Narodna in univerzitetna knjifnica v Ljubljani 90t>88 Einmim Wettreis* DfeTragodfe cfncr Frau Von Alma M.Karlln -- - Alma M. Karlin. Alma M. Karlin Einsame Weltreise Alma M. Karlin Einsame Weltreise Die Tragddie einer Frau Druck und Verlag von Wilhelm Kohler, Minden in Westfalen — Berlin - Leipzig g or Copyrighf 1930 by Wilhelm KShler Verlag, Minden i. W. 9) SiO MM ri. er Vorwort. Da es ganz unmoglich ware, eine achtjahrige Studienreise mit all den zahlreichen Abstechern ins Gebiet der Botanik, des Aberglaubens, des Volkslebens, der Kunst und so weiter in einem einzigen Band zusammenzudrangen, habe ich mich nach langem Ueberlegen entschlossen, nur das rein Personliche her- vorzuheben: die Schwierigkeiten, mit denen ich — besonders als alleinreisende Frau — zu kampfen hatte, die Art, wie ich immer wieder das Reisegeld verdiente, nicht wie so viele soge- nannte „Weltreisende“ erbettelte, meine wichtigsten Erfahrun- gen und Abenteuer und endlich wie jedes Land auf mein inner- stes Empfinden verschieden eingewirkt hat. Von all dem, was ich damals aus der Heimat mitgenommen hatte, habe ich nach unzahligen Leiden und Gefahren bei meiner Riickkehr im Jahre 1928 nichts zuriickgebracht als mich selbst und — meine Schreibmaschine: beide arg gebrochen. Was fur Abenteuer und Kampfe uns beschieden gewesen, moge der ge- duldige Leser dem Werke selbst entnehmen. C i 11 i, im Herbst 1929. Die Verfasserin. 7 ■US -UO -l'JS- -150 •sjjiiii 6 8;j3s jub jap Sunzpspo^ 8 OS l JSSI- CTl\- SOI- -1 65 4S0 465 -ISO -i-if 110 10S 9 ■SOV Oil. SCI- OJl- 5«)»- on J91- Ausreise. So will ich iiber’n Erdball zieh’n. GenieBen froh und schauen, Und, was mir Schones ward verlieh’n, Den Blattern hier vertrauen. C i 1 1 i. Ich bin das einzige Kind meiner Mutter und habe es immer behaupten horen — von der Stimmenmehrheit meiner Ver- wandten in jedem Fall — dal3 diese Beschrankung auf e i n Exemplar als unzweifelhafter Segen aufgefaBt werden miisse. Ueberdies bin ich, und das soli ein Grund weiterer Belastung sein, auch Schriftstellerin. Einige Jahre hindurch hatte ich so- gar den Sprachenwahnsinn, das heiBt, ich versuchte meineD jugendlichen Weltschmerz durch das Eindringen in fremde Sprachen zu ertranken, und obschon dieser Zweck nicht erfiillt wurde, blieb mir ein betrachtliches Wissen, das mich glauben lieB, ich konnte notigenfalls iiberall auf der Welt mein Brot verdienen. Um mich fur eine etwaige Reise in fremde Erdteile weiter auszuriisten, lernte ich so viel malen, daB ich Blumen richtig wiederzugeben vermochte. Als nun gar meine Skizzen, Gedichte usw. in allerlei Blattern Aufnahme fanden und ich im Sommer 1919 meinen ersten Roman verkauft hatte, er- krankte ich an jenem heimtiickischen Uebel „der geschwollene Kopf“ genannt, entwickelte Anzeichen von GroBenwahn, sah mich schon als modernen Columbus eine neue Welt entdecken und traf ernstliche Vorbereitungen zur Eroberungsfahrt. Es war eine ungemein stiirmische Zeit, zu der Leute ohne Entziindung der Einbildungsnerven wohl zu Hause geblieben waren. Die Nachkriegswehen waren schlimmer als der Krieg selbst, doch war ich mir ihrer Schwere damals noch nicht be- wuBt geworden. Nachdem ich den Kriegsanfang in Feindesland — in London — mitgemacht, ein Jahr in Norwegen, eins in Schweden zugebracht hatte, durch das verbiindete Deutschland nach Oesterreich zuriickgekehrt war und hier die ganze Kriegs- not an mir vorbeirollen gesehen, war ich fast ohne Wissen und Wollen Staatsbiirgerin eines fremden Staates geworden. 11 Man war damals epidemisch vom Geldfieberwahn be¬ fallen; man kaufte und verkaufte Valuten; der Borsenbericht war mein Lesestoff, die Lira, der Dollar, das Pfund mein Traum. Als ich endlich reisefertig war, bestand mein Gesamt- vermogen, durch Sprachunterricht erworben, aus hundert- dreiBig Dollars und neunhundertfiinfzig Mark, so wenig ergaben mehr als zehntausend, damals im Sturz begriffene osterreichi- sche Kronen! Die Lira war plotzlich so hoch gestiegen, daB mein geblendetes Auge sie nicht mehr wahrnahm. Die Mark dagegen wurde fast unsichtbar, ehe ich recht in die Fremde gekommen. So verblieben einzig die Dollars. Ebenso schwer war es, ein Visum zu erhalten. Indien wies ab, Aegypten war streng geschlossen, Holland verlangte fur die Kolonien Goldwahrung zur Einreise; nur Japan visierte anstandslos. Ich vertraute blindlings auf mein Wissen, trieb kiihn ins Unsichere hinaus — ganz wie ein ahnungsloses Kind in ein leckes Boot klettert. Ich dachte mir die Welt wie Europa .... Am 24. November 1919 nahm ich Abschied. Eigentlich wollte ich es nicht. Am Ende war es leichter, sich vom Strom der Gewohnheit tragen zu lassen; aber etwas in mir drangte: Es muB sein. Was mich da zwang, war nicht Abenteuerlust; es war der Ruf einer gestellten, unabweisbaren Aufgabe. Seit- her habe ich stets an eine Vorbestimmung geglaubt. Im Speisezimmer meines Vaterhauses (ein uralter Bau, teilweise an die einstige Ringmauer angebaut und auf Romer- boden stehend) brannte die Hangelampe. Ich nahm Abschied von meiner bejahrten Mutter, wohl auf immer. Ich weinte nicht. In feierlichen Augenblicken stehe ich dariiber. Echtes Leid ist wie ein trockener Blitz, gefahrlicher als das folgende Unwetter mit Regen. Maukerl, mein Hund, gab mir die Pfoten, beide unzahlige Male. Bei ihm hatte ich weinen konnen. Er saB so komisch da und wackelte mit den Pfoten wie eine Windmiihle mit den Fliigeln, ganz ohne Ahnung, daB wir auseinanderglitten. Spater wiirde er suchen und suchen und endlich vergessen. Es war wie das Sinnbild alles Seins. Der Bahnsteig war finster, der iiberfiillte Zug jammerte in die Halle. Ein feiner Regen, der schon halb Schnee war, durchfrostelte mich. Ich stand auf dem Trittbrett, meine Freunde umringten mich. Ich hob die geliebte Erika ins Netz und winkte noch einmal. Knarrend fuhr der finstere Zug aus der finsteren Halle. Lichter gab es nur die mitgebrachten. Im Aschenbecher steckte die Kerze eines Mitreisenden. Das gegenseitige MiB- trauen des Nachkriegs lastete auf uns alien. Mein FuB ruhte 12 schwer auf meinem Kolfer, dem einzigen, den ich mitgenommen; mein Auge hing an der Schreibmaschine. Ein Schlafenwollen ware auch ganz zwecklos gewesen, denn jede Viertelstunde steckte eine verhiillte Gestalt den Kopf zur Tiire herein und befahl kurz: „Papiere!“ Aber sobald sie „Japan“ als Reiseziel gelesen, gaben sie den PaB wortlos zuriick, denn jeder dachte wohl gleich: „Da fahrt ein Narr, der besser auBer Land bleibt", und ich hatte Frieden. In Steinbriick muBte ich aussteigen und bis drei Uhr mor¬ gens warten. Niemand hatte eine Ahnung, wann der Orient- ExpreB durchfahren wiirde. Man lauerte auf ihn zusammen- gepfercht im rauchigen Wartezimmer. Als wir endlich im dunklen Zug dahinsausten, sah ich auf die schneeigen Flachen hinaus. Wie flehende Arme streckten die kahlen Baume die Aeste nach mir aus, und der Mond grinste aus brechendem Ge- wolk. In Laibach muBte man neuerdings umsteigen, und ein freundlicher Amerikaner, der selig war, den Staub des ange- krankelten Europa von den FiiBen zu schiitteln, zog mich in sein Abteil. Ich spielte Dolmetsch an der Grenze, was den Zollbeamten indessen nicht hinderte, meinen Koffer — dessen Schliissel im Abschiedstreiben von meiner Freundin wohl ab- gezogen, doch nicht mir eingehandigt worden war — mit seinem Sabel aufzubrechen. Diese Verletzung verwand mein treuer Kleiderbehalter nie ganz. Als es zu tagen begann, glitt der ExpreB von Obcina tal- warts. Das Meer war silbergrau voll silbergrauer Segel. Alles war so unheimlich still, daB mich ein unerklarliches Grauen beschlich. Nichts als das sich verdichtende Grau und das dumpfe Rollen des Zuges. Ich stand auf der Schwelle meiner lorbeerreichen Columbuszukunft und blieb kiihl. Allerdings — ich war durchfroren, und es drehte sich der leere Magen. So besiegt der Korper die unsterbliche Seele... T r i e s t. Das war der erste Priifstein meines Mutes und meiner Geduld. Ich wohnte bei zwei alten Tanten und schlief im Zimmer einer langsam Dahinsterbenden. Durch meine Zukunftstraume zog ihr Seufzen und Stohnen, und der einsetzende Verwesungs- geruch verfolgte mich Tag und Nacht. Die zunehmende Kalte drauBen, die endlose, herzbrechende Suche nach Schiffen ~~ entweder fuhren sie nicht, wohin ich wollte, Oder sie ver- langten Goldwahrung als Bezahlung — die Furcht, das miih- sam verdiente Geld schon in Europa zu verbrauchen, triibten die entfliehenden Tage. Ich stand unten am Strand, starrte 13 auf die weiBblauen Wasser, die kreisenden Mowen, das rot- glutende Karstgefels bei Sonnenuntergang, das tiefrote Spat- herbstlaub in geschiitzten Winkeln und versuchte, den sinken- den Mut hochzuschrauben. Einmal klagte ich einem alten Seebaren mein Leid, und er sagte: „Gehen Sie getrost, wer so viele Sprachen spricht, tragt ein Vermogen mit sich herum!“ Das mochte ganz wahr gewesen sein, aber woran wir beide nicht dachten, war, daB nicht jede Bank einen derartigen Wechsel honoriert. Mein Vermogen glich nicht selten dem ver- grabenen Golde eines Geizhalses- Auf wiederholtes Anraten entschied ich mich zur Reise fiber Siidamerika, denn wenn alle Wege nach Rom fiihrten, so brachten wohl auch alle mich einmal nach Japan. Der kiirzeste Weg war es nicht, aber allem Anscheine nach der einzig offene. All’ das kam so: Gerade als ich eines Abends entmutigt heimkehrte und mehr als ein Italiener mir zuraunte, daB er mich begleiten wolle, erfuhr ich, daB ein leer nach Japan zu- riickkehrendes Schiff mich um dreiBig Pfund Sterling mit- nehmen wiirde. Meine Begeisterung war ohne Ende. Die noch nicht Sterbende meiner Tanten, die weise war und nie etwas direkt verbat, bemerkte beim Abendbrot: „Sobald du Triest einmal verlassen hast, esse ich keine Fische mehr.“ „Warum denn nicht?“ forschte ich erstaunt. „Weil ich nicht Menschenfresser werden will, denn bist du einmal allein auf dem Scotland Maru, so werden dich die Japaner miBbrauchen und dich hierauf ins Meer werfen. Die verschiedenen Fische werden sich an deinen Resten giitlich tun und_“ sie zuckte vielsagend die Achseln. Ich sagte nichts. Ich betrachtete das Schiff, die fremde Mannschaft, das eigentiimliche Treiben — und zdgerte. Wie vielen Leiden und Gefahren ware ich entgangen, wenn . . . . aber nutzlos ist es, zu klagen. Wer erhangt werden soil, der ertrinkt nicht, ist ein wahres Sprichwort. Ich sammelte da- her Visum auf Visum fur Siidamerika. Das von Chile kostete 30 Lire, also 240 Kronen! Dafiir hatte ich das Recht, Chile von Ende zu Ende abzutrappeln. Und dann .... aber warum vor- greifen? Ich wurde armer, je reicher mein PaB wurde. Alle Schiffe fuhren direkt nach Argentinien, und diese Regierung verlangte eine Menge Zeugnisse: daB man nie seinen Lebensunterhalt mit Betteln verdient; daB man nie vor- bestraft gewesen; daB man nicht erblich belastet und besonders, daB man gesunden Geistes war. Diesen letzten Punkt hatte man in meiner Vaterstadt und noch mehr im engeren Familien- 14 kreise immer angezweifelt, und daher fiihrte mich meine Tante lieber zu einem italienischen Arzt, der mich mit einem einzigen Blick aus halbem Auge streifte und mir den gesunden Geist bescheinigte. Es gibt noch vertrauensselige Menschen! Zur schnelleren Erledigung iibergab ich die Angelegenheit meiner eigenen Staatsvertretung. Wir sprachen nur franzo- sich miteinander, und spater hatte ich am liebsten tatlich ge- sprochen, denn die Papiere, die in acht Tagen bei der Gesandt- schaft eintrafen, wurden meiner Tante nach taglichen Mahn- besuchen etwa acht Wochen spater (als ich schon auf hoher See war) ausgehandigt. Nach fiinf Wochen fuhr ich nach Genua. Dort muBte ich das Gewiinschte finden. Hinter mir verschwanden die rostbraunen, mit einer leichten Salzkruste bedeckten Hohlziegel, die jedes Dach ver- schonen, der kahle Karst, die diisteren Zypressen, die schirm- kronigen Pinien, verschwand auch das letzte Stiicklein Heimat. V e n e d i g. Um Narren zu finden, braucht man oft nur in den Zug zu steigen. Mir gegeniiber auf der harten Bank der Dritten, — mir war es damals noch neu, in der Dritten zu fahren — saB ein Mechaniker, der immer wieder den Kopf wie eine erschreckte Schildkrote vorschieBen lieB, um irgend eine Bucht besser zu erkennen. Jedesmal rollte er da begeistert die Augen und rief: „Ach, da habe ich einmal ein Madchen gekiiBt.“ Und es gab da Buchten ohne Ende. Fiirwahr, die Zahl kuB- lustiger Jungfrauen muBte im Kiistenland eine erschreckende sein. Als wir durch einen Tunnel kamen, riickte ich vorsorg- lich vom Fenster ab. Ich bin nie ein Freund von Massen- artikeln gewesen. Neben dem KuBmenschen saB eine hiibsche Brunette, die sich mit ihren ungepflegten Dienstbotenhanden Duftwasser auf Haar, Jacke, Buseneingang und so weiter goB. Ich hatte ihr gern sagen mogen: „Schonste, ziehen Sie Handschuhe an und uiachen Sie den Mund zu, sonst hilft auch der siiBe Duft Ihnen nicht zur Verwandlung." Gute Ratschlage sind indessen mo- derndes Laub, und ich behielt mein Weisheitslaub fur mich. Wenn das nur alle taten! In Venedig half mir eine nette Lehrerin, meinen Koffer in die Garderobe tragen; dann wanderte ich durch die stillen, winterlichen StraBen, stand einsam vor dem San Marco und blinzelte in die triiben, nebelumkreisten Lichter. Venedig ist der Ort der Liebenden. Man kann nicht iiber- fahren werden, selbst wenn man sich in erster Begeisterung 15 gegenseitig fast totstarrt; man iBt gut, wenn man auch in gliicklicher Unwissenheit verbleibt, wovon man im Grande satt geworden; schone Geschafte blenden Auge und Geldbeutel, und in einer Gondel zu sitzen, muB herrlich sein — zu zweien. Be- sonders wenn es kalt ist und der Mann einen warmen Mantel hat. Mein Jackchen war diinn und ich allein, daher empfand ich von den Kanalen nicht die Poesie, sondern einzig den Ge- stank. Schon einmal zuvor war ich in Venedig gewesen — in meiner arg verschneiten Madchenfriihlingszeit — und da hatte der sommerliche Glanz rundumher mich nur trauriger gemacht. An diesem Wintertag, als kiinftiger Columbus, war ich einfach schwermiitig. Meiner Ansicht nach gehort zu Venedig eben die Hochzeitsreise- Sonst kann man iiberall auf Erden ebensogut allein leben. Genua. Ich schlief im ungeheizten Abteil, und mir gegeniiber auf der harten Bank stohnte ein Matrose. Die Einsteigenden brummten. Die Aussteigenden lieBen die Tiire of fen; der Wind heulte. Endlich wichen die Schatten, lieBen den Reif auf den pappelbestreuten Wiesen erkennen, und als die Sonne aufging, lagen die schneegekronten Alpen in rosigem Schimmer vor mir. Wie eine Erinnerung schwanden sie in der Ferae, goldig, unklar und weit, weit weg. Dagegen schoben sich in nacktem Braun die Apenninen heran. Kurzes, gelbgriines Gras deckte einzelne Abhange, und dicht an der Bahnstrecke standen Zy- pressen. Um zehn Uhr friih erreichten wir Genua. Der Matrose fluchte — damals war das noch nicht gesetzlich verboten — und ich schleppte keuchend Koffer und Erika zur Aufbewahrung; wanderte in die Stadt hinein, als ob ich keine Sorgen und schon ein Zimmer hatte; bewunderte die Palmen am Strand, die Orangen in voller Bliite, die herrlichen Palaste und die zweiradrigen Wagen, die einen kafigartigen Ueberbau aus Weidengeflecht hatten. Ein Kinderleichenzug glitt an mir vor- iiber — die Pferde weiB behangt, eins hinter dem anderen gehend, die Augen mit einem Riesenscheuleder verdeckt, das wie eine schwarze Scheibe wirkte; der Leichenwagen wie ein Thronsessel, ebenfalls weiB. Dahinter Klageweiber, und rund um uns die starke Sonne des Siidens und das unbegrenzte tiefblaue Meer. Genua ist sehr groB und wirkt bei aller Schonheit dennoch tot. Warum? Vielleicht weil die flachen Dacher grau und farb- los scheinen, die Apenninen mattbraungelb sind, die Grab- 16 statten und Befestigungswerke als oder Stein hervortreten und langsam in der Nahe des versandeten Flusses enden. Zypressen und Palmen scheinen in einen braunlichen Dunst gehiillt, und das traurige, langgezogene Pfeifen der ein- und ausfahrenden Darapfer, das unaufhorliche, machtige Anschlagen der Bran- dung kummerschwangerte mich. Aus ihm klang es wie War- nung oder Trauer .... Viel zu spat begann ich meine Zimmersuche. Erst in groBeren, dann in kleineren Hotels; gegen Sonnenuntergang schon in ganz kleinen; endlich in verdachtigen Schlupfwinkeln in engen WinkelgaBchen. Um neun Uhr abends landete ich mit wundgeriebenen FiiBen bei der Polizei und bat den Inspektor, mich gefalligst einzusperren. Besser war’s, eine Nacht im Kerker als drauBen auf der StraBe zu verbringen. Zu meinem Bedauern fand er mich des Einsperrens nicht wiirdig, sondern gab mir eine Anweisung auf eine Bettstelle in einem Unter- kunftshaus. Eine andere Obdachlose begleitete mich dahin. Der mir bestimmte Platz war in einem finsteren Raum, auf Hadern, auf dem FuBboden, unter zwolf Mannern. Ich verzichtete. Zum SchluB kaufte ich eine Fahrkarte und verbrachte die Nacht im Wartesaal dritter Klasse, dem einzigen, der of fen blieb. Dichter Qualm erfiillte die Luft; hinten, beim Biifett, staute sich der Nachkriegsabschaum: Weglaufer, Landstreicher, Ob¬ dachlose; auf den Banken lag kreuz und quer heimkehrendes Militar, einige arme Weiber kauerten auf Kisten und Koffern, und ein Betrunkener grolte verschlafen. Ein Hund winselte. Ich fand noch das Schwanzende einer Bank, und da ich kiein bin, rollte ich mich — die Handtasche unter, den neuen Seiden- hut auf mir, die Schuhe in nachster Nahe — so gut als tun- lich zusammen. Als ich aus kurzem, qualvollem Schlaf mit fiebernden Wangen erwachte, waren mein schoner Reisehut und die Obdachlose weg. Sic transit .... Um sechs Uhr friih begann ich einen Brief zu schremen und warf den Plaid iiber die Tasche neben mir. Die ganze Nacht hatte ich Kopf an Kopf mit einem Davonlauter „e- schlafen. Nun regte er sich. Einige Minuten spater betraten einige Schutzleute den Saal und fragten, wem eine Tasche gestohlen worden sei. ich sah nicht einmal nach, so sicher war ich der meinen. Da frag¬ ten mich die Leute personlich, und ich sagte stolz: _ „Oh nein! Sie liegt hier unter dem Plaid, und ich schlug ihn zuriick. Die Tasche war weg! In Pantoffeln, hutlos, verschlafen, wankte ich bis zur Po- lizeiabteilung. Einem Zuschauer war das Davonschleichen des Cannes aufgefallen, und er hatte ihn angehalten. Nun saB der 2 17 Mann, der meinen Kopf gleichsam zur Stiitze verwendet hatte, auf der Anklagebank und zitterte arger als ich vor Kalte und Aufregung. Der Schutzmann stand dicht neben mir und begann ieden Satz mit dem feierlichen „Questa miserabile . . Natiirlich zerschmolz ich mehr und mehr in Selbstbeklagen. Nach einer halben Stunde war ich urn viele gute Lehren, um meinen PaB und eine Klosteranschrift reicher. Man stellte mir vor, daB kiinftige Columbusse und gegenwartige Schrift- stellerinnen nicht in einen Wartesaal gehorten und man auch nicht die Welt umsegelte, wenn man nicht besser aufpassen konnte. Dann vertauschte ich meine Pantoffel mit meinen unter- dessen polizeilich bewachten Schuhen, driickte ein blaues Seidenmiitzchen auf den zerzausten Bubikopf (ich ging in der Hinsicht namlich der Mode voran) und trat — weiser und trauriger — vor das Bahnhofsgebaude. Vor mir erhob sich das prachtige Columbusdenkmal. Der Entdecker zeigt mit der Hand nach unten, und seine Ziige sind schmerzdurchfurcht. Es kam mir zum erstenmal klar zum Be- wuBtsein, daB — abgesehen von der Tatsache der allzu wohl- bekannten Erdkugel heutzutage — allerlei dazu gehorte, allein ins Ungewisse hineinzufahren. Ich stand lange vor dem Denk- mal, lieB diese Weisheit in mich hineinsickern und merkte mit Befriedigung, gemischt mit Wehmut, daB die Krankheit des „ge- schwollenen Kopfes" Anzeichen von Besserung verriet. Dann begab ich mich in das Asyl fur junge Madchen und stellte mich reumiitig unter den Schutz der Schwestern. Im Kloster zu Genua. Fur mich war es eine neue Welt, keine sonderlich ange- nehme, aber eine lehrreiche. Die Preise waren so niedrig, daB man dafiir weder etwas verlangen, noch viel bieten konnte, und die unter dem Schutze des Klosters stehenden Madchen waren durchweg Kochinnen, Stuben- oder bessere Kindermadchen, auch Verkauferinnen, die sich nach irgend einer Arbeit um- sahen. Ein einziger groBer Schlafraum im dritten Stock faBte uns alle — damals vierzehn an der Zahl — und zwischen den Betten gab es weder Vorhang noch Nachtkasten. Man brauchte nur die Hand auszustrecken, um die Nachbarin zu beriihren. Graue Wolldecken, schwer, ohne Warme, verliehen ungeniigen- den Schutz gegen die Winternachte, aber vierzehn atmende Stuck Menschheit bei geschlossenem Fenster verwandelten die Luft in behagliche, wenn auch ungesunde Stallwarme und ich, die ich das vom Fenster entfernteste Bett hatte, lieB mich von den dreizehn anderen wie einst das Jesukindlein in der Krippe warm end anhauchen. 18 Viele andere Erinnerungen kniipfen sich an diesen Schlaf- saal, aus dem ich mich so sehr fortwiinschte und nach dessen Sicherheit ich mich so oft zuriicksehnte. Abends durften wir erst nach dem Abendgebet, bei dem wir auf den Stiihlen der Lehne zugekehrt knieten und lateinisch beteten, hinaufgehen, und nachdem die Abendschwester den Rundgang gemacht hatte, hieB es schweigen. Damals erfuhr ich auch, warum man sagt, „jemandem einen Floh ins Ohr setzen". Mitten in einer Nacht erwachten wir durch das Gebriill einer Stubengefahrtin, der dies passiert war. Sie sprang fast so wild wie der Floh in ihrem Ohr, schlug mit dem Kopf um sich und heulte wie wahn- sinnig vor Furcht, daB ihr das liebe Tier durchs Trommelfell ins Gehirn gleiten konnte. Wir versuchten allerhand, was Floh und Flohbehalter nur wilder machten. Wir zerflossen vor Mit- leid und Lachen, bis endlich jemand der Gedanke kam, ein zur Schlinge gedrehtes Haar in den Gehorgang zu schieben. Der Floh ergriff den Rettungsanker und fuhr auf dem Haar ins Freie .... Ich weiB nicht, wie es kam, aber plotzlich wurde ich zur Traumdeuterin. Kaum schlug jemand die Augen auf, so hieB es: „Letztes Bett, mir traumte von einem Turm, oder einer Gans oder... “, und sofort entrollte ich die Ereignisse der Zu- kunft. Aus diesem Grunde durfte ich am langsten im Bett liegen. Mein kurzes Haar war iiberdies am schnellsten gemacht und mein Bett so geschickt beniitzt, daB ein paar Rucke an der Wolldecke dem ganzen den Anstrich von Ordnung und Auf- gebettetsein verliehen. Etwas von Grund auf ordentlich zu machen, ist eine jener Tugenden, die ich erst viel spater, sozu- sagen als „Columbus“ erwarb. Das Leben erzieht, und Welt- umseglungen erziehen doppelt. Der EBtisch stand in der Kiiche, ungedeckt, mit dicken Tassen besat. Eine Mischung, die unter dem Namen Kafiee ging, und ein Eckchen Brot wartete auf jede von uns, und so- bald wir gegessen hatten, muBten wir uns die Schale selbst waschen. Wer dies versaumte, wurde von einem kleinen Waisenmadchen zu dieser Pflicht von oben herabgerufen. Tagsiiber saB ich im allgemeinen Arbeitssaal, wo ab- Wechselnd gestickt, genaht, geplaudert und gebetet wurde, und schrieb. In gewisser Hinsicht nahm ich eine Sonderstellung e in und durfte ausgehen. Um sieben Uhr abends aber muBten ulle Kuchlein aus der siindigen Welt fort und im Klosterfrieden ®uin, denn Klosterfrieden war’s, ob wir unten in der Halle ar- heiteten, wahrend die kalte Wintersonne Palmen und Orangen- haume streifte, oder die Glocken der nahen Annunziata gleich- sam ins Schlafzimmer lauteten. 2 * 19 Wahrend ich krampfhaft nach Schiffen Ausschau hielt, von einer Navigazione zur anderen irrte und mir mit gemischten Gefiihlen die herumstreifenden Matrosen naher ansah, lernte ich allmahlich ganz Genua kennen, argerte mich iiber die Haus- nummern, von denen jeder Bau drei Oder vier hat, unter denen man natiirlich nie die richtige errat; durchwanderte die ver- schiedenen GaBchen — die beriichtigten Vicos — deren Namen immer etwas andeuten, was sie nur sarkastisch genommen sind. So gibt es das GaBchen der Hoffnung, eine kleine, dunkle, winkelige Quergasse, in die hinab die nasse Wasche an alten Seilen hangt, wohl so benannt, weil er, der dieses Winkelwerk besucht, am besten tut, jede Hoffnung vor dem Eintritt zu ver- ankern; das GaBchen des Erbarmens, weil man dessen bedarf, wenn man sich hineinwagt; das GaBchen des weiBen Kreuzes, das schmutziger als alle anderen ist, das JesugaBchen, aus dem einen, ohne Dolch und Revolver in der Hand, sicher nur der liebe Herrgott erretten kann, das GaBchen der Schutzengel, das wie die Einlahrt zur Holle wirkt, das GaBchen der Martyrer, das GaBchen der UngewiBheit, weil es fraglich bleibt, ob man je am anderen Ende wieder auftauchen wird, und so weiter. In alien diesen Vicos kann man Ueberraschungen groBer Art — einen Stich im Riicken — oder kleinerer Art, ein faules Ei auf den Kopl, einen Eimer schmutzigen Wassers, Unrat oder ahnliches erhalten. Wie Leute in solchen Rattennestern wohnen konnen, ist mir immer ein Ratsel geblieben. Es ist nicht meine Absicht, den Friedhof zu beschreiben, der tausendmal iiberbeschrieben wurde; er liegt an dem Ab- hang eines Berges, den die Saulengange gleichsam empor- streben. Ein feiner Regen und das Gelbbraun der Berge, das nasse Grim der Zypressen machten den Anblick nicht trosten- der. Die Grabdenkmaler sind groBartig, riihrten mich indessen nicht im mindesten. Wo das Ewige beginnt, soil Personliches hinweg. Eine trauernde Witwe steht da in Marmor und klopft verzweifelt an die Grabtiire, den Schleier verhiillend iiber alle Reize geworfen, das Gebetbuch in den Handen, und dann er- fahrt man, daB der zweite Gemahl schon einige der Denkmals- kosten groBmiitig mitbezahlt hat; da steht der Herr Biirger- meister mit Riesenbauch und Uhrkette, ein Schmunzeln auf den Lippen und scheint noch im Tode zu sagen: „Herr Petrus, Hut ab, denn ich bin der Biirgermeister von Genua!" Unten im Tal, wie die entfliehende Zeit, rollt die Terrenta. So oft ich unten am Meer saB und in die Brandung starrte, wurde mit das Herz schwer. Durch den aufzischenden Spruhregen der machtigen Brandung sah ich alles wie durch Tranen und undurchdringlicher denn je war die Zukunft. Lief 21 ' ich am Ende einem Irrlicht nach, wie jemand es auf freiem Meer zu Zeiten tut? Oder war ich berufen? Wie die Brandung an den Klippen, zerschellten die Hinder- nisse an meinem noch ungebrochenen Willen. Die Zeit war schwer. Alle Linien hatten sich als unmog- iich erwiesen: da reichte mein Geld nicht aus, dort verlangte man besondere Papiere. Argentinien wollte niemand aus slawischen Landern einlassen, weil alle als Bolschewisten an- gesehen wurden; die meisten englischen Kolonien waren noch geschlossen. So blieb mir ein einziges Schifl, das an der Westkiiste Amerikas bis nach Chile fuhr. Ich hatte so viel von den Altertiimern der Inkas gelesen, daB ich unterwegs aus- steigen und sie naher bewundern wollte. Auch ersparte ich beim Aussteigen (was ahnen wir Europaer von derartigen Ent- fernungen?) einige hundert Lire. Ich kaufte die Fahrkarte nach Mollendo, dem letzten Hafen von Peru. Niemand sagte „Nein“, nicht einmal der Konsul. Meine spateren Erfahrungen lehrten mich, daB die besten Lander immer die waren, die das Visum schwer gaben. Das Geld vertropfelte seit vielen Wochen. Dabei war ich so hungrig, daB mir vor Begehren Tranen in den Augen stan- den, so oft ich unter den Porticos die ausgestellten Kuchen, das gute Wurstzeug, die fertigen Gerichte sah und, schlimmer, sie gar roch. Im Kloster aB man taglich Maccaroni in Wasser, und so groB der Teller wirkte, so fettlos war diese Ministra, denn zwei Stunden spater fiihlte ich menschenfresserische An- wandlungen. Eines Tages ging ich in solch einem Zustand die Treppe hinab, und, o Wunder! eine Buttersemmel saB wie fur mich mitten auf der Treppe. Ich dankte alien Heiligen fiir den Fund und verschlang sie heiBhungrig. Plotzlich steigerte sich das Leben, das bis dahin nur un- angenehm gewesen, zu jaher Tragik. Eines Abends schlief im Bett neben mir ein junges Dingelchen — ein liebes, rund- gesichtiges, vo m T.eben noch iimnnde11iert.es Men schenkind — und hustete ein wenig; am folgenden Abend gingen wir beide, v on Schwester L. geschickt, vor dem Rosenkranz zu Bett (eine sehr bedeutende Gnade!) und als es wieder Morgen wurde und die Glocken der Nunziata liber die bliihenden Orangenbaume hinweg in das Klosterzimmer riefen, trug man meine Bett- nachbarin ins Hospital, wo sie nach wenigen Stunden starb. mh fieberte am folgenden Abend, und die Nachtschwester brachte selbst Tee und mehr Decken. Ich glaubte schon, den ueriihmtesten Kirchhof der Welt bevolkern zu durfen, als das Fieber wich und ich die Fahrkarte abholte. Der Faschings- dienstag verlief ungewohnlich still, doch waren wir einmal 21 wirklich satt; dann kam der Aschermittwoch, und dann hieB es in der Tat: „Morgen fahrt der Bologna!