathematisch beschreibbares Bewegungsmuster zurückzuführen, gehört seit jeher zu den von der Astronomie zu lösenden Problemen. Der durchgängig systematischen Einheit der Astronomie schien über Jahrhunderte hinweg die Existenz der sogenannten irrenden Sterne zu widersprechen. Die wechselnden Abstände der Planeten von der Erde, sowie ihre retrograde Bewegung einer einheitlichen mathematischen Berechnung zugänglich zu machen, war die von Copernicus zu lösende Aufgabe. Für Osiander gab es keinen Zweifel daran, daß es der Astronomie allein um die mathematische Berechenbarkeit der Sternenörter ginge und nicht um eine physikalische oder naturphilosophische Erklärung der Bewegungserscheinungen. In seinem Vorwort zu Copernicus' De r^evolu^tionibus or^biu^m coelesti-um betont Osiander, daß die Astronomie "die Ursachen der erscheinenden ungleichmäßigen Bewegungen schlicht überhaupt nicht kennt."2 Mit dieser Aussage steht Osiander in einer langen Tradition. So schreibt auch schon Simplikios, daß es nicht die Aufgabe des Astronomen sei, "zu erkennen, warum etwas von Natur ruht und welcher Art das Bewegliche ist, sondern er untersucht nur, indem er als Hypothesen einführt, daß das eine ruht und 1 N. Copernicus, De revolutionibus orbium coelestium, in: ders., Das neue Weltbild hrsg. u. übers. v. H. G. Zekl, Hamburg 1990, Liber I/10, p. 130 2 Osiander, »An den Leser«, in: op. cit., p. 63. das andere sich bewegt, welchen Hypothesen die Himmelserscheinungen folgen werden."3 Copernicus sieht sich dieser traditionsreichen Aufgabe der Astronomie, der Berechnung der Himmelsbewegungen, verpflichtet, geht aber über den ausschließlichen Zweck der bloßen Berechenbarkeit hinaus. Um die augenscheinlich ungleichmäßigen Planetenbewegungen einer mathematischen Berechnung zugänglich zu machen, stellt Copernicus die von den Mathematikern postulierten Voraussetzungen in Frage. Copernicus fragt sich, "ob nicht einmal einer vermutet hätte, die Bewegungen der Weltkugeln seien anders, als die Leute sie ansetzten, die an den Schulen Mathematik lehren."4 Den mathematischen Modellen zur Berechnung der Planetenbewegungen wurde seinerzeit die geozentrische Vorstellung kreisförmiger Bewegungen um die Erde zugrundegelegt. Die Astronomen beanspruchten auf der Grundlage des geozentrischen Modells jede einzelne Himmelsbewegung auf zusammengesetzte oder sich überlagernde Kreisbewegungen zurückführen zu können. Für Copernicus beruht die Möglichkeit einer einheitlichen Berechnung aller Planetenbewegungen weder allein auf mathematische Hypothesen noch hält er die überlieferte Anordnung von Kreisen für unumstößlich. Vielmehr kommt Copernicus zu dem Schluß, ob nicht eine andere, eine "vernünftigere Anordnung von Kreisen"5 die augenscheinlich ungleichmäßigen Planetenbewegungen überhaupt erst einer einheitlichen mathematischen Berechnung zugänglich machen würde. Die Frage, "ob nicht etwa eine vernünftigere Anordnung von Kreisen zu finden sei, von welchen alle erscheinende Ungleichmäßigkeit abhinge"6, ist das leitende Motiv der Untersuchung Copernicus'. Die Anordnung von Kreisen gemäß der geozentrischen Vorstellung entspricht dieser Forderung nicht, denn weder hängt die erscheinende Ungleichmäßigkeit von der geozentrischen Anordnung ab, noch läßt sich die erscheinende Ungleichmäßigkeit durch sie erklären und hinreichend mathematisch beschreiben. Gegen das geozentrische Modell konzentrischer Kreise, das die Erde als Mittelpunkt aller Himmelsbewegungen behauptet, spricht "die erscheinende ungleichförmige Bewegung der Wandersterne und ihre wechselnden Abstände von der Erde, was mithilfe eines Kreises um die Erde mit einem und demselben Mittelpunkt nicht ver- 3 Simplikios, zit. n.: F. Krafft, Physikalische Realität oder mathematische Hypothese? Andreas Osiander und die physikalische Erneuerung der antiken Astronomie durch Nicolaus Copernicus, Philosophia Naturalis 14, 1973, p. 255 [243-275]. 4 N. Copernius, op. cit., p. 73. 5 N. Copernicus, De Hypothesibus motuum coelestium a se constitis Commentariolos, in: ders., Das neue Weltbild, Hamburg 1990, p. 5. 6 Ibid: »(^) si forte rationabilior modus circulorum inveniri possit, e quibus omnis apparens diversitas dependeret (^).« standen werden kann."7 Mit anderen Worten ist es die Erscheinung ungleichförmiger Bewegungen, die dazu nötigt, vom geozentrischen Modell Abstand zu nehmen. Wie seine Vorgänger, so zweifelt auch Copernicus nicht an der "Tatsache" der ungleichmäßig erscheinenden Planetenbewegungen. Im Anliegen, die augenscheinlichen Ungleichmäßigkeiten auf eine Gesetzmäßigkeit zurückzuführen, sind Ptolemaeus und Copernicus sich einig. Ptolemae-us sieht sich vor die Aufgabe gestellt, "für die fünf Wandelsterne, wie für die Sonne und für den Mond, den Nachweis zu führen, daß ihre scheinbaren Anomalien alle vermöge gleichförmiger Bewegungen auf Kreisen zum Ausdruck gelangen, weil nur diese Bewegungen der Natur der göttlichen Wesen entsprechen, während Regellosigkeit und Ungleichförmigkeit ihnen fremd sind."8 Einen weiterführenden Erklärungsgrund für diese Ungleichmäßigkeit sucht Ptolemaeus jedoch nicht. Daß die Gründe für diese Ungleichmäßigkeit nicht nur einer Untersuchung wert wären, sondern ihre Erkenntnis gar zur Aufklärung der scheinbaren Ungleichmäßigkeiten führen könnte, wird erst Copernicus deutlich. Um zu dieser Einsicht zu gelangen, muß jedoch die Annahme, daß die