“ Ich schniirte iieberhaft mein Biindel und verbrachte den letzten Abend auf dem Ponte Monumentale, von wo aus man die herrliche Via XX. Settembre iibersah, in der eine endlose Reihe heller Lampen aufflammte, von wo aus man in die Garten alter Palaste, in die Tiefen von dammerigen Hofen, in das schlichte Heim vieler kleiner Beamter durch vorhanglose Fenster zu spahen vermochte, — und dahinter, wie ein tief- blauer, unbegrenzter Schatten, spannte sich das Meer, das da lockte und versprach. Die Wolken, in Rot getaucht, schossen als vielformige Ungeheuer an mir vorbei und die Apenninen waren wie blutiiberrieselt. Unten brauste das Leben, wie ich es kannte. Das war Europa. In drei Jahren wollte ich heim- kehren, weisheit- und ruhmbeladen .... Die Sonne sank und ich eilte heimwarts durch die Via Balbi, in der zwei Wagen kaum aneinander vorbei konnten, und immer noch traumte ich. Ich traumte noch weiter in der alten Kirche, die unser Arbeitszimmer war, denn alle sahen in mir schon etwas von dem, was werden sollte. Goldene Traume, die Wolken glichen, und wie sie zerrannen. Vor der Ausfahrt. Die Oberin des Klosters begleitete mich zur Abfahrtshalle. Um drei Uhr standen wir Zwischendeckopfer schon hinter der Schranke. Jenseits derselben standen der Zollbeamte, der Arzt, der Polizeiinspektor, der Agent der Gesellschaft und andere Machthabende, an denen das Opfer der Reihe nach vor¬ bei sollte. Es war dicht nach dem Zusammenbruch, und wer da in die Welt hinausfuhr, muBte es tun, daher gehorten die Menschen, die hier angstlich ihre Habseligkeiten bewachten, last durchweg einer besseren Klasse an, als man sie sonst in der Dritten findet. Einige Reichsdeutsche hasteten an mir vor- iiber. Ein dunkelfarbiger Mann schleppte einen Holzkoffer wie eine Arche Noah. Nach einer Weile segnete mich die Oberin und verlieB mich. Langsam, meine Erika bewachend, schob ich mich naher, und um fiinf Uhr ging auch ich vom Zollbeamten zum Arzt und von ihm zum Polizeiinspektor, zum Agenten, zu wer weiB noch wem. Endlich packte ein Matrose mein Gepack, und ich betrat den „Bologna“. Es war ein Riesenschiff der Navigazione Transatlantica Italiana und weil ich einmal, irgendwo, Ansichten einer dritten Klasse gesehen hatte, bildete ich mir ein, alles zu wissen, — 22 ich, die ich nur die erste Klasse und die nicht zu genau kannte! Als ich daher fiinf Minuten spater in eineni unterirdischen Raum stand, in dem drei Betten iibereinanderlagen, und iiber- dies Bett an Bett grenzte, iielen meine Kinnbacken bis auf die Brust. Das war gut, denn sonst waren sie vielleicht bis zu den Zehen gefallen, als ich erblickte, daB die Betten nichts als eine Matratze, eine dunkelgraue Wolldecke und den Schwimmgiirtel als Kopfkissen hatten. Auf den obersten Betten lagen Araberinnen in ihren weiten Rocken, schwere Ringe an Fingern und in den Ohren, Hals- ketten aus Gold und dabei zerlumpte Schuhe, mit denen sie oben im Takt zu den Zungen trommelten. So zu schnattern wie diese Leute verstehen hochstens noch die Ganse . . . Seufzend schob ich meinen Koffer unter das mir ange- wiesene Bett und legte meine Erika zu mir unter die Woll¬ decke; hierauf stieg ich die Treppe mit einem eigenen Gefiihl in Nase, Mund und Herzen wieder empor. Die Gliicklichen von der Ersten und Zweiten starrten auf uns Zwischendecker mit dem Uebermut der Besitzenden — oder wenigstens schien es mir so. Ich driickte mich mit einem unangenehmen Schamgefiihl hinter die hohen Pfeiler und die bauchigen Rauchfange, bis mich meine Tischgesellschaft ein- fing. Dabei lernte ich weitere Bolognafreuden kennen. Sechs und sechs Reisende wurden wie Schlachtkalber zusammenge- bunden und erhielten zusammen einen Sack, der selbst damals nicht weiB war. Darin verborgen ruhten zwei Blechschiisseln, sechs Blechloffel und Gabeln und sechs Teller. Eine Schopf- kelle und sechs Blechglaser vollendeten die Ausstattung; Messer wurden uns nicht anvertraut, und nicht einmal Tische Oder Sitze gab es. Einige meiner Gefahrten fanden Kisten oder Fasser, ich aber schwang mich auf den auBersten Decktau- pfeiler und saB von da ab lesend, schreibend, essend auf diesem lehnenlosen Sitz, meinen Teller wie ein Taschenkiinstler je nach der Schiffsbewegung schwingend und immer mit dem un- gebrochenen, doch allerdings etwas verrosteten Columbus- gefiihl. Der Hauptling jeder Gruppe muBte in die Schiffskiiche gehen und die Speisen holen; er muBte auch das heiBe Wasser ^uin Abwaschen verschaffen, und jeder Teilnehmer wusch ein- ®al ab. Ob ich so chronisch unfahig aussah, oder die anderen Mitleid hatten, erfuhr ich nie. Gott segne sie jedenfalls, denn nie verlangte man etwas von mir. Ich aB, und die anderen besorgten den Rest. Gegen neun Uhr waren alle Leute an Bord gekommen, der »Bologna“ zuckte in seinen Gliedern, der erste dichte Rauch 23 stieg auf; langsam wurden die Taue losgelassen. Ich stand an der Reeling und blickte auf Genua zuriick. Die Lichter er- gossen sich wie ein Sternschnuppenfall liber die Abhange der Apenninen und von Zeit zu Zeit fiel ein einzelner Regentropfen auf meine Wange nieder. Das Meer seufzte, das Schiff blies den AbschiedsgruB, eine Frau schluchzte. Widerwillig, aber un- aufhaltsam glitt der Amerikadampfer weiter und weiter in das offene Meer hinaus. Ich stand abseits von den iibrigen und starrte auf die ver- schwindenden Lichter. Ob ich richtig gewahlt hatte oder nicht — nun gab es kein Zuriick! Was immer vor mir lag, muBte iiberwunden werden. Lieber auf dem Schilde als ohne ihn! Dann iiberkam mich Riihrung, und ich fliisterte die Ab- schiedsworte des Weisen Li Tai Pe, die ich in der Biblioteca civica gelernt hatte: „Levai la faccia al chiaro astro lucente E a quel lume di luna volsi in mente, Popoli e terre che veder dovro. Indi al sulo chinati i stanchi rai, Al mio paese tacito pensai Ed agli amici cho piu non rivedro." Der Regen nahm zu; der Mond, so viel von ihm iiberhaupt sichtbar gewesen, verschwand ganzlich. Ein WindstoB trieb den „Bologna“, lieB ihn jah fallen_Das geniigte. In we- nigen Sekunden war das Deck rein. Der Geruch von unten war widrig, doch was half das einem kiinftigen Columbus zur Abschreckung? Meinen Mut auf- und meine Nase zuschraubend, stieg ich in die Tiefen, von denen man ebenfalls hatte schreiben konnen: „Lasciate ogni speranza voi ch’entrate." Auf hoher See. Meine fiinfunddreiBig Mitopfer stohnten nach Noten. Das hatte ich ihnen noch vergeben, denn das Schiff rollte, und ich mufite mir allerlei Reden halten, um nicht mitzustohnen; daB sie aber die abendlichen Maccaroni alle an meinem Gesicht vor- bei auf den Boden anrichteten (denn Brechschiisseln fehlten), schien mir eine strafwerte Taktlosigkeit. Wenn man etwas im Magen hat, so behalt man es drinnen. Niemand, nicht einmal eine Schiffsgesellschaft, fordert Riickgabe. Meine unrosige Laune wurde indessen noch unrosiger durch den Umstand, daB ein nasses, unfertiges Menschenkind halb auf meinem Bett lag. Es kam namlieh auf zwei Er- wachsene je ein Kind und von dem Kinde natiirlich zur Halfte Nasse und Gestank. Ich umwickelte meine Erika und rollte 24 in den grauen Nachtstunden das Kind immer mit dem nassen Teil der Mutter zu. Das hatte ich billiger ohne Columbus- ehrgeiz haben konnen! Billiger und, wie ich mir einbildete, besser. Der gelbe Niagara von oben, der mit seinen Nebenfallen auf dem Boden bald zum See wurde, die feuchte Duftwelle hinter mir, das Liegen auf leintuchgroBem Bett und das Ge- kratztwerden von einer rauhen, grauen Wolldecke wurde bald durch zwei neue Plagen erganzt: die halbtoten Araberinnen jammerten laut, und ihre Wanzen — zu unseren im Verhaltnis eines Mammuts zum Elefanten — kletterten an den Bett- stangen nieder und versuchten mein Blut. Ich brauche daher nicht erst zu betonen, daB ich etwas erniichtert aufstand. Es ist nie meine Art gewesen, nutzlos zu klagen. Wer klagt, macht sich verhaBt, aber ich sagte nach dem Friihstiick, nachdem ich den Schiffskaffee gekostet und „einmal und nie wieder" geschworen hatte, zum Capitano d’ arme, der wie ein Blaubart aussah, doch ein goldenes Herz hatte: „Geben Sie mich lieber in ein oberes Bett, Capitano! Ich behalte, was ich gegessen, selbst diesen Kaffee, obschon mir in der Hinsicht nichts am Behalten liegt. Es wird den Niagara- strom aus der Hohe vermindern." Da legte er mich obenauf in die Nachbarkabine. Da lag ich zwischen einem weiblichen WalroB und einer Hochzeits- reisenden, beide sehr nett in ihrer Art. Das WalroB fuhr nach Chile, die junge Braut nach den entlegenen Galapagosinseln, un- weit von Ecuador. Der Waschraum war offen, man konnte sich nie entkleiden; die Manner gingen daran voriiber, die Frauen wuschen ihre Kinderwasche in den Blechbehaltern, die Matrosen starrten im Vorbeigehen hinein. Das Grausigste war ein gewisser Ort. Er hatte eine Vorwand, doch keine Tiir, schwamm chronisch iiber, roch nach allem, nur nach Ertraglichem nicht, und Kinder wie Erwachsene belustigten sich damit, heitere Bordvorkomm- nisse an der Wand in brauner Plastik darzustellen. Wer ein- treten wollte, lieB im giinstigsten Falle ein warnendes Grunzen horen. Unweit von dieser Klause nahmen wir unsere Mahl- zeiten ein. Ich fand das Reisen nach fremden Weltteilen anders, als erwartet. Ich saB auf dem Taupfeiler. An mir voriiber glitt die wunderschone Kiiste Frankreichs mit ihren stillen, lieblichen B uchten und den steilabfallenden Klippen. Ueberall auf der Welt fahrt man entweder an flachen Ufern oder an Klippen voriiber, und dennoch sind nicht zwei Klippen sich vollig gleich. Diese Klippen waren we ; 3 wie Bilder aus dem Marchenland, 25 halb vom Sonnenlicht vergoldet, halb in einen weichen silber- nen Nebel gehiillt, der den Zauber erhohte, weil man dahinter mehr wahnte, als tatsachlich vorhanden war. Manchmal sehwamm eine Insel wie ein Schwan auf dem blauen Wasser, manchmal ragte ein Klippengefiige wie ein WunderschloB in die See hinein und immer umwob diese Gebilde etwas ent- ziickend marchenartig Femes. Marseille. Vor uns lag das SchloB If. Ich muBte an den Grafen von Monte Christo denken und traumte mich in die unterirdischen Gange hinein. Abweisend, stolz, von einer vornehmen Weiche, die man nicht vermuten wiirde, liegt das SchloB auf der schrof- fen Insel dicht vor der Einfahrt, und dahinter, leicht um- dunstet, breitet sich die Stadt aus — vollig anders als Genua, farbloser, ohne siidlichen Zauber bis auf die Neger und die Spahis, die den Hafen bevolkern. Auf dem Hiigel liegt Notre Dame de la Garde und unten dehnt sich die Joliette. Man wahnt sich in Afrika, so bunt ist das Getriebe. Etwas seelisch Ungesundes durchzieht die Stadt; niichtern stehen kahle Baume zwischen grauen Bauten. Das war fiir mich als deutsche Schriftstellerin ein streng verbotenes Gebiet, aber was man nicht weiB, macht bekannt- lich nicht heiB und mein S H S - PaB verlieh mir eine unschul- dige Farbe. Es wurde mitgeteilt, daB jeder, der da wollte, ans Land durfte. Im nachsten Augenblick schon waren meine un- wiirdigen FiiBe auf meines politischen Feindes nicht einwand- freiem Pflaster, ich streifte Araber im Burnus, Neger, Ueber- seesoldaten, Japaner, Chinesen und gar viele Franzosen, die noch siegestrunken einherschritten. Die Frauen auf dem Markt und in den Geschaften waren nett. Sie klagten genau wie die Besiegten um gefallene Sohne und gefallenes Geld. Vor den Kaffeehausern war das Treiben am lebhaftesten. Da saBen unter etwas frostgebissenen Oleandern die ver- schiedenen Zecher der verschiedensten Farben und Lander, tranken Absinth oder schwarzen Kaffee, erzahlten sich die wichtigen Nichtigkeiten des Alltags, die alle Menschen, wie Wasser einen Sehwamm, erfiillen und hatten im Herzen, hinter dem Seelenvorhang, das Leid hochgestapelt, doch nur in alteren Frauengesichtern merkte man den Abglanz davon. Am Abend saB ich auf dem „Bologna“, spahte hinaus auf den Golf von Lyon und verspeiste das einfache Nachtmahl — Reissuppe mit Kartoffelsauce und Fleischstiickchen — auf dem Taupfeiler sitzend. Man gab uns dieses Henkersmahl zwei Stunden friiher, denn sobald wir ausfuhren, wiirden die Frauen 26 nicht mehr lachen, sondern Niagara spielen; ich aber wiirde steif auf dem Riicken liegen wie ein toter Fisch und an meme kiinftigen Lorbeerreiser denken. Warum sich fiirchten? Alles hat ein Ende und nur die Wurst zwei. Neben mir auf dem ungewaschenen Deck kauerte die arme italienische Auswandererin, die immer seekrank war, ob wir standen oder fuhren, und die drei Kinder, eins neben sich, eins an der eingetrockneten Brust und eins unterwegs hatte . . . . Barcelona. Wenn man sich der Kiiste nahert, sieht man den Hugel Montjuich zur Rechten, in dessen Festung der ungliickliche Ferrier erschossen wurde. Auch Barcelona liegt wie Marseille und Genua zu FiiBen ansteigender Hugel oder Berge, dennoch sind die Stadte grundverschieden voneinander: Genua ist prunk- voll, siidlich, warm; Marseille ein bewegter Hafen, kiihl, dunst- voll, farblos, ohne Palmenschmuck; Barcelona ist ernster als Genua, fremdartiger, von herber Siidlichkeit. Um aufrichtig zu sein, bei allem Verkehr etwas verschlafen. Die Amerikadampfer landen vor dem sogenannten See- bahnhof, der von Soldaten bewacht wird und den niemand ohne PaB verlassen darf. Als ich mich dem Ausgang naherte, klappten mehrere Wesen mannlichen Geschlechts derart stramm vor mir zusammen, indem sie einen seltsamen Laut aus- stieBen, daB ich ganz bestiirzt zuriickfuhr. Da winkte einer wie ein GroBherzog bei einem Hoffest, und hieB mich, indem er mir in Worten Hande und FiiBe kiiBte, mutig durchgehen. Da man bei uns in Oesterreich hochstans die Hande kiiBt, war ich vom FuBkuB besonders ergriffen . . . Durch eine lange Palmenallee gelangte man zum pracht- vollen Zollamt und zur Christoph - Columbus - Statue — einer hohen Saule, an deren auBerster Spitze der Entdecker mit aus- gestreckter Hand nach Westen zeigt, und auf deren Sockel man schone Reliefbilder aus dem Leben jener Zeit sehen konnte. Rund um das Denkmal kauern Lowen mit so hochmiitigen Ge- sichtern, als hatten sie selbst Amerika entdeckt. Im Gegensatz zu den GaBchen Genuas fand ich die StraBen Barcelonas auffallend weit, zu beiden Seiten mit baumbegrenz- ten FuBsteigen, am schonsten gegen das Stadtviertel Garcia zu. In der engeren Altstadt verschonten blumenverzierte Balkone die Hauser und hier sah ich zum erstenmal die hohen Buden, in denen ein Mann wie auf einem Thronsessel saB, ein Gesicht rnachte, wie Ferdinand, als er Columbus empfing, und sich — die Stiefel putzen lieB! Der Diener kauerte demiitig zu FiiBen, und das nachste Opfer wartete geduldig auf dem Nachbarthron- sessel. 27 Als ob ich ins Mittelalter gefallen, schienen mir die win- zigen Buden, in denen der Briefschreiber seines Amtes waltete und eben einem andalusischen Bauern einen Brief zusammen- stellte. Daraus schloB ich, daB es in Spanien noch viele des Schreibens unkundige Leute geben muBte. In der Domkirche ruhen die Gebeine der heiligen Eulalia, doch da ich keine Mantilla hatte und ein Kirchenbesuch ohne solch ein schwarzes Umhangtuch verboten ist, konnte ich der Heiligen nicht einmal meine Aufwartung machen. In den Auslagen der Geschafte fielen mir besonders die bunten Castanetas Oder Handtrommeln auf, die samtlich Bilder aus Stiergefechten trugen, und als nachmittags ein solches Ge- fecht stattfand, beobachtete ich die schonen Spanierinnen, die mit der vorgeschriebenen Haltung, das bunte Tuch umgeworfen, Blumen in der Hand und am Busen (dort keine leere Bezeich- nung!) den Facher kampfbereit (man kann damit alles aus- driicken, was das Herz bewegt) und die Augen zur Liebe einge- stellt der Arena zuschritten. Selbst dem Schauspiel beiwohnen wollte ich nicht. Zuletzt fragte ich einen Dienstmann nach einem Brief- kasten; denn ich bemerkte nirgends diese niitzliche Vorrichtung. Da zeigte er mir die Elektrische und hinten ein Kastchen. Ich stiirzte darauf los und sah den Brief verschwinden, gerade als der Wagen den Abschiedsruck machte. Andere Lander, andere Sitten. Auf des Apostels Rappen erreichte ich den Hafen. Erspart ist so viel, wie verdient. Gibraltar. Das Schiff und der Magen hoben und senkten sich fort- wahrend. Ein durchdringender Regen fegte iiber das Schiff hin. Tagsiiber darf man nicht unten in der Kabine sein. Ich driickte mich in eine offengelassene Nische. Mein Husten wurde zum Bellen. Ein Haifisch hielt Ausschau, aber nicht nach mir. Mir fehlen die ersehnten Rundungen. Eine Schildkrote schwamm mit dem Bauch nach oben — ein hilfloser Zustand; die Wellen des Schiffs warfen sie zuriick in die richtige Lage. Hinter uns her kamen kreischend die Mowen. In der Feme schimmerte die Sierra Nevada, hinter der angeblich die Wiege des spanischen Volkes zu suchen ist, — das schone, fruchtbare Andalusien. Am Abend achzt das Tauwerk. Wie Rauch aus Wotans Pfeife ziehen Schatten iiber den Mond und lassen sein Licht nur durch schwarzgraue Schleier auf das nachtliche Meer fallen. Schiffe nahern sich, lauten warnend die Glocke, pfeifen. Wir antworten, und jedes verschwindet in entgegengesetzter Richtung. So gleiten Menschenseelen aneinander voriiber. 28 Noch vor Sonnenaufgang fuhren wir auf Gibraltar zu, und als das Licht des bewolkten Tages endlich auf die beruhigten Fluten fiel, lag der steile Fels, der jah ins Meer abfallt und als Riesenopferstein dienen konnte, der aber als Lowe gilt, dicht vor uns. Wie verschreckt lagen die kleinen, blendend weiBen Hauser zu FiiBen des schwarzgrauen Wachters, und meilenweit iiber das Meer verstreut trieben Fischerboote, Barken aller Art, fremde Handels- und Kriegsschiffe. In weiter Feme, unendlich grim, unendlich sonnegebadet und still, zeigte sich schon die afrikanische Kiiste. Die Bauten waren auffallend langgestreckt, blendend weiB, niedrig; die Fenster glichen schmalen, schwarzen Einschnitten, die Dacher schimmerten rotlich und beinahe flach. Etwas Stilles, Trauriges hielt die Landschaft in ihrem Bann. Ans Land darf man nicht. Gibraltar war selbst in Frie- denszeiten geheiligter Boden, den nur politisch Auserwahlte betreten durften, doch entschadigten mich die Handler fur diesen bitteren Freiheitsverlust. Sie brachten Datteln frisch von den Palmen, Niisse, Zitronen, Apfelsinen und Feigen. Zuerst flog immer eine Schnur auf Deck, an der ein Bastkorbchen hoch- gezogen wurde; hierauf wurde das Geld hinabgeleiort, und end¬ lich zog man den Einkauf nach oben. Neben uns ankerte ein Kohlenschiff. Eine Dampfbarkasse schleppte zwei Leichter im Tau, und sofort sprangen hundert schwarze Arbeiter wie Affen aufs Schiff und balgten sich um die Schaufeln, fiillten Korbe, leerten sie in die Leichter, schrien, tobten, iiberkugelten sich, arbeiteten wie die Wilden, aber machten den Kohlenhaufen schwinden, als ob ein Riese ihn an- gebissen hatte. Die Mowen umkreisten unser Schiff, warfen sich kreischend auf die Fluten und schlugen mit den schwarzen Fliigeln. Dunkle Wolken loschten alles Licht aus. Leb’ wohl, Europa! An der Kiiste Afrikas. Es dammerte schon. Feine Nebel verhinderten bald jeden Ausblick. Das Schiff rollte grauenhaft. Man sah die Rauchfange eines nahen Schiffes verschwinden und hochschieBen. Frauen schrien, Kin¬ der heulten, von den Tischen sausten die Schiisseln und von den Tellern der Essenden die Speisen. Gliicklicherweise gab es Stockfisch an jenem Abend, und den warfen wir sowieso immer ins Meer hinab. Warum den armen Fisch nach oben bringen? Im gekochten Zustand macht ihm der Aufenthalt in seinem Reich doch keinen SpaB mehr! Und wer mag Stockfisch? Nie- niand, den ich in meinem Leben kennen gelernt habe. 29 Als uns die Kiiste Europas zum letzten Mai mit ihrem Leuchtturm zugeblinzelt hatte, empfing uns Neptun mit Donner und Blitz und wusch das Deck vom Staube der alten Welt rein, doch am folgenden Morgen schimmerte das Meer tiefblau und Delphine umspielten das Schiff. Sie treiben immer in Schulen und schlagen ganz komische Purzelbaume. Die Matrosen be- haupten, dafi sie einen Ertrinkenden dem Lande zustoBen, wenn es nickt allzu weit weg liegt. Allmahlich waren mir meine Mitreisenden vertrauter ge- worden. Ein netter Gipsarbeiter, der seine Figiirchen friiher nach Deutschland getragen hatte, wanderte mit seinem zwolfjahrigen Jungen nach Venezuela aus. Der neapolitanische Haarschnei- der mit seiner Lockenmahne wollte nun Indianerkopfe ent- haaren, und ein beriihmter Zuckerbacker ging nach Riobamba in Ecuador, wo man schon nach seinen Zuckerkipfeln lechzte. Er kannte das Land von Arica bis Caracas, und seine Weisheit riB ich auf alle mogliche Weise ans Tageslicht. Bedeutend vor- nehmer, sehr stolz auf sein Wissen, war der kleine Advokat, der nach Bolivien zu einem Bruder reiste und der seinen Kren zu jeder Weisheitswurst der iibrigen gab. Die junge Hochzeits- reisende drehte sich jeden Abend die Locken, es mochte See- gang sein Oder nicht, und ihr Mann brachte ihr, wie alle anderen gehorsamen Gatten, friih am Morgen Kaffee und Brotchen. Wenn ich am kranken WalroB nicht leicht vorbeikletterte, weil es dem Meergott ein Opfer brachte, schleppte der Gatte einer anderen meine Brotchen herbei. Nun hatte ich doch zu essen ohne weitere Verpflichtungen. Die Gattinnen muBten fiir diese kleinen Liebesdienste spater schmutzige Hemden und Hosen waschen. Das Leben gibt uns fortwahrend Bilder mit Spriichen, aus denen wir, wenn wir nicht so auraversponnen waren, gar tiefe, uns helfende Weisheit schopfen konnten; doch wir verstehen nur zu schauen, selten zu lesen. In meiner ersten Kabine, bei den Araberinnen, lag auch die Frau eines echten Peruaners. An- statt nach den Baumen des Landes, den Altertiimern der Inkas und den Sitten der hohen Anden zu forschen, hatte ich gut daran getan, mir dieses peruanische Exemplar im Licht der Warnung und nicht der Belustigung anzuschauen, dann ware ich wohl an den Altertiimern der Inkas vorbeigefahren. So aber bewun- derte ich europaisches Erzganslein die rotbraune Hautfarbe, die schwermiitigen Augen im langlichen Gesicht, die seltsamen Redewendungen und nannte ihn den interessantesten Fahrgast. Seine Gattin von Gottes Gnaden sprach drei Sprachen — deutsch, kroatisch und italienisch und alle drei gleich schlecht. Sie klammerte sich als Landsmannin an mich, und so erfuhr ich, dafi sie in einer Seemannskneipe die braune Herrlichkeit 30 entdeckt und ihm ihr jungfrauliches Herz, das schon starK lm SchuB war, geschenkt hatte. Alles was sie besessen — es war nicht viel — hatte sie ihm gegeben, und er hatte sie dafiir zum Altar und von da weg aufs Schiff gefiihrt. Man hatte ihm namlich nahegelegt, in seine feme Heimat zuriickzukehren, und die junge Braut (aber alte Frau) befriedigte nun ihre Reisesehn- sucht und wanderte mit aus. Sie hatten keine Koffer (grofie Erleichterung) und nur zwei Kleider: Eins am Leibe und eins noch in Packpapier. Jede Nacht stieg er — obschon es nach zehn Uhr verboten war — in die Kabine hinab und verpriigelte sie im Bett, bis sie gelb und blau war und fiirchterlich schrie. Eines Tages fragte ich sie nach dem Grunde dieser ehelichen Massage, und da er- klarte sie, daB ihm der Schiffskase, den er fiir leichte Hilfelei- stungen erhalten habe, schade. Warum? Weil er das Blut zu sehr erhitzte. Er priigelte sie, weil sie nicht aufs Deck wollte, um seine Liebeslust zu befriedigen. Nachdem derartige Sachen, selbst wenn das Deck leer gewesen ware, streng untersagt und die Geschlechter wie mit einem feurigen Schwert getrennt waren, durfte er ihr die keusche Zuriickhaltung nicht iibelnehmen. Bei ihrem Aussehen und Alter schien uns das Vorgehen des Rotbraunen an tiefsten Wahnsinn grenzend. Ich lachte, an- statt mir zu sagen: „Das sind die Nachkommen der Kinder der Sonne! Mach’ einen weiten Bogen um sie!“ Einige Reichsdeutsche befanden sich ebenfalls an Bord. Nun denke ich allzeit, daB nicht nur ich als verriickter Colum¬ bus ins Blaue gefahren, sondern weisere und bessere Leute als ich. Da wanderte ein Hamburger Kaufmann aus, der erst unterwegs Spanisch lernte, der nicht ein Wort fiber Tropen- hygiene wuBte und der den Koffer, in dem er und seine Frau die Wasche verpackt hatten, ins Schiffinnerste gesteckt hatte, so daB sie drei Wochen lang weder Kleid noch Wasche wechseln konnten. Hochst unpraktische, sonst aber reizende Menschen. Die arme Frau war immer seekrank, und ich rief ihr — da sie nur deutsch verstand — aus meiner Betthohe Trost zu. Ihr Gatte war meist griiner als sie, nur Martin, der Junge, tollte unbekiimmert. AuBer ihnen wanderte ein junger Hamburger nach Valpa¬ raiso und ein danischer Botaniker nach Columbien aus. Er war mit dem Tropenleben schon vertraut und wurde allmahlich mein Berater. Wir bildeten in einer Ecke die deutsche Gruppe. Ich war die einzige Reisende, die alle Gruppen besuchte, weil ich die Sprachen verstand, und erst spater wuBte ich so ganz, wie sehr mich alle Leute verwohnt und verhatschelt hatten. Vom neapolitanischen Haarschneider, der mit seinen Locken das Deck fegte und dessen Vetter Koch in der Ersten war, erhielt ich 31 Leckerbissen, von anderen Niisse, vom Infermiere Obst, vom Backer Brotchen, von meinen Tischgenossen Bedienung und von alien Liebe, deshalb ist mir der „Bologna“ bei allem Grauen in so schoner Erinnerung geblieben. So reizend wie auf diesem italienischen Schiff war man nirgends mehr gegen mich . . . . Damals saB ich auf dem Taupfeiler, die Welt zu Fiifien, den Mut ungestutzt, den Willen ungebrochen, zukunftsblind. Santa Cruz de Teneriffa. Langgezogene Bergketten aus rotbraunem Gestein, gar seltsam zerkliiftet, vom moosgriinen Unterholz und vom Hell- griin der riesigen Euphorbien unterbrochen, die mit ihren Blatt- biischeln die Abhange in festen Gruppen bedecken. In der Bucht, eingebettet zwischen Hiigeln, liegt die kleine Stadt Santa Cruz, halb im spanischen, halb im maurischen Stil erbaut und irgend- wie schon von der Hitze und der Schwermut Afrikas ange- haucht. Der gute „Bologna“ blieb weit drauBen liegen und eine Dampfbarkasse holte uns an Land. Ich durchstreifte allein die gewundenen Gassen. Man be- obachtet besser, wenn man unabhangig vorgeht. Die meisten Reisenden besuchen nur Gasthauser und Markthallen. Wah- rend ich dahinpendelte, argerte ich mich iiber die gelbbraunen Teneriffer, die auf ihren Eseln ritten, unbekiimmert um die Frau, die einige Schritte hinterdrein die Lasten trug. Immer trugen die Manner lose Schlappschuhe aus braunem Leder, immer hatten die Frauen iiber ein weites Tuch noch einen Strohhut auf; immer trabten sie gehorsam hinter dem Ehe- gatten her. Die Hauser hatten oft vorspringende Erker und Balkone; die schlafrigen Geschafte standen weit offen, warteten auf Kunden wie Frosche auf Fliegen — mit offenem Maul. Die Gassen gegen die Hiigel zu waren stark gewunden, fast tor- los, blaulich oder lila gestrichen, bestanden fast nur aus Mauern, iiber die sich hie und da ein prachtvolles, tiefviolettes Bliitengewirr warf. Das war meine erste Erfahrung von der prachtigen Bougainvillia. Dann — als ich iiber mehrere Erhebungen geklettert war, stand ich im Vorstadtgebiet und betrachtete zum erstenmal eine Bananenpflanzung. Die Blatter waren voll und dicht, doch vom Winde stark zerzaust, und die Riesenfrucht lieB mich an- dachtig stehen bleiben. Das war der Vorgeschmack der Tropen. In den Garten waren unsere kiimmerlichen Zierpflanzen zu starken Strauchern geworden; der Pfefferstrauch mit seinen gefiederten Blattern und mattbraunroten Beeren nickte iiber ein Drahtgitter hinweg, und Rosen gliihten in den Hofen mau- 32 rischer Leute, die das Tor nach einem Augenblick neidisch schlossen. Solche Hauser waren nach der StraBe zu fensterlos und wirkten geheimnisvoll und abweisend. Im reiBenden Bach tummelten sich die Kinder und schrien laut um Kupfermiinzen; splitternackt liefen sie hinter mir drein. Ich schenkte einem ein osterreichisches Zweihellerstuck. Wenn keinen anderen, so hatte es Sammelwert. Jenseits der Stadt wohnen die Leute wie Hohlenbewohner. Die Vorderwand des Hauses ist aus Ziegeln oder Steinen, das Dach und die Hinterwand der Fels selbst. Winzige Fensterchen gestatten einen geringen Ausblick. Gekocht wird meist jen¬ seits der StraBe auf einem Holzkohlenherd. Diese Frauen mit ihrem schmalkrempigen, komisch nach unten gebogenen Strohhut iiber dem Tuch, die Manner in einem Gewand, das ein pensioniertes Nachthemd zu sein schien, die nackte Menschenbrut unter den breitkronigen Drachenblut- baumen — das alles bezauberte mich derart, daB ich Zeit und Ort vergaB, bis ich den dreimaligen Schrei der „Bologna“ ver- nahm und mich nicht nur fern vom Schiff, sondern selbst fern vom Landungsplatz der rettenden Dampfbarkasse befand. Und von hier an landete die olle Kiste nirgends vor Amerika! So gelaufen bin ich in meinem ganzen Leben nicht. Blau- violett vor Anstrengung sauste ich dem Hafen zu, fiel dem Be- amten in die Arme, stohnte: „Boot — Bologna" und fand nur ein Lacheln. „Das Schiff fahrt erst um sechs!“ trostete er meine pustende, schweiBtriefende Wenigkeit, „es hat nur um die weitere Ladung gepfiffen!" Das lehrte mich, in Zukunft immer darauf zu achten, welche Abfahrtstunde vorn auf der schwarzen Schiffstafel stand. Vor dieser Zeit darf der Dampfer namlich nicht abfahren. Indessen hatten wir noch ein Abenteuer in Santa Cruz. Wir hatten in einem der Hafen sehr viel Schwefel geladen, und den Mannern des Zwischendecks war das Rauchen streng ver- boten worden; wie es geschehen, vermochte niemand zu sagen, aber plotzlich stand der eine Leichter, der voll von Schwefel- sacken war und eben landwarts geschickt werden sollte, in Flammen. Auf unserem Deck lag eine Menge noch auszu- schiffenden Schwefels. Himmel, wie der alte Kasten jammer - pfiff! Der Leichter stieB indessen noch rechtzeitig ab, und der Dampfer war gerettet. Den ganzen Tag hindurch hatten bei allem Sonnenschein die Wolken eine graue Krone um den beriihmten Pik von Tene- riffa gebildet und ich fiirchtete schon, ihn nie kennen zu lernen — da, als wir eben von der Insel wegdampften, wich dieWol- kenlast, und im vollen Mondlicht, in seiner schneeigen WeiBe 3 und spitz wie ein Zuckerhut lag der Berg vor uns. Man sieht ihn auf dreiBig Seemeilen Entfernung. In der leuchtenden Nacht ahnte man Las Palmas und andere der Kanarischen Inseln, dann hielten wir genau die Richtung ein, die im Jahre 1492 der arme Columbus genommen haben soil, und wie damals war der Wind stets genau hinter uns und trieb uns einer neuen Welt entgegen. Zehn Tage lang wiirden wir nun fahren, ohne jemals anderes zu sehen als Himmel und Wasser. Erst hinter Tenerifta begriff ich, daB ich der Heimat auf, weiB Gott wie lange, den Riicken gekehrt hatte. Der Sturm im Atlantik. Das Meer hatte einen sonderbar violettblauen Ton. Das Schiff rollte unmerklich. Ich saB im geborgten Deckstuhl, weg vom Taupfeiler, und stellte philosophische Betrachtungen iiber meine Mitmenschen an. DaB ich sie nicht zu Papier brachte, war dem Umstand zuzuschreiben, daB es eben zwei geschlagen hatte. Wohl erfolgte die Fiitterung der Zwischendecker schon um zehn Uhr vormittags, aber die vornehmere Zweite hatte sich eben erst satt gegessen, und viele Reisende lagen im Deck¬ stuhl und schliefen, die Augen zu, den Mund offen, leise, be- kannte Sagewerksgerausche ausstoBend. Ihr Anblick bestarkte mich im EntschluB, nie coram publico einzuschlafen. Es ist nicht der Augenblick, in dem unser Geist oder unser Liebreiz (w e n n wir solche Sachen besitzen!) am klarsten ans Tages- licht treten. Mitten in diese Gedanken hinein brach ein tosendes Ge- rausch; ohne Warnung schlug eine wahre Riesenwelle seitlich iiber das Boot, und das kalte Salzwasser schlug den Schlafern in den offenen Mund. Sie erwachten gurgelnd, spuckcnd, sich windend. Wahrend ich mich noch unwiirdiger Schadenfreude hingab, ereilte mich die gerechte Strafe. Eine zweite, viel hohere Welle brach iiber uns herein, ergriff meinen Deckstuhl und trieb mich samt ihm zur Reeling. Eine feste Hand erhaschte mich am Arm, sonst ware ich im Atlantik verschwunden und dieses Buch nie geschrieben worden. Dem jungen Martin war es fast ebenso gegangen, und zu aller Seekrankheit kam bei Frau 0. nun noch die Seelenangst um das Kind. Sie wurde ohnmachtig und man schleppte sie in den Speisesaal der Zweiten, denn ein Kreuzen des Decks war unmoglich geworden. Mich riB mein Better ebenfalls hinein, und als ich bemerkte, wie alle Frauen sich weinend oder schreiend an die Brust eines Mannes warfen, um da ungestort ohnmachtig werden zu konnen, iiberlegte auch ich mir, an wessen Brust ich mich werfen sollte, erinnerte mich 34 indessen an den Umstand, daB sich meine Tasche mit Geld und PaB auch mit an einen Busen werfen wiirde, wenn ich erst in Ohnmacht lag, und daher hielt ich mich lieber am Treppen- gelander test und rief meine Columbustraume wach. Die Wellen gingen immer hoher, das Schiff hatte den Veits- tanz. Ein dicker Mann versuchte den Abstieg, verlor das Gleichgewicht, stolperte nieder und erhaschte im Fall meinen Arm. Ihr Gdtter! Das wirkte besser als zehn Riechsalzflaschen, denn der Schmerz raubte mir die Sprache. Als ich den dicken Mann verloren und die Zunge wiedergefunden hatte, rief man mich zum deutschen Ehepaar, das griin wie ein verblaBter Papagei war und mich ununterbrochen fragte: „Wird das Schiff untergehen?" Das wuBte ich allerdings nicht besser als die anderen, be- teuerte indessen mit einer Sicherheit, als ware ich Kapitan, daB solche Stiirme so alltaglich wie Lause in einem Polenpelz seien, und redete der armen Frau so gut zu, daB sie sich be- ruhigte und ich das Kranksein vergaB. Als es gegen fiinf Uhr ein wenig ruhiger wurde und uns Matrosen zuriick zur Dritten fiihrten, schenkte mir Enrique, der Kellner, einen groBen Apfel zum Zeichen seiner Aner- kennung. Zwei Tage und zwei Nachte dauerte der Sturm, und derart rollte der arme Dampfer, daB nichts gekocht werden konnte. Man brachte mir trockenes Brot und Kase oder Fisch. Mein Korper war wie geradert, umsomehr als ich meiner heiBgelieb- ten Erika halber nie die Beine ausstrecken durfte, sondern ent- weder zum lateinischen S werden muBte oder die FiiBe wie Opferstocke nach oben streckte, sobald ich mich auf dem Bauch zurechtgebettet hatte. Das WalroB riet mir immer, mich gegen die Bettseiten zu stemmen. Da ich aber nicht fiber die notige Fiille verfiigte, wurde ich gerollt, bis mir Horen und Sehen vergingen. Seit- her habe ich fiir den Herrn Atlantik nichts iibrig gehabt. Am dritten Tage drehte sich die junge Galapagosfahrerin wieder die Lockchen, und ich kletterte am WalroB vorbei hin- ab und ins Freie. Der Backer schenkte mir ein Extrabrotchen, und der dicke Koch lachte. Selbst der Advokat bot mir seinen Deckstuhl an; einzig der Peruaner mit den schwermiitigen Augen verprugelte seine Frau arger als zuvor, denn nun aB er Kase nach und litt an stiirmischeren Liebeswellen . . . Auf Deck spannte man das Zeltdach; alle erschienen auf einmal in lichten Gewandern, und ehe man es wuBte, wurde der feer in den Fugen der Deckplanken weich. Man naherte sich den Tropen. 