Erde der Weltmittelpunkt sei, als irreführende Hypothese aufgegeben werden.9 Wenn man nämlich bestritte, daß die Erde die Weltmitte, ihren Mittelpunkt, einnehme und dabei andrerseits nicht einräumte, daß die Entfernung so groß wäre, daß sie im Verhältnis zur Kugel der feststehenden Sterne meßbar würde, dagegen sehr wohl augenfällig und sichtbar im Vergleich zum Sonnen- und anderen Gestirnskreisen, und wenn man weiter annähme, daß aus dem Grund deren Bewegung als ungleichmäßig erscheint, als ob sie auf einen anderen Mittelpunkt hingeordnet wären, als der der Erde ist: der wird vielleicht keine törichte Begründung für die erscheinende ungleichmäßige Bewegung beibringen können.10 Copernicus hebt die Bedeutung des Bezugssystems für die Erklärung der ungleichmäßigen Bewegungserscheinungen hervor. Entscheidend sei, ob die Bewegungen der Wandersterne auf die Erde als ruhenden Weltmittelpunkt oder auf eine Kreisbewegung der Erde bezogen werden. "Wenn man die Bewegungen der übrigen Wandersterne auf eine Kreisbewegung der Erde bezieht und entsprechend dem Umlauf jedes Sterns die Rechnung 7 N. Copernicus, De revolutionibus I/9, p. 123. 8 C. Ptolemaeus, Handbuch der Astronomie I-II (Almagest), übers. v. K. Manitius, Leipzig 1963, IX.2, Bd. II, p. 94. 9 Cf. H. Blumenberg, Die kopernikanische Wende, Frankfurt/M. 1965, p. 15. 10 N. Copernicus, De revol^utionibus I/5, p. 101. macht, so folgen daraus nicht nur deren Erscheinungsbilder, sondern auch bei allen Sternen und Kreisläufen sind Anordnung und Größe, und überhaupt das ganze Himmelsgeschehen selbst, so verknüpft, daß in keinem Teil von ihm etwas umgestellt werden kann, ohne bei den übrigen Teilen und überhaupt im ganzen All Verwirrung (anzurichten)."11 Die Beziehung der Planetenbewegungen auf die Kreisbewegung der Erde hätte demnach nicht nur eine Aufklärung der augenscheinlichen Ungleichmäßigkeiten der Bewegungen zur Folge, sondern würde zudem eine einheitliche, systematische Erklärung aller Himmelsbewegungen erlauben. Die einheitliche Bestimmung der Weltgestalt und des festen Ebenmaßes ihrer Teile zählt Copernicus zu den Hauptaufgaben der Astromomen. Mit der überlieferten Theorie sei diese Aufgabe nicht zu erfüllen; aus ihren Voraussetzungen ließe sich weder die Weltgestalt noch das feste Ebenmaß ihrer Teile erschließen. Den von Copernicus kritisierten Astronomen ginge es so, "wie wenn einer von verschiedenen Stellen aus Hände, Füße, Haupt und andere Glieder, zwar in schönster Ausführung, aber nicht nach dem Vergleichsmaßstab e^i^n^e^s Körpers gemalt, hernähme, die wechselseitig überhaupt nicht sich entsprächen, sodaß ein Ungeheuer eher als ein Mensch sich daraus zusammensetzte."12 Die Erkenntnis der einheitlichen Weltgestalt und des festen Ebenmaßes ihrer Teile hat die Annahme eines die systematische Einheit konstituierenden Prinzips zur Voraussetzung. Eine naturphilosophische oder gar eine metaphysische Bestimmung dieses Prinzips liegt Copernicus jedoch fern. Bestenfalls erkenntnistheoretische Überlegungen zur Bestimmung des Prinzips lassen sich bei Copernicus finden. In seinem Brief gegen Werner hebt Copernicus hervor, "daß die Wissenschaft von den Sternen zu denen gehört, die von uns genau umgekehrt, bezogen auf die natürlichen Verhältnisse, erkannt werden."13 Das der Sache nach Frühere, die Ursache oder das Prinzip, erscheint im Erkenntnisprozeß als das Spätere, als das Erschlossene. In der Astronomie wird demgemäß von der Erscheinung auf die Ursache dieser Erscheinung geschlossen. So nennt Copernicus als ein Beispiel den Schluß von der ungleichmäßigen Erscheinung der Planetenbewegung auf die Erklärung dieser Bewegungserscheinungen durch die Annahme von Deferenten und Epi-zykel. Das Problem dieses Schlusses von der Erscheinung auf die mögliche Ursache ist seine Mehrdeutigkeit. Der Schluß von der Erscheinung auf die Ursache ist nicht eineindeutig, sondern ergibt mehrere mögliche Ursachen und damit mehrere, gleichwertige Erklärungsmodelle für die Planetenbewe- 11 N. Copernicus, De revolutionibus I/Praefatio, p. 75. 12 N. Copernicus, De revolutionibus I/Praefatio, p. 72f. 13 N. Copernicus, Brief gegen Werner, in: op. cit., p. 45. gungen. Diese Gleichgültigkeit von Erklärungsmodellen läßt sich auch auf das Verhältnis von Geozentrismus und Heliozentrismus übertragen. Solange es nur um eine rein phoronomische Beschreibung der Himmelsbewegungen geht, ist weder das geozentrische noch das heliozentrische Weltbild ausgezeichnet; beide sind für eine phoronomische Bewegungsbeschreibung gleichwertig. Das heliozentrische Modell hat lediglich den Vorteil, in seinen Berechnungen weniger kompliziert zu sein als das geozentrische. Eine solche Gleichgültigkeit des geozentrischen und heliozentrischen Erklärungsmodells liegt Copernicus jedoch in jeder Hinsicht fern. Den Schluß von den Bewegungserscheinungen der Planeten auf den die Einheit der Bewegungen stiftenden Grund hält Copernicus, allen Schwierigkeiten zum trotz, für notwendig; vorausgesetzt jedoch, daß sich aus dem Erschlossenen die systematische Einheit aller Bewegungen darlegen läßt. Für uns sind zunächst die ungleichmäßig erscheinenden Sternenbewegungen. Erst später kann ein möglicher Erklärungsgrund, wie z.B. die Bewegung der Sterne auf Epizyk-eln und Deferenten, erschlossen werden. Und ich möchte das so ausgesprochen wissen: Daß Notwendigkeit bestand, daß jene alten