3 * 35 Abends bildete sich ein Kreis um mich — allzeit von Man- nern, denn fur die bekinderten Frauen hatte ich wenig Inter- esse — und da verspeisten wir die Zuckersachen des Vetters vom Neapolitaner, der ausgestreckt zu meinen FiiBen lag und Liebeslieder sang; da erzahlten die Leute von friiheren Fahrten, von erlebten Gefahren, von Hoffnungen fiir die Zukunft. Durch das Takelwerk spahte der Mond, und die Sterne flimmerten. Das Meer lispelte und raunte, jemand spielte auf einer Zieh- harmonika, und man war der Heimat so nahe und doch so fern. Wir alle wollten eine neue Zukunft aufbauen, und nun weiB ich, daB sie alle zu mir aufschauten und mich hatschelten, weii ich so schwach und so klein, so blind und so mutig gewesen. Erst nach vielen Monaten erfuhr ich, wie tief sie mich beklag- ten — und dennoch sprach von alien diesen Mannern nicht einer ein Warnungswort . . . Der groBe Bar stand nicht langer im Westen, sondern im Norden und sank tiefer und tiefer. Andere, neue Sternbilder traten in den Vordergrund. Und Tag auf Tag sahen wir nichts als Himmel und Wasser, bis endlich am zehnten Abend Vogel das Schifi umkreisten und Holzer dem Schiff entgegentrieben. Da jubelten wir wie einst Columbus, denn nun wuBten wir: Vor uns liegt Land. Ganz feierlich war es mir zu Mute, als ich mich zur Ruhe legte. 36 Amerika. Barbados, West-Indien. -ttin donnergleicher Schnarcher des Walrosses weckle mich, and gleich darauf hatte ich den zweiten Schreck: Wir ankerten im Morgendammern vor fremder Kiiste, und kleine Boote um- schwarmten den „Bologna“. Fiinf Minuten spater sauste ich auf Deck. Oben wartete schon der danische Botaniker und wir verhandelten sofort mit „Konig Dixie“, uns ans Land zu brin- gen. Vorsichtig kletterten wir die Schiffsleiter hinab, wahrend unsere Mitreisenden in Kaffeegeniissen schwelgten. Wir woll- ten Flora und Fauna studieren und die „Allgemeinheit“ ab- streifen. Der Hafen von Queenstown ist so winzig, daB nur Segel- schiffe einlaufen konnen und zwei vor der Einfahrt gescheiterte Schiffe legten Zeugnis davon ab, wie sehr die Insel von Stiir- xnen heimgesucht wird, ist sie doch die erste, die dem Atlantik im Osten neuerdings Widerstand bietet. Der schwarze Schutzmann in wei!3er Uniform griiBte ganz militarisch, als wir vorbeischritten, und Herr G. entledigte sich mit bewundernswerter Gewandtheit der vielen kleinen Neger- lein, die samtlich einige Kupferstiicke haben wollten und die bereit waren, uns iiberallhin zu fiihren und weiB der Himmel was alles fiir uns zu tun. Schon auf dem ersten freien Platze, auf dem das Nelson- monument errichtet war, sahen wir Tropenfriichte, besonders Zuckerrohr, doch da wir kein englisches Geld hatten, begniigten wir uns mit dem Anblick der Biindel. Alles begeisterte mich — die schwarzen Wagelchen mit Dach, aber ohne Seitenwande, die schwarzen Kutscher unter lichtbraunem Riesensonnen- schirm; die netten Negerbauten aus graubraunem Holz, deren Fenster wie Klappen in einer Mausefalle auf- und zuflogen und aus denen sich von Zeit zu Zeit ein Negerkopf schob, um uns grinsend einen guten Morgen zu wtinschen; die dicken Neger- frauen in weiBen, straff gestarkten Kleidern und die fast un- bekleidete Jugend. Die englischen Villen standen samtlich in einem herrlich gepflegten Garten und waren vorwiegend einstockig, sehr luftig gebaut und von hohen, fremdartigen Tropenbaumen beschattet. 37 Eine lange Allee von Konigspalmen nahm uns auf und fiihrte uns hinaus ins Freie. In diesem Augenblick fiihlte ic’n mich fiir alle Leiden bezahlt, denn ich sah zum erstenmal die echten Tropen mit ihrer blendenden Pracht, dem Zauber des Ungewohnten, der driickenden Warme, ohne die Schattenseiten auch nur zu ahnen. So geht es gar vielen Reisenden, die durch das malerische Aequatorialgebiet einfach durch reisen. Herrn G.’s Warnungen, kein Wasser zu trinken, dies Oder das nicht anzuriihren, ein Tuch iiber den Nacken zu binden, nicht ins hohe Gras zu steigen und so weiter, erhohten nur den Reiz des Neuen. Selbst die Gefahren wurden zu Freuden .... Wir erreichten das Meer. Vor uns lagen die Schatze der Tropensee, eine Unzahl von Muscheln und Korallen, von komi- schen Krabben und seltsamen Versteinerungen. Wenn Herr G. mir nicht einfach alle aus der Hand genommen und sie weg- geworfen hatte, wiirde ich mit einem ganzen Steinhaufen herum- gelaufen sein, so entziickt war ich von diesen unbeschreiblichen Gebilden. Wo die Korallen aus dem Wasser schimmerten, wirkte es lichtgriin und wurde erst spater tiefblau, und das grelle WeiB des Strandes mit diesem Grim und Blau bildete eine Farbenharmonie, wie ich sie nur selten geschaut. Mein Gefahrte erklarte die Namen der Baume, der Vogel, der Pflanzen, untersuchte das Gestein, forschte nach Wiirmern und Insekten. Ich lernte da an einem Tage, was ich sonst wohl kaum in Monaten erfahren hatte. Mit steigender Begeisterung gingen wir tiefer ins Land hinein. Auf dem alten Friedhof sahen wir die ersten Kolibris. Win- zig wie groBe Hirschkafer wippten sie sich am auBersten Ende eines breiten Tropengrashalms und wirkten ganz schwarz, bis eine jahe Bewegung das Gefieder aufleuchten machte. Dann schimmerten sie rot, grim, blau, gelb an den verschiedenen Korperteilchen und wechselten bei jeder Bewegung und Be- leuchtung. Ein Negerlein erbot sich, einen zu fangen, und wurde schlimm hergenommen. Das ist von der Regierung streng verboten. Man bestraft das Tbten dieser und anderer Vogel (es gibt auch weiBe und blaue Reiher) mit dreiBig Tagen Gefangnis. Bemerkenswert sind die Ruderschwanze und die wilden Tauben, die braun sind und schwarzgeranderte Fliigel haben. Die weiBumrandeten Augen der Ruderschwanze wirken wie dickknopfige weiBe Stecknadeln im dunklen Gefieder; der Schwanz ist immer einseitig gesenkt. Nun waren wir mitten in einer Zuckerpflanzung und beide ganz arm. Herr G. meinte, daB der Diebstahl eines kurzen Rohres niemand armer, mich aber um Wissen viel reicher machen wiirde, und so holte er eins, das wir in Stiicke schnitten und wissensdurstig kauten. Es schmeckte siiBlich, eher lang- 38 weilig als nicht und ist, bis auf zwei oder drei spatere Ver- suche, das einzige Rohr geblieben, das je mit meinen Zahnen Bekanntschaft machte. Wenn ich schon so lange an einer zahen Sache herumbeiBen soil, muB sie wenigstens besser schmecken. Sonst ist sie einfach Kaugummi zur Kiefermassage. Damals aber brachte ich noch einige Begeisterung auf, und mitten in unser siindiges Frohlocken kam die Strafe. Aus heiterem Himmel (jedenfalls war das jahe Aufsteigen derWol- ken uns entgangen) stiirzte ein TropenguB herab, der uns, ob- schon wir sofort unter das iibermannshohe Zuckerrohr fliichte- ten, in wenigen Minuten bis auf die Haut durchnaBte. Dann blies der Wind die Wolken davon, und die heiBe Tropensonne trocknete zwei weiBe Jammergestalten. Ich entdeckte im Lauf der Wanderungen einen schonen, etwas an unsere Akazien erinnernden Baum, mit noch viel zarter gefiederten Blattchen und daran eine Frucht. Herr G. erkannte ihn als Tamarinde, und bald aBen wir das braune Fleisch aus brauner, leicht zu zerbrechender Schote. Es schmeckte sauerlich suB, und ich stopfte nach Herzenslust, bis mein Begleiter sagte: „Mein Fraulein, die Tamarinde hat medizinischen Wert! Wenn Sie nicht hinter jedem Busch verschwinden wollen_“ Ein Wort geniigt dem Weisen. Ich warf den Rest der Schoten fort. Am Abend kamen wir zu einem Feld mit einer Kuh. Nichts Erschiitterndes an diesem Umstand, aber Herr G. klopfte ihr plotzlich auf die auBerste Verlangerung und nannte sie „alte Dame“. Ob sie daran AnstoB fand oder Vertraulichkeiten nicht mochte, bleibt dahingestellt. Jedenfalls drehte sie sich um, er- haschte Herrn G. bei der Hose und warf ihn in die Luft. Es ge- schah ihm nichts, denn er flog aufs Gras, aber ich kam in den Geruch des Heldentums — ungerechterweise, da die Kuh ange- bunden war — weil ich trotzdem an ihr vorbeiging. Todmiide kehrte ich heim und dennoch iiberbefriedigt. Ich hatte die erste Tropenweihe empfangen. So mochte Columbus gefiihlt haben, als sich ihm, so nahe von Barbados, eine neue Welt aufgetan. Ich bereute kein Opfer. Lernen wollte' ich, schreiben, malen, das erlebte Wunder in jeder Weise anderen mitteilen. Noch einmal fiihlte ich, als ob es mir vergonnt sein wiirde, die Welt aus den Angeln zu heben. Ich schaukelte auf dem Taupfeiler, den Blechsuppenteller in der Hand, und mir zu FiiBen lagen die gehorsamen Untertanen. 0 Bologna, Bologna! 39 Trinidad. Auf jeder Reise kann man merken, wie sich der geistige Horizont weitet, wie er wachst und man selbst mit ihm. In so fremden Gebieten ist das Wachstum fast schmerzlich; denn es geht allzu schnell vor sich, erschiittert sogar korperlich durch die Fiille der Eindriicke, verbunden mit neuer Umgebung. Wir glitten in den Orinoco. Er kam aus den unerforschten Hohen, kannte die innersten Geheimnisse Venezuelas, hatte an seinen Ufern einst Manner wie Walter Raleigh gesehen und rieb seine Wasser an der bitteren Cinchonarinde. Nun stieBen wir, zwanzig Meilen von seiner Miindung entfernt, hier auf ihn, und noch war er suB, unbeeinfluBt vom Meer, voll Holzern, die er sich als Herr mit- genommen, Schlangen, Tierleichen, allerlei Graserwerk in den Atlantik hinausschwemmend. Er war voll Medusen, die wie unzahlige Tennisballe aus den griinen Wassern schimmerten, und deren Beriihrung Badenden einen heftigen Schmerz ver- ursacht. Ueber das Schiff flogen die Fregattenvogel mit ihrem lan- gen schwarzen Leib dem „Port of Spain" zu. So nahe die Inseln voneinanderliegen, so verschieden sind sie. Barbados ist bei- nahe flach, hat hochstens Hiigelchen; Trinidad ist eine bergige, sehr ausgedehnte Insel, die Wasserfalle von groBer Schonheit aufweist und den beriihmten Pechsee enthalt, aus dem ein be- deutender Teil des Asphaltbedarfs der Welt gedeckt wird. In der Mitte ist er noch fliissig, an den Ufern schon fest, aber immer noch sehr heiB. Die Ausdiinstungen sind schwer einzu- atmen. Hier findet man neben den Negern sehr viele Inder, die als Kulis eingefiihrt wurden und auf den verschiedenen Pflan- zungen arbeiten. Die Frauen tragen den Nasenring, wie in Indien selbst, bewegen sich indessen sonst freier. Die meisten Hauser, besonders die der armeren Leute, sind aus Holz mit einem Wellblechdach, und man findet auch Hiitten, die aus alten Blechbiichsen erbaut worden sind. Dicke Wande sind nicht vonnoten, und alles ist verwendbar, was den Regen abhalt. Neben den steifen Konigspalmen, den schlanken, immer windgebeugten Kokospalmen, findet man die Mauritia flexuosa, eine sehr schone Facherpalme, die aus Afrika stammt. Ich trank da meine erste Kokosmilch, ein fades Getrank, das ich nie wieder anriihren mochte. Man nimmt dazu die noch un- reife griine NuB, die so groB wie ein heimischer Kiirbis ist, schneidet oben ein Loch hinein und trinkt auf diese Weise. Da- bei ist einem aber stets die Nase im Wege, und trinkt man nicht 40 vorsichtig, so tropft der lichte Saft herab, und das Kleid erhait Flecke. Nach Jamaica ist Trinidad die groBte der westindischen Inseln. Sie verdankt ihren Namen dem Umstana, daB sie an einem Dreifaltigkeitstage entdeckt worden war. Spat abends sah ich zum erstenmal das bewunderte Kreuz des Siidens. Es ist lange nicht so auflallend, wie ich es mir gedacht hatte, und kann einzig mit dem lateinischen Kreuz- zeichen — den vier Punkten — verglichen werden. Dennoch ist es ein eigenes Gefiihl, ihm gegeniiberzustehen. Der groBe Bar stand schon verkehrt mit dem Polarstern darunter. Noch ein paar Tage, und er bleibt verschwunden. Was wiirde ich alles erlebt haben, bis ich ihn wiedersah, den Stern meiner Kindheit? DrauBen zog unklar die Kuste von Venezuela voriiber. Die ersten Eroberer hatten die Pfahlbauten bestaunt, die neugierig tief in das Meer hineinwateten wie muschelsuchende Kinder, und hatten das ganze Land danach „Klein-Venedig“ benannt. Ueberfliissig zu betonen, daB es durch nichts anderes als das Wasser an Venedig erinnert. La Guayra. Ich blinzelte ins Finstere, starrte angestrengt auf den hohen Berg hin, der direkt aus dem Wasser emporstieg und er- driickend wirkte, und erkannte einige Hauschen, die an ihm emporkletterten. Dann kam ein rotes Flimmern iiber die Land- schalt, etwas Diisterhehres, und einige Sekunden spater ein weiches Silbergerinsel. Unmittelbar darauf ist es heller Tag, so rasend schnell ist der Sonnenaufgang in den Tropen, piinkt- lich um sechs. „Niemand darf landen!“ wurde uns vom ersten Offizier gesagt. „Es herrscht die Pest, und wer hier ans Land ginge, der diirfte nicht nach Panama weiterfahren." Traurig kaute ich mein Friihstiicksbrotchen. Solch ein Pech! Ich wanderte auf dem breiten Wellenbrecher des Hafens auf und ab, auf und ab. Einige Schritte vor mir lag die Stadt, und ich sollte nicht hineindiirfen? Nicht die Kaffeepflanzungen sehen, nicht nach Caracas fahren? Unmoglich! Auf und ab, auf und ab, zehnmal an der Wache vorbei, immer sehr unschuldig, immer ein wenig naher einem alten Zaun, der einige Planken verloren hatte. Die Wache wurde miide, setzte sich. Ich pendelte hin und her, blieb auch oft lange stehen und bewunderte die herrlichste Brandung, die ich je gesehen. Zwanzig Meter hoch sprang der Schaum iiber die Klippen und benetzte noch den hohen Wellenbrecher. 41 Wieder war ich beim Zaun. Ich bin mager und klein. Ein Ruck, und ich stand drauBen. Ohne mich umzuwenden, betrat ich La Guayra, bereit zu schworen, daB ich den „Bologna“ nie in meinem Leben gesehen hatte. So heiB ist selten ein Ort; denn nicht ein Windhauch findet EinlaB. Der hohe Berg umklammert den Ort und droht ihn zu erdriicken. Auf die kahlen, vom Erdbeben zerrissenen, von den Tropengiissen abgeschwemmten Felsen sticht die Sonne vom Morgen bis zum Abend mit unverminderter Kraft. Es ist daher kein Wunder, daB hier das gelbe Fieber mit Pest und Cholera ihr verheerendes Werk tun. Eine prunklose Kirche mit vier Heiligenstatuen davor, die samtlich recht traurige Ge- sichter machen, ein Park, der wohl mochte, aber nicht kann, ein Kokoswaldchen, das viel Niisse, doch leider keinen Schatten gibt, — das sind die auffindbaren Wunder von La Guayra. Un- weit des Kokoswaldchens steht indessen die Eisenbahn, dex-en Zug aus zwei Wagen erster und zwei zweiter Klasse zusammeu- gesetzt ist. Die WeiBen sollen in der Ersten fahren, doch wenn man kein Geld hat, fahrt man ebensogut auch in der Zweiten. Hellbraun, zumeist Mischlinge, sind die Einwohner. Sie krochen mit ihren Riesenbiindeln wie miide Ameisen auf den Zug, verstauten sich und ihre Packchen auf, iiber und unter den Sitzen, kauten Zuckerrohr und erteilten bereitwillig Aus- kunft iiber alles. Die Manner unter den breitki’empigen Stroh- hiiten bohrten ihre kohlschwarzen Augen in mich; im Wesen der Frauen lag etwas Schwermiitiges, Lebensmiides. Sobald man eine gewisse Hohe erreicht, blast ein frischer Wind, und man erholt sich vom toten Gestein. Palme reiht sich an Palme, unbekanntes Strauchwerk wird zum griinen Wall. Nach und nach entfalteten sich die Kaffeepflanzungen. Auf dem glanzenden, dunkelgriinen, leicht gezackten Laub saBen die hell- roten Beerenbiischelchen wie winzige StrauBlein, auBerordent- lich reizvoll. Dicht am Stamm eines diinnen, zackenblattrigen Baumes hingen riesige Friichte — die gepriesenen Papayas, aus denen die Nordamerikaner das Pepsin gewinnen; Chirimoyas, die schuppigen Zuckerapfel, pendelten an vorspringenden Aesten; Sapodillas lagen in Korbchen. Sie ahneln tauschend unseren Kartoffeln und haben ein weiBes siiBliches Fleisch. Anderes, mir noch unerklartes Obst ruhte in reizenden Bast- korbchen, die man iiberall in Venezuela an Stelle von Tiiten bekommt, um das gekaufte Obst leichter heimzutragen, und iiberall leuchtete die Bougainvillia in ihrem unvergleichlichen Purpurviolett. Caracas liegt einige hundert Meter iiber dem Meeresspiegel und wackelt fast ununterbrochen. Erdbeben gehoren gewisser- 42 maBen zur Tagesordining, und die Hauser sind schon mit Riick- sicht daraui gebaut. Niedere Bauten, kleine Fenster, Gassen, die gerade sein mochten und nicht konnen, ein Park, eine Kirche, die so viel Spriinge wie ein Altweibergesicht Runzeln hat, Geschaite voll von Ladenhockern aus Osten und Westen und hinter und liber all dem der Zauber Siid-Amerikas, der Wind des Geheimnisvollen, Unerforschten, der von den Niede- rungen des Orinocos, von den Giplein der fernen Anden bis hierher weht. Diifte vom Atlantik, vom Antiilenmeer, vom Stillen Ozean, von Gebieten so furchtbar und todbringend, wie unser Gedanke sie kaum faBt,_und dazu das leichte Wanken des Bodens, das plotzlich wie ein Memento mori durch alles Sehen und Erfahren bricht .... Spat am Abend kehrte ich miide nach La Guayra zuriick, traf Herrn G., der auch durchgebrannt war und mich tiichtig auszankte, daB ich nicht mit ihm gegangen war, und spiiter meine eigene EBgruppe, die erklarte, sich etwas von La Guayra ansehen zu wollen. Man hatte ein kurzes Aussteigen doch ge- stattet. Sie nahmen uns mit und wir beschauten .... das nachste Gasthaus. Der erste Offizier lachelte bei meinem Kommen, sagte aber nichts. Von der Briicke sieht man eben allerlei, und selbst die kleinste Schriftstellerin, die durch die engste Plankenoffnung kriecht, bleibt nicht immer verborgen. Aber wer zwischen Osten und Westen fahrt, hat auch gelernt, im Notfall beide Augen zuzudriicken. Puerto Cabell o. In diesem schonen Hafen, den wir nun anliefen, um nach zwei Stunden wieder abzufahren, erhielt ich wieder eine War- nung, die ebenso unbeachtet wie die erste an mir abglitt. Die hiibsche deutsche Kaufmannsfrau, die kein Wort ihres kiinftigen Landes verstand, lehnte neben mir an der Reeling, und vereint feilschten wir um Papageien und die entziickenden Zuckervogel, die ich nur dort gesehen habe. Sie sind von einem herrlichen Blau, wie Leberbliimchen im Vorfriihling, haben einen tief- liimmelblauen Fleck oben auf dem Kopfe und die Fliigel ganz schmal, aber scharlachrot gerandet. Sie nahren sich von Mehl- wiirmern und ahnlichen Dingen und sind daher schwer zu halten, aber ihre Schonheit begeisterte uns. Einige der reiche- ren Leute kauften auch Aras, die hiihnergroBen, sehr bunten Tropenpapageien, deren durchdringendes Geschrei sie sehr un- angenehm macht. Mir setzte jemand solch ein schwerbeschna- beltes Unding auf die Hand, und da stand ich — unfahig, das Vieh abzulegen. 43 Wahrend wir uns also ganz mit der Tierwelt beschaftigten und uns die Baumratten ansahen, die auf- und niederrasten, stellte sich unten vor dem Schiff ein brauner Farmer mit einem Strohdach erster Giite auf und begann, der schonen Blondine auBerordentlich den Hof zu machen. Ich wurde zum Dolmetsch, und je verliebter er wurde, desto lebhafter verdolmetschte ich seine Liebesschwiire. Frau 0. fiihlte sich im Grunde geschmei- chelt, und der Braune wurde derart aufgeregt, daB er ihr alien Ernstes zusprach, vom Schiff herabzuklettern und bei ihm als seine Gattin zu bleiben. All mein Beteuern, daB sie schon ver- heiratet war und einen weit besseren Gatten hatte, verfing nicht, und wenn nicht so viele Menschen herumgestanden waren, so glaube ich wirklich, daB er sie mit Gewalt vom Schif f gerissen und davongeschleppt hatte. Neben mir sagte der Zuckerbacker von Riobamba sehr ernst: „ In der Tat, weiBe Frauen haben hier einen ungeheuren Wert.“ Ich lachte dummvergniigt in mich hinein. Mich freute es, daB ich hier, wie der Dollar daheim, ein Ding war, daB im Werte standig stieg. Ganz breitspurig wanderte ich fibers Deck. Jemand driickte mir die Hand. Es war meine Landsmannin, die Gattin des Peruaners. Sie muBten hier aussteigen und wollten zu FuB durch das Innere nach Peru. Was das be- deutete, wuBten wir damals beide nicht. Das war eine Strecke wie von Palermo zum Nordkap, und ganz durch Urwaldgebiet. Sie trug ein schwarzes Seidenkleid mit einem gelben Wasserfall von verblichenen Spitzen. N i c h t s trugen die beiden in der Hand, nicht einmal ein Taschentuch. Sie gingen in die neue Welt, wie man aus einer Elektrischen steigt. Lang- sam sah ich sie den Hafendamm entlangschreiten; ganz ohne Eile. Er hatte vielleicht drei, vier Pesos in der Tasche. GewiB hat er sie ermordet, ehe eine Woche voriiber war. Dann mochte er wohl irgendwie in sein Land zuriickgekehrt sein. So oft ich mich spater iiber die Last selbst meines bescheidenen Gepacks argerte, dachte ich mit Grauen an meine Landsmannin, die mit hangenden Armen in ein fremdes Land gegangen war, um viel¬ leicht schon vor dem Sinken der Sonne den Tod zu treffen. Und selbst fur diese Begegnung muBte sie — unter den ob- waltenden Umstanden — noch dankbar sein. Villemstad. Curasao. Nach neunstiindiger Fahrt, neuerdings dem Norden zu, fuhren wir in einen FluB, der ebensogut in Europa gelegen sein konnte. Die Hauser, die wir im Schein der Lampen er- blickten, waren die Hauser Amsterdams; die Laute, die an unser Ohr schlugen, die Hollands. Wir hatten Wilhelmsstadt erreicht. 44 Friih am Morgen fliisterte Herr G., wir sollteri uns allein aus dem Staube machen, denn sonst wiirden wir nichts kennen lernen, und so verschwanden wir unheimlich friih und durch- wanderten die Stadt, die hollandisch rein und hollandisch lang- weilig war. In den Geschaften bunte Farben, auf dem Markte viel Obst, aber sonst nichts Tropenhaftes, denn die Insel ist ungewohnlich trocken, infolgedessen auch gesund, entbehrt aber jener iippigen Bewaldung, deren sich nassere Inseln erfreuen. Dies war iiberdies die Trockenzeit — der Winter der Tropen — und so sparlich war das Grim selbst an einzelnen Strauchern, daB ich eine Kuh Papier fressen sah. Ihre Milch mochte dem- entsprechend sein. Alles, was wir antrafen, waren Saulen- kakteen, Aloen, Scheibenkakteen mit furchtbaren Dornen und einige halb verdorrte Schirmakazien. Selten bin ich so lange iiber Hiigel und Berge gewandert. Oft trennte ein Drahtzaun ein trostloses Gebiet vom anderen. Manchmal kroch ich auf alien Vieren unten durch, manchmal packte mich Herr G. und warf mich hiniiber, was bei der san- digen Beschaffenheit des Bodens moglich war. Ballenkakteen, Akazien und Mangroven waren indessen alles, was wir ent- deckten. Mangroven wachsen dicht am Strand, bleiben freudig- griin, bliihen rot und lassen den langen, spitzzulaufenden Samen so fallen, daB er sich in den Sand oder Uferschlamm bohrt. Daraus entsteht ein neuer Baum. Die Rinde ist dunkel und so rauh wie ein Reibeisen. Sie dient auch den Eingeborenen einzelner Lander als ein solches. Wunderbare Muschel-, Krab- ben- und Korallenversteinerungen waren zu finden. Ein ganzer Berg bestand daraus. Da erspahte ich den ersten Tropikvogel. Er ist ganz schwarz und gelb wie die einstige Kaiserfahne, oder besser orange. Auf dem Riickweg hatten wir ein Abenteuer. Die sonne- durchgliihten Felsen bergen recht gefahrliche Schlangen, und Herr G. befahl mir, Ausschau zu halten. Miide, die Arme ver- brannt, das Gesicht aufgedunsen, hinkte ich talwarts, als ich einen furchtbaren Schmerz im linken FuB verspiirte und einen Schrei ausstieB. Mein Begleiter schnellte geschwind herum, ich erwartete, eine Sandviper an meinem Bein zu finden, ent- declcte indessen einen Tellerkaktus, dessen ungewohnlich lange braune Dornen mir tief ins Fleisch gedrungen waren. „Wir miissen die Sache mit einem scharfen Ruck ent- fernen, sonst bricht irgend eine Spitze, und das Bein wird eitrig," erklarte Herr G., packte meinen Hinterhuf und riB einen Dorn nach dem anderen weg. Wenn ich nicht im Geruch des Heldentums gestanden hatte, wiirde ich laut gebriillt haben, so aber biB ich die Zahne zusammen und starrte tapfer ins Nichts. 45 „Was haben Sie in Curasao gesehen?“ fragte man auf dem Schiii. Nach langem Kreuzverhor erklarte man einstimmig: „Die Armen haben n i c h t s gesehen, nicht einmal den welt- beriihmten Curasao getrunken. Nein, so etwas!“ Wir beide lachelten nur. Vom Curasao bekam ich dennoch zu kosten. Sie waren alle gut auf dem „Bologna“. Puerta Colombia. Es war ein Josephitag und rauh fur die Tropen. Wir konnten nicht einfahren, weil der lange Pier ausnahmsweise besetzt war; mehr als drei Dampfer auf einmal fanden nicht Raum. So hiillten wir uns in Decken und beobachteten die zahlreichen Pelikane, die auf dem Sand umherwanderten, und von Zeit zu Zeit tauchten. Der ungeheuer lange Schnabel gab ihnen ein komisch schwerfalliges Aussehen. Wir waren alle stiller als sonst. Herr G. wollte zu For- schungszwecken den Magdalencnstrom emporziehen, und der deutsche Kaufmann mit seiner Frau beabsichtigte, sich in Medellin oder Bogota niederzulassen. Er hatte sehr viele deutsche Stahlwaren mit und verkaufte in jedem Hafen etwas an die Eingeborenen, um fremde Valuta einzutauschen. Sein Spanisch war schwach, seine Frau sehr hiibsch, sein gesunder Menschenverstand nicht auf Abenteuer eingestellt. Ich habe mich oft gefragt, wie es ihm ergangen sein mag. Es blieb nur ein Deutscher an Bord — Don Luis, der den Beinamen „der Fresser“ fiihrte, weil er einen so gottgesegneten Appetit hatte und von der ganzen Mannschaft gefiittert wurde. Er muBte fast all die Kriegshungerjahre nachessen. Mein Idea- lismus stieB sich an seiner EBlust und seiner Hose; ich nahm es nicht einmal mit geniigender Anerkennung auf, als er mir am nachsten Morgen, nachdem ich von Herrn G. Abschied ge- nommen hatte, in einem vaterlichen Tone sagte: „Es ist mir aufgetragen worden, iiber Sie zu wachen.“ Was wuBte er von Pflanzen und Vogeln und von der Art dieser Leute? Wir liefen zusammen iiber Berg und Tal, und ich knurrte innerlich iiber mein Einsamsein und ahnte nicht, daB mir ein Sc'nutzengel zur Seite ging, der zu irdischen Zwecken die Fliigel daheim gelassen und eine sehr verbrauchte Matrosenhose an hatte. Puerta Colombia liegt zu FiiBen von zieinlich hohen, be- waldeten Bergen, die zur Regenzeit sehr freundlich wirken miissen, nun aber braun und ode den kleinen Ort umschlossen. Die Gassen waren voll Flugsand, die Hauser ebenerdige Holz- bauten, die Hiitten der Eingeborenen einfach aus Lehm zm sammengeworfen und im besten Falle einmal weiB gestrichen. 46 Holzstangen versperren gitterartig die kleinen Fensterlein, auch die der europaischen Hauschen, deren Holzverschlag an einen Kafig erinnert. Durch diesen Kafig sprechen die Frauen zu den Voriibergehenden. Das Dach ist iiberall aus Palmenstroh. Die Kirche selbst ahnelt einem luftigen Stall. Die Orgel gibt nur einen Ton bei jeder fiinften Taste, die Sakristei ist hinter einem gespannten Leinentuch hinter dem Hochaltar, und auf dem Kirchhof, an die Grabkreuze gebunden, weiden Ziegen. Wir betrachteten die Hiihnerleiter, die zur Kanzel fiihrte und die Kuhglocklein, die vor der Kirche von einer Querstange baumelten; hierauf nahmen wir Abschied von unseren Freun- den, die schon im Zug nach Barranquilla saBen, der wie eine rollende Holzkiste aussah und von halbnackten Eingeborenen umringt war, die Herrn 0. Rasiermesser abkauften, sie iiber¬ all an sich ausprobierten, und die Frau 0. sehnsiichtig an- glotzten. Ein gelbbrauner Mischling wiederholte wie ein Papagei: „Die schone weiBe Dame soil nach Medellin fahren, wo es kiihler ist; hier wird sie bleich werden . . . Herr G. reichte mir die Hand. Der Zug machte ppppffffff und Menschen, die ich lieb gewonnen, verschwanden im wach- senden Staube .... Unweit von Puerta Colombia lag die Ortschaft Sabanilla. Einst landeten alle Schiife dort, doch nun war der Magdalenen- strom so weit vorgedrungen, daB er bis weit hinaus Strand und Meer versandete und man den Hafen verlegt hatte. Kokos- waldchen fiihrten dahin. Wir erfuhren unterwegs — Don Luis hielt tapfer aus — daB man alles Trinkwasser von Barran¬ quilla brachte und teuer bezahlen muBte. Im Magdalenenstrom und auch im angrenzenden Meer darf nicht gebadet werden. Es wimmelt von Alligatoren. Obschon die Tropensonne heiB auf alles schien, wurde uns das Herz seltsam schwer. Diese elenden Pfahle, die ode Ge biete, nicht Garten, umfriedeten; diese schmutzigen Kinder mit geschwollenen Bauchen; diese diirren braunen Abhange und vor allem die zahllosen Aasgeier mit ihren breiten, schwarzen Fliigeln und braunen Fliigelrandem, die alle StraBenreinigung besorgten, und wie hungernd nach menschlichen Resten auf den seichten frischen Grabern saBen. Langgestreckte, mittel- groBe Hunde mit spitzzulaufenden, langen Ohren, schlichen im- mer scheu hinter jedem Fremden her, und aus den Augen der Eingeborenen brach etwas wie Abneigung oder doch MiB- trauen und etwas .... Ueber dieses Etwas wurde ich mir erst viel spater klar. Fiinfzehn Tagreisen stromaufwarts liegt Colombias eigent- liche Hauptstadt, das schone, gesunde Bogota; aber auch Me- 47 dellin, fiinf Tage Fahrt von Barranquilla, dem Hauptort von Atlantico, ist leichter bewohnbar, als die von Moskitos grau- sam heimgesuchten Kiistenorte. Cartagena de las India s. Auf der Insel Baru liegt das Fort San Jose. Zum ersten Mai empiand ich die Tropenhitze geradezu schmerzlich. Graue Wolken schleppten trage iiber die niederen Hiigel, und eine feuchte, dampfschwangere Schwiile lastete auf diesem „Carthago der Indianer". Wie iiberall begriiBte uns zuerst die Columbusstatue; hier- auf kam das fiir Siidamerika so bedeutende Denkmal der Da- hingemetzelten von 1815 (Befreiungskrieg), die sich gegen die spanische Herrschaft aufgebaumt hatten, die Anlage des neuen Parks, die Wohnung des Erzbischofs, die alte Kirche von Nuestra Senora de Ladrinal und die weite Avenida, die zu den schonen umgarteten Villen der Europaer fiihrt. Don Luis und ich durchquerten die ausgedehnte Stadt bis zur Popa, dem Hiigel, der gleichsam ihren Kern bildet und der teilweise von Siimpfen umgeben ist, in welche die Tvars- laufer beim Nahen von Menschen fliichten. Es sind das Krab- ben, die nur seitwarts laufen konnen. Alle Hiitten waren mit Palmenstroh gedeckt, standen offen und erlaubten Einblick. Frauen hatten einen hohen HolzstoBel in der Hand und stampften Mais oder Reis; andere zerrieben das Mehl auf einem flachen Lavastein oder kochten Flaschen- kiirbismus in breiten Tonkriigen. Sie waren stets gern rede- bereit und erzahlten von ihren taglichen Sorgen und sparlichen Freuden. Die Kinder waren hiibsch, splitternackt, scheu und hatten auf dem Bauch eine eigentiimliche Schwellung, die Don Luis und ich dem Wasser zuschrieben, weshalb wir uns nichts aufwarten lieBen. In Wahrheit waren diese apfelgroBen Vor- spriinge nichts als vernachlassigte Nabel .... Die besseren Garten waren voll von Sumacbaumen, den bunten Crotonstrauchern, den Trompetenbaumen und der feu- rigen Bougainvillia. Unweit des Hafens fanden wir zum ersten Mai die beriihmten Elfenbeinniisse, die von der Taguapalme gewonnen werden und so hart sind, daB man sie nur mit einer Eisenstange oder besonderen Instrumenten aufschlagen kann. Wir fiillten uns damit die Taschen. Kleine, schwarzgestrichene, offene Wagelchen laufen mit einem Geklirre durch die StraBen, als ware der Verkehr riesen- groB, und langohrige Hunde schnuppern nach Abfallen in alien Winkeln. Bei aller Tropenpracht wirkte Cartagena tot. Siid- amerika erfiillte mich mit einer Schwermut, die ich bei aller 48 Anstrengung nicht abzuwerfen vermochte. Mir war’s, als fiele ich hoffnungslos zuriick durch die Jahrhunderte, und etwas von der verborgenen Wildheit, gleich groB in Eroberern und Unter- driickten, beklemmte