Wissenschaftler erst die Sternörter mithilfe kunstvoller Instrumente festhielten in Verbindung mit den Zeitabständen und daß sie, durch diese "Handführung" gewissermaßen geleitet, damit die Frage nach der Himmelsbewegung nicht völlig begriffslos bleibe, nach irgendeiner sicheren Berechnung davon getastet haben, und die scheinen sie zu dem Zeitpunkt gefunden zu haben, als nach gründlicher Beobachtung aller Sternörter eine gewisse Übereinstimmung bei ihnen allen eintrat.14 Die genaue Beschreibung der erscheinenden Sternenbewegung ist somit eine Bedingung für den Schluß auf die Ursache der Bewegungserscheinungen. Damit die Frage nach der Himmelsbewegung aber nicht b^grifj^slos bleibe, müsse ein vernünftiger Grund für die Erklärung aller Bewegungserscheinungen angeben werden. Die Erdbewegung hat für Copernicus die Funktion einer vorauszusetzenden Annahme, mit Hilfe derer die Bewegungserscheinungen, die einheitliche Weltgestalt und das feste Ebenmaß ihrer Teile dargestellt werden können.15 Die Erdbewegung setzt Copernicus ein "wie einen Anfangssatz und eine Grundannahme (^) beim Aufzeigen der übrigen Erscheinungen."16 Die Erdbewegung bestimmt Copernicus hier als 14 Ibid. 15 Cf. N. Copernicus, De revol^utionibus I/11, p. 139. Prinzip und Hypothese. Eine Hypothese ist die Annahme der Erdbewegung, sofern es auch Copernicus darum geht, zu erkennen, "welchen Hypothesen die Himmelserscheinungen folgen werden."17 Die Annahme der Erdbewegung ist für Copernicus aber nicht bloß eine mathematische Hypothese, sofern durch sie die Erklärung des Kosmos aus einem Prinzip möglich wird. Die Annahme, daß die Erde nicht der ruhende Mittelpunkt aller Planetenbewegungen ist, ist, wie Copernicus betont, die notwendige Bedingung einer systematischen und vernünftigen Erklärung der Himmelserscheinungen. Oder, anders formuliert: entweder die Erde ruht oder die Himmelsbewegungen sind einer rationalen Erklärung zugänglich. Notwendig wird also die Annahme sein, entweder daß die Erde der Mittelpunkt nicht ist, auf welchem die Reihe der Sterne und Kreise bezogen würde, oder daß es eine vernünftige Begründung ihrer Anordnung so sicher nicht gibt und daß sich kein Grund zeigt, warum eher dem Saturn als dem Jupiter oder einem anderen beliebigen Stern ein oberer Platz gebührte.18 II. Brun^o Der Einfluß der Kopernikanischen Theorie auf Brunos Philosophie wird vor allem in den drei italienischen Dialogen L^a ce^n^a de I^e ce^n^eri, De causa, pri^n^cipi^o et i^no und De 'infinito, i^niver^so et m^ndi (1584/85) deutlich. Die Begründung der Anordnung der Planeten ist für Bruno kein ausschließlich mathematisches, sondern ein naturphilosophisches Problem. In diesem Sinne weist er auch Osianders Interpretation der Kopernikanischen Lehre zurück. Wider Osiander und die Unterstellung, daß die Annahme astronomischer Hypothesen nur Kalkulationszwecken dienen könne, betont Bruno, daß Copernicus "sich nicht damit begnügt, als bloßer Mathematiker zu sup-ponieren, sondern auch als Physiker die Bewegung der Erde nachweist."19 Die Annahme der Erdbewegung versteht Bruno nicht bloß als eine mathe- 16 N. Copernicus, De revol^utionibus I/11, p. 149. quo tamquam principio et hypo-thesi vtemur in demonstrationibus aliorum.« Ibid, p. 148. 17 Simplikios, zit. n. F. Krafft, Physikalische Eealit^ät oder mathematische Hypothese? Andr^eas Osiander und die physikalische Erneuerung der antiken Astr^onomie durch Nicolaus Coper^nicus, Philosophia Naturalis 14, 1973, S. 255 [243-275]. 18 »Oportebit igitur vel terram non esse centrum, ad quod ordo syderum orbiumque referatur, aut cer^t^e rationem ordinis non esse (Hervorhebung M.G.), nec apparere, cur magis Saturno quam Ioui seu alij cuiuis superior debeatur locus.« N. Copernicus, De revolutioni-bu^s I/10, p. 130/131. 19 G. Bruno, Das Aschermittwochsmahl, in: Giordano Bruno Gesammelte Werke, Bd. 1, hrsg. u. übers. v. L. Kuhlenbeck, Leipzig 1904, p. 89. matische Hypothese, sondern als ein Prinzip der Naturerklärung. Bruno wendet sich aber nicht generell gegen den Anspruch der mathematischen Beschreibung und der Berechenbarkeit der Planetenbewegungen auf der Grundlage mathematischer Hypothesen. Seine Kritik richtet sich eher gegen die Beschränktheit der mathematischen Herangehensweise, die die wahre Natur der Bewegungsursache nicht erfasse.20 So sind zwar "(^) die Voraussetzungen (^) das Prinzip der Beweisführung, aber nicht ihre Ursache (^)."21 Die Annahme von Deferenten und Epizykeln sei zwar als ein Prinzip der mathematischen Beschreibung der Planetenbewegungen zweckmäßig, ermögliche aber keinen Einblick in die Natur und die Ursache der Bewegungserscheinungen. Bruno läßt keinen Zweifel daran, "daß die allgemeine Bewegung, die der sogenannten Exzenter und was immer sich an Bewegungen auf das sogenannte Firmament beziehen mag, daß diese alle Ausgeburten der Phantasie sind und in Wirklichkeit von der Bewegung abhängen, welche die Erde mit ihrem Mittelpunkt durch die Ekliptik vollführt (^)."22 Die Vorstellung, daß die Erde der ruhende Mittelpunkt aller Planetenbewegungen sei, sei die Ursache für "jenes Phantasieren von Sternträgern und Flammenträgern, von Achsen und Deferenten, vom Hilfsdienst der Epizykeln und von einer großen Menge anderer Chimären (^)."23 Mit der Einsicht in die wahre Ursache der erscheinenden Ungleichmäßigkeit der Planetenbewegungen würde dieses Phantasieren überflüssig werden. Es sei das Verdienst Copernicus' über den Tellerrand des rein mathematisch vorgehenden Astronomen hinausgewiesen zu haben. Copernicus habe sich von einigen falschen Voraussetzungen befreit, doch sei er zu sehr Mathematiker gewesen, als daß er die naturphilosophischen Konsequenzen hätte umsetzen können.24 Als eine wichtige Konsequenz der kopernikanischen Theorie hebt Bruno die Unendlichkeit des Weltalls hervor. Mit der Aufgabe der Vorstellung einer im Zentrum des Universums ruhenden Erde fiele die Notwendigkeit weg, die Entfernung der sogenannten Fixsterne als durchgängig einheitlich aufzufassen. Mit dem Geozentrismus fällt für Bruno auch die Zentralsymmetrie des Universums.25 20 Cf. ibid, p. 117. 21 G. Bruno, Über die Ursache, das Pri^nzip und das Eine, übers. u. hrsg. v. Ph. Rippel, Stuttgart 1986, p. 55. 22 G. Bruno, Über das Un^ndlich^, das Universum und die Welten, übers. u. hrsg. v. Ch. Schultz, Stuttgart 1994, p. 16. 23 Ibid, p. 94. 24 Cf. G. Bruno, Das Aschermittwochsmahl, p. 50f. 25 Cf. G. Bruno, Das Aschermittwochsmahl, p 98. Ist einmal erkannt, daß der Anschein der täglichen Weltbewegung von der wahren Tagesbewegung der Erde herrührt, dann besteht kein Grund, der uns zwingen könnte, die gleiche Entfernung der Gestirne anzunehmen, welche der große Haufen als an einer achten Sphäre angenagelt ansieht (^).26 Hatte Copernicus die Frage, ob die Welt begrenzt oder unbegrenzt sei, dem Streit der Naturphilosophen überlassen,27 so macht Bruno die Beantwortung dieser Frage zur Hauptaufgabe des Dialogs De l'in^inito, u^niver^so et mondi. Die Argumentation für die Unendlichkeit des Universums scheint zunächst apagogisch zu sein, wenn Bruno zu Beginn des ersten Dialogs die Beweisbarkeit der Endlichkeit in Frage stellt. "Wenn die Welt endlich ist und außerhalb ihrer nichts ist, dann frage ich Euch: Wo ist die Welt? Wo ist das Universum?"28 Philotheo läßt Aristoteles auf diese Frage antworten und sich in einen Widerspruch verwickeln: Das Universum sei in sich selbst. "Die Außenwölbung der ersten Himmelssphäre ist der universelle Ort, und als erstes Enthaltendes ist sie in keinem weiteren Enthaltenden (^)."29 Weil das erste Enthaltende selbst nicht wieder in etwas anderem enthalten sein könne, müsse, so das aristotelische Argument, das Enthaltende alles und sich selbst enthalten. Diese Indifferenz der Grenze, des Enthaltenden und des Enthaltenen30, läßt sich, Bruno zur Folge, nur um den Preis der Bestim-mungslosigkeit des Universums begründen. Läßt der Ort eines Dinges sich nur angeben, sofern dieses in etwas enthalten ist, so hat das Universum, das alles enthält ohne selbst in etwas anderem enthalten zu sein, keinen Ort und existiert demnach nirgends. Die Bestimmung des Universums habe somit etwas zur Voraussetzung, was weder ein Teil des Universums noch mit diesem identisch sei. Die intellektuelle Bestimmung des Universums selbst fordert demnach ein Außerhalb des Universums. Mit dieser erkenntnistheoretisch motivierten Forderung geraten die physischen Grenzen der Welt ins Wanken. Mit "der Frage nach dem Außerhalb"31 und dem, "was sich jenseits und außerhalb des Universums befindet"32, überschreitet Bruno die Grenzen, die 26 G. Bruno, Über das Unendliche, das Universum und die Welten, p. 124. 27 N. Copernicus, De r^evol^u^tionibu^s I/8, p. 115. 28 G. Bruno, Über das Unendliche, das Universum und die Welten, p. 35. 29 Ibid. 30 Cf. ibid, p. 36: »Aristoteles hat den Ort nicht als enthaltenden Körper definiert, nicht als einen bestimmten Raum, sondern als Oberfläche eines enthaltenden Körpers; und dann ist der erste, grundlegende und erhabenste Ort derjenige, auf den diese Definition am wenigsten und in keiner Weise zutrifft.« 31 Ibid, p. 35. 32 Ibid. mit der Annahme der Fixsternsphäre gesetzt waren. Läßt sich das Universum nur unter der Voraussetzung eines ihm Äußerlichen bestimmen, so ist das Universum entweder nicht länger als Inbegriff aller Realität zu begreifen oder aber bestimmungslos. Der Versuch, das Universum als Totalität zu bewahren, indem das Nichts oder das Leere als äußerlicher Bestimmungsgrund angesetzt wird, führt selbst zur Bestimmungslosigkeit des Universums. Als äußerlicher Bestimmungsgrund des Universums kann weder das Nichts noch das Leere behauptet werden, da beide selbst bestimmungslos sind und somit nicht als Bestimmungsgrund fungieren können. Die Bestimmtheit des Universums läßt sich, so Brunos Argumentation, nur retten, indem die Einheit der einen endlichen Welt überführt wird in die Einheit unendlich vieler endlicher Welten. Am Begriff der Unendlichkeit zeigt sich Brunos Gedanke der durchgängigen Übereinstimmung von Natur und Vernunft. Die Einsicht in die Unendlichkeit des Universums beruht auf der Uneingeschränktheit der Einbildungskraft, der "Fähigkeit des Intellekts, die immer Raum an Raum, Ausdehnung an Ausdehnung, Einheit an Einheit, Zahl an Zahl fügen will und kann (^)."33 Aufgrund dieser Fähigkeit des Intellekts gelingt es der Wissenschaft "uns von den Ketten des allerengsten Reiches" zu lösen "und in die Freiheit des allerherrlichsten Reiches (^), aus der vermeintlichen Armut und Enge in die unzähligen Reichtümer eines so großen Raumes, eines so würdigen Feldes, so vieler bestbestellter Welten [zu führen; M.G.]; und sie läßt nicht den Kreis des Horizontes, vom Auge lügnerisch auf der Erde und von der Phantasie fälschlich im