mich wie eine unsichtbar mir aufge- biirdete Last. Don Luis fiihlte nichts davon. Selbst bei dieser Hitze aB er wie ein Lowe nach drei Hungertagen. Vor der Limon Bay. Bis Puerta Colombia hatte die arme deutsche Frau im Hospital gelegen. Nun wurden Kranke und Gesunde auf Deck gebracht, das Schiff gerauchert, das Deck gewaschen, der Rauchfang gescheuert, die Reeling gestrichen, das Messing ge- putzt, und jedem wurde eingescharft, so rein und so frisch wie irgend moglich auszusehen, so sehr fiirchtet sich jeder Kapitan vor den Amerikanern. Alle Reisenden wurden klassenweise zusammengefangen und gezahlt. Der Arzt, die Zollbeamten, die Polizei kamen uns schon entgegen. Wir wurden von oben bis unten angeschaut, und endlich, wie widerwillig, entlassen. Die Behorden fliister- ten miteinander wie bei einem Sterbefall, und ich fing nur ein Wort auf: „Deutsche“. Es geniigte. Ich wuBte, daB unser Schicksal in die Wagschale fiel. Jedenfalls besaB ich das Visum fur Panama, das die meisten nicht hatten, und kam mir gesichert vor. Damit und mit dem PaB „Konig Peters von Gottes Gnaden“, den niemand verstand, wahrscheinlich nicht einmal der betreffende Konig selbst, da einzelne Sachen slo- wenisch eingeschrieben waren, war ich fiber alle Polizei er- haben, wenn man mich auch verdachtigen mochte, ein Bolsche- wist, Anarchist, Idealist oder anderer „Mist“ zu sein. Jemand verlangte unseren Eid, weder in Colombia noch in Venezuela an Land gewesen zu sein. Mein Gewissen, sonst ziemlich stramm, dehnte sich wie ein abgeniitztes Strumpf- band, und ich vergaB fur den Augenblick, jene Lander gesehen zu haben. Don Luis aB eine Sardellensemmel und vergaB auch. Gedachtnisschwache ist haufig in den Tropen. SchlieBlich handelte ich darin wie Wilson bei den vierzehn Punkten: ich dehnte sie aus, bis sie paBten. Cristobal Colon. Cristobal ist die Kanalzonenstadt, gehort den Amerikanern, hat die Gesetze, Sitten und Gebrauche, nur etwas von sudlicher Siinde umhaucht, der Vereinigten Staaten. Colon gehort zur Republik von Panama; man spricht Spanisch, man tut, was 4 49 man nicht soil, und man lebt in der verderbtesten Stadt der Welt — wenn man der Aussage Erfahrener vertraut. Ich durchwanderte mit einem Italiener, der mir gelegent- lich den Hof machte, die eigenartige Stadt mit ihren Holz- schiirzen, an Stelle von Hoteltiiren, ihren japanischen und chine- sischen Laden, den Panamahutverkaufern an den Ecken, den gedeckten Gangen (der erste Stock jedes Holzhauses ruht zur Halfte auf Pfeilern, und darunter kann man unbehelligt von der Sonnenglut der Tropen oder den furchtbaren Giissen gehen), den Kokoshainen, der Strandpromenade, und traf dort einen Affen (einen echten, nicht menschlichen), der sich sofort in mich verliebte, mich mit seinen felligen Armen umschlang und unbedingt kiissen wollte. Darob groBer Jubel von seiten meines Begleiters, dem ich eben eine Rede liber das Ungesunde und Un- appetitliche der europaischen KuBlust gehalten hatte. Die Friseurladen begeisterten mich. Die Opfer schwitzten so entsetzlich, daB sie nicht sitzen konnten, sondern ausge- streckt auf einer Art Operationsplatte lagen und so eingeseift und rasiert wurden. Japaner in weiBen Aermelschiirzen be- sorgten das schnell und schmerzlos. In einem abgeschlossenen Parke liegen die Hauser der Quarantane, vollig drahtumsponnen, grau von Farbe, und man merkt ihnen das Ungesunde schon formlich an. Hierher wer- den die Pest- oder Choleraverdachtigen gebracht, die Gelbfieber- sterbenden und die an Beriberi Erkrankten. Die schonsten Bauten sind die Hospitaler, und so groB war das allgemeine Sterben beim Kanalbau, daB auf jeden Meter Boden im soge- nannten franzosischen Kanal ein Mann zu rechnen war. Die eigenartigen Gil - Bias - Indianer landeten nur in der Nahe des alten Hafens und brachten ihre Inlandfriichte zum Verkauf. WeiBe diirfen kaum tagsiiber auf einige Stunden in ihr Gebiet kommen und miissen vor Sonnenuntergang wieder abfahren. Diese Indianer tragen das Haar offen und lang und haben schwermiitige, mandelformige Augen. Ihre Haut ist rotbraun und mancbmal tragen sie Arafedern im Haar oder als Giirtel um die Mitte. Am Abend entfloh ich dem Italiener — um Liebesgesausel anzuhoren, war ich doch nicht auf Columbuspfaden! — und ging allein nach Colon. Der arme Don Luis durfte sich nicht ans Land riihren, und in gewisser Beziehung versiiBte dies meine verbotene Freiheit. Ich war wie ein Seerauberschiff, das jemand weiB gestrichen: unerkennbar. All das schien mir damals begehrenswert. Auf dem Heimweg beging ich eine Dummheit. Dumme haben immer Schutzengel. Erst wenn man weise wird, muB man allein aufpassen. Vor mir stand namlich ein Amerikaner 50 und lud mich ein, den franzosischen Kanal in einer Barke hin- aufzufahren, mit ihm. Warum? Weil ich rein aussah. Sehr schon. Ich freute mich, gewaschen auszusehen. Wie dumm ich war, sah ich ja leider nicht. Das Verbotene reizte. Er wiirde mich herumgondeln, wo Deutsche nicht gondeln sollten . . . . In der schnell dahinschieBenden Dampfbarkasse, von der aus man die tausend Lichter der beiden Stadte und all den Glanz des Kanals sah, kam die Geschichte so, wie jemand mit mehr Verstand es geahnt hatte, aber weil er ein WeiBer war, blieb es beim giitlichen Zureden. Dennoch lernte ich in zehn Minuten, daB man nicht mit einem wildfremden Mann einen wildfremden Kanal hinauffahrt. Ihm mein inneres Deutsch- tum zu verraten, hatte ich zum SchluB indessen nicht den Mut oder die Waghalsigkeit, denn er war ein hoher Hafenbeamter und hatte mir die Durchfahrt durch den Kanal verweigert. Auch wollte ich nicht gern iiber Bord fliegen — weniger um meinet- willen, als um des Passes halber, der in meiner Ledertasche ruhte. Ich stieg daher weiser und stiller, doch ohne Schaden wieder aus der Barke aus. Eins hatte ich erfahren: die Deut- schen wiirden unter Bewachung mit dem Zug nach Balboa ge- bracht werden. Kaum stand ich auf den alten Planken, so suchte ich Don Luis, der auf einer Taurolle schlief. All mein Rufen storte sein Traume nicht, bis ich eine schwere Elfenbein- nuB auf seine Nase niederfallen lieB. Da wachte er auf, und ich sagte ihm, daB man ihn friih am Morgen holen wiirde. Er traf daher alle Vorbereitungen und war bereit, als die Polizei eintraf. In der ersten Klasse reiste ein Schweizer, der aus Ver- sehen als Deutscher in die Schiffsliste eingetragen war. All sein Widerstand half nichts, er muBte in Morgenrock und Pan- toffeln auf den Zug. In Balboa raste er zu seinem Konsul und beschwerte sich bitterlich. Dieser bemerkte trostend: „Jetzt sind Sie einmal hier — was soil ich machen?“ Don Luis aber, der immer ein Auge aufs Praktische ge- richtet hatte, begab sich zur Veloceagentur und sagte: „Auf dem „Bologna“ bekame ich zu essen. Wer aber fiittert mich hier?“ Die Veloce schenkte ihm einen Dollar. Er kaufte um fiinf Cents sechs Bananen, von denen er sogar mir eine brachte und war um 95 Cents vollwertiges Geld reicher. Da bedauerte ich beinahe, nicht auch polizeilich befordert worden zu sein, trostete mich indessen mit dem Gedanken, daB ich immerhin den Kanal gesehen hatte. Eins schwor ich mir feierlich: In Panama wollte ich nie leben, n i e ! Es war zu heiB . . . Wie kindisch wir Menschen sind! 4 * 51 Durch den Kanal. Am Vorabend hatten wir 2000 Tonnen Kohle in wenigen Stunden geladen. Alles ging vollig maschinenmafiig. Die Kohle kam an hohen Eisengestellen in Ueber-Schiffshohe angefahren, die Behalter machten von selbst einen Purzelbaum in der Luft, die Kohle fiel herab, ein neuer Behalter entleerte sich und fuhr davon-bis alles schwarz und alle Kohle verschifft war. Schon durch die infolge der heftigen Nordstiirme immer mehr versandete Limonbucht und besonders durch den fiinfzig Meilen langen, oft kaum 41 FuB tiefen Kanal fahren die Schifie sehr langsam. Der franzosische Kanal ist so eng, dafi zwei Dampfer gerade aneinander vorbeifahren konnen. Unendlich dichtes, hellgriines Unterholz bedeckt die beiden flachen Ufer. Hier wiiteten zur Zeit Lesseps’ (des Erbauers) zwei besonders gefiirchtete, nun schon stark ausgerottete Miickenarten: die Anopheles, deren BiB die Malaria einimpft, und die Stegomyia, die Tragerin des gefiirchteten gelben Fiebers. Den Kranken, der am vomito negro, dem schwarzen Erbrechen, wie man das gelbe Fieber in Panama nennt, erkrankt ist, steckt eine Stego¬ myia nicht langer als drei Tage an, wahrend die tropische Ma¬ laria noch nach drei Jahren — auch wenn kein neuer Anfall erfolgte — im Blut auffindbar und auf eine weibliche Anopheles iibertragbar bleibt. Um die Kanalangestellten nach Moglichkeit vor diesen beiden gefahrlichen Angreifern zu bewahren, sind samtliche Hauschen mit einem feinen Drahtnetz umsponnen, und von Zeit zu Zeit wird auf alle Tiimpel Petroleum geschiittet und, wo tunlich, Erde zum Austrocknen aufgeworfen. Nach dem franzosischen Kanal kamen wir in die Gatun- schleusen, wo das Schiff dreimal gehoben wurde, bis es 85 FuB iiber dem atlantischen Meere stand. Sich das zu vergegen- wartigen, ist schwer. Sobald das Schiff vor dem ersten Tor steht, wird dieses langsam geoffnet, das Schiff gleitet hinein, das Tor schlieBt sich wieder und das Tor der zweiten Schleuse wird aufgemacht; dadurch stiirzt das dort angesammelte Wasser in die erste Schleuse und hebt das Schiff, bis es die gewiinschte Hohe erreicht hat; dann offnet man wieder ein Tor, und end- lich gleitet der Dampfer in den kiinstlichen Gatunsee, der aus dem AusfluB des Chagresflusses entstanden ist und aus dem man — als ich durchfuhr — noch die Kronen der iiberschwemm- ten Urwaldbaume, wie weiBgebleichte Gerippe, hervorragen sah. Hinter dem Gatunsee kommt der Culebra Cut — der entzwei- geschnittene Berg — und wieder fahrt das Schiff, zwar nicht mehr am elektrischen Gangelband vom Ufer her, wie durch den ersten Kanal, aber immer fast noch ohne Dampf durch diese 52 enge Schlucht. Vor zwei Tagen war ein Abrutsch erlolgt, und die Baggermaschinen waren in voller Tatigkeit, wahrend der ganze Abhang mit starken Wasserstromen bearbeitet wurde, um das lose Erdreich irgendwie zu festigen. Die Tiefe im Culebra Cut betragt 49 FuB. Durch die Pedro-Miguelschleusen, die uns zum Stillen Ozean herablassen sollten, fiihrten uns neuerdings die beiden elektrischen Wagelchen, nachdem das Schiff den eigenen Willen aufgegeben hatte und wie ein zahmer Hund an der Leine lief; nur kamen wir da in die schon voile Rammer und sanken in die sich leerende hinab. Durch die Miraflores-Schleusen er- reichten wir wieder Meereshohe. Am Abend fischten wir Don Luis und seine beiden Leidens- gefahrten bei Balboa auf. An der Naosinsel vorbei glitten wir in den Stillen Ozean hinein. Der Golf von Panama war so still wie ein Inlandsee, und ein wunderbares Meerleuchten empfing uns. Ich lag in der Kabine mit weit offenen Augen. Das Wal- roB schlief, die Schonheit von Lima, der alle den Hof machten, flocht ihre Zopfe und alle anderen traumten. Die Betten hatten sich schon teilweise geleert. War es die Hitze — war es irgend eine Vorahnung — nie wieder fiihlte ich mich wie vor dem Panamakanal. Es war mir, als sei ich in ein neues Leben getreten. Am Aequator. Friih am Morgen standen Don Luis und ich an der Reeling und lieBen die einzelnen Inseln an uns vorbeiziehen. Vom Festland her wehte ein leichter Duft, der mit tausend Alpen- blumen gewiirzt schien, und die Spitzen der Cordilleren griiBten zu uns heriiber. Feuerspeiende Berge kochten dort wie Riesen- kessel, und aus den spitzen Gipfeln stieg der Rauch wie aus Riesenschloten. Vorn aber war alles tiefgriin und iiberfrucht- bar und das Meer selbst so ruhig und warm, daB man das Fahren des „Bologna“ kaum wahrnahm. Gegen Abend erreichten wir Bahia in der tiefen Caraquez- bucht. Nur selten lauft der Dampfer diesen verlassenen Ort an. Die Berge sind ringsumher iiberdicht bewaldet und die Pracht der Tropen entfaltet sich hier in ungewohnter tod- bringender Schonheit. Dichte Schichten modernden Laubes, faulender Niisse, herausgequollener Safte bedecken den Boden, den man durch das verschlungene, lianenbehangene Unterholz kaum sehen kann; in den hohen Baumkronen schwingen sich Affen, wiegen sich bunte Aras, springen die grauen Ardillos Oder Baumratten, schwirren Papageien und uns fremde Vogel, hangen Schlangen in scheinbar lebloser Stellung wie Lianen, 53 mit denen der Wind spielt, und erst wenn der Baum ganz im Sonnenlicht steht — fiinfzig und mehr FuB von seiner Wurzel entfernt — setzt er seine unbeschreiblich groBen und grell- farbigen Bliiten an. Nichts bliiht auf dem Grunde; alles lacht hoch oben, kaum erkenntlich, im Sonnenlicht, und alles kampft um diesen giinstigen Platz, das Schwachere erstickend. Die Eingeborenen, Indianer mit breiten Gesichtern und langem struppigen Haar, machen Tontopfe, sammeln Friichte, bringen Rattankorbchen zum Verkauf und ihre Augen unter den buschigen Brauen sind bald schwermiitig, bald liistern. Die WeiBen sehen miide aus und einsam, so einsam .... Wen nicht die Sucht nach schnellem Geld um jeden Preis treibt, der geht nicht in die heimtiickischen Gebiete Ecuadors. In dieser Bucht, die so still scheint wie keine, die ich je geschaut, begliickte mich das schonste Abendrot meines Lebens. Hinter den dicht bewaldeten stillen Hiigeln, die einen Halbkreis bildeten, in dem wie ein blauer Stein in griiner Fassung das Meer lag, tauchten leuchtend weiBe Wolken wie Wattebauschen auf. Der Rand des Himmels wurde glutrot, das Meer an dieser Stelle schwarzblau, wahrend die Wolken iiber dem Haupte da rosa, driiben tiefgelb waren, sich zu herrlichen Feuergarben schlossen, die ganze Wolbung in einen Flammensee verwandel- ten und sich endlich in einem violett gewordenen Meere feurig spiegelten. Allmahlich wurde alles verdrangt von einem feen- haften Rosalila, das in Purpurton verrann und schwarzrot endete, und in das der Mond wie eine scharfe Tuschzeichnung segelte. In ihren Kanus, die aus einem einzigen ausgehohlten Baum- stamm bestanden, naherten sich am folgenden Morgen die In¬ dianer, verkauften Tapotes, eine Frucht wie ein Riesenapfel, mit braungriiner harter Schale, gelbem Fleisch und vier Kernen. Elfenbeinniisse wurden fieberhaft verladen. Die Strohhiitten der Braunen verschwanden endlich auf den blauen Wassern wie Schwammchen, die davongleiten. Es war nicht unertraglich heiB, obschon wir einen Grad unter dem Aequator waren. Am Tag vorher um drei hatten wir ihn gekreuzt. Heutzutage gibt es nur auf Segelschiffen noch die Taufe. Auf einem Dampfer merkt man nichts davon. Insel an Insel glitt an uns voriiber; eine davon ahnelte einem schlafenden Toten. Mitten im Meer fand man auch deut- lich die Spuren vieler Fliisse, denn allerlei Holzer kamen an- geschwemmt, sogar Wasserschlangen waren entdeckbar, und das Wasser war viel lichter und glatter an solchen Stellen. Kleine weiBe Mowen mit schwarzen Fliigelrandern begleiteten uns. 54 Zur Linken zeigte sich die Insel Santa Clara und zur Rechten die Punainsel, beriihmt, weil deren Bewohner einst Pizarro heldenhaften Widerstand geleistet hatten. Zwischen beiden Inseln hindurch fuhr der „Bologna“ mit lautem Ge- tute in den Yambelikanal ein und nahm den Lotsen an Bord. Santa Marta, wo er eingestiegen war, besteht ganz aus Holz- bauten, die am Rande die Form von Pfahlhauschen haben und wie neugierige Kinder ins Wasser hineinwaten. Daneben stehen grellgriine, kugelformige Straucher zwischen Palmen, Bananen und vereinzelten Maispflanzungen. Um zwolf Uhr mittags fuhren wir in den Guayas ein. Er kommt aus den Tiefen von Ecuador und kennt die Gewasser, die von den beriihmten Bergen der Cordilleren hinabflieBen. Unzahlige Baumstamme mit fremden Schlinggewachsen trieb er meerwarts an uns vorbei, aber auch allerlei Aas, Alligatoren und Fische, die sonderbar bunt und flach wirkten. Kleine nackte Jungen saBen auf treibenden Holzern und ruderten mit den FiiBen, unbekiimmert um alles, was sich da im Strom an Schlangen, Alligatoren und Abfall versammelte. Der Guayas war hier noch fiinfhundert Meter breit und die flachen Ufer derart dicht bewaldet, daB man unmoglich eine einzige Lichtung entdecken konnte. Bananen sollten in solcher Fiille reifen, daB man sie wegschenkte, nur um sie los zu werden. Alle Baume strebten in die Hohe, die riickwarts gelegenen um so starker, so daB die Ufer ein aufsteigendes Bild boten wie Sitze in einer Arena. Die Vogel und Affen waren in diesem Fall die Handelnden. Von Zeit zu Zeit tauchten strohgedeckte Pfahlbauten aus dem Griin, und je naher wir der wichtigen Hafenstadt Ecuadors kamen, desto mehr ahnte man die Gegenwart von machtigen Naturkraften. Hinter Riobamba dampften die Berge, zitterte der Boden, stiirzten die machtigen Wasser der Schneemassen in das ewig feuchte, gummi- und goldreiche Tropengebiet. Manner von eiserner Tatkraft wiihlten da im Urwaldschlamm und suchten nach Gold, Kautschuk, Pflanzenmilch, Chinarinde und anderen wertvollen Dingen. Wenn sie nicht von den Ein- geborenen heimtiickisch ermordet und von der Regierung iiber- vorteilt, falsch angeklagt oder ausgewiesen worden waren, wenn sie nicht durch SchlangenbiB, wilde Tiere oder durch Pflanzengift den Tod gefunden hatten, und nicht an Beri-Beri — das den anfallt, der oft im Urwaldschlamm steht — Cholera, Pest oder einer anderen Tropenkrankheit gestorben waren, so kehrten sie in wenigen Jahren steinreich in ihre Heimat zuriick. Wer aber wagte so viel? Hochstens ein Verzweifelter. Manner hinter Riobamba sind verzweifelte Manner .... 55 Gegen drei Uhr naherten wir uns Guayaquil, und groBe Zettel warnten uns alle, nicht das Schiff zu verlassen, weil die Pest, Cholera, Ruhr, das Beri-Beri, gelbe Fieber und der Aus- satz chronisch in dieser ungesunden, unreinen Stadt wiiteten und das Schiff in Quarantine miiBte. Eine gute Meile im Flufi warf der „Bologna“ Anker, und selbst da waren wir noch nicht sicher, von Miickenstichen verschont zu bleiben. Jeder Stich aber konnte uns Malaria, das gelbe Fieber oder sonst ein Uebel schlimmster Art einimpfen. Auch herrschte der Aussatz unter den armeren Leuten vor, so daB es nicht wiinschenswert war, die geringste Sache kauflich zu erwerben. Niemand aus den Booten wurde aufs Schiff gelassen. Etwas von der Tragik eines neuen Lebensaufbaus streifte uns hier. Die drei Deutschen waren doch kraftige, bemittelte Menschen gewesen, nur der Peruaner und sein Weib arme Schlucker, aber in Guayaquil ahnte man, daB die, die hier lan- deten, einen verzweifelten Kampf aufnahmen. Da war der stammige Zuckerbacker, Goldsucher und Abenteurer, der auf Jahre im Gebiet des Chimborazo verschwinden wollte; der Kaufmann aus Firenze, der hier etwas anzufangen beschlossen hatte, und besonders das junge Ehepaar, das der allgemeine Ge- sprachsstoff war, nachdem es sich herausgestellt hatte, daB der vorige, verschmahte Geliebte der Schonen unter den Auswan- derern mitgekommen war. Die beiden Eheleute, sie in spitzen- besetzten Hemdhoschen und mit Lockendrehern, verwohnt, zart von Gesundheit, lebensunklug, sehr kokett, er zu jung, um praktisch zu scheinen, wollten von hier aus ein Segelschiff nehmen, das sie in vierzehn Tagen nach den verlassensten In- seln der weiten Siidsee bringen sollte — nach den geradezu verwunschenen, ziemlich unfruchtbaren, von keinem Dampfer besuchten Galapagos, auf denen sie — die junge gefallsiichtige Frau — jahrelang niemand sehen wiirde. Er dachte an Perlen- fang und Ausbeutung eines Minerals, und beide wuBten zu- sammen nichts iiber die Inseln, als daB sie bestanden und einige Landsleute einmal dahingegangen und nicht wiedergekehrt waren. Was ich iiber die Inseln sage, wuBte auch ich erst nach Jahren, als ich selber — ein einsames Wesen — durch die schier unbegrenzte Siidsee fuhr .... Die Guayaquiler hatten wie alle Mischlinge besserer Klasse in den Tropen Siidamerikas eine ungesunde dunkelgelbe Ge- sichtsfarbe, flackernde, oft ausweichende Augen und einen sinn- lichen Zug um den Mund. Die Biigelfalte war stets tadellos und war auch das einzig Vollkommene an ihnen. Hochmiitig trabten sie iiber das Deck hin. Die eigentlichen Ecuadorianer waren reines Vollblut, sehr haBlich, breitknochig, finster, dick. Sie boten uns die Baumratten, die ganz grau sind und weiBe 56 Punkte an den langen Haarenden haben, Ardillos genannt, allerlei Papageien und auch schon Pumafelle an. Obst gab es in Uebermengen, wurde aber der Ansteckung wegen nicht Oder hochstens verstohlen erstanden. Die Braut in einem schwarzen Seidenkleid, spitzenbehangt und mit rosa Schleifen, nahm von uns alien Abschied und kletterte ins Boot. Sie hatte beinahe jeder Gesellschaftsklasse angehoren konnen, — besonders so lange sie schwieg; beim Manne sah man sofort, wohin er gehorte. Ich habe das unter- wegs immer wieder beobachtet. Die Frau geht; wie der Mann hinzutritt, sagt man sofort: „Aha!“ Es gingen auch die anderen Reisenden vom Schiff, sie durften aber nicht wieder zuriickkehren. Wer den „Bologna“ verlassen hatte, der biieb in Ecuador. Fragliches Gliick! Guayaquil. Vom Schiff aus konnte man ganz gut die winkeligen StraBen, die, wie von einem Irrsinnigen angelegt, hinab- und hinaufgingen, und mehr Katzenkopfe als Menschen hatten, be- obachten. Wagen schwankten wie im Sturm, und Indianer kauerten iiberall, wo sie nicht hingehorten: auf fremden Tiir- schwellen, auf fremden Korben, auf den reichlich aufgestapel- ten Sacken der Veloce. Hinter der Stadt, schon auf dem ersten Hiigel, war der Wasserbehalter, damit — wenn bei Erdbeben ein Feuer drohte — die Wassermengen herabstiirzen und Guayaquil iiber- schwemmen konnten. Der Rauch ferner Feuerberge verdunkelte nicht selten den Ort auf Stunden; Aschenregen war haufig. Ich safl mit Don Luis auf dem auBersten Bug des Schiffes. Es war eine gliihend heiBe Nacht. Nach und nach verschwan- den alle Frauen, denn die Miickenplage nahm zu, und ein heiBer, driickender Wind wimmerte im Takelwerk. Das Schnarren und Knattern der Krane, das Heulen der Ladenden erhohten noch das Unangenehme der Stunde. Unser Gesprach schlief ein. Viel- leicht schnarchte sogar Don Luis ein wenig. Wenn ja, so schnarchte er nicht lange, denn ein gewaltiger TropenguB rasselte ohne Warnung auf uns nieder. Don Luis auBerte einige Kraftausdriicke aus der Zeit der Kriegsmarine, und ich sprang die Treppe in das Inferno hinab. Im Schlafsaal brannte das Licht — wie immer. Vollstan- dige Stille herrschte. Die Frauen lagen wie tot auf den Betten, hatten alle, selbst die letzte Bekleidung abgestreift und waren SchweiBtiimpel, die schwer atmeten, ohne sonst auch nur einen Finger zu riihren. Ich kletterte ins Bett, warf das Kleid ab und zog einen leichten Kimono iiber. Es ist mir zur Gewohn- heit geworden, unter alien Umstanden irgend etwas anzuhaben, das es mir gestattet, unter Menschen zu gehen. Man kann im Leben nie wissen .... An ein Schlafen war nicbt zu denken. Im engen Raum mochten wir fiinfzig Grad Celsius haben. Grime Stechmiicken, sehr groB, sehr schon, sehr surrend, sehr bissig, flogen iiber uns hin und nippten da und dort. Die menschlichen Tiimpel rochen. Auf einmal vemahm ich ein im Schlafraum verbotenes Ge- rausch. Jemand kiiBte! Wer war der Verwegene? Und warum machte er, wenn er schon das Gebot der Menschen und der Gotter brach, solch einen Heidenlarm? Ich setzte mich auf. Mein Bett war wie der Chimborazo — erhaben iiber die geringeren Gipfel. Nur das WalroB versperrte mir einige Aus- sicht. Indessen vermochte ich, selbst knieend, nichts zu ent- decken. Noch einmal ein schuBartiger Schnalzer! Das war ja em- porend! Die Schonheit von Lima, im Rest eines Hemdchens, setzte sich auf. Wir sahen uns an. Haarstraubend! Ein Geist konnte es nicht sein, und unsere irdischen Augen sahen nichts als Leere. Da spahte ich zufallig iiber das WalroB hinweg zum Fenster, und in der Oeffnung, sie ausfiillend, bemerkte ich das haBlichste Gesicht, das mich je entsetzt hatte. Eine braune Fratze, umrandet von wulstigem, ungekammtem, schwarzem Haar, ein Mund, der von Ohr zu Ohr reichte und ein wahres AlligatorengebiB enthielt, eine Nase wie ein vertretener Manner- pantoffel, vorstehende Backenknochen in rotbraunen Hange- backen, und in all dieser unangenehmen Fleischmasse zwei schwarze Augen gierglanzend, wie die eines hungrigen Pumas. Und diese Mareritterscheinung sagte mir in scharfklingendem Spanisch: „Ich liebe dich!“ und nach einer kurzen Pause, die nackten Frauen betrachtend — „ich liebe euch alle!“ Eine derart schmeichelhafte AeuBerung behalt man nicht neidisch fur sich. Ich weckte die anderen, um sie an dem Gliicke teilnehmen zu lassen. Im zweiten und dritten Fensterloch zeigten sich weitere Verehrer, alle von ebenso blendendem Lieb- reiz. Da ich nicht schlafen konnte, war ich ganz zufrieden, mir den SpaB anzuschauen und anzuhoren, denn meine Geschlechts- genossinnen waren — als Evas iiberrascht — ein wenig krustig. Je gliihender die Liebesbeteuerungen wurden, desto krusti- ger wurden die Angebeteten. „Aequatorialaffe, Affensohn", und ahnliche Bezeichnungen wurden laut und alles, was an Abfall zu finden war, wurde den Belagerern ins Gesicht ge- worfen. Selbst das WalroB beteiligte sich am allgemeinen Ge- fecht. Als aber die Angreifer faule Orangen auf uns zu werfen 58 begannen und die Geschosse vorwiegend auf mir landeten, hatte ich vom Scherz genug und lieB den ersten Offizier verstandigen. Er kam und lieB unsere Luken zuschrauben und die Tiire sperren. Kein Auflehnen half. Mit den Leuten einen Kampf zu beginnen, hatte der Schiffsgesellschaft geschadet, und man wuBte nie, wann die Indianer, die sich auf Leichtern ohne Miihe bis ans Schiff ziehen lassen konnten, etwa iiber Bord klettern und uns vergewaltigen oder entfiihren wiirden. Und selbst diese ernste Mahnung ging unbeachtet — bis auf den gehabten SpaB — an mir voriiber. Die ganze Nacht schmorten wir im eigenen Fett, und am Morgen stiegen wir, mehr tot als lebend, aufs Deck. So heiB ist mir nie friiher und selten einmal spater gewesen .... Kaum hatten wir das Friihstucksbrotchen verspeist, so kam der junge Italiener, der in Guayaquil ein neues Leben beginnen wollte, und erzahlte uns ganz verstort, wie verwahrlost der Ort, wie rauh die Menschen, wie undankbar das Land ist_ Er nahm von jedem Taupfeiler des „Bologna“ Abschied, und ich weiB nicht, ob er unseren Weggang lange iiberlebt hat. Nur wer ganz riicksichtslos ist, kommt in den Landern der Misch- linge fort. Um halbzwei verlieBen wir Guayaquil, und mir war’s, als stiinde auf dem vernachlassigten Marktplatz, der bis zum Ufer reichte, eine zarte Gestalt in einem schwarzen Seidenkleide. Genau wie damals die Peruanerin. Sie winkte und winkte. Schnell trieben wir stromabwarts. Ich blieb vorn am Bug und empfand ein leichtes Frosteln. Es war sehr schon, die Welt zu umsegeln, aber ganz das Gegenteil, an einsamer Kiiste ein neues Leben aufzubauen. Und in einer Woche wiirde auch ich so stehen und viel aufbauen miissen, ehe ich weiter durfte, denn ich allein ahnte, w i e wenig Geld mir geblieben war. „Was schiitteln Sie sich wie ein Alligator, der aus Ver- sehen eine Flasche Rizinus verschluckt hat?“ fragte Don Luis. „Es blast kiihl iiber uns hin“, erwiderte ich zusammen- schauernd. „Ja, ja — kein Wunder, denn es blast vom Siidpol her,“ behauptete er und hiistelte. So etwas einige Grade unter dem Aequator! Ich folgte dem Schutzengel zur Abfiitterung. Dergriine Strahl. Am Abend sagte Don Luis: „Schauen Sie durch dieses Fernglas und sagen Sie mir, was Sie sehen!“ Ich tat, wie geheiBen. Es war ein wunderbarer Tropen- abend, der Horizont ganz klar, der Himmel zu Haupten leicht 59 bewolkt. Langsam sank der rote Sonnenball, beriihrte das Wasser, verschwand. Aber ehe die Sonne ganz und gar verschwunden war, zeigte sich eine unbeschreiblich schone smaragdgriine Halb- scheibe — ein griiner Strahl, der unvergeBlich blieb. „Sahen Sie ihn?“ forschte Don Luis, zum erstenmal er- griffen. Ich nickte. „Es war der griine Strahl — etwas, das man nur in der Wiiste oder auf sehr ruhigem weiten Meer schauen kann. Man sagt, daB der sich nie iiber seine echten Herzensgefiihle tauscht, der den grxinen Strahl gesehen hat.“ Im nachsten Augenblick schon war es dunkel, und der Mond ging auf. Es gibt keinen Uebergang in den Tropen. Weiter und weiter dem Siiden zu dampfte der „Bologna“. In Callao stiegen die meisten der noch vorhandenen Reisenden aus. Dann .... Lima, in Peru. Vor dem Hafenbecken von Callao lag eine kleine, kahle Insel, — die Quarantine. Auf den hellblauen, sonnegekiiBten Wassern ruhten Millionen von Seevogeln. Ich habe weder friiher noch spater eine derartige Menge erblickt. Sie ver- dunkelten die Sonne, wenn sie aufflogen, sie punktierten das Meer, sie flimmerten vor den Augen. Das waren die Vogel, die auf den einsamen Felsen der Kiiste den kostbaren Guano ab- lagerten. Unser Schiff hielt sehr weit ab vom Hafen, und wir fuhren in einem kleinen Boot ans Land. Eine Weile waren wir der Schrecken der Geldwechsler, weil wir versuchten, Lire und anderes entwertetes Geld giinstig einzutauschen, dann brachten wir mit englischem Gelde einen unbedeutenden Betrag zusam- men — groB kann er nicht gewesen sein, nachdem wir im Kaffeehaus kein Trinkgeld zu geben vermochten — und fuhren nach Lima, der Hauptstadt Perus, einst die Stadt der Konige und eine halbe Stunde von Callao gelegen. Die Berge schichteten sich in sieben Lagen hintereinander. Es war ein wundersamer Anblick. Ueber sie hinweg fiihrte der Weg nach den Bergwerken von Cerro del Pasco, wo Hange- briicken die grausigsten Schluchten iibergingen und ein Tunnel in den anderen lief, bis man zum ewigen Schnee gelangte. Am Wegrand wuchs Alfalfa und obschon es um Lima nie regnet, sondern nur zur Winterszeit ein unglaublich dichter Nebel fallt, stand der Mais schon und schon fast vor der Reife. Die rund- blattrigen chilenischen Weiden wechselten mit den hochstammi- gen, buschigen peruanischen ab. 60 Lima selbst ist eine Stadt in spanischem Stil mit einer groBen Domkirche, aus der nun eben — es war Karfreitag — alle Wiirdentrager in langer Prozession aus den Toren traten. Sie hatten goldschimmernde Helme mit rotem, weiBem und sel- tener mit blauem Federbusch und sehr reiche, strahlende Uni- formen. Bei ihrem Erscheinen begannen vier Musikkapellen, jede etwas anderes, in ihrer Ecke der Plaza de Armas zu spielen, und die Menge jubelte. In feierlichem Zuge trug man Christum zu Grabe. Alle Frauen trugen schwarze Mantillen und ihre braungelben Gesichter, umrandet von dem schwarzen Tuch, sahen unglaublich haBlich aus — sie wirkten wie Totenschadel. Von den beriihmten Limaschonheiten bemerkten wir nicht eine. Wenn die etwas helleren Gesichter gar gepudert waren, wurden sie zu abscheulichen Fratzen. Die Hauser Limas sind vorwiegend einstockig, und iiberall findet man die sonderbaren Fensterkafige, die den Insassen das Licht und den Vorbeigehenden den Eintritt nehmen. Alle Frauen miissen hinter solchen Gittern sitzen. Wie notwendig dies ist, erfuhr ich erst viel spater. Ich wanderte mit Don Luis durch ganz Lima, als ob wir be- zahlt waren, iiber die Rimacbriicke zum Cerro San Cristobal und zu jenem Stadtviertel, in dem die Arena liegt. Hier lagen selt- samerweise auch die Kloster. Eine lange Allee begrenzte sie. In den Geschaften entdeckten wir kleine, geschnitzte Kala- bassen, in denen der Mate oder Paraguaytee zubereitet wird; in der geraumigen Markthalle lagen die groBen roten Chile- pfeffer, die violettbraunen Eierpflaumen, Blasebalge aus Stroh, niedere Tonkriige, Butter in Maisstroh, allerlei Tropenobst und nette Korbchen durcheinander, und auf alle Fragen wurde uns bereitwilligst Auskunft gegeben. Im Tiergarten sah ich den peruanischen Baren — ganz schwarz und nur um die Ohren gelb gestreift — den Kondor und viele Giirteltiere. Auf dem „Bologna“ war unter den Reisenden zweiter Klasse ein Agent einer Textilfirma gewesen, der sich mir oft in unliebsamer, spater in belustigender Art genahert hatte, weil er sich offenbar einbildete, ich miisse auf Abenteuer, nicht nach Wissen, unterwegs sein, und wie oft ich ihn auch ange- blasen, lud er mich dennoch am Tage vor unserer Ankunft in Lima ein, drei Wochen auf seine Kosten in Lima zu verbringen. Nun sagte Don Luis, der entweder wissen wollte, aus welchem Holz ich war oder der seiner Jugend wegen tatsachlich naiv ge- blieben, ich moge diese Einladung doch annehmen. Ich wurde stachelig wie ein Tropenigel und fragte ihn, ob er schon jemand begegnet ware, der etwas um nichts zu geben bereit gewesen. Wir hatten beinahe einen Wortwechsel, als er mich aufforderte, den Herrn aufzusuchen, denn die Anschrift seiner Wohnung 61 hatte er uns beim Abschied gegeben. In drei Wochen wollte er nach Chile weiter, in acht Wochen iiber Argentinien und Bra- silien heim. Ich weigerte mich, mit diesem „bosen Menschen“ etwas zu tun zu haben, betrachtete ihn als Ausbund des Ziigellosen und wanderte stolz an dem genannten Hause vorbei. Don Luis sagte nichts. Wenn er weise gewesen ist, hat er sich wohl ge- dacht: „Du wirst noch anders urteilen.