Ätherraum vorgegaukelt, unserem Geist Fesseln anlegen (^)."34 Daß die Fesseln des Geistes abgelegt werden können, sei dem Vermögen des Geistes selbst zu verdanken. Weder die Sinneswahrnehmung, noch die sachlich, bzw. physikalisch unbegründeten mathematischen Hypothesen seien in der Lage den Gegenstand der Erkenntnis so zu bestimmen, daß er für den erkennenden Geist als einzig wahrer erscheinen müsse. Das Kriterium einer sicheren, einer gewissen Erkenntnis liegt somit im Vermögen des erkennenden Subjektes selbst. Ist das erkennende Subjekt fähig, sich über die Beschränktheit und die Relativität seines Standortes hinwegzusetzen, um die wahre Ordnung des Alls zu erfassen, die der augenscheinlichen Erscheinung zu widersprechen scheint, so offenbart sich in dieser Fähigkeit, wie Hegel in seiner G^sch^ch^e d^er Philosophie schreibt, "die Gegenwart der Vernunft in der Natur (^)."35 33 Ibid, p. 26. 34 Ibid. 35 G.W.F. Hegel, Vcrl^esu^ngen über die Geschichte der Philosophie, Werke Bd. 20, Frankfurt/ M. 1986, p. 25. In seinem 1591 erschienenem Werk De innumerabilibus, immenso et in gurabili schreibt Bruno, daß die Natur nichts anderes sei "als die Kraft, die den Dingen eingepflanzt ist und das Gesetz, nach dem sie ihren eigenen Lauf vollenden."36 Der Gegenstand der Naturerkenntnis ist demnach kein Naturding, sondern die Natur als die systematische Einheit und das allgemeine Gesetz, das allen besonderen Erscheinungen zu Grunde liegt.37 Schon in De uno verweist Bruno auf die Strukturgleichheit von Natur und Vernunft, vom Entstehungsprozeß in der Natur und dem Erkenntnisprozeß. Es sei "ein und dieselbe Stufenleiter (^), auf der die Natur bis zur Hervorbringung des Seienden herabsteigt und auf der die Vernunft zu dessen Erkenntnis emporsteigt (^)."38 Keine Ordnung sei ohne eine gewisse Teilhabe möglich, keine Teilhabe sei ohne eine gewisse Verknüpfung denkbar, wie auch jede Teilhabe auf eine Verknüpfung angewiesen sei. Eine Ordnung sei deshalb nur unter der Voraussetzung möglich, daß das Subjekt wie das Objekt der Ordnung sich auf ein Prinzip zurückführen ließen.39 Und gewiß läßt es sich nicht leugnen, daß wie alles sinnlich Wahrnehmbare ein Substrat der sinnlichen Wahrnehmung, so alles Intelligible ein Substrat der Intelligibilität voraussetzt.40 Die Natur, der Gegenstand der Erkenntnis, offenbart sich nicht bloß als vernunftgemäß, sondern als durchaus intelligibel. III. Schel^ling Anders als Bruno bezieht Schelling sich nicht unmittelbar auf Copernicus' Werk und auch dessen zur Metapher gewordenen Wende widmet Schelling nur wenige Zeilen.41 Im folgenden soll auch weniger der Einfluß Copernicus', als vielmehr der Weiterentwicklung der Idee einer intelligib-len Natur nachgegangen werden. In seinem 1802 erschienenen Dialog Bruno oder über da^s g^öttliche i^nd natür^liche Prinzip bezieht sich Schelling auf die von 36 G. Bruno, De immenso et innumerabilibus seu de universo et mundis, Opera lat. I.2, Lib. VIII, Cap. IX, p. 310: »Natura estque nihil, nisi virtus insita rebus. Et Lex, qua peragunt proprium cuncta entia cursum.« 37 Cf. E. Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie der neueren Zeit, Bd. I, Darmstadt 1994, p. 298. 38 G. Bruno, Über die Ursache, das Prinzip und das Eine, p. 139. 39 Cf. ibid, p. 112. 40 Ibid. 41 Cf. FN 73. Jacobi besorgte Teilübersetzung von De uno. Dem Gespräch zwischen Bruno, Alexander, Anselmo und Lucian legt Schelling die Idee dessen zugrunde, "worin alle Gegensätze, nicht sowohl vereinigt, als vielmehr eins, und nicht sowohl aufgehoben, als vielmehr gar nicht getrennt sind (^)."42 Es ist die Idee der absoluten Identität, die Schelling in Brunos Werk angelegt sieht, und um deren Explikation er sich in diesem Dialog bemüht. Die Idee der coincidentia oppositorum43 hat Bruno im 5. Dialog von De uno dargelegt. Das Universum sei "Eins, unendlich und unbeweglich"44 und verbinde "überdies alle Gegensätze in seinem Sein zu Einheit und Harmonie (^)."45 Die Gegensätze in der Natur, die eine durchgängige Einheit der Natur schon im Ansatz zu sprengen drohen, seien in einem Dritten zur Einheit verbunden. Der Idee der coincidentia oppositor^^m, die sich schon bei Cusanus findet, liegt die Überlegung zugrunde, daß jede Entgegensetzung selbst eine Einheit der Entgegengesetzten zur Voraussetzung hat. Diese Einheit der Entgegengesetzten ist zunächst nichts anderes als ihr gemeinsamer Beziehungsgrund, das tertiu^m compar^ationis der als einander entgegengesetzt aufeinander Bezogenen. Die Entgegengesetzten bestimmen sich im Verhältnis zueinander. Weil die Relation der Entgegengesetzten notwendig auf einen gemeinsamen Beziehungsgrund verweist, erscheint dieser Beziehungsgrund als der einheitliche Bestimmungsgrund beider: "Kälte und Wärme, jedes im niedrigsten Grade, verlieren sich in Eine und dieselbe Eigenschaft, und beweisen die Identität ihres Prinzips (^)."46 Die Entgegengesetzten treten zur Bildung des Einen zusammen; sie gehören zu einer Ordnung und sind in dieser Ordnung Eines.47 Für Schelling sind die Entgegengesetzten jedoch "nicht bloß in einem Dritten, sondern an sich und vor der Trennung eins (^)."48 Hat Schelling vor allem in den Jahren 1797-1800 seine Philosophie von zwei Seiten, als Natur- und Transzendentalphilosophie, darzustellen versucht, so bemüht er sich ab 1801, sein System der Philosophie ausgehend vom Indifferenzpunkt dieser beiden Seiten zu entwickeln. Das absolute Identitätssystem beginnt 42 F.W.J. Schelling, Bruno oder über das göttliche und natürliche Princip der D^nge (1801), Ausgewählte Werke, reprogr. Nachdruck v. Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämmtliche Werke Bd. IV (SW IV), hrsg. v. K. F. A. Schelling, Stuttgart/Augsburg 1859, Darmstadt 1988, p. 131 (SW IV, p. 235). 43 Cf. G. Bruno, Über die Ursache, das Prinzip und das Eine, p. 130ff. 44 Ibid, p. 130. 45 Ibid. 46 G. Bruno, Über die Ursache, das Pri^nzip und das Eine, übers. v. F. H. Jacobi, in: Friedrich Heinrich Jacobi Werke, Bd. 1 Schriften zum Spinozastreit, Hamburg 1998, p. 204. 47 Cf. De l^'i^nfi^nito, p. 77. 48 F.W.J. Schelling, Bruno oder über das g^öttliche und natürliche Princip der Dinge, p. 137 (SW IV, p. 241). mit der absoluten Vernunft, der Vernunft, "insofern sie als totale Indifferenz des Subjektiven und Objektiven gedacht wird."49 In der Identitätsphilosophie wird die "Einheit aller Gegensätze"50 zum Ersten, von dem die wahre Philosophie ihren Ausgang zu nehmen habe. Schelling fordert die absolute Erkenntnisart, die ein Unbedingtes zum Fundament ihrer Gewißheit hat, denn "wie kann eine Reihe von Kenntnissen ein Wissen seyn, welche in keinem Punkt etwas Unbedingtes hat (^)."51 Im Fokus der Kritik steht der Schluß von der Wirkung auf die Ursache. Diese Erkenntnisart, die "das Princip durch dasjenige, wovon es das Princip ist, das Ursprüngliche im Abgeleiteten erkennen will"52 könne niemals auf etwas führen, "das an sich selbst wäre und durch sich selbst bestände (^)."53 Das Einzige, was diese Erkenntnisart auszeichne, sei "die Willkür in der Erdichtung der Ursachen aus den Wirkungen (^)."54 Unter diesen Vorwurf des willkürlich Erdichteten fallen auch Epizykel, Defe-renten und Exzenter. Schelling möchte die kausale Erkenntnisart, die eine Erscheinung durch eine andere zu erklären versuche, durch die absolute Erkenntnisart ersetzt wissen. Mit dem Vernunftgesetz der Identität sei diese geforderte absolute Einheit des Endlichen und Unendlichen, des Besonderen und Allgemeinen gesetzt.55 Denn was kann wohl Herrlicheres und Vortrefflicheres gedacht werden als die Natur desjenigen, in welchem durch das Allgemeine auch das Besondere, durch den Begriff auch die Gegenstände gesetzt und bestimmt werden, so, daß in ihm selbst beides ungetrennt ist, und wie sehr hast du dich mit dieser Idee über die endliche Erkenntnis erschwungen, in welcher dies alles getrennt ist, und wie viel mehr über die eingebildete Erkenntnis der Philosophen, welche erst die Einheit und dann die Man-nichfaltigkeit, beide aber einander schlechthin entgegensetzen.56 49 F.W.J. Schelling, Darstellung meines Systems der Philosophie, Schellings Werke Bd. III, hrsg. v. M. Schröter, München 1927, p. 10 (SW IV, p. 114). 50 F.W.J. Schelling, Bruno oder über das göttliche und natürliche Princip der Dingte, p. 132 (SW IV, p. 236). 51 F.W.J. Schelling, Fernere Darstellung^en i^us dem System der Philosophie, Ausgewählte Werke, reprogr. Nachdruck v. Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämmtliche Werke Bd. IV (SW IV), hrsg. v. K. F. A. Schelling, Stuttgart/Augsburg 1859, Darmstadt 1988, p. 239 (SW IV, p. 343). 52 Ibid, p. 238 (SW IV, p. 342). 53 Ibid. 54 Ibid. 55 Cf. ibid, p. 242 (SW IV, p.346). 56 F.W.J. Schelling, Bruno oder über das göttliche und natürliche Princip der Dingte, p. 137 (SW IV, p. 241). Die Einheit der Erkenntnis und die Mannigfaltigkeit der Gegenstände der Erkenntnis seien nicht einander entgegenzusetzen, sondern absolut aufeinander zu beziehen. Schellings Kritik richtet sich gegen Kants Forderung, daß zu der formalen Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis Erfahrung hinzu kommen müsse. In der Kritik der r^e^^ne^n Ver^nunft bestimmt Kant die Form der Anschauung und die reinen Verstandesbegriffe als die formalen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung. So "müssen alle möglichen Wahrnehmungen, mithin auch alles, was zum empirischen Bewußtsein immer gelangen kann, d.i. alle Erscheinungen der Natur, ihrer Verbindung nach, unter den Kategorien stehen, von welchen die Natur (bloß als Natur überhaupt betrachtet), als dem ursprünglichen Grunde ihrer notwendigen Gesetzmäßigkeit (als natur^afor^maliter spectata), abhängt. Auf mehrere Gesetze aber, als die, auf denen eine Natur überhaupt, als Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit, beruht, reicht auch das reine Verstandesvermögen nicht zu, durch bloße Kategorien den Erscheinungen a priori Gesetze vorzuschreiben. Besondere Gesetze, weil sie empirisch bestimmte Erscheinungen betreffen, können davon nicht vollständig abgeleitet werden, ob sie gleich alle insgesamt unter jenen stehen. Es muß Erfahrung dazu kommen, um die letzteren überhaupt kennen zu lernen; von Erfahrung aber überhaupt, und dem, was als ein Gegenstand erkannt werden kann, geben allein jene Gesetze a priori Belehrung."57 Die reinen Verstandesbegriffe bestimmen die Form der Erscheinungen, sind aber nicht der Grund der Existenz dieser Erscheinungen. Die Bestimmung der Form der Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen durch die Kategorien hat keine durchgängige Determination der Erscheinungen zur Folge. Die spezifischen Gesetze der Natur werden, anders als die Form der Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen der Natur, nicht durch die Kategorien