“ Auf dem „Bologna“ hatte er ein schones junges Madchen verehrt, das von seinem greisen und etwas weichbeinigen Vor- mund nach Chile begleitet wurde, urn an einen reichen, aber sehr bejahrten Mann verheiratet zu werden. Das hinderte seine Schutzbefohlene natiirlich nicht, das ireie Leben noch recht zu genieBen, und ich selbst beobachtete mit groBer Belustigung, wie Herr L. und die „rote Dame“, wie wir sie nannten, immer hinter einer Kiste, einer Kajiite, einer Leiter verschwanden, sich kiiBten und versteckten, wahrend der kurzsichtige alte Herr — die Brille auf der Nase — verzweifelt nach den beiden Siin- dern suchte. Da ich stets neben Don Luis, der ebenfalls schrieb, meine Aufzeichnungen machte Oder etwas las, meinte der alte Herr, daB seine Nichte ebenso ruhig sitzen sollte, und warf von Zeit zu Zeit ganz wehmiitige Blicke auf mich. Heute nun war die rote Dame um ihren Verehrer und ich um meinen Plage- geist gekommen .... Don Luis war ein richtiges Kind. Als es gegen Abend ging, bettelte er, in ein Lichtspielhaus zu gehen. Ich hatte wahn- sinnige Kopfschmerzen und mag Lichtspielhauser bei bester Ge- sundheit nicht, doch wollte ich nicht unfreundlich erscheinen, und so wohnten wir dem Leiden und Sterben Christi bei. So oft die bosen Menschen kamen, pfiffen, schrien, trampelten die Zuschauer, und, was uns beiden so viel SpaB machte, war diese erregte Menge, die alles miterlebte und in ihrer Uebertreibung wie wild war. Sehr erniichtert aber waren wir, als wir eine halbe Stunde spater in Callao am Strand standen und vergeblich nach irgend einem Boote Ausschau hielten. Kein Mann, kein Boot und unser Schiff zwei Meilen vom Ufer. Wer konnte sagen, ob sich der Kapitan nicht doch entschlossen hatte, schon bei Tagesan- bruch abzudampfen? Als wir uns schon halb entschieden hatten, in einem Strand- boot zu iibernachten, was weder weich noch warm zu werden versprach, naherte sich ein Mann, der uns hinzurudern ver- sprach. Zuerst verlor er ein Ruder, dann kam er nicht vom Fleck, hierauf stieB uns die Stromung gegen ein Riff, ferner entgingen wir um ein Haar einer Schiffsschraube, da eben ein Dampfer abfuhr, als wir uns dem Orte naherten, und Don Luis wiinschta nichts in StoBseufzern als: „Dich sollte man bei der deutschen Kriegsmarine haben!!“ Wir zahlten dem Wicht die versprochenen zwei Soles (einen Dollar) und Don Luis stiirzte sich auf die Schiissel Sardinen und Salat, die ein Matrose fur ihn versteckt hatte. Ich begab mich sofort zu Bett. Plotzlich hatte ich Angst vor der Zukunit. Vor Mollendo. Der Mond — ein kalter Mond — glotzte hinter dem Rauch- fang hervor. Ein kalter Wind, der erste Bote des kommenden Winters der siidliehen Halbkugel, blies von Kap Horn herauf. Wie Einsamkeit lag es in der Luft, und die hohen Wellen schau- kelten den „Bologna“ so sehr, daB ich der Seekrankheit naher riickte als damals im Sturm des Atlantiks. Don Enrique, der Kellner der Zweiten, der mir in letzter Zeit die Speisen auf ordentlichen Tellern gegeben hatte, was mich von meiner zer- stobenen Bande trennte, gab mir Niisse und Ratschlage, der Infermiere eine Orange und einen Apfel und viele gute Wiinsche. Ich klagte iiber die Miicken von Guayaquil und er sagte mit Nachdruck: „Gott gebe, daB Sie nie argere Miicken finden! Hiiten Sie sich vor den zweibeinigen Insekten!“ Ich nickte und dankte. Das war die einzige Warnung, die mir jemand zuteil werden lieB. Zu Don Luis frohlockte ich: „Endlich werde ich diesen iibelriechenden Kasten los sein und mich wieder in einem Bett ausstrecken diirfen — etwas, das mir 45 Tage lang unmoglich gewesen ist.“ Der junge Mann meinte ganz ernst: „Vielleicht werden Sie vor Ablauf einer Woche schon wiinschen, im engen Bett des „Bologna“ liegen zu diirffen." Ich aber traumte von den Altertiimern der Inkas, den Wundern vom Titicaca, den Schonheiten der hohen Anden und lachelte iiberlegen. Im offenen Kanu, einen Indianer vorn, einen hinten wollte ich den Ucayali hinunterfahren, mit einem Puma als Strand- begleiter und einer Schlange in den Baumwipfeln als Be- gleiterin. Nichts schreckte mich. Niemand fiel es ein, mich aufzuklaren. Heute glaube ich, daB mein Mut nicht nur mich, sondern selbst weisere Menschen iiber meine Zukunft hinweg- tauschte .... Den ganzen Ostersonntag hatten wir einzig die braune, un- wirtliche Kiiste mit den steil ansteigenden Bergen gesehen, am Ostermontag friih um acht Uhr warf der „Bologna“ Anker vor 63 Mollendo. Ich hatte schon einige gottverlassene Hafen besucht, aber dies war der gottverlassenste. Das Fischerdori Mollendo thronte hoch oben auf einer steilabfallenden Klippe, und rund herum sah man nichts als kahle, rotbraune Berge mit vereinzel- ten weiBen Stellen — den Nitratfeldern. Da es nie regnete, sammelten sich diese Salze und bildeten gletscherahnliche glitzernde Flachen. Diese und der stellenweise ganz weiBe Sand erhohten den Eindruck des Trostlosen. Der Wellengang war so furchtbar, daB die sehr geraumige Barke wie eine NuB- schale tanzte und man die Reisenden hineinwerfen muBte. Schreiende Trager iiberschwemmten das Schiff und feilschten um den Landungspreis. Wie die Wilden rissen sie sich um mein bescheidenes Gepack. Ich nahm Abschied vom Capitano d’arme, vom Infermiere, von Don Enrique. Zwei Reisende nach Bo- livien stiegen ebenfalls aus. Oben an der Reeling stand Don Luis und winkte, winkte .... Nie wieder auf der ganzen Welt habe ich das Meer zu Schlagsahne gepeitscht gesehen — dick und gelb — wie vor Mollendo. Die Brandung warf sich wiitend gegen die braunen Felsen, der GroBe Ozean lieB seine verhaltene Wut an dieser Kiiste aus, die erregten Wellen von Kap Horn her beruhigten sich erst vor Callao. Drohend schrien die Mowen. In die Barke wurde ein Ding, halb Stuhl, halb Korb, herab- geleiert. Mein Koffer war schon gliicklich oben auf den Klip- pen, meine Erika vertraute ich niemandem an. Sie war in meinem Reiseplaid verborgen, weil auf Maschinen ein hoher Zoll zu entrichten war, den man nie wieder zuriickerhielt. Nun hielt ich das kostbare Biindel in der Rechten, die Tasche und die Korbseile in der Linken, als ich, schwupps, in die Hohe sauste, eine Halbdrehung in der Luft beschrieb und kopfabwarts den Klippen zusteuerte. Mit einem erleichterten Aufseufzer wurde ich aus dem Korb gezogen. Vor mir stand die Zoll- und PaBbehorde. Die wenigen Reisenden hielten ihre Passe in der Hand und machten ungliick- liche Gesichter. Ich fischte meinen PaB aus der Tasche, als mir der nachste Beamte mit einer Verbeugung erklarte: „Bei Damen nicht notig!" Aha, hier begann mein Frauenwert! Ich wuchs zwei Zoll in die Hohe. Der Zollbeamte erkundigte sich nach dem Inhalt meines Gepacks, und die zwei Zoll Lange schwanden. Ich offnete den Koffer. „Und das ist Ihr Bett?“ Ich nickte. Mein Herz zitterte um die verborgene Erika. „Gehen Sie!“ 64 Ich gab meinen Koffer einer Strandhyane und trug meine geliebte Maschine sorgfaltig selbst. Keine rauhe Hand sollte die Erika beriihren. Ich hatte Gliick. Der Andenzug, der nur zweimal wochent- lich fuhr, sollte um elf Uhr abgehen. Stolz schob ich am Schalter mein Geldstiick dem Beamten entgegen. Er gab mir die Karte und einige Silbermiinzen. Als ich auf dem noch ein- samen Bahnsteig stand und die Kofferhyane verabschiedete — einen unheimlichen Menschen mit Zahnen wie ein greiser Hai — naherte sich mir das sonderbarste Wesen, das ich bis dabin getroffen. Es trug Frauenkleidung, hatte indessen einen kurzen schiitteren Bart, eine schwarze Warze auf der Nase und ein scharfes, dennoch verkiirzt wirkendes Kinn. Ein vorsint- flutlicher Hut saB auf dem Kopf, und eine Mantilla hing um die Schultern. Zwei kleine braune Jungen mit Zuckerrohr- biindeln flankierten das Wunder. „Wohin reisen Sie?“ fragte es. „Nach Cuzco; heute nur nach Arequipa." „ Ich bin ebenfalls aus Cuzco; eine Schneiderin. Wieviel zahlten Sie fur die Karte?" Ich zeigte, was mir geblieben. „Und Sie sind eine Deutsche? Meine Landsmannin?" (Sie sah nach jedem anderen Volke eher aus.) Ich bejahte zogernd. Ihr Bart floBte mir ein gewisses Grauen ein. Ihr Geschlecht, wie ihre Staatsangehorigkeit, muBten auf guten Glauben hingenommen werden. „Er hat Sie betrogen! Geben Sie mir Karte und Geld!" Sie steuerte auf den Schalter zu und entriB dem Manne ein kleineres Goldstiick, wetterte, tobte. „Er behauptet, sich geirrt zu haben," erklarte sie pustend. „Diese Manner! Ich aber werde Sie beschiitzen, denn wir sind Landsleute." Auf Grund dieses Bandes zwischen uns iiberlieB ich ihr — nicht mit zu viel Vertrauen — meinen Koffer und die Erika zur Bewachung und durchwanderte Mollendo, ein Gefiige von Holzbauten, die braun wie die Berge und der heiBe Sand und ablehnend wie die Brandung dieser Kiiste scheinen. Eine trockene lahmende Hitze entstromt dem Erdreich ringsumher. Die Leute betrachten einen mit eigentiimlich gierigen Blicken, in denen ein Bodensatz von MiBtrauen lauert. Von dem hochsten Punkt des Ortes schaute ich zum letzten Mai auf den fernen „Bologna“. Niemand war der teuren Lan- dungskosten halber ans Land gefahren. Das groBe Schiff war der einzige Fleck auf den unendlichen Wassern. Sie trugen es weiter dem Siiden zu. Erst heute begann meine Columbusfahrt, denn erst heute war ich allein, auf mich selbst angewiesen. 5 65 Ich muBte mein Bestes tun — heute und allzeit. Vielleicht lief in diesem Augenblick das bartige Unding der hohen Anden mit meiner Erika davon. Unertraglicher Gedanke! Ich flog dem Bahnhof zu. Den hohen Anden zu. Der Zug hatte nur erste und zweite Klasse; ich gehorte zum Abschaum ohne Geld. Indianer mit Riesenbiindeln — Bettzeug, Lause und Kinder enthaltend — kletterten in den langen Wagen, der vier Langsreihen von Sitzen, zwei unter den Fenstern, zwei in der Mitte mit sich treffenden Lehnen hatte, und verstauten ihre Habseligkeiten (Hiihner, Korbe, kleine Kinder, Hunde unter, Obst, Biindel und groBere Kinder auf den Banken) so gut es ging. Die Manner trugen den Poncho — ein wollenes Tuch, das ein Loch zum Durchstecken des Kopfes hat — die Frauen kurze Blusen, die oft Einblick zu fraglichen Reizen ge- statteten und sehr faltige, glockenartige Rocke aus dunkelrotem Tuch oder buntem Kattun. Die Kinder trugen ihr Geburtshemd und irgend einen Lumpen dariiber. Hungrig waren sie alle, selbst die Hiihner und die Hunde, die in gewissen Zwischen- raumen, vereint mit den Kindern, die Beschaffenheit meiner Beine unter der Bank untersuchten. Neben mir saB die Schneiderin yon Cuzco mit ihren beiden Enkelkindern, die selbst iiir mein ungeiibtes Auge braun wie Niisse und erwiesene Mischlinge waren (nicht meinem seligen Landsmann zuzu- schreiben!) und von denen sie immer behauptete, sie waren durch die Tropensonne von Mollendo so braun geworden_ WeiB zu sein in einem Lande, in dem alle von Zitrone zu RoBkastanie schattierten, ist ein unbezahlbarer Vorteil. Ich frohlockte, ihn zu besitzen. Wie ein Dollar unter osterreichi- schen Nachkriegskronen kam ich mir vor. Gans! Die Steigung war ununterbrochen. Die braunen Berge, die weiBen Felder riickten heran. Man muBte die Augen zulmeifen, um nicht etwas von dem feinen Sand hinein zu bekommen und zu erkranken. Die Brandung toste noch eine Weile weiter und verstummte hinter uns. Die Reisenden zogen iiberall Zucker- rohr zum Kauen hervor. Sie bissen mit Geduld an den zahen Stengeln und spien den breiigen Rest mit viel Geschick fiber meinen Kopf hinweg zum Fenster hinaus. Wie Miicken- schwarme sausten diese gekauten Stiicke durch die Luft. Ich selbst muBte eine Weile mitkauen. Wenn in Rom, tu’ wie die Romer .... Der Flugsand bildete Diinen, die an Graber erinnerten. Nichts als tiestein und Sonnenglut, bis man das fruchtbare, oasenartige Gebiet hinter Cachendo erreichte. Hier gediehen 66 allerlei Tropenfriichte, und Verkauierinnen kletterten mit schonen langlichen Korben durch den Zug und traten auf ein halbes Dutzend FiiBe, ehe sie wieder beim Abschiedspiiff aus dem schon fahrenden Zug sprangen. In La Joya konnte man das Mittagsmahl halten — Picante. Alte Indianerinnen saflen auf dem Erdboden neben Riesen- tontopfen und schopften, die belebten Zopfe sehiittelnd, mit einem Blechloffel Reis und zerstampften Pfeffer alter Arten auf Blech- teller. Jede Portion kostete 10 Centavos, und hatte die Alte zufallig zu viel gegeben, so warf sie den UeberiluB mit der braunen Hand in den Topf zuriick. Fur unbegehrte Lausdrauf- gaben war nicht mehr zu zahlen. Die Hoilichkeit der hohen Anden befiehlt Gastfreundschaft gegen den Fremden. Man soil den groBten Leckerbissen vom eigenen Teller mit der eigenen Gabel oder dem Loffel dem Gast in den Mund schieben. Ich fand mich als Gegenstand weit- herzigen Wohlwollens im Zug. Meine Forscherbegeisterung gestattete es mir damals noch, all das Gebotene tapier zu ver- schlucken in der Hoffnung, wenn schon nicht in der Ueber- zeugung, daB nicht etwa eine Laus gerade diesen Loffelvoll zierte. Bei San Jose, wo es frisch zu werden begann (1478 m), brachte man gute Butterkipfel, die mir den Laus- und Pfeffer- geschmack etwas abnahmen. Das ist iibrigens das gefiirchtete Verugagebiet; denn nur in dieser Hohe zeigt sich diese unheim- liche Krankheit. Der Kranke leidet an dauerndem Fieber, hat haBliche blauviolette Flecken im Gesicht, fiihlt sich so elend wie bei Typhus und stirbt unfehlbar daran, zuzeiten schnell, zuzeiten erst nach Jahren. Ich staunte die immer groBartiger werdende Landschaft an und wartete auf den vielbeschriebenen Misti, den Wunderberg Perus. Plotzlich winkte mir ein Indianer, und ich sah zur ent- gegengesetzten Fensterseite hinaus. Zwischen zwei Bergketten erhob sich eine herrliche, schneeweiBe, oben abgerundete Masse. Wie losgetrennt von der Erde schien mir der Berg. Er griiBte, winkte gleichsam und warnte. Hoch stand er iiber mir, nicht nur raumlich, sondern auch innerlich. Er hatte eine Seele, und diese Seele gehorte dem Ewigen an; hatte nichts zeitlich Ge- bundenes. Nie wieder hatte ich dieses Empfinden einem Berge gegeniiber, nicht einmal dem heiligen Berge Japans, der dem Misti ahnelt. Es war mir damals und ist mir heute noch, als bande uns beide ein langstbegrabenes Geheimnis. .. Es dunkelte. Die Ebene von Arequipa, dicht zu FiiBen des machtigen Vulkans, dehnte sich mehr und mehr. Tiabaya und lingo schwanden, und als das letzte Rot vom Schneehaupt des 67 Misti gewichen war, hielt der Zug in Arequipa, der zweiten Hauptstadt von Peru, im Herzen der hohen Anden. Ich hob meine Erika aus dem Netz. In Arequipa. „Nun miissen wir ein Zimmer finden, das nicht allzu viel kostet,“ meinte die Schneiderin von Cuzco, die sich wie eine Klette an mich geheitet hatte, und entdeckte einen kleinen Jungen, der den Koffer auf den Kopf schwang und uns voran- eilte. Hinter ihm kam die mutige Bartdame mit zwei Taschen, dahinter die beiden Jungen mit den Zuckerrohrbiindeln und zu- letzt meine Wenigkeit mit Schreibmaschine und Handtaschchen. So wanderten wir durch die pecMinsteren Gassen von Hotel zu Hotel, von Einkehrhaus zu Einkehrhaus, und immer war alles besetzt. Bei jeder Wegbiegung wurden unsere Sachen schwerer, und ich achzte vor Miidigkeit, als wir endlich in das Hotel Francia e Inglaterra hinkten, wo der Wirt uns sagte: „Ich habe nur ein Zimmer zu vier Soles frei, mit einzig zwei Betten.“ Gern hatte ich, um allein schlafen zu diirfen, die vier Soles bezahlt, doch wie konnte ich meine Landsmannin, die mich unter ihre haarigen, nicht fedrigen Fittiche genommen, ohne Obdach stehen lassen? Wir betteten daher die beiden Braunen auf ein wackeliges Sofa und nahmen selbst von den beiden Betten Besitz. Ebenso teilte ich mein Essen mit dem einen, sie das ihre mit dem anderen der Kinder. Zu viel war es fiir niemand gewesen .... So wenig die Geschichte meinen Traumen entsprach, so trostete mich der Umstand, wenigstens ein Bett fiir mich allein zu haben, und da es ein ungewohnlich groBes war, legte ich mich vor Freude einmal der Lange und einmal der Breite nach hinein, streckte meine Glieder wie ein Polyp seine Fangarme und wand mich wie ein Lindwurm in neuem Tale; dann wiinschte mir die Schneiderin aus Cuzco „gute Nacht“, und ich schloB die Augen in der irrtiimlichen Erwartung, sofort ein- schlafen zu diirfen. Das Zimmer hatte kein Fenster, wohl aber eine verdrahtete Oeffnung, die auf irgend ein Gewolbe ging, und mir war es, als sprache jemand dicht daran im Fliisterton. Ich lauschte, ver- mochte indessen keine einzelnen Worte zu unterscheiden und versank durch diese Laute allmahlich in einen Zustand zwi- sehen Wachen und Schlaf. „Jesus de mi corazon!" Ich schnellte empor. Das Licht brannte, und meine ehren- werte Landsmannin saB aufrecht im Bett und rief alle Heiligen 68 an. Sie hatte Krampfe in der rechten Wade. Mit meinem heu- tigen Wissen hatte ich ihr geraten, sofort aus dem Bett und schwer auf den Boden zu springen — das sicherste Heilmittel — damals starrte ich sie ermiidet an und wuBte ihr nicht zu helfen. „Heraus, heraus, ihr iaulen Schlingel! So geht es! Man darbt und arbeitet fur solch ein Kinderzeug, und wenn man etwas braucht-auf, auf, Carlito, und reib’ mir das Bein! Aiiii, auuuu. corazon de Jesus!" Der schlaftrunkene Junge saB auf ihrem Bett und Bein und knetete an der Wade herum. Das Jammern gab nach, der Kleine kletterte zuriick auf den Divan und ich schloB die Augen. „Jesus de mi corazon!" Es half nichts; erst gegen Morgen nahmen die Krampfe und das Gezeter ab, und ich verfiel in einen kurzen unruhigen Schlummer, einzig um einen ganz furchtbaren Traum von Pest und Blindheit zu traumen. „Welch boses Omen!" dachte ich beim Erwachen. Ob der Aufenthalt dem Traum entsprechen wiirde? Ich friihstiickte in Eile, bezahlte meine Rechnung, nahm Abschied von der Schneiderin von Cuzco und begann die Zimmersuche. Diesmal sollte es mir nicht wie in Genua gehen .... Unweit von Francia e Inglaterra wolbte sich das eiserne Gittertor der beriihmten Kathedrale von Arequipa, unter der sich das Herz des Misti befinden sollte und die im Laufe der Jahrhunderte schon oft zerstort worden war. Ihr Anblick be- riihrte mich eigentiimlich: ich verspiirte eine jahe Furcht, etwas wie ein Erinnern, das dennoch kein Erinnern sein konnte. Es war mir, als sollte dieser mir fremde Bau bestimmend fur mein Leben werden. Ich wollte eintreten und wagte es nicht, weil ich keine Mantilla besaB. Da ich indessen iiber dem blauen Seidenmiitzchen noch den weiBen Reiseschleier trug, winkte mir ein Priester, einzutreten. Die Kirche war schmucklos, ver- glichen mit anderen Kirchen lateinischer Volker, und nur ein Kruzifix von bedeutender GroBe mit sonderbar wandernden Augen fiel mir auf. Das Morgenlicht lag in roten Lachen auf den weiBen Fliesen, und oben, in den Fensterbogen, krachzten die Raben. Ganz beklommen machte ich mich auf Zimmersuche. Um drei Uhr nachmittags war ich nahe daran, mit der bartigen Schneiderin nach Cuzco weiterzureisen; denn entweder vermietete man nicht, oder das Zimmer hatte keine Fenster, so daB man gezwungen war, die Tiir angelweit offen zu lassen. So unwissend ich war, ahnte ich doch, daB dies unbedingt zu verwerfen war, und miihte mich ab, etwas besser Gelegenes zu 69 entdecken. Jemand riet mir etwas in der Calle Jerusalem, und die Frau, zu der ich meinen Wunsch aussprach, geleitete mich durch ein enges Mauergefiige zu einem fensterlosen Loch, das keinen Boden und nur eine Brettererhohung fiir das Bettzeug hatte. „Licht brauchen Sie wenig,“ meinte sie gutmiitig, „denn wenn am Abend die Esel in die Stallungen zuriickgekehrt sind, brennen die Knechte Kerzen vor den Tiiren und der Wider- schein der Stallaternen kommt Ihnen zugute." So sehr ich meine Anspriiche herabgeschraubt hatte, so nieder waren sie noch nicht. Ich suchte neuerdings ein Zimmer im Herzen der Stadt, gelangte bis zur Markthalle jenseits des kleinen Parks und fand in der Casa Rosada Unterkunft. Die Frau, die mir das Haus empfohlen hatte, sagte mir: „Es wohnen gute Leute dort und schlechte." Das bestimmte mich, den guten wie den bosen Leuten aus- zuweichen. Man konnte, wo man wollte, gewiB auch allein sein, und es war der einzige bewohnbare Raum, den ich ent- deckt hatte. In einem erstklassigen Hotel zu wohnen, ware mir zu teuer gewesen, und selbst da ist es mehr als fraglich, ob ich mit weniger Gefahren davongekommen sein wiirde. Ich zog ein. In der Casa rosada. Mein Zimmer hatte einen fiir Arequipa ungeheuren Luxus: z w e i Fenster! Da es eigentlich einen sogenannten zweiten Stock hatte (nicht hoher als ein erster bei uns), war dies mog- lich, aber beide Fenster, auf die ich so ungemein stolz war, waren in Wahrheit Tiiren — eine auf den Gang miindend, der zur Treppe fiihrte, eine in Verbindung mit dem Balkon, der die Vorderseite des Baus entlanglief. Meine Haupttiir schloB ich mit einem Vorhangeschlofi, vor die Verandatiir aber zog ich ein Sofa von Riesengewicht, das nur drei Beine hatte. Die Tiiren, die in andere Zimmer rechts und links fiihrten, waren auf meiner Seite verspcrrt und verriegelt. Ich untersuchte meine vier Festungseingange jeden Tag. Sonst enthielt das Zimmer einen gebrochenen Waschtisch mit blindem Spiegel, ein Bett mit Matratze, Kissen und einem Leinentuch, so, daB ich das Reiseplaid darauflegte, — einen Tisch samt Stuhl und das tote Sofa. Die Aussicht allein war wunderschon — vorn iiber die Markthalle, hinten iiber die Dacher bis zum Chachani. Meine Hausfrau war ein triibselig aussehendes, einge- schrumpftes Mischlingsweib, und das Kind — wenn es ihr Kind war — hieB Casimir und bediente mich zuzeiten. Der ge- 70 wisse Ort, auch ein Luxus in Arequipa, wo man „wie die Ko- nige in alter Zeit“ am liebsten hinters Haus geht, hatte eine undurchsichtige Scheibe und keinen Riegel, so dab man ab- wehrend grunzen muBte, wenn man Schritte vernahm. Meist rief man artigkeitshalber dem Nahenden auch entgegen, wie lange man noch zu verbleiben gedachte, und bei Andrang gab man dem, der es eiliger hatte, den Vortritt. Herren besuchten lieber dunkle StraBenecken, die in Arequipa vorwiegend diesem Zweck dienen, und die Indianerfrauen breiten mitten auf der StraBe ihre Rocke aus — immer an der Sonnenseite — und besorgen, was nicht aufgeschoben werden kann. Dabei rufen sie die Voriibergehenden ruhig an, fragen nach dem Preis der Eier, besprechen Familienangelegenheiten und lassen sich von Eselherden nicht verjagen. Hat eine Frau etwa weniger An- recht auf den StraBenstaub als ein Langohr? Am Abend drehte immer jemand eine Drehorgel, und die ganze Nacht hindurch heulten die Hunde, heulten doppelt, wenn die Glocken lauteten und der Boden wankte, weil es im Misti kochte. Ich entschied mich zum Bleiben und arbeitete so brav wie nie zuvor. Ich lieh mir sogar von Casimir einen Besen aus, mit dem ich den Staub hinausfegte, — eine Tugend, die ich bis dahin noch nie entfaltet hatte, und in meiner Freizeit (zwischen der literarischen Arbeit) zeichnete und malte ich fieberhaft. Eine Anzeige in der Zeitung brachte mir unverhofft viele Ant- worten ein, und ich sah mich schon mit vollen Sacken das alte Inkareich verlassen. Ich lachelte wie ein Krampus auf einer Zuckerschachtel und war „columbusser“ denn je. Das Maisabenteuer. In drei Tagen war ich „auscolumbust“ und der „ge- schwollene Kopf“ auf den urspriinglichen Umfang zuriickge- fiihrt. Von da ab kannte ich meine Grenzen und hatte iiberdies das Gruseln erlernt. Die Taupfeilertapferkeit war weg. Von da an ging ich durch das Leben als Weib, nicht als verriicktes Magdelein .... Und das kam so. Ich hatte mich bei dem vornehmsten Advokaten der Stadt vorstellen miissen, da er beabsichtigte, mir den Unterricht seiner Kinder — dreizehn an der Zahl — fur alle Gegenstande in englischer Sprache zu iibergeben, und um einen besseren Eindruck hervorzurufen, hatte ich mein bestes Kostiim aus rotschwarzer Seide angezogen. Sehr befriedigt — was ich ver- dienen wiirde, reichte dahin, mein Zimmer, und, wenn ich sehr vorsichtig wirtschaftete, meine Kost zu bezahlen, — und in 71 meiner Freude stolperte ich unachtsam dahin, bis mich auf der Plaza de Armas vor der Kathedrale jemand anrief. Es war ein Mitreisender des „Bologna“, der mir sagte, daJ3 ich mich im fremden Lande einsam fiihlen muBte, und mich fragte, ob ich Lust hatte, seine Schwester zu besuchen. Ich war einsam und folgte ihm sofort. Die Sonne schien hell, es war drei Uhr nachmittags, und die Wohnung der jungen Frau nicht allzu weit entfernt. Im Hofe hatte er Lamas, und mein Entziicken kannte keme Grenzen. Bis dahin hatte ich sie hochstens in einem Tier- garten gesehen, nun konnte ich ungestort ihr weiches Fell, ihren iangen Hals, die verachtlich gertimpfte Nase, die hohen Beine bestaunen; nur angreifen durfte ich sie nicht, denn fur derlei Vertraulichkeiten sind sie nicht zu haben: da spucken sie dem Verwegenen einfach ins Gesicht. „Ich werde dem Fraulein unsere Felder und Baume zeigen“, sagte er, und ich begleitete den jungen Mann liber die Maisfelder, die durch breite, aber niedere Steinwalle vonein- ander getrennt und schon deshalb bemerkenswert waren, weil sie so hoch wuchsen, wie man es bei uns nie erlebt. Manche Halme erreichten eine Hohe von drei Metern, und daher be- wegte ich mich auf dem schmalen Pfade wie in einem Wald. Damals trug ich immer Handschuhe und dachte so wenig daran, sie auszuziehen — selbst an heiBen Sommertagen — wie mein Hemd. Umso befremdlicher war es, daB ich auf ein- mal ein Drangen verspiirte, mich der Lederhandschuhe zu ent- ledigen und sie in meine Handtasche zu stecken, die PaB und Geld und einige wichtige Briefe enthielt. Kaum aber hatte ich das getan, so fiihlte ich mich an den Schultern erfaBt und auf den schmalen Pfad niedergedriickt. Noch immer war ich eher erstaunt als bestiirzt und starrte der Braunhaut groB ins Ge¬ sicht. Hierauf folgten die Ereignisse schnell aufeinander. Mir blieb nur ein dunkles Erinnern an einen Kampf, der uns schnell vom schmalen Pfad unten im Graben landete, so daB mein neues Staatskleid mit einer sandigen Kruste bedeckt wurde, was meine Erbitterung noch erhohte. Von Zeit zu Zeit verlor ich die Tasche und schwamm gewissermaBen zu ihr zuriick, riB sie an mich und kampfte weiter, ohne daB der Peruaner mich auf die Beine kommen lieB. Alle meine Bitten, alle meine Vor- stellungen blieben ungehort und ernteten einzig ein kaltes „Es niitzt nichts!“ Das Menschtier kniete mit all seiner Schwere auf mir und vereitelte jede Bewegung auBer der meiner Arme. Da warf ich den Kopf zuriick und schrie so laut, wie ich es meiner Lunge nie zugetraut hatte. Laut genug, ganz Arequipa von den Toten zu erwecken, aber ich erweckte nichts als einen 72 sehr kleinen Jungen, der angstvoll in den Graben spahte. Das Menschtier saB noch auf mir und preBte seine dicke, arbeits- harte Hand auf meinen Mund. Meine Zahne sind noch von Mutter Natur eingehangt; sehr gute iiberdies. Ich vertiefte sie in die Pfote. Das Tier lieB los. Ein StoB, gerade als er zum Kinde sprach, um es wegzujagen, und ich war frei. Ehe er mich zu packen vermochte, war ich den Abhang hinaufgelaufen und rannte aus Leibeskraften dem Weichbild der Stadt zu. Hinter mir rannte der Mann, aber ich war flinker. Erst als ich vor einem Kakteengebiisch landete und fiinf Meter unter mir die StraBe sah — ich muBte mich verlaufen haben — er- reichte er mich auf dem unteren Pfade. Ich hatte die Demiiti- gung, mich von ihm herabheben lassen zu miissen, aber hier waren schon so viele FuBganger, daB ich mich nicht mehr zu weigern brauchte. Wortlos ging ich von ihm hinweg; er sprach zu tauben Ohren. Nun machte ich ihm keinerlei Vorwiirfe mehr. Es muBte auch meine Unvorsichtigkeit gewesen sein, die das Unheil ermoglicht hatte. Als ich heimwanderte, dachte ich ohne Ende: „Wie seltsam du bist! Ein so groBer Schrecken, eine so starke seelische Erschutterung und endlich auch eine korper- liche, denn ich war wie ein leerer Sack hin- und hergeflogen, und du weinst nicht, du fallst nicht in Ohnmacht, du tust mit einem Worte: n i c h t s !“ Ich verstand mich nicht, wenigstens damals nicht. Im Augenblick bewahrte ich eine mir unerklarliche Ruhe; aber mein ganzes Leben lang blieb mir die Furcht vor dem mann- lichen Menschtier zuriick, und etwas von dem kindlichen Ver- trauen, das ich bei all dem theoretischen Wissen fiber dieses Gebiet noch besessen hatte, war auf immer verloren. Die E u 1 e. Am folgenden Tage, gerade als ich meinen Tee im win- zigen Schnellsieder kochte, klopfte jemand an meine stets ver- sperrte Tiir. Ich offnete und sah einen alten Mann mit ge- schwollener Rotnase, tiefliegenden Augen, Barthaaren wie die einer zerzausten Zahnbiirste und Ohren wie die Kotfliigel eines Lastkraftwagens. „ Ich bin Ihr Hausherr!" erklarte das Gebilde. Bisher hatte ich mir eingebildet, einzig der verschrumpften Alten zahlen oder Auskunft geben zu miissen; indessen — dem Hausherrn schloB man nicht so leicht die Tiire, und als er bat, eintreten zu diirfen, gab ich den Weg frei; nicht iiberliebens- wiirdig. ,,Was machen Sie?“ 73 Auf dem Tisch lag der Pinsel und meine Malerarbeiten. Der Mann wurde sofort unverschamt und gebrauchte Worte, wie ich sie selbst in meiner Muttersprache noch nie vernom- men hatte. Er wollte mich beriihren, und ich wich ihm aus; das Zimmer war geraumig, aber eine Sache ist es, jemand herein- zulassen, eine ganz andere, ihn wieder hinauszubringen. Mein Teewasser lief iiber, meine kostbare Zeit wurde vergeudet; wie zw r ei Narren, schneller und schneller, rannten wir um den Tisch. Ich war weder imstande noch geneigt, den Rest meines Lebens im Laufen um fremde Tische zu vergeuden. Ueber die Schulter warf ich zuriick: „Bisher habe ich die Peruaner iiir anstandige Menschen gehalten, doch heute iiberzeuge ich mich, daB sie — wie die Chilenen ganz richtig urteilen — Schweine sind.“ Das wirkte! Die Rotnase blieb stehen und fluchte das Blaue vom Himmel und das Braune aus der Erde heraus. Er endete mit den Worten: „ Ich bin der reiche Besitzer dieser ganzen StraBe und habe in meinem Leben Franzosinnen, Englanderinnen, Deutsche ge- habt. Ich werde auch . . . „Diese Tiir von auBen zumachen und zwar mit etwas Be- weglichkeit!" „Toten werde ich . . . .“ „Alle Blinden und Narren, doch auBerhalb dieses Zim¬ mers!" unterbrach ich ihn. „Ich werde ..." „DrauBen . . . .