bestimmt. Physik als die Wissenschaft der Gesetze der körperlichen Natur ist rein erkenntnistheoretisch nicht zu begründen, sondern bedarf der Erfahrung. Die Erfahrung ist somit die materiale Voraussetzung jeder Einzelwissenschaft, obwohl jede Erfahrung als Erfahrung notwendig unter der Form der Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen stehen muß. Die Forderung nach einer hinzukommenden Erfahrung, um aus der formalen Möglichkeit der Erkenntnis zu einer wirklichen Erkenntnis zu gelangen, kann jedoch allein für diejenigen Erkenntnisse zwingend sein, die eine Beziehung der Kategorien auf Erscheinungen erfordern. Sofern rein mathematische Erkenntnisse durchgängig synthetische Urteile a priori sind, ist für diese Form der Erkenntnis eine hinzukommende Erfahrung nicht von kon-stitutiver Bedeutung. An diesem Punkt setzt Schelling an. Die Vereinigung 57 I. Kant, Kritik d^er i^ein^n Ver^nunft, B 164 f. von Endlichem und Unendlichem, von Besonderem und Allgemeinem sieht Schelling mit der mathematischen Konstruktion gegeben. Jede Konstruktion unterstellt die Indifferenz von Konstruktionsanweisung und Konstruiertem. So ist jedes einzelne konstruierte Dreieck Repräsentant einer allgemeinen Konstruktionsregel. Besonderes und Allgemeines erscheinen in dem einzelnen konstruierten Dreieck als indifferent. "Diese Einheit, die in jeder ihrer Construktionen ausgedrückt ist, ist der Grund ihrer absoluten Gewißheit (^)."58 Die Apodiktizität der synthetischen Urteile a priori läßt sich jedoch nicht aus der Tätigkeit des urteilenden Subjektes deduzieren. Das bloße Befolgen einer Handlungsforderung, einer Konstruktionsanweisung hat keine apodiktisch gültigen Urteile über die Gegenstände der konstruierten Begriffe zum Resultat. Daß "dasjenige, was aus den allgemeinen Bedingungen der Konstruktion folgt, auch von dem Objekte des konstruierten Begriffs allgemein gelten muß (^)"59, läßt nicht den umgekehrten Schluß zu, daß mit der Konstruktion synthetische Urteile a priori hervorzubringen seien, die allein in dieser Tätigkeit den Grund ihrer Apodiktizität hätten. Die Übereinstimmung von Subjekt und Objekt, von Endlichem und Unendlichem, Besonderem und Allgemeinem, Natur und Vernunft in der absoluten Vernunft ist für Schelling der Grund der objektiven Realität des Wissens.60 Damit wird die für eine objektive Erkenntnis notwendige Vernunftgemäßheit der Natur in die Vernünftigkeit der Natur überführt. Der Vernunft des Geistes scheint damit eine Grenze gesetzt zu sein. "In Schellings Naturphilosophie ist ein Versuch überliefert, wissenschaftlich-technische Rationalität nicht etwa preiszugeben, sondern durch ihre Rückbindung an eine sie fundierende absolute Vernunft kritisch zu beschränken und damit ihrer Anmaßung, die ganze Vernunft sein zu wollen, zurückzuweisen."61 Mit dieser Interpretation wird unterstellt, daß die Übereinstimmung von Natur und Geist, erkennendem Subjekt und erkannter Natur in ein Drittes falle, das in seiner Funktion der Vermittlung sowohl das erkennende Subjekt als auch die erkannte Natur gleichermaßen unter sich subsumiere. Der Grund der objektiven Realität der Erkenntnis eines endlichen Geistes fiele damit 58 F.W.J. Schelling, Fernere Darstell^ung^en a^u^s dem System der Philosophie, p. 242 (SW IV, p. 346). 59 I. Kant, Kritik der rei^nen Vernunft, B 744. 60 Cf. F. W. J. Schelling, Dar^s^e^^u^ng r^emes Systems d^er ^h^^osophie, p. 10, (SW IV, p. 114): »Ich nenne Vernunft die absolute Vernunft, oder die Vernunft, insofern sie als totale Indifferenz des Subjektiven und Objektiven gedacht wird.« 61 R. Heckmann, "Vorwort. Die Naturphilosophie Schellings", in: R. Heckmann, H. Krings und R. W. Meyer (Hg.), Natur und Subjektivität. Zur Auseinandersetzung mit der Na^t^urphi^losophi^e des jungten Schelling, Stuttgart-Bad Cannstatt 1985, p. 9. in eine absolute Vernunft, an der sowohl der beschränkte Geist als auch die Natur als Attribute teilhätten. Natur und Geist wären, wie Schelling in seiner Identitätsphilosophie ausführt, als Attribute des Absoluten zu begreifen.62 Schon im Timaeus versucht Schelling die Vermittlung von erkennendem Subjekt und erkannter Natur, die Form des Verstandes mit der Materie durch ein Drittes darzustellen: "diß war Werk des Weltbaumeisters, der die FORM des Verstandes mit der Materie vereinigte, u. dadur^ch nicht nur die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Natur, sondern auch die Gesetzmäßigkeit einzelner Produkte derselben zu Stande brachte (^). Jedes einzelne Weltwesen war also nicht Werk der Materie, sondern eigentlich Zusammenstimmung einzelner reiner Gesetze zu Einem Ganzen, d.h. es war Werk einer Idee, einer Vorstellung von der Zusammenstimmung einzelner reiner Gesetze zu Einem Ganzen. Überdiß war diese Zusammenstimmung reiner Gesetze zur Hervorbringung Eines Ganzen wieder nach Regeln geschehen, die Zusammenstimmung dieser Gesetze selbst also wieder Werk (nicht der Materie), sondern einer reinen Form der Einheit, Werk einer Intelligenz."63 Diese Intelligenz, das Absolute als die Einheit in der Entgegensetzung bestimmt Schelling in der Fernef^e(n) Dar^stellung aus dem System der Philosophie (1802) als die "allgemeine Form des Universums"64, als "die Quelle aller Gesetze."65 Alle Gesetzmäßigkeit sei nichts anderes als ein Spiegel der ewigen Einheit und Harmonie. In diesem Sinne versteht Schelling den Umlauf der Planeten als "die Vertilgung alles Gegensatzes und die reine Einheit (^)."66 Das Universum selbst bestimmt Schelling als die absolute Totalität, die selbst wiederum nichts anderes als die absolute Identität sei.67 Außer, oder unabhängig von 62 K.