“ Das war ja viel verlangt, denn drauBen konnte er mich nicht gut umbringen, wenn ich drinnen blieb; aber Logik war weder seine, noch meine starke Seite in jenen Augenblicken. Er ging, und ich versperrte die Tiir hinter ihm. Auf der offenen Stiege, die im Grunde nur eine gebrochene Leiter war, horte ich ihn brummen: „Dieses dreimal verruchte Weib, diese stolze Senorita, ich... “ und es folgten alle haarstraubenden Beschreibungen, deren seine Trinkereinbildung fahig war. Ich zitterte hinter der diinnen Wand; denn auszuziehen war mir aus Geldriick- sichten fast unmoglich, und zu bleiben, schien gefahrlich. Seltsam war es daher, daB die Eule nie wieder unange- nehm wurde und sogar nach Kraften darauf schaute, daB andere Manner mir im Haus nicht lastig fielen. Trotzdem bewegte sich eine wahre Volkerwanderung zu meinem Zimmer. Durch das verhangte Fenster sahen sie nichts, aber auf dem Boden lagen sie und spahten angelegentlich herein. W a s in aller Welt konnte ich tun, daB ich die Tiir verschloB? In Peru tut 74 man alles, auch das Unbeschreiblichste, bei offener Pforte. Die Paarung der Indianer geschieht auf ireiem Felde. In drei Tagen hatte ich mir das Lacheln abgewohnt. Wer mit mir sprach, dem sah ich halt in die Augen, mit einem Mund, der sich nie verzog. Ich begann, es bitter zu beklagen, als einziger Dollar unter entwerteten Geldsorten zu wandeln. In La Pacheta. Ich litt an einer sonderbaren Krankheit. Wo ich auch sein mochte — daheim, auf der StraBe, im Bett Oder selbst im Schlaf — plotzlich hatte ich einen jahen heftigen Schmerz zwi- schen den Schulterblattern und muBte erbrechen. Immer nur Wasser, selbst unmittelbar nach einer Mahlzeit. Ich hatte keinen Berater und kein Geld zu arztlicher Behandlung. So wartete ich, daB die Sache von selber gut wiirde, was nach einer Woche auch wirklich geschah. Wahrend ich indessen noch mit ungewissem Magen (es mag die gefiirchtete Hohenkrankheit gewesen sein, die man im Andengebiet erwischt, denn Arequipa liegt 2301 Meter hoch) herumlief, durchwanderte ich die ganze Umgebung und schlug am liebsten den Weg nach dem Friedhof ein. Da bliihten im Schatten der peruanischen Weiden, die hoher und schlanker als die europaischen und oft windverkriimmt sind, die Kapuziner- rosen wie feurige Herzen, und die weite Ebene erstreckte sich vom FuBe des Misti bis zu den Hiigeln um Tiyabaya — ein Kranz braunen Gesteins, nur selten von einem vereinzelten Baum unterbrochen. Der langgezogene Pichupichu und der ihm gegeniiberliegende Chachani waren wie der machtige Misti schneegekront — ein wundersamer Gegensatz zu den Palmen auf der Plaza de Armas und den Garten der Stadt. Mitten auf dem Wege nach La Pacheta befand sich ein kleines weiBes Kirchlein, so verlassen wie ich selbst, und iiber dem Eingang standen die mich eigentiimlich ergreifenden Worte: „Es vergehen die Zeiten, es sterben die Geschlechter: einzig Gott dauert ewig.“ Der Friedhof selbst war ganz klein, die Graber der Armen hatten nur ein Holzstiick schief in das Erdreich gebohrt, doch die Reicheren ruhten der Breite nach in einer dicken Stein- mauer und hatten vorn um die Grabtafel einen Kranz oder eine Schleife. Diese Grabtafel ist aus Glas mit einem kleinen Gitter dariiber und im Sarge trocknet der Tote langsam ein. La Pacheta ist ein langgestrecktes Indianerdorf mit Hiitten, die aus losem Gestein und etwas Lehm zusammenge- wiirfelt sind, unregelmaBige Strohdacher — mit allerlei Holzern 75 gegen den Wind daraufgeworfen — tragen, und samtlich ohne Fenster sind. Der FuBboden ist nur gestampfte Erde, und Meer- schweinchen, Hiihner, ein Esel oder Lama nehmen weiteren Raum weg. Auf alten Hadern voll Ungeziefer liegen die Man¬ ner und Frauen, die den Dunst nicht langer ertragen konnen, stecken den Kopf fiber die Schwelle heraus, wahrend der Korper drinnen in der Hiitte bleibt. Geht man am Abend daran voriiber, so glaubt man, Enthauptete anzutreffen. Bissige schwarze Hunde, die den Auslander riechen, und die man sich nur mit Steinwiirfen vom Leibe halten kann, durchstreifen solche Dorfer und die ganze Umgebung von Arequipa. Auf dem Riickweg von La Pacheta wurde ich von einer Familie angesprochen, muBte in einer winzigen Chicheria die beriihmte Chicha — das bei den Inkas heilige Maisbier — kosten, das siiBsauerlich schmeckt, faul macht und wie Wasser zu Ueberschwemmungszeiten aussieht. Als es dammerte, sagte mir die Frau des Hauses: „Ich lasse Sie nicht heimgehen, denn so spat ist es ge- fahrlich.“ Diese Leute, die so riihrend gut gegen mich waren, stamm- ten aus Puno an den Ufern des Titicaca. Ich verbrachte die Nacht in ihrem Steinhauschen und kehrte am folgenden Tage obstbeladen nach der Stadt zuriick. Nun war ich nicht langer allein. Mutiger nahm ich mein Tagewerk auf. Beim Unterricht. Die folgenden Tage verstrichen regelmaBig. Ich hatte sehr viel Gluck gehabt. Vormittags unterrichtete ich die dreizehn Kinder des reichen Advokaten, der ein besonderes Schulstiib- chen hatte, von dem aus man in den stillen Hof mit Palmen sah, der jedem spanischen Hause eigen ist. Ich unterrichtete von acht bis elf, und zwar in samtlichen Lehrfachern, mit Aus- nahme von Mathematik und Physik, alles in englischer Sprache. Von elf bis zwolf aB ich in Eile Brot und kochte Tee, von zwolf bis halbeins gab ich englischen Unterricht in der Calle Jerusalem, den allerdiimmsten vier Kindern, die ich je kennen gelernt, und die dazu noch faul und ungezogen waren. Von zwei bis fiinf las ich in der offentlichen Biicherei in aller- lei alten Schriften iiber die Kinder der Sonne und kopierte alte Zeichnungen. Von fiinf bis sieben machte ich meine ortlichen Entdeckungsreisen. Am liebsten begab ich mich in die Richtung des Misti, wo ebenfalls ein verlassener Friedhof war und man auf den windschiefen Holzstiicken die seltsamsten Bilder und Zeichen, teils noch aus dem unterdriickten Sonnenglauben, entdecken konnte. Da schimmerten die Schluchten des Misti 76 wie gestocktes Blut, flammte der Himmel wie das Trugbild eines ungeheuren reifen Kornfeldes im Sonnenlicht, knisterte der Sand unter dem Getrabe der Lamas, die wie Teufel iiber die Ebene daherrasten und deren lange Ohren wie Horner auf- standen. Aasgeier kauerten um frisches Aas, und unzahlige gebleichte Tiergebeine bestreuten das ganze Gebiet. Aus irgend einem Steinloch flatterte das scharlachrote Tuch, das eine Chicheria ankiindigte, und Meerschweinchen liefen iiber das niedere Gestriipp, das den Boden da und dort mit griinlichen Blattern und gelben Blumen iiberzog. Von sieben bis acht hatte ich dreimal wochentlich noch einen Sehiiler, und sobald er ge- gangen war, schrieb ich meine Briefe. Oft weckte mich ein Erdbeben schon friih am Morgen. In jedem Fall begann ich mein Tagewerk um sechs. In jeder freien Minute schrieb oder malte ich, und wie sehr ich mich auch nach besserer Kost sehnte, war ich nie ungehalten dariiber, eben vorderhand nur Brot und Tee zur Magenfiillung kaufen zu konnen. Wer hohe Ziele hat, darf kleine Opfer nicht scheuen. In der Stadt. Arequipa bedeutet „jenseits der Berge“ und das trifft zu. Auch jenseits von aller Beriihrung mit der A u Gen welt ist die Stadt. Kein Reisender verirrt sich hin, der nicht in unerlaG- lichen Geschaften dorthin muB, und die wenigen WeiBen, die man sieht, gehen mit finsteren Gesichtern durch die StraBen. Ich versuchte vergeblich, AnschluB an die Reichsdeutschen zu gewinnen. Sie waren mir dort und damals als ehemaliger Oester- reicherin aufsassig. An die Englander oder Franzosen, gering an der Zahl, wagte ich mich nicht heran, und so war ich in diesem feindlichen Land mutterseelenallein. Verlangte ich ir¬ gend eine Auskunft, wurde sie nur unwillig oder gar nicht er- teilt. Ein Verkehr mit Mannern war durch die Eigenart der Peruaner unmoglich gemacht, denn jeder Mann ging vom tief- ernstesten Gesprach sofort zum gemeinsten Verhalten iiber. Selbst auf offener StraBe hieB es vorsichtig sein, und irgend eine einsamere Stelle war — mitten am Tage — schon eine wahre Morderfalle. Wie ein Hexenkessel war der Ort; aus jeder unbewachten Ritze brach ein Zweibein, und wenn ich nach dem Maisabenteuer nicht alle meine Sinne wach gehalten hatte, wiirde ich, wer weiB wie oft, auf offentlicher StraBe ver- gewaltigt worden sein. Manner, die mich auf der StraBe (mitten im Geschaftsviertel!) trafen, hielten mir wortlos eine Handvoll Gold hin, und Angebote dieser Art hagelten auf mich nieder. Kaufte ich in einem Laden eine Kerze, eine Schachtel Ziindholzer, so erkundigte sich zuerst der Handler selbst, ob 77 ich „allein“ war; der Angestellte driickte mir die Ware in ver- letzender Weise in die Hand; ein Kunde versuchte, mieh in ein Gesprach zu ziehen, um mir Vorschlage zu machen, und vor der Tiir wartete ein anderer. Ich ertappte mich standig auf dem im Grunde komischen Gedanken: „Wenn du mich ansprichst, so tote ich dich!“ Kein Trappist in seinem Kloster ging mit einem firgeren Memento-mori-Gesicht durch die Stadt als die kleine Schrift- stellerin, die sich vor ungezahlten Zeitaltern (so lang schien mir die Zeit!) eingebildet hatte, ein zweiter Columbus zu sein. In unseren Tagen, in denen man frei an das „Ausleben“ und „Auskosten“ glaubt, scheint es den meisten meiner Leser vermutlich albern, iiber derartige Sachen so viele Worte zu ver- lieren. Ich aber schreibe als Frau, und fur ein Weib ist der Korper ein unberiihrbares Heiiigtum. Verschenken kann man es gegebenenfalls an ihn, den man zum Heiligen erhebt; davon von Wilden Besitz ergreifen zu lassen, ist etwas vollig anderes. Ueberdies ist es meine feste Ueberzeugung, da!3 der Menlch auch in der Kunst nur Gemeines leisten kann, der in seinem inner- sten Leben alles Ideale abstreift. Ein Wirtshausglas ist kein Altarkelch, und wer in der Kunst das Hochste und Reinste, das die Menschheit Erhebendste schaffen will, der darf auch den Leib nicht durch den Sumpf ziehen. Ein Nachgeben, ein Mich- verschenken hatte durch den Wechsel von Eindriicken und die Kraft neuer Erlebnisse auch mein Streben erstickt, mein Lernen gehemmt, mein Schaffen auf ganz andere Furchen getrieben. Das Erreichen irgend eines Ziels hangt in erster Linie davon ab, daB man sich nie zersplittert. Von den Dollarkonigen bis zu den groBten Gelehrten findet man das als Richtschnur des ganzen Seins. Als Mensch mag man abseits laufen von der Masse der Menschen — vielleicht sogar der tiefsten Mensch- erfahrungen — aber das, was man unbedingt als Lebensleit- motiv gewahlt hat, wird zuletzt rein und klar ausklingen. Mein Dasein gehorte der Feder; modern gesprochen meiner „Erika“. Darin fiihlte ich — vielleicht auch mit Selbstiiber- hebung — daB ich etwas zu leisten, der Menschheit etwas zu geben vermochte, das ganz so, in dieser Eigenart, kein anderer vermochte. Nicht besser oder schlechter als andere: einfach ge- rade so! Deshalb ging ich trotz all meiner Entbehrungen an den glanzendsten Angeboten voriiber. Ich sparte meine Krafte fur ein einziges Ziel. Die furchtbare, schonungslose Sinnlichkeit ringsumher war die Kulisse zum sonderbarsten StraBenbild der Welt. Die Hauser hatten zuzeiten flache, in der Regel aber des Erdbebens wegen gewolbte Dacher. Sie waren blau oder rosa gestrichen, 78 hatten vorspringende, unheimlich wirkende eiserne Fenster- korbe (wie notig fur alle Frauen, zeigen meine Erfahrungen!), hohe Torbogen, durch die man den Patio oder Hof sehen konnte und — in armeren Vierteln — Tiir an Tiir an Stelle der Fenster. In diesen halbdunklen Raumen suchten sich die Bewohner gegenseitig Lause, paarten sich die Menschen, wuschen sich die Madchen, kochten die alten Indianerweiber oder schopften Chicha aus irdenen Kriigen. Lamas stoben iiber das holprige Pilaster, Esel trugen iibergroBe Lasten oder waren Reittiere, auf denen der Mann nicht selten mit dem Gesicht dem Schwanz zugekehrt saB, um leichter mit seinem Hintermann zu plaudern. In einzelnen Hofen, docb nur selten, da sie die Kaite der Schnee- felder braucht, sah man auch eine Vicuna, ein Tierchen von der GroBe eines Schafes mit lichtkastanienbraunem Fell, das wun- dersam weich und so lang war, dai3 es um die Knochel flatterte. In alter Zeit hatten nur die echten Inkas das Recht gehabt, sich aus dieser Wolle Kleider weben zu lassen. Wenn ich Eile hatte und mir ein besonders gutes Nacht- mahl vergonnen wollte, kaufte ich eine Kasesemmel. Das tat ich allerdings erst, als ich ziemlich abgehartet geworden war und mich das Leben flach geschlagen hatte. Am Eingang des kleinen Parks, in dem scharfnadelige Araucaria standen — die seltsamen Nadelbaume Siidamerikas — saB ein junges Weib mit einem Korbchen und einem Kind. Das Kind war mit Hadern auf den Riicken der Handlerin gebunden, die mit unter- geschlagenen Beinen auf dem Pflaster saB und auf einem Fetzen, der einmal rein gewesen sein mochte, Kasebrotchen ausgelegt hatte, die von Hunden beschnuppert, vom Kind be- tastet, von Eseln und Lamas gestreift und von Kaufern priifend gedriickt wurden. Ich aber war eine Ausnahmekundin, und fur mich kam immer ein frisches Brotchen aus dem Korb; das Messer, das zum Schneiden diente, wurde aus der Brust ge- zogen (tauchte jedenfalls aus dem losen Leibchen auf), und der Kase wurde aus einem Papierrestchen gewickelt. Solch ein Kasebrot kostete fun! Centavos, und, wenn es ging, kaufte ich zwei zum Abendbrot, obschon ich selbst dann nicht selten halb hungrig blieb. Was mich indessen am meisten anzog — mit dem Gruseln, mit dem ein Morder zur Stelle seines Verbrechens zuriick muB, — war der Bach von Arequipa. Er durchstromte, klug geleitet, als Kanal den ganzen Ort und war eine wahre Fund- grube fur Kinder, die chronisch darin fischten. Er enthielt alles — von alten Knopfen bis zum entsetzlichsten Unrat. Mor¬ gens torkelten kleine Kinder zum Tor hinaus und entleerten ge- wisse GefaBe in ihn; alte Indianerinnen, die eine Chicheria hatten, fiillten daraus die Tonkriige und wuschen darin die 79 Glaser; Geschirr wurde darin geschwemmt, alte Hosen ge- waschen, die Jungen spielten Springbrunnen an seinem Ufer, und abends war er fiir alle Leute Abortersatz. Leute, die von den Bergen kamen und ihren durchldcherten, bandlosen Stroh- hut zu sehr „belebt“ fanden, tauchten ihn hinein, spiilten Haar oder Zopfe ab und setzten ihn wieder auf. Nur die auBerordent- liche Trockenheit der Luft — Waschestiicke trockneten in zwei bis drei Stunden im Zimmer, die Lippen sprangen, die Hande wurden rauh, die Haut iiberhaupt sprode, und das Haar knisterte bei der geringsten Bewegung infolge der starken Elektrizitat — verhinderte, daB die Pest wiitete; denn auBer von diesem Bach wurde in Arequipa nichts weggeraumt. Alles Aas wurde vor die Stadt geworfen (auch erst dann, wenn der Hausbesitzer den Gestank vor seinem Hause nicht mehr aushielt) und von Aasgeiern verzehrt, und jede Nacht um zehn Uhr warf man alle Abfalle, Papier, Fetzwerk und so weiter auf die StraBe. Die herrenlosen Hunde stiirzten herbei und iraBen alles auf — selbst das Unverdaulichste. Manche Kach!: war der Vorrat noch zu knapp, da griffen die groBen die kleinen Hunde an, und man horte das grausigste Angst- und Schmerzgeheul. Von Zeit zu Zeit vergiftete man diese Hunde, und dann stolperte man tagelang iiber verwesende Reste .... Obschon mir jede Sache zum Hindernis wurde und ich standig verschreckt meinen Pflichten nachging, lernte ich aller- hand. Kapuzinerrosen werden in Peru zum Beispiel gegen Rheumatismus verwendet, indem man Bliiten, Blatter und Stengel auf das Feuer legt, heiB werden laBt und damit die Glieder einreibt. Die gelben Sandblumen sollten bei Frauen die Milch im UeberfluB treiben, mit dem Seifenkraut, einem niederen Strauch mit feingefiederten Blattern, wusch man Kleider, die Tomaten wuchsen in Zwetschenform und wie solche an den Zweigen eines mittelgroBen Baumes, die Grana- dillas oder Riesenpassionsfriichte zierten Lauben wie manch- mal Kurbisse bei uns. Ich lernte die indischen Feigen kennen und essen (man soli sie vor Sonnenaufgang pfliicken, weil die feinen Dornchen auf der Haut dann noch weich sind und nicht die Finger verletzen), und sah auf den Maisfeldern die rote Blume, hier „Diener ohne Gebieter" genannt. Die griinen Knollen der Kartoffeln werden von den Schafen gefressen und von den Kindern zum Spielen verwendet. 1st der Mais ge- erntet, so kauen die Leute die Stengel wie Zuckerrohr. Gegen Abend ging ich am Hospital Goyaneche durch die Avenida Libertad dem Misti zu. Er sprach zu mir wie ein sehr weiser, abgeklarter Vater zu einem sehr kleinen und duramen Kind. Er aber war immerhin der Einzige, der vom 80 Ewigen und Remen zu mir sprach, und deshalb liebte ich ihn wie etwas Beseeltes. Der Indianerangriff. Drei Wochen lebte ich nun schon in Arequipa, und mir schienen sie wie drei Jahre. Die guten Leute in La Pacheta hatten mich gebeten, den Sonntag drauBen bei ihnen zu ver- bringen, und mit welcher Freude ich loszog, ist gar nicht zu be- schreiben. Einmal wiirde ich wieder sprechen diirfen, etwas Warmes essen, von all diesen Wilden entlernt sein. Die Sonne floB in goldigen Wellen iiber den Schnee des Misti nieder. Chilenische Wei den mit ihren runden, glatten Blattern, die im Sonnenlicht wie Spiegelchen glitzerten, be- grenzten zerstreut die steinumfaBten Felder; die Berge wirkten im wechselnden Licht bald braun, bald griinlich, bald violett- blau; in der Feme hinter Tingo erspahte man den Corapuna (cora = Gold, puna = Eis); am steinigen Wegrand wuchsen die indischen Feigen am Ende ihrer tellerformigen, stacheligen Kakteenblatter; Esel mit Milchkarren und Gemiise in den beiden runden Seitenkorben rannten an mir voriiber, und der strahlend blaue Himmel wolbte sich iiber die bergumschlossene, braunsandige Ebene. In der Feme entdeckte man ein niederes weiBes Gebaude in halber Berghohe — das Bad Jesus — und darunter noch eins, das Pesthospital . . . Ich hatte schon ungefahr dreiviertel des Weges zuriickge- legt, als ich von zwei jungen Mannern iiberholt wurde. Sie er- klarten, alle Auslanderinnen zu lieben, stellten tausend Fragen und wurden so zudringlich, daB ich — um keinerlei Gewalttat heraufzubeschworen — bald ja, bald nein und nicht mehr zur Antwort gab. Als eine Frau sie zufallig ansprach, beniitzte ich die Gelegenheit, schnell auszuschreiten, und bin ich einmal rich- tig im Schwung, so kommt mir so bald niemand nach. Das Mittagessen war voriiber, und wir saBen alle plau- dernd in der Hinterstube, die den beiden Tochtern gehorte, als drauBen ein Larm ungewohnter Art horbar wurde und Herr P. hinausging, um nach dem Grunde zu forschen. Bald darauf verschwand seine Frau, dann seine Tochter; sie kehrten ver- stort zuriick, nur um wieder zu verschwinden, und als ich be- unruhigt nach dem Grunde fragte, wurde mir stockend mitge- teilt, daB eine Anzahl Cholos (Indianer) vor dem Hauschen ver- sammelt waren und mich verlangten. Zwei Manner hatten ihnen erzahlt, ich ware ein verkleideter chilenischer oder boli- vianischer Spion (die Stimmung gegen beide Lander war da- jiials sehr feindlich), und mein kurzes Haar allein beweise, daB 19“ unmoglich eine Frau sein konne. Sie wollten mich ausge- iielert haben, um mich zu entkleiden und .... 6 81 Was sollte, was in aller Welt konnte ich tun? Ueber die Felder entweichen? Undenkbar! Sie hatten iiberall Wachter aufgestellt. Hinaustreten und mit der Meute verniinftig reden? Wenn Indianer einmal wild geworden sind, kann sie niemand beherrschen. Da reifien sie alten Freunden das Herz aus leben- digem Leibe. Und was mich erwartete, war noch viel schlimmer. Der Tod konnte erst nach Stunden oder nach langem Siechtum ein- treten. An eine Verteidigung war nicht zu denken. Schon flogen schwere Steine auf das Strohdach des Hauschens. Ich durfte die armen Leute nicht um meinetwillen um Leben und Gut bringen. Was aber tun? Ich sah mich nach einem Messer um. Selbstmord war der einzig denkbare Ausweg. Das Gehirn versagte. Ich hatte so gern einen anderen Tod gewahlt. Das allmahliche Verbluten war mir schrecklich. Inzwischen wiirde noch Zeit bleiben . . . Die drei Frauen rangen die Hande, der Mann war wieder zum Tor gegangen, um durch die Holzwand zu verhandeln. Ich ergriff das Brotmesser, das noch auf dem Tische liegen ge- blieben war. Gab es keinen Ausweg? Selbst in dieser Stunde heulte ich nicht. Ganz ruhig stand ich neben dem Tisch und dachte, dachte. Es gait zu handeln, nicht nutzlos zu klagen. Pferdegetrappel, Stimmen. Mein Gastgeber stiirzte herbei. Der Polizeiinspektor kehrte von seiner Finca, seinem Landgut, zuriick. Sechs Mann begleiteten ihn. Er las meinen PaB, sprach mit mir, ging hin- aus und beruhigte die Leute. Widerwillig, wie knurrende Hunde vor hoherer Gewalt, zogen sie sich zuriick. Ich wurde mit Obst, Blumen und Leckerbissen beladen und die ganze Familie be- gleitete mich zur Grenze von La Pacheta. Der Polizeiinspektor und seine Mannschaft sicherten den Riickzug. Mir wurde ge- raten, nirgends allein hinzugehen und nicht wieder nach La Pacheta zuriickzukehren. So endete die Freundschaft mit den einzigen guten Menschen, die ich in Peru kennen gelernt hatte. Diesmal hatte mein Abenteuer sofort einen tieferen Ein- druck auf mich gemacht. Ich wurde von einer eigenen hoff- nungslosen Schwermut befallen, die mich fiirchten lieB, Peru nie oder in jedem Falle nicht, wie ich es betreten hatte, ver- lassen zu konnen. An einen sofortigen Wechsel war nicht zu denken, da mir meine Mittel kaum eine Reise nach Cuzco oder La Paz in Bolivien gestattet haben wiirden, und gewiB waren die Menschen dort nicht besser, die Verdienstmoglichkeiten aber vermutlich schlechter. Ich muBte einfach durchhalten. Wer in den FluB springt, muB ans Ufer schwimmen oder ertrinken. 82 Vor der Kathedrale. Ich war an jenem Abend zu erschiittert, um allein zu bleiben. Um acht Uhr spielte die Musik auf der Plaza de armas unter Palmen, und unter den hellerleuchteten Saulenhallen der Hotels und Geschafte gingen die Madchen und Frauen auf und ab, wurden gegriiBt und bekrittelt, auf die Wagschale ihres Frauenwertes (rein geschlechtlich!) gelegt und in bissigen Be- merkungen gewogen. Nicht so auf dem schwach beleuchteten Pflaster vor der Kathedrale, wo ich unbehelligt meinen Trau- rnen nachhangen konnte. In der Mitte des langen FuBsteigs fiihrten drei Stufen zur Plaza nieder. Gerade, als ich sie er- reichte, rief jemand in nachster Nahe: _ „Alma!“ Nun kannte niemand — auf tausend und aber tausend Meilen hinaus — meinen Taufnamen. Unglaubig, mit weit offenen Augen, wandte ich mich um. Unten, am FuB der kleinen Steintreppe, stand Davido L. der , : bose Italiener“, und breitete im Scherz, weil er alle meine Abneigung gegen Vertraulichkeiten kannte, die Arme aus. Es kostete mich unglaubliche Selbstiiberwindung, mich nicht mit einem Aufschrei wirklich an seine Brust zu werfen. Gegen die Peruaner war er ja der goldfliigeligste Engel! So reichte ich ihm die Hand, und meine Augen strahlten; dann, unvermittelt, begann ich meine Klagen. Wie ein Kind, das heimgefunden, sprudelte ich mein Weh hervor, und als er mich zum Abendbrot einlud, nahm ich glatt an. Schon der Ge- danke einer Trennung war mir unertraglich. Es war nicht seine Personlichkeit, es war der „Bologna“ mit all seiner Sicherheit, mit der geliebten italienischen Sprache, der Giite ringsumher, das vertraute Altgewohnte. Das, was hier in gestreiften Hosen neben mir ging, war Europa, war die Heimat .... Vielleicht verstand er, der Heimatgeborene, etwas von dem, was in mir vorging, denn so nett er gegen mich war und so be- standig wir zusammen Ausfliige machten — besonders nach Tiabaya, wo wir ein Kiichlein mit unserem Auto iiberfuhren — nie wieder iiberschritt er die Grenze des Freundschaftlichen. Er behandelte mich — dies wurde mir viel spater erst richtig klar — wie ein Kind, das jemand verwundet hatte. Auf dem „Bo- k>gna“ hatte er mir mehr als einmal zu meiner unbegrenzten Entriistung gesagt: "Ich habe eine Tochter, doch wenn sie so reisen wollte wie Sie, wurde ich sie totschieBen! Lieber das als ein solches Ueben!“ Nun hatte ich begonnen, ihn zu verstehen. Fiir eine allein- stehende Frau war das Reisen in solchen Landern undenkbar 6 * 83 oder in jedem Falle derart aufreibend, dafi es besser sein muBte, sie tot zu wissen_ Wir standen am Vorabend seiner Abreise vor dem Pichu- pichu und maehten eine Mondfinsternis mit. Er beschwor mich, mit ihm bis nach Chile zu reisen. In Chile wiirde ich Don Luis finden und auf jeden Fall geschiitzter sein. Aus eigenen Mitteln war — selbst wenn ich meine Ver- trage mit den Schiilern brechen wollte — nicht daran zu den- ken. Ebenso wenig wollte ich auf seine Kosten reisen, und so blieb ich doppelt verlassen, um zwei Eier und eine liebe Erinne- rung reicher, in Arequipa zuriick. Er reiste hinab zu Don Luis und der roten Dame und zuriick nach Europa. Was wiirde ich alles geleistet haben miissen, was gesehen und erlernt, bis auch ich daran denken durfte! Noch litt ich an Heimweh. Obschon ich es in seinem ganzen Umfange nicht zugeben wollte, blieb ich in Furcht zuriick. Zwei Dinge trugen dazu bei: ein furchtbarer Mord war vor dem Molino de Hurtado um sieben Uhr abends an ganz begangener Stelle mitten in der Stadt veriibt worden. Ein Mann hatte eine bessere Frau mit losen Pflastersteinen nicht nur erschlagen, sondern die Leiche geschandet. In einer nahen Nebengasse war ich selbst bei einem Haar iiber einen splitternackten, auf dem Pflaster liegen- den Mann gefallen, und hinter mir schien immer irgend jemand zu schleichen, besonders gegen Abend, sobald ich meinen Schuler verlieB. Ja, sogar dieser Schuler war eine wachsende Gefahr: Ich saB immer mit einem Auge auf den Riickzug ge- richtet, mit dem anderen auf dem Buch und ich bewachte jede Bewegung so scharf, als ob ich einen Lowen im Kafig unter- richtete. Das tat der Stunde und den Nerven Abbruch. Die zweite Sache war der Umstand, daB in den Zeitungen fortwahrend Anzeigen zu lesen waren, die etwa so lauteten: „Zwolfjahriges Madchen, blaues Kleid, roter Hut in der StraBe San Juan de Dios am soundso- vielten um zehn Uhr verschwunden. Um Auskunft, die.etc. wird gebeten.“ Es verschwanden Knaben, doch vorwiegend Madchen zwischen acht und zwolf Jahren. Ob im Zusammenhang mit dem Madchenhandel oder zu Gotzenopfern, war nicht festzustellen. G e f u n d e n wurden sie nie. Alle diese Gefahren sah ich besser als Manner, die davon weniger beriihrt werden, oder fliichtige Durchreisende, die mit dem Volk in keinerlei Beruhrung traten und durch den Aufent- halt in einem erstklassigen Hotel immer einen gewissen An- 84 schluB an Europaer fanden. Ich, die ich wie eine aus dem Volke leben, mich bewegen und kampfen muBte, ich lernte die Welt ohne Maske kennen .... Der Schrecken in der Nacht. Die Tage vergingen wie ein Mareritt; aber sie vergingen. Ich erfuhr viel iiber den Aberglauben in Peru, horte yon Hexen und Verzauberung und konnte gut verstehen, daB in solcher Umgebung und mit dem Herzen des Misti unter der Kathedrale alles glaubhaft schien. Ueber dem Tor alter Kirchen sah ich die Gotter der Inkas — Sonne und Mond — neben dem Kreuze, und gewiB beichteten Indianer noch immer am Rande der Fliisse auf offenem Felde. Jedenfalls rissen sie sich eine Wim- per aus, wenn sie zufallig die Sonne von einer Anhohe aus be- griiBten, und spien Cocablatter in Anbetung auf eine Huaca, einen merkwiirdig geformten Stein, der zum Gotzen wurde. Vermochten sie dem Priester den Tod eines Zwillingskindes zu verheimlichen, so bewahrten sie die Leiche in einem Tontopf im Hause selbst auf, damit sie zur gliickbringenden Huaca werde. Die Zahl der Schuler hatte sich etwas vergroBert, und ich durfte hoffen, nach Cuzco und La Paz weiterreisen zu konnen, sobald mein dreimonatiger Vertrag mit dem Vater der drei- zehn Kinder abgelaufen war. Dies waren im Grunde meine liebsten Schiilerinnen, obschon ich auch fand, daB der Geist der Madchen zu nichts Idealem Aufschwung zu nehmen ver- mochte. Die schonsten Werke der Literatur lieBen sie unbe- riihrt, das hochste Streben der Menschheit war ihnen nur ein leerer Traum und selbst ihr Glaube war ein Gemisch von Ze- remonie und Aberglauben ohne Tiefe. Seltsam beriihrte es mich, daB sie nie sagten, wie alt sie waren und daB sie, ob¬ schon die alteste hochstens etwas iiber achtzehn war, schon recht verbliiht wirkten. Sie waren gelblich, galten aber vor der Welt schon als „WeiBe“. Am Montag hatte sich bei mir durch das Trinken unge- sunden Wassers die Ruhr entwickelt; ein Verwandter der Drei- zehn gab mir eine Fliissigkeit, die als Geheimnis behandelt wurde und durch die ich tatsachlich in vierundzwanzig Stun- den genas. Ich muBte jede Stunde zehn Tropfen in einer Schale siedenden Wassers trinken und unbedingt fasten. Obschon die Anfalle Freitag ganz und gar iiberstanden waren, legte ich mich doch nicht nur im Nachthemd, sondern noch mit dem Schlafrock bekleidet, nieder, nachdem ich wie immer meinen Rundgang gemacht und alle Schlosser unter- sucht hatte. Die Hunde heulten wie jede Nacht, die Drehorgel 85 spielte irgend einen spanisehen Tanz und das Klappern der FuB- ganger folgte mir bis tief in den Schlaf. Wahrend ich — die Ohren mit Watte verstopft, um iiber- haupt einschlafen zu konnen — auf meinem sehr verwanzten Bette lag, traumte ich von Italien, ging gerade mit meiner Tante durch eine sehr enge, sehr belebte StraBe, plauderte ita- lienisch und vernahm dennoch hinter mir, dicht am Ohr, in englischer Sprache die Worte: „Wach auf! Wach auf!“ Gegen meine Gewohnheit gehorchte ich dem Befehl augen- blicklich. Mein Herz klopfte laut. Ich zog die Wattebausch- chen aus den Ohren und setzte mich auf dem Ellbogen auf. Kein Laut ringsumher. Hunde und Menschen waren verstummt, der Mond war am Ende des letzten Viertels, und trotz der Glas- scheiben war mein Zimmer in geradezu schwarzer Finsternis. „Wie dumm!“ dachte ich angestrengt in die Stille schauend. „Warum sitze ich hier mitten in der Nacht und star re in den Raum hinein?“ Ich war eben im Begriff, mich zuriickzulegen, als eine Ge¬ stalt — ein unerkennbares Etwas — sich lautlos dicht vor dem Bett bewegte. Sie schwankte hin und her wie eine Riesen- schlange, die ein Tier hypnotisiert. Noch fiihlte ich keine Furcht, nur wachsendes Staunen. Was in aller Welt wackeite so? Im nachsten Augenblick kam mir das Verstehen. Bei ver- schlossenen Tiiren, Gott allein wuBte wie, war ein Mann in mein Zimmer eingedrungen. Ich dachte an den Totschlag vor dem Molino de Hurtado und wuBte, daB ich verloren war. Drei- mal schrie ich, doch nicht wie damals beim Maisabenteuer, son- dern stiller, durchdringender. Ich verstand zum erstenmal, warum man vom „Gerinnen des Marks in den Knochen" sprach. Selbst der Mann war davon angegriffen, denn er fliisterte: „Schsch! Ein Verbrecher ist entsprungen und irrt iiber die Dacher! Ich beobachte ihn von hier aus!“ Die Antwort betaubte mich. Wie war der Mann in mein Zimmer gekommen? Tiir und Fenster waren zu, die Seiten- tiiren auf meiner Seite verriegelt. War er durch den Boden ge- stiegen? Was sollte, was konnte ich tun? Das Licht war nicht zu erreichen, denn man drehte es mitten im Raum an, und zwischen mir und dem Unbekannten war kein Platz zum Durchgleiten. Im Nebenraum hiistelte je- mand, ohne auf meinen Notschrei zu Hilfe zu kommen. Nun wuBte ich, was ich immer geahnt hatte: daB man in Peru vollig allein war, unter Tieren, nicht unter Menschen. Der Unbe- kannte, von dem ich nichts als eine Art Miitzenrand erkennen konnte, rief leise, aber drohend, die Hand in die Tasche ver- senkend: 86 ,,Wenn Sie wieder schreien, tote ich Sie!