- J. Grün unterscheidet bei Schelling zwei Phasen der Spinoza-Rezeption: »Die erste reicht bis zum System des transzendentalen Idealismus und beruht auf einer gewissen Orientierung a^n Spinoza, die allerdings nicht die Einflüsse anderer Denker verdunkelt. Diese Schriften lassen sich (^) spinozistisch auslegen, werden vom Verfasser jedoch noch nicht als solche deutlich ausgewiesen. Die zweite Phase aber stellt drastisch - sowohl rückwirkend als auch vorausweisend - die eigene Philosophie als einen Entwurf nach dem Muster des Spinozismus heraus.« [K.- J. Grün, Das Erwachen der Materie. St^u-die über die spinozistischen Gehalte der Naturphilosophie Schellings, Hildesheim/ Zürich/ New York 1993, p. 173]. 63 F.W.J. Schelling, T^m^a^e^s (1794), Schellingiana Bd. 4, hrsg. v. H. Buchner, StuttgartBad Cannstatt 1994, p. 32f. 64 F.W.J. Schelling, Fernere Darstellung^en aus dem System der Philosophie, p. 297 (SW IV, p. 401). 65 Ibid., p. 346 (SW IV, p. 450). 66 F.W.J. Schelling, Brusno oder über das göttliche und natürliche Princip der Dingte, p. 165 f. (SW IV, p. 269f). 67 Cf. F.W.J. Schelling, Darstellung meines Systems der Philosophie, p. 11 (SW IV, p. 115). dieser absoluten Identität sei nichts68, alles sei in der absoluten Identität, der Vernunft.69 Nur für die Vernunft ist ein Universum, und etwas vernünftig begreifen heißt: es zunächst als organisches Glied des absoluten Ganzen, im nothwendigen Zusammenhang mit demselben, und dadurch als einen Reflex der absoluten Einheit begreifen.70 Auch wenn so manche Erscheinung ob ihrer Unregelmäßigkeit, ihrer chaotischen Mannigfaltigkeit unvernünftig scheine, so unterstelle das erkennende Subjekt jedoch notwendig, daß alles, "was ist oder was geschieht, vernünftig, und die Vernunft mit Einem Worte der Urstoff und das Reale alles Seyns sey."71 Die Vernunft ist somit der "ewige Vater aller Dinge"72, der Grund aller möglichen Erkenntnis sowohl als auch der Grund aller möglichen Gegenstände der Erkenntnis. Das die Erde sich bewegt, hätte somit seinen Grund in der absoluten Vernunft. Es ist dieser Idealismus, dem Schelling den Rang der Kopernikanischen Wende einräumt: Johannes Kepler rühmt von der Copernicanischen Lehre, daß sie die Welt von der insana et ineffabilis celeritas der Ptolemäischen Bewegung befreie. Kant vergleicht den Idealismus mit dem Gedanken des Copernicus. Dieser habe, da die Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut von Statten ging, wenn man annahm, das Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, den Versuch gemacht, ob es nicht besser gelinge, wenn man den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließ. Der Idealismus sey eine gleiche Umkehrung des Standpunktes, von der man sich ähnlichen Erfolg versprechen dürfe. Wirklich scheint der Idealismus - nicht jeder freilich; denn auch Berkeleys Meinung ist so genannt worden, selbst nicht der kantische, der es zu keiner Ausführung gebracht, noch weniger freilich, was man in neuester Zeit durch diese Benennung zu empfehlen gesucht, aber - der Idealismus in dem Sinn, den ich durch die letzten Vorträge hinlänglich erklärt annehmen kann: dieser also scheint allerdings das Mittel, das viele Grenzenlose, das bis jetzt in den Naturwissenschaften sich findet, hinwegzuschaffen, 68 Cf. F.W.J. Schelling, Darstellung meines Systems der Philosophie, p. 15 (SW IV, p. 119). 69 Ibid., p. 11 (SW IV, p. 115). 70 F.W.J. Schelling, Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie, p. 286 (SW IV, p. 390). 71 Ibid. 72 Cf. F.W.J. Schelling, Bruno oder über das göttliche und natürliche Princip der Dinge, p. 148 (SW IV, p. 252). und die ausschweifenden Gedanken (^) in die dem Philosophen erwünschte Enge zu bringen. Denn je weiter von aller Schranke, desto weiter ist jedes vom Denken, und darum der Gedankenlosigkeit willkommen, dem Philosophen aber zuwider.73 Der von Schelling hier hervorgehobene Idealismus ist der eine rein rationale Wissenschaft ermöglichende Idealismus. In dieser rein rationalen Wissenschaft habe "nichts der Vernunft Fremdes Zutritt (^)."74 Die Gewißheit einer vernünftigen Anordnung der Planeten hätte somit ihren Grund ausschließlich in der Vernunft. Für Schelling ist die zur Metapher gewordene Kopernikanische Wende nichts anderes als der absolute Idealismus. Copernicus ging es um die Erklärung der wahren Ursache für die erscheinende Ungleichmäßigkeit der Planetenbewegung. Dieses Ziel wurde für ihn durch die Aufgabe der überlieferten Hypothese der ruhenden Erde greifbar. Mit der Umkehrung der Bewegungshypothesen wurde der Schein der irrenden Sterne entlarvt und der wahre Grund der erscheinenden Bewegungsungleichmäßigkeiten erkennbar. Copernicus' Standortwechsel ist durch seinen Realismus motiviert. Bei Schelling wird jeder mögliche Realismus zum bloßen Moment seines absoluten Idealismus. So stellt die Kopernikanische Wende Copernicus selbst auf den Kopf. 73 F.W.J. Schelling, Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie oder Darstellung der reinrationalen Philosophie, Schellings Werke, Bd. V, hrsg. v. M. Schröter, München 1928, p. 672 (SW XI, p. 491). 74 Ibid, p. 557 (SW XI, p. 375.)