“ Und sofort dar- auf in der schonungslosen, barbarischen Art jener Manner: „Ich will dich genieBen!" Als ob ich ein Butterbrot oder ein Glas Bier gewesen ware!! Mein maBloses Grauen hatte mich verlassen. Ich wuBte, daB der Tod das angenehmste Ding war, das ich ersehnen konnte, und da ich den Fall schon klar am Tage iiberlegt hatte (Warnungen genug hatte ich erhalten!), so verlor ich keine Ge- hirnkraft im Nachdenken. Eins wollte ich: So verzweifelt kampfen, daB er mich toten muBte, ehe .... Aber teuer zahlen sollte er fur das zweifelhafte Vergniigen! Ich habe eine sonderbare Eigenart: Ich kann nichts im Leben ohne Schuhe unternehmen. Ob es das Gefiihl ist, daB ich barfuB nicht fiinf Schritte weit kame, ob es eine ererbte Eigen- schaft ist, ich konnte es nicht sagen, doch wenn ein Schiff in Gefahr scheint, ein Feueralarm ertont oder jemand einfach an der Tiirschelle zieht — immer muB ich zuerst wenigstens Pan- toffel anhaben, und ehe ich mein Leben teuer verkaufte, wollte ich kampffahige Schuhe aufweisen. Warum? Gott allein weiB es. Meine kindische Pantoffelsucht rettete mich; denn als ich die Hand nach den Fufihiillen ausstreckte, ergriff ich die Eisen- stange, die ich — weitere Angriffe meines Hausherrn befiirch- tend — neben meinem Bette liegen hatte und deren Gegenwart mir ganz entfallen war. „ Ich will dich genieBen!" Alles, was ich hier umstandlich beschreibe, spielte sich in wenigen Minuten ab. Blitzschnell arbeitete das Gehirn, und eine Sekunde lang hegte ich den Wunsch, dem Tier die Stange mit voller Wucht auf den Kopf zu schlagen und damit ein- fur allemal frei zu werden, aber sogar da wuBte ich, daB ich nie wieder froh werden wiirde: daB er mir tot viel unangenehmer erscheinen muBte als lebend, und so stieB ich ihm die schwere Stange lieber mit voller Wucht in die Brust. Er hatte Gefahr geahnt und sich nicht in der ersten Leidenschaft auf mich ge- stiirzt. Nun flog er durch die Weite des Zimmers und sank neben der Wand nieder. Ich sprang aus dem Bett und er- reichte mit einem katzenartigen Sprung die Tiire, riB sie auf, sauste die halsbrecherische Leiter, die ich am Tage mit auBer- ster Vorsicht betrat, hinunter — ich glaube, ich sprang bei- nahe vom ersten Stock glatt in den erhohten Patio hinab — nnd schlug mit der Eisenstange an jede einzelne Tiire, fand und weckte die „Eule“ und fragte mich die ganze Zeit, ob der Ver- nrecher nicht am Ende, nachdem er mich verloren hatte, mit memer Tasche und alien Dokumenten durchbrannte. 87 An die Folgeereignisse erinnere ich mich nur wie durch einen Schleier. Die Eule warf sich auf den Liegenden, und sie kampften einen Kampf auf Leben und Tod. Dem Hausherrn war es wohl am meisten leid, dab nicht e r mir so nahe ge- wesen, und ich weiB, daB ich ihm die Eisenstange hinhielt, ohne jedwedes menschliches Geiiihl zu verspiiren. Alle _ Einwohner bildeten einen Kranz um die Kampfenden, und jemand lief heulend um die Polizei. Um meinetwillen hatte sich keine Seele geriihrt. Es war vier Uhr friih, ehe wir zur Ruhe kamen. Der Mann hatte die Glasscheibe durchschnitten und von innen ganz leise das VorhangeschloB aufgemacht. Wenn ich nicht die Traum- warnung erhalten hatte, wiirde er mich schlafend iiberfallen haben. An jenem schrecklichen Samstag ging ich von Gericht zu Gericht, stets vom Schutzmann begleitet, der auch allzeit sehr hoflich links ging. Alle Tugend der Peruaner beginnt und endet damit. Selbst die Priester winkten mir immer, an der Innen- seite der Hauser (der Damenseite) zu gehen, eine Artigkeit, die ich ausgerechnet in diesem wilden Lande nicht schatzte; denn damit wurde mir, im Falle eines Angriffs, die Flucht abge- schnitten. Ich pendelte daher — aller Vorschrift zum Trotz — an der auBersten FuBsteiggrenze. Nachmittags um drei landete ich vor dem obersten Richter. Der Angeklagte weinte. Er war noch nie abgestraft worden. Das war sein erstes Vergehen, und er entschuldigte sich mit der Behauptung, daB es ihm unmoglich gewesen sei, der Ver- suchung zu widerstehen, die weiBe Frau zu besuchen, die neben ihm wohnte. Ich hatte ihn nie gesehen, geschweige denn er- mutigt. Der Richter sprach ihn frei. Spater erfuhr ich, daB er selbst einer Zuhalterin viel Geld gegeben hatte, um ihm ein sechzehnjahriges Madchen zuzufiihren, das er vergewaltigte. Da verstand ich sein Urteil. Das ist das Land, wo man die Guten bestraft und die Bosen belohnt. Ich hatte mich in der Nacht der Tropen (die Luftwarme fallt um zwanzig Grad) derart erkaltet, daB ich mich nicht riihren konnte. An ein Packen war nicht zu denken. Drei Tage war ich „unausstreckbar“ und weinte bei jeder Bewegung; hierauf begann ich nochmals eine schwierige Wohnungssuche; denn die dreizehn Kinder wollten mich nicht vorzeitig gehen lassen, und ich war zu anstandig, um durchzubrennen. Jene, die nur an sich denken, fahren indessen im Leben weitaus besser. In der ersten Nacht schob sich eine Hand durch die Oeffnung. Ich schrie: „Wer da?“ und der Arm ver- schwand. Keine Schritte. Ich brannte die ganze Nacht Licht 88 Riesenratten marschierten durch den Raum; die Wanzen er- gotzten sich. Ich hielt Gewissenserforschung, denn jedes Schlafen blieb ausgeschlossen. Was hatte ich unternommen? War irgend ein Gewinn solche Opfer wert? Ich hatte nach all der Aufregung nicht geweint; wie iiblich ging ich meinen verschiedenen Pflichten nach, aber ich nahra in einer Woche um fiinf Kilo ab, und die Angst, in einem ganz finsteren Zimmer zu schlafen, ist mir furs Leben geblieben. Noch heute erwache ich zuzeiten und starre verschreckt in das Dunkel in Angst vor einem Menschtier, das an meinem Lager steht . In Yanaguara. Ehe ich noch ein Zimmer gefunden hatte, wurde ich von einem zugereisten Franzosen und einem Einheimischen, dessen geistige Hohe mir einige Sicherheit zu gewahren schien, einge- laden, nach Yanaguara zu wandern. Es liegt jenseits von Are- quipa auf dem Weg zur Sternwarte. Die Hauser sind wie aus einem Bilderbuch geschnitten, so eckig, seltsam, buntbemalt, mit Stuck beladen; bose Hunde klaffen hinter dem Fremden her; neugierige Blicke heften sich an die Fersen des Wanderers. Da lernte ich zum erstenmal die Tintenpflanze mit ihren blau- roten Beeren kennen, den Tauri, einen Baum mit doldenartigen, roten Bliiten, dessen Rinde zum Gerben des Leders dient, und andere Gewachse. Das Pfarrhaus ist im altspanischen Kolonialstil erbaut, und als uns der geistliche Herr erkannte, winkte er uns, einzu- treten. Er zeigte uns Bucher, die iiber zweihundert Jahre alt waren und von denen eins eine gruselige Beschreibung der peruanischen Pest (des schwarzen Erbrechens) enthielt. Auch erzahlte er uns von einer alten Schrift in seinem Besitz, die ein Bergwerk im Gebiete des heutigen Arica genau beschrieb und angab, daB jenes Gestein Diamanten, Smaragde und Ru- bine in groBen Mengen eingesprengt habe, doch wollte der alte Herr das Geheimnis nicht verraten, weil dieses Gebiet heute zu Chile gehorte und man noch immer hoffte, es einmal an Peru zuriickfallen zu sehen. Das Werk ist in sehr klarer Schrift ver- faBt und aus echtem Pergament. In Yanaguara bewundert man das Grab des Generals Moran, und in der uralten Kirche befindet sich ein wunder- tatiges Gnadenbild der Mutter Gottes aus Wachs, das von Kaiser Karl dem Fiinf ten fiir Cuzco geschenkt wurde, auf der Durch- reise indessen auf Quetschua sagte: „Hier bleibe ich!“ Die Mutter Cottes hat einen Mantel voll Silberstickerei und Ohrringe mit echten Brillanten nebst einer zarten Krone auf dem Haupte. 89 Die Kirche selbst ist iiber dreihundert Jahre alt und weist den verschnorkelten, iiberladenen Stil auf, der damals in Spanien Sitte war. Bilder aus dem Jahre 1607, und ein anderes, neueres, das schreckliche Erdbeben von 1784 darstellend, zieren die Wande, und im Taufbecken wurden alle Edlen von Are- quipa getauft. In den Nebenschiffen sah man ebenfalls alte Bilder, auf denen das Haar der Madonna sterneniiberrieselt war. Der Pfarrer ersuchte mich, da ich keine Mantilla hatte, den Hut abzunehmen und den Gedanken, so mit dem Hute in der Hand (nicht nur bildlich genommen) herumzuwandern, fand ich unendlich komisch, und es bestarkte dies nur meine Ueber- zeugung, daB in Siidamerika der christliche Glaube ein seelen- loses Getue von Zeremonien war. Er auBerte sich nicht im Leben, nicht in der Kunst, sondern nur in aberglaubischen Ge- brauchen und sinnlichen Gebarden. Als ob es dem lieben Herr- gott angenehmer sein sollte, mich ohne Hut herumspazieren zu sehen! Der Pfarrer — selbst eine malerische Gestalt, beleibt, das gerotete Gesicht voll Bartstoppeln, einen abgedienten Strohhut auf und einen langen, schwarzen Talar mit breitem Kragen an — zeigte uns mit groBem Stolz seinen Garten, der voll Pfeffer- und Paprikastrauchern, einem Chirimoyabaum und unzahligen Nelken war. In einem kleinen Kramerladen aBen wir Brot und Ease. In Fassern rund um uns lag Cau - cau oder Fischlaich. Im frischen Zustand ist er griinlich oder hellgelb, spater orange- farbig. Bevor wir den Ort verlieBen, kehrten wir in einer Chicheria ein. Ein kleines Madchen deckte den Tisch mit Fingern, die seit der Geburt Wasser nur durch ein MiBgeschick kennen ge- lernt hatten, und mit einem Tuch, das den Handen entsprach und von meinen Begleitern sofort der Maid nachgeworfen wurde, was sie sehr iibel nahm. Hierauf erhielten wir Picante, Salat mit kleinen Stiickchen Huhn oder Meerschweinchen, Kuttelfleck mit blauen Kartoffeln und endlich ein Riesenglas Chicha, von dem wir nur nippten. Die Peruaner beginnen gegen Mittag, Chicha zu trinken und werden von da ab faul, behauptet man. Fauler als am Morgen konnen sie, meiner Ansicht nach, jedoch auf keinen Fall sein. Ein Truthahn argerte sich iiber einen Leierkasten und schrie dazu. Als wir heimkehrten, war es kiihl, und ich merkte, daB der Peruaner mehr darunter litt, als wir Europaer. 90 Im neuen Heim. Der groBte Uebelstand beim Zimmersuchen war der Man¬ gel eines gewissen Ortes. Man zog Leute vor, die sich dieser Geschafte an den StraBen entledigten. Zum SchluB fand ich indessen ein gassenseitiges Zimmer in der Calle Jerusalem, dicht neben einer Tischlerwerkstatt, so daB ich das erquickliche Gefiihl hatte, man sagte und hobelte an meinem zukiinftigen Sarge. Am Abend wollte ich den Luxus in Gestalt des Ortes be- suchen. Eine Schachtel Ziindholzer in der Hand, machte ich mich auf den Weg, kreuzte den Hof und offnete die Tiire. Ein Truthahn beherrschte den Sitz und machte keine Miene, sich um meinetwillen herabzubemiihen. Ich mochte schreien, stoBen, blasen. der Truthahn saB, und da ich fiiglich nicht unver- richteter Sache abziehen wollte, setzte ich mich endlich zu ihm hin und lieB mich ordentlich anpecken. Zum Gluck wurde er am nachsten Tage schon gegessen und meine nachtlichen Wan- derungen dadurch erleichtert. Meine Hausfrau lud mich im Austausch fur die damals sehr gesuchten jugoslawischen Marken zum Abendbrot ein. Wir hatten Chupo, die Lieblingsspeise der Eingeborenen, die als Grundlage Chilepfeffer, Wasser und Salz hat und der aller- lei Gemiise beigemengt wird, auch eine Torte, reich mit Quitten- marmelade gefiillt. Das Zimmer war ruhiger, heller, angenehmer als mein Bau in der Casa rosada, dennoch wurde ich das Gefiihl kom- mender Gefahr nicht los. Der StelzfuB. Ich lief bei alien Spaziergangen wie ein Hund an der Leine, wenn nicht der Franzose und sein Freund mich be- gleiteten. Am meisten ging ich nach Tingo, weil die Elektrische da entlangfuhr, und ich immer hoffen konnte, im Fall von Ge¬ fahr auf den Wagen zu springen. In Tingo, das sehr an unsere heimischen Marktflecken erinnert, gibt es heiBe Bader. Wer da will, entkleidet sich hinter einem Holzzaun und steigt nackt ins Wasser. Manner wie Frauen. Man zahlt zehn Centavos fur diesen GenuB. Die Centavos hatte ich aufgebracht, doch den Mut nicht. Es war gar nicht wiinschenswert, als Dollar unbeschiitzt unter Geldmist zu sein .... Zwischen Tingo und Arequipa, wo die Elektrische die Bahnstrecke kreuzte, stand ein Wachterhaus. Es war ein Holz- bau ohne Einrichtung, mit halber Tiir und einer Fensteroff- nung. Vor dem Haus stand eine Bank und vor der Bank ein Mann. Der gute Tutankamon mag sein Zeitgenosse gewesen 91 sein. Alt, uralt. Alt und beinlos. Er humpelte auf Kriicken und sah dreiviertel tot aus. Eines Tages redete er mich an. Wir besprachen die Hitze des Tages, den Staub der Reichs- straBe, die Hohe der Preise. Er forderte mich auf, in sein Haus zu treten und zu rasten. Das war ein halbes Haus und der Mann nicht einmal eine ganze Menschhalfte, daher trat ich ein. Kaum saB ich ordentlich, sprach dieses Gebilde von Liebe! Ein Pfund Sterling in Gold! Mir war zum Lachen und zum Weinen. Ich wiinschte dem Zeitgenossen Tutankamons guten Tag und entfernte mich gelassen. Ein Gluck, daB er k e i n e n FuB hatte. Immerhin versuchte er noch auf den Kriicken hinter mir herzulaufen. Worte von „Gold“ und „Bier“ folgten mir und endlich Drohungen. Besuchen wiirde er mich, in ganz Arequipa wiirde er mich suchen. Ob ich etwa glaubte, das Fehlen seiner Beine und die Zahl seiner Jahre . . . .? Tagelang hielt ich angstliche Ausschau nach einem Mann ohne Beine, aber m i t Herz. Mir ist die umgekehrte Verbindung allzeit lieber gewesen. Bis hierher kann ich immer in Erinnerungen wiihlen, doch dann schlagt nach all den Jahren die Welle der Bitterkeit hoch, und ich lasse sechs Wochen unberiihrt in den Brunnen der Zeit fallen, Wochen, in denen meine Seele viel lernte, besonders daB sich im menschlichen Dasein alles um die Macht der Sinne dreht und wenige, gar wenige Leute von der Pest der Leiden- schaft befreit stehen konnen, wie hochgeistig sie auch sonst sein mogen; daB es immer das W e i b ist, nicht das entwickelte Ich, was ein Mann — irgend ein Mann — sucht; daB es im Leben nicht auf die Leistungsfahigkeit eines Einzelwesens an- kommt, sondern auf die Lust- oder Unlustgefiihle, die solch ein Einzelwesen in anderen entwickelt. Gegen die Anschauung der ganzen Welt habe ich mich damals aufgebaumt, bereit, allein zu stehen, und allein habe ich auch seither gestanden. Meine Kunst ist mein alles geworden; aber die Manner, die mich trafen, be- haupten, daB ich iiberhaupt nur zur Freundschaft fahig bin und von der Liebe nichts weiB. Wenn Liebe dem peruanischen Begehren gleichkommt, dann sage ich mit Freude: Nein, Gott sei Dank! Damals schrieb ich, ehe ich Arequipa verlieB, in mein Tagebuch: „Gliicklich die Menschen, die ohne hoheres Streben durch die Welt ziehen! Sie leben in der Schale ihrer stumpfen Zufriedenheit und Unwissenheit ein beschauliches Tierleben und kennen keines der Leiden, denen ein Dichter, Forscher oder Denker ausgesetzt ist. Oft wiinschte ich, streblos, wunschlos, tierisch zu sein; dann litte mein Korper nicht heute unter Hunger und Kalte und bliebe meiner Seele das Fegefeuer er- spart. Was ist die Welt? Eine Menge von Leuten, die einen beneiden, anfeinden, miBverstehen, oder die teilnahmlos an uns vorbeigleiten. Und da rum opfert man Jugend, Gesund- heit, den Frieden der Seele?!-Und das Schlimmste ist: Man handelt nicht mit freiem Willen. Man folgt einem inneren Zwange, einer Macht, die keine Gnade kennt und die antreibt. Selig er, der davon verschont geblieben. Alles Schone, was wir sehen, das M e h r, das wir fiihlen, ist iiber- und viberbe- zahlt mit den Leiden, den Opfern. Wenn wir manchmal ein Stiicklein Himmel offen sehen — was ist das? Wir leben da- fur korperlich und seelisch in der Holle. Unser Forschen, unser Schaffen wird mit tausend Opfern und Tranen bezahlt; unsere Freundschaften — selten wie der griine Strahl bei Sonnen- untergang — kosten uns leicht den Frieden der Seele, und was gibt uns Mit- oder Nachwelt, was gibt uns selbst die Gottheit als Entschadigung fur solches Leid? Nichts. Im besten Falle (und wie selten!) einen Namen.“ Vor dem Misti. „Fate show thy force; ourselves we do not owe; What is decreed must be — and be it so!“ Shakespeare. Meine Zeit war abgelaufen; gleichzeitig wuBte ich, daB es Selbstmord war, iiber La Paz und das Peru gleichstehende Bo- livien allein nach Chile zu reisen. Mein einziges Sehnen, wenn nach all den Aufregungen ein Sehnen geblieben war, bestand darin, zu Englisch sprechenden Leuten zu fliehen. Der nachste Punkt in dieser Beziehung war Panama. Und obschon altge- backen, besaB ich dennoch das Visum der Republik auf meinem PaB. W i e fieberhaft ich zu verdienen versuchte! In der Hinter- stube einer Kramerin erteilte ich einer armen Verkauferin eng- lischen Unterricht. Sie konnte nur zwanzig Centavos zahlen, aber ich war verzweifelt, wollte unbedingt fort, und 20 Centavos geniigten fur meine tagliche Kost. Der einzige Schuler, der nicht gemein gegen mich vorge- gangen war, schenkte mir einen alten Inkaschatz — einen Teufel, wie er ihn nannte, — vor dem seine Frau sich fiirchtete. Ich speiste einmal in seinem Hause und schaute hiniiber nach Yanaguara, betrachtete die Pappelallee, wo man mir kopfgroBe Steine herabgerollt hatte, um mich damit zu erschlagen, den hluB, iiber den zuriick ich nach dem Maisabenteuer gefliichtet war, und den Misti, der blaulich umsponnen und erdfern auf roich herniederlachelte. Nicht beriihrte ihn das Kleinliche eines Menschendaseins. Nach Erhalt dieses Inkaschatzes hatte ich noch mehr Un- gluck als zuvor, ohne es indessen dem Gotzen zuzuschreiben. 93 Ich weiB, daB ich einen ganzen langen Sonntag hindurch re- gungslos vor ihm verharrte und Coca kaute, urn herauszufinden, ob man tatsachlich weder Hunger noch Durst verspiire. Eine tiefe Gleichgiiltigkeit bemachtigte sich meiner; ich wollte nichts, als sitzen, regungslos sitzen. Die Blatter schmeckten bitter, durften auch nicht gekaut werden, sondern muBten mit der Zunge gegen den Gaumen gedriickt, langsam ausgesogen wer¬ den. Wunschlos blieb ich, aber am nachsten Tage war ich so erschopft, daB es mich bedeutende Anstrengung kostete, mich weit genug zu schleppen, um mein tagliches Brot in der Markt- halle einzukaufen. Aus der nur in der Montana, im sogenannten Tropen- gebiet jenseits der Anden vorkommenden Coca macht man das beriihmte Cocain. Das Einsammeln erfordert sehr viel Sorg- falt; denn die Blatter miissen vorsichtig abgezupft, etwas, doch nicht zu sehr getrocknet und in luftigen Doppelkorbchen ver- laden werden, die Lamas liber die ungeheure Bergkette bis in die Nahe der Eisenbahn tragen. Die Indianer kauen Coca, wie man bei uns Tabak raucht. Um den Giirtel tragen sie einen langlichen Sack, der voll griinlicher Blatter ist, die sie von Zeit zu Zeit in den Mund schieben. Wenn sie das regelmaBig tun, konnen sie ohne Beschwerde groBe Lasten tragen, verspiiren weder Schlaf noch Hunger, noch Durst, bleiben aber sehr mager. Sie wahrsagen aus dem Fall der Blattchen, sie speien die grime, gekaute Masse einer Huaca als hochste Verehrung zu, und die Mischlinge und WeiBen kochen Tee, der ebenfalls anregt und den Schlat bannen soil. Ich war wohl zu unter- ernahrt, um von Coca allein leben zu konnen. Am Abend vor meiner Abreise wollte ich jemandem ein Paket schicken. Ich traf unterwegs einen kleinen Jungen. — acht oder zehn Jahre alt — und bot ihm zwanzig Centavos an (ein Vermogen in Kinderaugen), um mich zu begleiten und die Sachen abzuliefern. Er hatte einen verschreckten Ausdruck im Gesicht und verharrte regungslos aul der Zimmerschwelle. Ich bin nie ein Kiinstler im Binden gewesen, und auch da versagte die Schnur, daher rief ich dem Knaben zu, mir ein wenig zu helfen. „Verzeihen Sie, aber ich wage es nicht!“ sagte er, die Augen voll Abwehr. „Die Auslander werden d i r nichts tun,“ sagte ich bitter, mich vergessend. „ Ihr Peruaner seid es, die dem Auslander bei jedem Schritt gefahrlich werden und er allein ist es, der sich vor euch zu fiirchten hat.“ „Ah, Senorita,“ meinte er, offenbar geneigt, meinen Wor- ten Glauben zu schenken, „seien Sie nicht hose, aber ich bin 94 so verschreckt. Vor einigen Tagen hat mich ebenfalls eine Senorita in ihr Haus genommen und sie hat . . . Sie hatte sich — ein Weib! — an diesem Kinde vergriffen! In diesem Augenblick hatte ich in die Knie sinken und vor Scham iiber mein Geschlecht, die Menschheit, die ganze siindige Welt, Seelenerbrechen haben konnen-und mogen. Einige Stunden spater stand ich vor dem Misti, iiber den wie das Blut der Gerechten der verglutende Strahlenschwanz des Tages glitt. Hinter mir, seelisch und raumlich entfernt, bellten die bissigen Hunde, kreischten die Weiber, jammerten die Kinder, stoben die Lamaherden heimwarts iiber die weite trost- lose Ebene, wie Teufel vor dem Winde. Finster gahnten die Schluchten der Berge, drohend, feindselig knisterte der Sand, und hinter den windgebeugten, zerzausten Weiden, die wie Hexenfinger aus dem Boden ragten, ging langsam der Mond auf .... Da tat ich, was ich nie getan hatte: Ich hob die Hande wie einst die Propheten Israels und verfluchte das ganze Land mit einer riihrenden Unparteilichkeit — den Erdboden, die Pflanzen, die Steine, die Tiere, die Menschen und alles, was ihnen ge- horte. Ich nahm nur den Misti aus, von dem immer etwas wie iiberlegenes, erdfernes Mitleid fur mich ausgegangen zu sein schien, und die Esel von Arequipa (aber nur die vierbeinigen!), denn die hatten es ebenso schlecht da wie ich selbst. Auf dem Heimweg, vor dem Goyaneche, traf ich das Kind eines Kohlers, das miihsam einen Korb heimschleppte. Das Madchen sprach mich an und sagte — trotz seiner kurzen vier- zehn Jahre: „Fiir uns Frauen ist hier das Leben sehr schwer." „Ach, Kind," erwiderte ich und das Weinen war mir nahe, „das Leben ist fur uns Frauen ja iiberall schwer . . . .“ Vor meinem Fenster, das einen Riesenkafig trug, der alle Raub tiere abhielt, heulten die hungrigen Koter die ganze Nacht und fraBen sich gegenseitig auf. Wild waren sie, doch noch lange nicht so wild wie die Menschen. Von der groBartigen Kultur der Kinder der Sonne war nichts als irgend ein altes Gemauer noch vorhanden. Die Mischlinge aber hatten weder die Tugenden ihrer indianischen uoch ihrer europaischen Vorfahren. Ich verstand, warum die Kordamerikaner dieses Land, das so wunderbar und so reich ls t, den Schmutzfleck auf der Landkarte Siidamerikas nennen. Urn eine Muschel. . . . . Urn Mollendo fiel der schwere Tau der Winterszeit, und s Parliches Grim, nicht Gras, nicht richtig Pflanze, bedeckte terlweise das braune Gestein. Die Tropensonne schien durch 95 ein dichtes Dunstgewebe, aber immer noch kraftig genug, den SchweiB aus alien Poren zu treiben. Der erwartete „ Imperial" war noch nicht eingetroffen. Im Hotel folgten mir die Augen der Manner wie Dolchstiche, und, um ihnen zu entgehen, trat ich ins Freie. Ich wollte am Strande Muscheln suchen. Ein Weib, das ich befragte, zeigte mir den Weg und schwor hoch und teuer, daB es sicher war, ihn zu betreten. Er fiihrte iiber den Riicken der Klippen in eine Vertiefung hinab. Als ich mich plotzlich vorbeugte, um hinabzuspahen, sah ich, wohl hundert Meter unter mir, vier Manner auf einem Baumstamm sitzen. Sofort fuhr ich so erschrocken zuriick, als ob ich vier Pumas unten erspaht hatte, und schlug den Weg nach Mollendo ein. Das letzte Haus war nicht in zehn Minuten Wegentfernung gelegen, doch hinderte der braune Sand einigermafien das Gehen. Jeden- falls hatte ich nicht zwanzig Schritte getan, als ich mich einem Manne in Eisenbahnuniform gegeniibersah, der mir geheimnis- voll winkte, mich ruhig zu verhalten, und mir zufliisterte: „Kehren Sie um, denn vier Manner suchen nach Ihnen." Das glaubte ich gern wie das Evangelium. Ich hatte die Pumas unter mir erblickt, und sie hatten, eine Sekunde lang, zu mir heraufgeschaut. „Wir miissen den unteren Weg gegen die Klippen ein- schlagen," meinte der Mann, und da ich weder vorwarts, noch gut riickwarts konnte, muBte ich wohl Oder iibel tun, was im Augenblick das Richtigste schien, — mich der Fiihrung des Be- amten anvertrauen. Er trug die Bahnuniform und das floste mir einige Zuversicht ein. Ich begann, ihn nach Mutter und Geschwistern auszufragen, und lieB durchblicken, wie froh ich war, in ihm jemand zu entdecken, der bessere Anschauungen hatte. Wir erreichten die Vertiefung unweit des Meeres und ich hob zum Scheine eine Muschel auf, wahrend der Mann ein Versteck hinter den Felsen suchte. „Hatte ich nur eine Waffe, so wiirde ich denen da oben schon zeigen," murmelte er. Wir blieben indessen nicht lange, denn die Hyanen tauch- ten unweit von uns auf, und in meiner Angst hastete ich weiter. Hinter einem Sandhiigel fanden wir Schutz. Da sagte der Mann zu mir: „Es macht sich mir nicht bezahlt, mich mit diesen vier Menschen einer Fremden wegen zu verfeinden, aber wenn Sie.“ „Warum ich? Es gibt ja hier tausend Frauen . . .“ 96 „Nicht weifle Frauen; nein, um Geld ist mir nichts,“ als ich ihm mein sauer verdientes Geld anbot, „aber eine weiBe Frau — dafiir wage ich alles! Was tut’s? Niemand auf Erden weiB es!“ Damals, im heiBen Sand von Mollendo, habe ich vor einem Mitmenschen im Staube gekniet und habe ihn beschworen, mir aus dieser Not zu helfen. Er griff mich nicht an, aber helfen wollte er nicht. Er bemerkte nur, er miisse um drei Uhr im Dienst sein und wolle mich meinem Geschick iiberlassen. Ver- geblich forschte ich nach einem Ausweg. Nach Mejia waren es zwei Stunden im heiBen Sand zu laufen; hinter mir, iiber die Ebene zerstreut, waren die Manner; gegen die Berge hin traf man die verwilderten Holzarbeiter, und auf dem Klippenpfad zuriick wollte er mich nur schiitzend fiihren, wenn .... Da packte mich eine dumpfe Wut, und ich sagte dem Manne, er moge nur gehen. Ich raffte mich vom Boden auf, ergriff meine Tasche und steuerte geradeswegs auf die Klippen —die furchtbaren Klippen von Mollendo — zu. Hier war das Meer so wild wie die Bewohner dieses verruchten Landes. In weni- gen Sekunden wiirde ich tot sein. „Wohin wollen Sie?“ rief mir der Beamte ungewifi nach. „Das geht Sie nichts an!“ Ich hatte die Klippen schon beinahe erreicht, als er mich einholte. „Nun springe ich hinein!" erklarte ich und trat vor. Er muBte sich da wohl gedacht haben: Geld, Frau und moglicherweise etwas Seelenruhe sind in dem Fall unniitz weg, und er bat mich, einige Minuten zu warten und mein gesamtes Bargeld ihm zu iibergeben. Damit wollte er die vier Manner abkaufen und mich sicher auf dem Bahngeleise nach Mollendo bringen. Ich gab ihm alles; denn was niitzte mir Geld unten im gelben Schaum der Brandung? Er kaufte die Leute los, und zehn Minuten spater stand ich auf dem Hauptplatz des elenden Fischerdorfes und besaB auBer Fahrkarte dritter Klasse (der einzigen, die zu erstehen meine Ersparnisse hingelangt hatten) und zehn amerikanischen Dollars in einem Beutelchen um den Hals nichts als meinen Koffer und meine Erika. Fiinf Dollars wechselte ich mit Verlust (nachdem ich sie x n Arequipa ebenfalls mit Verlust erstanden hatte) noch am gmichen Abend, um friih am folgenden Tage meine Rechnung Und die Haifische zu bezahlen, die mein mageres Gepack nach ei n „ Imperial" schleppten; fiinf Dollars blieben mir in einem Hemden Lande unter ganz fremden Menschen, um damit ein Ueues Leben aufzubauen. 7 97 Meine letzte Erinnerung gleicht meiner ersten: Ich hatte mich nachts fest eingesperrt und lag auf dem Lager, hitze- und sorgengefoltert. Wiirde man mich ohne Vorweisung von Geld nach Panama hineinlassen? Was wiirde ich da beginnen? Warum hatte mich niemand gewarnt? Die Uhr schlug Stunde auf Stunde im Gastzimmer nebenan, und immer noch walzte ich mich auf dem brennendheifien Lager, als sich trotz meines Schliissels im Innern die Tiire miihelos offnete und sich ein brauner Kopf in der entstandenen Oeffnung zeigte. „Was wollen Sie?!“ herrschte ich ihn an, bereit, ihm an die Kehle zu springen. Der Kopf verschwand bis auf eine Haarlocke. „Ich wollte nur fragen,“ stammelte der Kellner unsicher, „ob Sie noch eine Decke brauchen, weil es kiihler geworden ist." Das bei dreiBig Grad im Schatten! Meine Antwort lieB keinen Zweifel iiber meine Gefiihle aufkommen. Dann schob ich einen Stuhl vor die Tiir und hob den Wasserkrug auf den Stuhl. Wenn nun jemand eindrang, muBte der Krug stiirzen und mich wecken. Gnade dem, der kommen wiirde! Aber es kam nur der Tag mit seinen tausend Sorgen. An der Reede von Mollendo. „Land der Verbrecher, leb’ wohl! Nicht um den groBten der Inkaschatze mochte ich dich wieder besuchen! Land, wo die Sinne herrschen und jedes bessere Empfinden schweigt." Ich schrieb dies damals — und mit vollem Recht — in mein Tagebuch, als ich auf meinem Koffer an Bord des „ Im¬ perial" saB und meine Mitreisenden in Augenschein nahm. Vorwiegend waren es Indianer mit ihren Riesenbiindeln, mit Hiihnern und einem zahmen Papagei, mit Kindern ohne Ende, mit Bettzeugbiindeln, die sich zu bunten Deckflachen offneten. Ich hatte kein Bettzeug, fand keinen Sitz auBer auf meinem Koffer selbst in einer leergebliebenen Ecke unweit des gewissen Ortes, der nur von Mannern besucht wurde. Frauen und Mad- chen beniitzten ohne Scham gewisse unentbehrliche GefaBe, die sie iiber die Reeling entleerten. Einzelne Kinder fingen sich gegenseitig Lause — wohl eine Erinnerung an jene fernen Inka- tage, in denen jedes Kind taglich beim Dorfaltesten zwolf Lause abzuliefern hatte, um sich friih an eine niitzliche Beschaftigung zu gewohnen. Nach einer Weile brachte man das Mittagsbrot — einen fraglichen Eimer voll von einer noch fraglicheren Suppe und schoptte sie in die Schusseln aus, die jedermann bereit hielt. Ich hatte kein GetaB — nichts als das Schalchen meines 98 Schnellsieders, denn ich wuBte nicht, daB man auf dieser Linie als Deckpassagier Bettzeug und Geschirr mitzubringen hatte. Ich faBte daher nur eine schwache Schale voll und sogar noch einen Knochen darin, so daB mich der Aufseher sofort fragte, ob ich fur Geschirr extra zahlen wollte. Auch wiirde ich, um ver- haltnismaBig wenig Geld, eine bessere Kost erhalten haben, aber alle Hoffnung strandete an meiner volligen Mittellosigkeit. Die fiinf Dollars muBten fur Panama bleiben. Ich lehnte daher alle Hilfe ab. Die Stunden vergingen allzu langsam. Ich kauerte in meiner zugigen Ecke und driickte meine Erika an mich. Den Plaid hatte ich ihr abgenommen und mich selbst hineingehiillt, denn der schwere Tau durchnaBte mich und machte mich frosteln. Langsam ging der Anker hoch, die braune, ungastliche Reede von Mollendo wich zuriick, und durch die unaufhorlich fallenden Tranen sah ich nichts als das braune Gestein und die schimmernden Nitratfelder. Gegen Abend kam einer der Offiziere, nachdem ich bei den geringeren Seeleuten immer jedwedes Angebot besserer Unter- kunft abgelehnt hatte, und allmahlich entlockte man mir den Bericht meiner peruanischen Abenteuer. Chile und Peru sind alte, erbitterte Feinde, und kaum hatte man vernommen, wie schlecht es mir im Lande der wunderbaren Inkakultur gegan- gen war, als man alles aufbot, mich die Schrecken der hohen Anden vergessen zu machen. Ausgeraubt wie ich war, verlangte man keinerlei Geld von mir, sondern brachte mir auf schonen Tellern die Kost der ersten Klasse ( es gab nur Deck und Salon auf dem Imperial), und der diensthabende Offizier versprach mir, ein Bett aufstellen zu lassen, sobald „diese peruanischen Tiere“ in Callao ausgeschifft worden waren. Die erste Nacht lag ich auf einer geborgten Matratze mit dem Gesicht nach unten, die Tasche gegen den Magen gedriickt und die ausgestreckte Hand auf meiner Erika .... Hinter Payta. Ich hatte mein Bett mitten auf dem Deck und am entgegen- gesetzten Ende hatte ein Jude aus Chile das seine. Er kiimmerte sich wenig um mich, denn er spielte den ganzen Tag mit der eben Ireien Mannschaft Poker und schlief, ohne zu schnarchen, die ganze lange Nacht, so daB er mir Schutz ohne Aergernis war. Fuis Ramirez brachte mir die Kost der Ersten, und je bitter- licher ich weinte, desto mehr Zucker tat er in den Morgen- und Nachmittagstee, bis nichts als Zuckersatz iibrig blieb. Eines Tages blickte ich mit so viel Verzweiflung auf die Triimmer meiner Traume und meines erhofften Seins, daB ich unwillkiir- nch den EntschluB faBte, iiber die Reeling hinab in die den 7 * 99 Propeller umrauschende Wogenmenge zu springen, als ich seinen Arm auf dem meinen fiihlte und seine gelassene Stimme mir sagte: „Mir tate der Arme leid, der hier hineinfiele, denn es wim- melt von Haifischen, die uns stetig folgen.“ In den Wellen zu enden, das schien mir angenehm genug, aber so langsam von vielen Seiten angeknabbert zu werden, davor schauderte ich doch zuriick. Ich setzte mich auf das Bett und starrte auf die schwimmende Kiiste von Peru hinter Payta, dem elenden Pestloch, das schon viermal niedergebrannt werden muBte, und das immer wieder mit all seinen Krankheitskeimen zu neuem Leben ersteht. Trostlos in trostloser, verlassener Ge- gend liegt es da, und nur, wenn der Mond auf all das Gestein und die Strohdacher der baufalligen Hiitten fallt, tritt ein ge- wisser Zauber an den Tag, der den Peruaner sagen laBt: „Im Mondenschein ist selbst Payta schon.“ Manchmal kam der junge Unterkoch, sprach von Liebe und von seinen Lebenshoffnungen und trug seine Gedichte vor. Mir war’s, als sprache ein Kind zu seiner wiedererstandenen Ur- groBmutter, so weit zuriick schien mir all das, was ich einst getraumt und die Welt, wie ich sie vor Peru gesehen. Das Schlimmste der ganzen Fahrt aber waren die kurzen Stunden vor Callao gewesen. Nun war der Himmel verdeckt, ein nasser dichter Nebel lag trauerschwanger auf den fahlen Wassern, und keine fiinfzig Meter von uns lagerte der „Bologna“. Eine einzige Fahrt schob sich zwischen meine Erfahrungen und jenes Schiffsleben, und da schaukelte er so dicht neben mir und nichts war sich gleich geblieben — nicht einmal das Wetter! Als wir die grime Kiiste von Ecuador erreichten, erging der Befehl der Zwangsimpfung. Auch ich wurde hinter den roten Teppich geschoben und wurde geimpft, worauf mir der Schiffs- arzt gedampft (der harrenden Opfer wegen) zuraunte: „ Immer zu Ihren Diensten!" Dabei kiiBte er mich. Als Deckpassagier ist man immer ziemlich machtberaubt, in meiner Lage ganz besonders. Ich erkundigte mich daher nur bei der Mannschaft nach seiner Volkszugehorigkeit und erfuhr, daB man — um keinerlei Unannehmlichkeiten mit der peruani- schen Hafenbehorde zu haben — stets als Schiffsarzt einen Peruaner wahle. Das hatte ich mir gleich gedacht. Zweibeine mit menschenahnlichen Gesichtern .... Im Golf von Panama. Um fiinf Uhr friih ermoglichte Luis Ramirez mir ein Bad. Gegen sechs wurde das Schiff nervos; denn es zeigte sich das Boot mit der gelben Flagge. Der amerikanische Arzt kam an 100 Bord, und ihm folgte, kurze Zeit darauf, der Polizeiinspektor samt Schwanz. Ich war zu verzweifelt, um auch nur weinen zu wollen. Das ware aber schon der Augenuntersuchung halber nicht wiin- schenswert gewesen. Mein Leben hing von dieser Untersuchung ab; denn verweigerte man mir aus Geld-, Gesundheits- oder PaBgriinden das Einlaufen in Panama, so war ich fest ent- schlossen — ob Haifische oder nicht Haifische — vor den Augen der Behorden in den Golf hinab zu springen. Alles auf Erden eher, als eine Riickkehr nach Peru .... Fiinf Siidamerikaner, der Jude, ein Neger und meine Wenigkeit sollten als Deckfahrer landen. Die anderen sprachen kein Englisch. Sie muBten ihr Geld vorzeigen und wurden als minderwertiges Zeug behandelt. Dann erklarte ich dem Beam- ten, daB ich einer Studienreise um die Welt halber zu sparen gezwungen und auf dem Wege nach Japan begriffen war. Mein Englisch war, wie es sein sollte, daher war ich Mensch. „Haben Sie geniigende Mittel?“ Ich bejahte. Wiirde er sie sehen wollen? Aber er dachte sich wohl, wer nach Japan wolle, der miisse auch Geld haben, und zu meiner Erleichterung wandte er sich ab. Mein Visum, das so teuer erkauft zu haben, ich damals so sehr beklagte, war — bei allem Alter — ein regelrechtes Visum, und meine Augen, vierundzwanzig Stunden tranenlos erhalten, sahen gesund aus, als der Arzt das Lid, an den Wimpern reiBend, hob. Unten, auf dem Hafendamm, stand ein weiterer PaBbeamter und iiberpriifte nochmals die Passe. Im Augen- blick zahlte er die Haupter der Lieben eines reichen Nordameri- kaners, der mit nicht weniger als sechs Frauen reiste, von denen jede wie ein Mont Blanc wirkte. Kein Wunder, daB der Beamte die Frauen wie Riibezahl einst seine Ruben zahlte und die Zahl scheinbar nie eine zufriedenstellende war. Ich schwamm dicht an die Mont-Blancgruppe heran, glitt in ihrem Strom dem Beamten naher und naher und verschwand an ihm vorbei im Kielwasser der Grofien; erreichte den Ausgang, be- fand mich im Freien. Ich stand auf dem Boden der Vereinigten Staaten unter Englisch sprechenden Menschen und durfte neu aufbauen. Mit fiinf Dollars in der Tasche. Dennoch kam mir nicht einmal der Gedanke, geschweige denn der Wunsch, die Reise aufzugeben und geschlagen heim- zukehren. Gerade nun dachte ich mir, wie einst mein Vater, als er mit gezogenem Sabel durch die Elbe dem Feinde entgegen- schwamm: Siegen oder sterben! Furs Nachgeben bin ich nie gewesen . . . 101 Bei den drei Grazien. Es war eine schreckliche Wohnungssuche, denn in der Ka- nalzone, in den traumhaft schonen, blumeniiberwucherten Haus- chen durften nur Kanalangestellte wohnen, und unten in der Stadt fand man viele leere, doch wenig eingerichtete Zimmer- chen. Wenn man sie fand, so kosteten sie viel zu viel fiir meinen armen Beutel. Erst in der Avenida B entdeckte ich eine Hinterbude, fiir die ich taglich zahlen durfte und zwar fiinfzig Cents fiir die Nacht oder drei Dollars wochentlich. Ich zahlte sofort fiir eine Woche im voraus, um mich ein wenig riihren zu konnen, lieB mein Gepack bringen und nahm Abschied von Luis Ramirez und der Mannschaft des „ Imperial", deren Giite gegen mich nur Gott allein je bezahlen kann. Meine drei Hausfrauen — gelb wie welkes Laub, vom Leben wie vom Herbstwind geriittelt, hausten im zweiten Stock eines diisteren Holzbaus, vereint mit einem Vater, dessen Hauptbeschaftigung es schien, auf einem gewissen Ort zu sitzen (ein Raum, durch dessen Bodenfurchen man allerdings Einblick in einen anderen Ort gleicher Art gewann und durch die man zahlreiche interessante Beobachtungen anzustellen im- stande war), einem Bruder, der nichts verdiente und immer mit offenem Munde herumlief und einem ganz jungen Bruder, dessen Aufgabe es schien, die Familie zu erhalten. Er vertrat Singer - Nahmaschine. Bei aller Armut hielten sich diese gelben Grazien eine kleine Kochin, zwei Farbabstufungen unter ihnen, der sie monatlich sechzehn Pesos (Halbdollar) zahlten und die nachts auf dem Kiichenboden auf alten Lumpen schlief. Wenn ich nach zehn Uhr noch Wasser holte, sah ich sie auf den Iladern liegen und einen Berg bilden, iiber den die groBen Tropenkakerlaken wanderten. Neben ihr lagen die beiden wei- teren Hausgenossen — zwei kleine Negerlein, das Madchen neun, der Knabe zwolf Jahre alt, die wie Tiere behandelt, mit der Hundepeitsche geschlagen und zu aller Arbeit angehalten wurden. Wenn sie die Kiichenreste erhielten, aBen beide aus einem Napf, auf der Schwelle meines Zimmers sitzend, die Pfotchen als Besteck. Solche Negerkinder werden ganz klein aus irgend einer Abfallbiichse gehoben, in die eine schwarze Mutter sie lebend geworfen hat, und so lange sie nicht selb- standig sind, um davonzulaufen, miissen sie im Hause solcher Pflegeeltern alle schweren Arbeiten verrichten. Spater werden die Jungen oft Diebe, die Madchen StraBenpilgerinnen. Friih am Morgen machten sie Melassenwiirstchen. Sie kauften den dicken Zuckersaft billig ein und kneteten ihn da- heim auf der Veranda. Manchmal, wenn der dunkelbraune Teig zu klebrig war, spien sie in die Hande, um ihn leichter zu 102 ziehen, und seit ich das gesehen hatte, wollte ich keine der ge- drehten goldiggelben fertigen Wiirstchen mehr, die auf einem Brett aufgestapelt, von Jungen durch die StraBen zum Ver- kauf getragen wurden. Die drei folgenden Wochen sind mir immer wie ein Mare- ritt in der Erinnerung geblieben — nicht schaurigtief wie die Greuel und ewigen Gefahren von Peru, sondern triib wie das Waten in einem Sumpf voll Giftpflanzen und gelegentlichen Krokodilen. Da war zuerst die unertragliche Hitze. Qualte sie mich doppelt und dreifach, weil mein Blut trotz der Entbehrun- gen noch nicht genugend verdiinnt war, Oder wirkte die grofie Menge Feuchtigkeit, die sich taglieh einige Male zu Wolken halite, in schaurigen Giissen niedertoste und aus der glutenden Erdoberflache in erneuten Dampfen aufstieg, so betaubend — ich kann es noch heute nicht sagen. Ich weiB nur, daB ich mich gar oft aufs Bett werfen und in aufierster Erschlaffung liegen bleiben muBte, und daB ich mein Gesicht so lange trocken zu reiben versuchte, bis die Haut entziindet war. Die Nachte waren kiihler, doch immer warm genug, um ohne Ueberwurf schweiB- feucht zu bleiben, und zu dieser Hitze kam die Hautkrankheit, die schon auf dem „ Imperial" ihren Anfang genommen und die der Schiffsarzt zum Gluck nicht entdeckt hatte. Der Halb- franzose, den ich in Arequipa kennen gelernt, hatte mir — aus Brotneid, wie ich vermute, da auch er zu unterrichten gezwun- gen war — irgend ein Gift in die Chicha geschiittet, die wir auf unserem Ausfluge nach Yanaguara genossen hatten. Kein Arzt vermochte, diese seltsame Krankheit zu heilen und erst drei Jahre spater, in Japan, vergingen die letzten Piinktchen. Sie verriet sich auBerlich einzig durch wandernde Punkte, in- nerlich dagegen durch ein Jucken, das vollig ins Bockshorn trieb. Ich kratzte mich wie ein Dschungelaffe, wo ich ging und stand, einmal die Beine, einmal die Arme oder die Brust, und am argsten wurde es am Abend, so daB ich die ersten Wochen von Mitternacht bis drei Uhr friih Abwaschungen mit Borax- wasser machen muBte und erst durch Erschlaffung endlich in unruhigen Schlummer versank. Das war indessen nur der BaB zum eigentlichen Sopran meiner Leiden. Das Schlafen auf dem zugigen Deckbett hatte adr allerlei Gliederschmerzen eingetragen, jaher Zahnschmerz Qualte mich, die zerriitteten Nerven wollten sich nicht be- r uhigen, und dazu war ich verdammt, die auBersten Entbeh- rungen auf mich zu nehmen, nur um mein bescheidenes Zim- m or erhalten zu konnen. Jedes Versagen meinerseits — kor- Perlich oder seelisch — hatte mich in den Kanal geschwemmt, Jaher lieB ich mir nichts anmerken und tat, als ob mir nichts abginge. Einmal taglieh kaufte ich um 10 Cents Brot und zit- 103 terte vor der Alten, die in der Backerstube saB und schlechteres Gewicht verabreichte, als der junge Mann, der mir — meines Geschlechts halber — ein Viertelweckchen als Draufgabe schenkte. Kaum hatte ich das Brot gegessen, als ich von m e h r Brot traumte, und dazu hatte ich nichts als schlechtes, tropen- heiBes Wasser zu trinken. Als es einmal nachts regnete, fing, ich das vom Dach ablaufende Regenwasser in meinem Krug auf und fand es, da es viel kalter war, reinster Nektar. Sonst bin ich nie ein Freund des Wassers, auBer zu Waschzwecken, gewesen. Was fiir Tantalusqualen ich auf Schritt und Tritt zu er- leiden hatte! In jeder Apotheke verkaufte man Eiskaffee und Gefrorenes, aus jedem Speisehaus quoll verlockender Duft, und, wie um alles zu kronen, verkaufte man in offenen Buden „heiBe Hunde“, das heiBt Wiener Wiirstchen. So oft ich durch die Kanalzone ging, die durchweg wie ein Park war und in der man allerlei Obstbaume angepflanzt hatte, hob ich verstohlen die winzigen Jobos (stark duftende, kleine Friichte ahnlich den Pflaumen, doch mit groBem Kern) auf und saugte an ihnen,. um das Gefiihl des Essens zu haben. Einmal hob ich ein Stiick- chen Eis auf, das der Eismann verloren hatte. Der Dampf von seiner Ware war so stark, daB er wie in eine Wolke gehiillt mit seiner Karre dahinfuhr. Doch alle diese Leiden erblaBten vor der Geldsorge, die mit jedem Tage driickender wurde. In keinem der Geschafte, Aemter oder Verkaufshallen war irgend etwas zu verdienen und nach jeder Abweisung kam die Frage, ob man nicht geneigt ware zu. Zum SchluB ging ich zum amerikanischen Roten Kreuz, erhielt ein kleines Darlehen und erklarte mich bereit, in den Hospitalern der Zone die Nachttopfe zu waschen, wenn ich nur angestellt werden wurde, doch selbst diese Moglichkeit ver- sagte. Ein Mann wollte mich als Ausschenkmamsell in seiner Bar anstellen, als er mich aber sah, erklarte er, daB ich dazu nicht passe — zu zart und zu vornehm — wie er sich aus- driickte. Die Schritte, die ich da in Arbeitssuche taglich zuriickge- legt, hatten mich wohl beinahe zu FuB nach Europa zuriick- gebracht und immer tat ich sie mit leerem Magen und ohne Freunde; immer mit der Versuchung, den leichten Weg einzu- schlagen, der so dicht zur Hand war, und immer mit dem Ge- danken verankert, daB mit mir — dem auBeren Ich — auch alles, was Ideal und Kunst in mir war, unfehlbar ersticken wurde. Das verlieh mir die notige Geduld, weiter zu kampfen. Gegen Ende der dritten Woche entschloB ich mich, den ge- ringen Schmuck, den ich besaB, zu versetzen, und erkundigte 104 mich bei dem Besitzer des Arbeitsvermittlungsamtes nach dem besten „Onkel“ von Panama. Ich war fast taglich zu dem alten Herrn gegangen, der ein Deutscher war und mir hochst liebens- wiirdig entgegen kam, und dieser schlug mir vor, mit ihm ver- eint ein Uebersetzungsbiiro zu errichten. Ich malte in zehn Sprachen die Ankiindigung an eine Tafel, die wir vor die Tiir stellten, und wenn sie auch nur eine geringe Kundenzahl ergab, so traten doch unzahlige Matrosen alter Herren Lander ein und plauderten ein wenig. An Sprachubung in jedem Fall fehlte es mir nicht. Allmahlich iibernahm ich die Pflichten des Amtes — gering an der Zahl — das Eintragen der offenen Stellen und der Arbeitssuchenden, vorwiegend Negerinnen, der Hauser, die zu verkaufen waren und ihrer Einrichtung, die ebenfalls in ein Buch eingetragen wurde, das Bedienen des Fernsprechers und das Bewachen des flaugehenden Geschaft- chens, wenn der Besitzer zum Markt ging, um das tagliche Griinzeug fur seine Frau einzukaufen. Dafiir bot er mir in seinem Hause Kost und Wohnung an, und weil ich so gut wie mittellos geworden, sah ich mich gegen meinen Willen zur An- nahme gezwungen. Im Bananenwinkel. Wenn ich so viel von meinen personlichen Erlebnissen als Einleitung anfiihre, so geschieht es mit der Absicht, meine Ge- schlechtsgenossinnen zu warnen, sich uniiberlegt in ahnliche Gefahren zu stiirzen. Das Reisen in den Tropen ist etwas wesentlich Verschiedenes von dem in Europa, und in den Tropen neuerdings weit schwerer fur eine Frau als fur einen Mann, tritt doch zu den allgemeinen unvermeidlichen Uebeln die unbeschreibliche, vor keinem Verbrechen zuriickschreckende Sittenlosigkeit des Aequatorialgebiets und der in jedem Men- schen dort lauernde Verdacht, man habe es — reist eine allein- stehende Frau — mit einer Spionin oder einer schlimmen Aben- teurerin zu tun. Ersteklassereisende dagegen fahren wie Mehl- sacke mit AdreGschein — sie rollen durch das Land und lernen nichts, weil sie sich in einem magischen Kreis ihresgleichen be- wegen und das Volk an ihnen wie ein Kinobild vorbeistreift. Hauptbedingung fiir solche Studienreise ist nicht Mut, sondern Ausdauer und die Kraft unbedingten Ertragens aller Wider- wartigkeiten. Damit aber iiberzahlt man alles, auch das Schonste, was die Tropen iiberhaupt zu bieten vermogen. Das Haus des Deutschen lag am Ende der Kaledonia- straBe, jenseits des Negerviertels, in dem Europaer nicht zu wohnen pflegen. Es verschwand hinter den hohen, hellgriinen Blattern der Bananen und bestand aus einem braunen Pfahl- feau mit drei Zimmern — einer Rumpelkammer, die geschlossen 105 war, einem Wohnzimmer, in dem alte Mobel planlos herum- standen und staubige Bucher die Wandbretter, Stiihle und Tische zierten, und dem Schlafzimmer des alten Ehepaars, an das die Kiiche grenzte. Ich erhielt im Wohnzimmer ein Feld- bett, das bei jeder Bewegung knarrte und in dem ich mich nie umwenden durfte, ohne mich tadelnd angerufen zu horen; denn die Tiir zum Schlafraum blieb of fen, wahrend alle Fenster — bei dieser Hitze! — geschlossen wurden und ich nicht atmen konnte. Das Badezimmer durfte nie naB gemacht werden, da- her wusch ich mich in einer Wanne drauBen auf der offenen Veranda, wenn alles schlief, und so oft ich einen Ort besuchen wollte, muBte ich an den Ehebetten vorbeipilgern, Um fiinf Uhr morgens wurde aufgestanden, und wenn ich ungesehen in die Kleider wollte, muBte ich es auch tun. Noch war es stockfinster und zuzeiten lag das Mondlicht wie Rauh- reif auf dem herrlichen Bananenlaub. Die Blattchen des Gummibaums, die sich abends wie Kinderhandchen zum Gebet .geschlossen hatten, offneten sich sachte; die Ranken der Fieber- winde wurden straffer, und ganz gelbe Vogel — etwas groBer als unsere Kanarienvogel — setzten sich auf das Veranda- gelander und starrten uns noch schlaftrunken an. Irgend eine Zaragueya — ein siidamerikanisches Wiesel, das den Hiihnern nachstellt und seine Kleinen auf dem Riicken tragt, jedes Kin- derschwanzlein um den zuruckgelegten Schwanz der Mutter gewunden — stahl sich durch das hohe, stachelige Gras, das von Brennesseln und Dorngestriipp durchzogen war, und im Mangolaub raschelten die Ruderschwanze, der Tropikvogel und andere befiederte Gaste. Plotzlich iiberzog den Himmel ein diisteres Rot wie der Widerschein eines fernen Lavastroms, dann versilberte sich rasch das ganze Bild, wurde sekundenlang zu fliissigem Gold und — — klar und rein stand die Sonne am Himmel. Von Finsternis zu Licht dauerte der Uebergang nicht fiinf Minuten. Nach dem Kaffee setzte ich mich auf die Veranda und malte, wahrend der Deutsche im Garten herumstoberte und seine Frau mit vergramten Blicken die Betten in ihrem Zimmer machte. Sie nannte mich nie beim Namen: so oft sie etwas von mir wollte, sagte sie einzig: „ So, kleines Ding, setzen Sie sich nicht dahin, das ist meines Mannes Platz!“ oder: „Es ist Zeit, ins Amt zu gehen, kleines Ding!“ Er ging namlich schon um halbacht aus dem Hause, und ich trachtete, etwas vor neun unten zu sein. Da wir erst um sechs Uhr schlossen und ich nie untertags frei hatte, schien mir das reichlich genug. Nie habe ich Menschen gesehen, die teils bewuBt, teils sicher unbewuBt, so viel versucht haben, alles Schone in mir zu ersticken, wie diese beiden, die in ihrer Art 106 gewiB beflissen waren, gut gegen mich zu sein. Der Osten wirkt auf uns WeiBe sehr haufig entsittlichend, und er war zwanzig Jahre in China gewesen, wo die Vielweiberei bliiht, in Panama fiinfzehn Jahre, das sehr schon, sehr ungesund und sehr siindig ist, und dabei hatten sich die Ansichten meines Gast- gebers unzweifelhatt verschoben, denn er nahm jede Gelegen- heit wahr, mir unmogliche Geschichten zu erzahlen, mich auf alles Schlechte ringsumher aufmerksam zu machen und mich von allem, was mir innerer Halt sein konnte, langsam abzu- schrauben. Stand ich abends vor meiner Badewanne und starrte in das wundersame Flimmern der Sterne, so rief er mich zu Bett; wollte ich irgend ein gutes Buch lesen, so ver- hinderte er mich daran nach Kraften, und wiirde ich es nicht zur Bedingung gemacht haben, abends in der Biicherei studieren zu diirfen, so hatte ich ohne Ausspannen um acht Uhr, wie das Ehepaar selbst, ins Bett gemuBt. Diese kurze Frist aber rettete mich; denn was sich an Widerwartigem angesammelt hatte, glitt in meiner kurzen Freizeit von mir ab. Ich fliichtete in die Kanalzone, vertiefte mich in die bezaubernde Tropenpracht und wurde wieder — Mensch. Diese Anlagen waren herrlich. Die Crotonstraucher leuch- teten am Tage in alien Farben — vorwiegend gelb, lichtgriin, rot und schwarz — die zarten Bambusrohre spreizten ihre Blatter und zitterten im Winde; die weiBen Bliiten der Tempel- blumen schneiten iiber den Boden hin, und die dolchartigen grellroten Blatter der Poincetta brachen aus dem vielstufigen Grim ringsumher. Wie Perlen schimmerten die Tropensterne im Mondlicht, und an den Bananen floB ein breiter Silber- strom nieder. Palmen rauschten, vielwurzelige Banyanbaume versperrten den Weg, kopfgroBe Kalabassen baumelten von vorspringenden Aesten, und der sogenannte Liebeswein bildete ein Meer rosenroter Bliiten auf den grim und weiB gestrichenen Kanalhauschen. Zuckerrohr und Melonenbaume, Guanabanas mit ihren Stachelfriichten, Flammenbaume mit langen braunen Schoten und andere Pflanzenwunder der Tropen begrenzten die breiten, schon geteerten glatten Wege, und wen man traf, der war nett gekleidet und Europaer .... Schwiiler war das Bild unten in Panama selbst. Die win- zigen Raume standen offen, und drinnen lagen Frauen in schlafhemdartigen Gewandern auf langen Schaukelstiihlen, fachelten sich trage und wippten Strohpantoffeln mit der linken Zehe; Zwergpapageien kletterten an Stiihlen empor und piep- s ten schwach. In den Yorhallen standen Kochherde, und darauf brieten dicke, heitere Negerinnen Fische in abscheulich riechen- dem Fett; bleichbraune Frauen huschten auf die StraBe und fanden Glutaugen, die begehrten und nahmen; nackte Kinder 107 iiberkugelten sich; an alien Ecken saBen Frauenmumien, die das Leben ans Ufer geworfen hatte, und verkauften Lotterie- zettel; kleine Jungen boten Hirse- und Kokoskuchen feil, Aflen zeigten sich in einem Hinduladen, Tabak aus Sumatra bedeckte den Boden eines anderen Raumes, und Panamahiite standen auf Standern auf dem FuBsteig selbst. Dazwischen aber flutete das bunte Leben des Kanalgebiets voriiber — Japanerinnen trippelten in ihren Kimonos, Chinesinnen in engen schwarzen Hosen, Panaminierinnen in ihrer bauschigen Tracht, Nege- rinnen in ihrer komischen Starkwasche (selbst das Hemd wird gestarkt!), Indianerinnen in ihren Brustflecken und den weiten Rocken und Mischlinge in europaischer Tracht, das Gesicht zur Maske gepudert und geschminkt. Manner aller Lander, Volker und Farben umgaukelten, was hier weiblich war. Auf dem Kutschbock der zweiradrigen Wagen und der kleinen vierradrigen Wagelchen, saB ein Kutscher unter einem Riesenregenschirm, der fast groBer als das Gefahrt war, und auf der Plaza Santa Anna befanden sich die Schuhputzerjungen, eine schwarze Zunft, die tagsiiber mit ihrem einzigen beweg- lichen Gut, der Schuhbiirstenkiste, von StraBe zu StraBe wan- derten und menschliche FuBhiillen angriffen, und die nachts auf dem FuBsteig vor irgend einem chinesischen Chop-Suey-Restau- rant schliefen. Zuzeiten gab ihnen der Verkaufer des Wurzel- biers (Sarsaparilla) einen Trank oder ein Obsthandler eine faulende Banane, und was Kleidung anbelangt, waren sie be- scheiden in die Reste irgend einer abgelegten Mannerhose ge- hiillt. Bis zum zwolften Lebensjahre war iiberdies eine der- artige Hiille iiberhaupt nicht vonnoten. Wozu in aller Welt war man denn in eine schwarze Haut schon hineingeboren? Die ganze KaledoniastraBe gehorte den Negern und auch die kleinere Markthalle, in der neben Yam (einer Knollen- frucht) diinne lange Chinesenbohnenschoten, Peitsai (chin. Sa¬ lat), Rosella (Bliiten, die, als Gemiise und als Obst gekocht, ge- gessen werden konnen), purpurfarbige Heckenapfel, Brot- frucht und andere Tropensachen zu kaufen waren und wo man die Rieseneidechsen oder Iguanas angebunden sah, die von den Schwarzen als Leckerbissen gegessen werden und weiBes Fleisch haben sollen, wahrend die gepokelten Eier, zu gelben Rosenkranzen zusammengefaBt, als besondere Speise verkauft werden. Auch ich kaufte einige und aB zwei gekocht. Sie schmeckten wie hartgesottene Dotter und rochen . wie Ostereier um Allerseelen. Ich verbrauchte einen halben Dollar in Arzneien, um die Iguana wieder auszubriiten, denn sie rannte mir im Korper auf und ab, bis ich grim und gelb war. Ich war begeistert von all dem Neuen trotz all meiner Uebel und malte friih am Morgen flott darauf los. Das erbitterte 108 die alte Frau, und als ich abends heimkehrte, waren Malsachen — Farben, Pinsel, Farbstifte — alles weg. Der Sohn der schwarzen Wascherin hatte ausgerechnet dies aus meiner Rum- peikammerlade gezogen. Beschuldigen durfte ich die Dame nicht, wohl aber jammerte ich derart um die Sachen, daB der alte Herr mir einen bescheidenen Malkasten schenkte. Die Kreiden aber, die ich verloren hatte, waren mir unersetzlich. Was ich alles versuchte! Am meisten verdiente ich mit kleinen Weihnachtskarten, die ich nach englischer Art in Buch- form und mit Bandchen herstellte und fiir die ich — Malerei und Material — 25 Cents das Stuck erhielt. Malen gestattete mir der alte Herr noch am liebsten in den langen Biirostunden, und so brachte ich langsam genug Karten zusammen, um etwas zu ersparen und um mir gelegentlich Zeichenpapier, eine Marke oder ahnliches zu leisten. Auf diese Weise konnte ich aber noch hundert Jahre in Panama sitzen! In meiner Ver- zweiflung versuchte ich Arbeit fiir den katholischen Wohlfahrts- verein zu erhalten, schrieb auch einige Sachen, wurde indessen nie honoriert. Der einzige Vorteil, den ich davon hatte, war die Bekanntschaft mit President Harding, der — eben er- wahlt — die Kanalzone besuchte und der mir, da ich gerade im Heim anwesend war, auch die Hand reichte. Die Deutschen erhofften damals unendlich viel von ihm. Hoffnungen verrinnen ja bekanntlich wie Nebel .... Unterdessen wurde meine Lage im Bananenwinkel — zu keiner Zeit rosig — vollig unhaltbar. Wenn ich morgens vom Haus ging, wuBte ich nie, ob ich dahin zuriickkehren oder noch vor Nachtanbruch Selbstmord begehen wurde. Durch die lan¬ gen Stunden des Tages warf mir der alte Herr Undankbarkeit vor, weil ich seinen Antrag, im Biiro seine Nebenfrau zu wer- den, glatt abgewiesen hatte. Ich war ihm fiir alles empfangene Gute auBerordentlich dankbar; aber selbst Dankbarkeit hat Grenzen und seine chinesisehe Lebensanschauung verfing bei mir nicht. „Chinesinnen sind gliicklich, auch wenn der Mann mehrere Frauen hat. Er versorgt sie vollkommen und nimmt ihnen alle Gedanken fiir das tiigliche Sein,“ bemerkte er. „Ich habe selbst Gedanken und bin keine Chinesin!" er- widerte ich trocken. So begannen die Reibereien. Eines Tages sperrte er gegen alle Gewohnheit die Tiire zu und ergriff mich am Arm. „ In meinem Leben habe ich noch immer erhalten, was ich wollte!" Auch das hatte er schon oft gesagt. „Jeder Schuh findet seinen Leisten, und heute wirst du diesem Schuh der Leisten sein, der ihm beweist, daB man nicht allzeit bekommt, was man will!" Eine niitzliche Weisheits- 109 regel, die denkbarst eingepaukt werden soil, und damit hangto ich mich ganz einfach an seinen groBten Schatz — den langen grauen Bart. Wir hatten etwa drei Minuten einer sehr bewegten Zeit. Ich hatte von Peru her Uebung in derlei Sachen. Zum SchluB flog ich mit einem Krach in eine Ecke und mein Kampfpartner in die andere, weder zum Vorteil unserer Rippen noch zu dem der wenigen morschen Biiromobel. Von da ab lieB er mich wohl nicht aus seinem Hause scheiden, aber er behandelte mich wie ein Tier und seiner schwerhorigen, sehr eifersiichtigen Gattin, die kummergedriickt umherschlich, hatte ich es nicht iibers Herz gebracht, die nackte Wahrheit zu sagen. Ich malte daher fieberhaft und wartete. Vielleicht war ich zu zermiirbt, um mit Gewalt einen Bruch herbeizufiihren. Die Stelle eines offentlichen Dolmetschs war ausgeschrieben gewesen; ich hatte mich beworben, zur Priifung gemeldet und sie auch abgelegt, obschon sie ja fiir mich unverhaltnismaBig schwerer, als fiir die anderen Kandi- daten war, da jene von ihrer Muttersprache aus iibersetzten, ich aber zwei mir fremde Sprachen in eine dritte fibersetzen muBte und mir die gesetzlichen Amerikanismen ziemlich fremd geblieben waren. Dennoch erhielt ich hohe Noten. Das Lob allein half mir indessen nicht, denn die Wochen vergingen, Weihnachten nahte, und ich vernahm nichts weiter. Abendkurse fiir Mischlinge waren durchgefallen, die Bezahlung in einem Zeitungskiosk zu gering, um mir selbst das einfachste Leben zu ermoglichen; denn ich muBte — wie sehr ich auch hungern mochte — Europaerin bleiben, durfte in keinem Neger- loch wohnen oder Negernebenverdienste suchen. Eine nette Amerikanerin, die Gattin eines Bahnbeamten, die infolgedessen in der Zone selbst wohnte — fiir mich das Begehrenswerteste, was es gab — lud mich zuzeiten ein, zu ihr zu kommen, doch das Verbot auszugehen Oder irgend einen Verkehr zu pflegen, machte ein Willfahren undenkbar. Denn- noch gelang es ihr, mir einmal im Vorbeieilen zuzufliistern: „Wenn Sie sich gezwungen sehen sollten, hier wegzugehen, so steht Ihnen unser Haus offen.“ Zwei Tage spater erinnerte ich mich daran. Es war Weihnachten. Die gliihendste Tropensonne brannte auf Panama nieder und machte die Baumwolle auf den Weg nach Las Sabanas reifen. Die Baume wirkten wie Kirschen in Bliite oder Schnee in griiner Landschaft. Ich freute mich schon, am Christtag nach Alt-Panama wandern zu diirfen. Jeden zweiten Sonntag muBte ich daheim bleiben und meine Wasche waschen, und da ich die Arbeit nicht gewohnt und durch den Tropenaufenthalt, die Sorgen und Leiden so geschwacht 110 war, griff es mich derart an, daB ich einige Tage hindurch nicht gut schreiben und gar nicht malen konnte. Ich baumte mich immer starker gegen diese Arbeit auf, die mir nicht nur Krafte, sondern den einzigen kostbaren Tag raubte, an dem ich mir etwas ansehen konnte, was vom Standpunkt meiner Studien- reise, von dem der Journalistin und von dem der Malerin un- erlaBlich war. Anstatt mir darin zu helfen, wurde mir von alien, die ich traf, mit groBer Ueberzeugung gepredigt, daB nur der Rausch der Sinne der echte Lebenswert genannt werden durfte. Je mehr man es betonte, desto iiberzeugter wurde ich vom Gegenteil und desto begeisterter starrte ich an einsamer Stelle ins Abendrot oder versenkte mich in den Anblick der Tropengewachse mit ihren farbentollen Bliiten, den langen Halmen, an deren Enden die Kolibris schaukelten und summ- ten oder lieB das Mondlicht an mir niederrieseln, wahrend die Bananen lispelten und irgend ein Nachtvogel aufkrachzte. Es gab Kunst, Musik, Wissen, Schonheit — es gab noch viele Werte auBer geschlechtlicher Sinnenlust. Von dem starken Gegenstrom, den ich indessen anderthalb Jahre in dieser Hin- sicht entwickelte, ist mir ein Ekel verblieben, der mich an das entgegengesetzte Ende geschleudert hat. Aus diesem Grunde ist meine Warnung so eingehend. Es wurde nichts aus Alt-Panama. Ich sollte daheim sitzen und der Frau Gesellschaft leisten beim Weihnachtsessen, dem der Hausherr selbst nicht beiwohnte. Es fand um zwei Uhr statt und war eine diistere Sache aus Nudeln und Verstim- mung. Nach dem Essen schickte sie „das kleine Ding“ fort, und alien Verboten zum Trotz wanderte ich nach der Ruine. Der Boden vor dem zerstorten Kloster, der alten Kirche, dem elenden Rasthaus ist zeitgeheiligter Boden. Hier stieg Vasco Nunez de Balboa 1513 mit der entrollten Flagge Spa- niens ins Meer und nahm Besitz vom Stillen Ozean fur Ferdi¬ nand und Isabella — unschuldig wie ein Kind, das von einem Juwelenkastchen einer Konigin Besitz ergreift. Vom Gipfel des Darien hatte er beide Weltmeere erblickt. In Alt-Panama zitterten die spanischen Monche, die we- nigen bekehrten Indianer und die ersten Abenteurer und Handler vor dem beriihmten Seefahrer Francis Drake, der den Ort dreimal auspliinderte und einascherte. Bis hierher waren einst die Inkas, die Kinder der Sonne, mit ihren Goldlasten auf Lamariicken gekommen; von hier reichte das Wasser un- gebrochen bis nach Neu-Guinea. So still ist das Meer hier, daB man glaubt, es liegen die toten Jahrhunderte wie ein Bahrtuch darauf, und so tot und schlafrig wirkt die iiberwucherte Ruine, die Briicke mit einem einzigen Bogen, die Urwaldbaume mit ihrer weiBen Rinde und 111 ihrem einformig griinen Laub. Schirmaineisen laufen in zwei Reihen — einer kommenden und einer gehenden — den Weg entlang, und jedes der schwarzen Tierchen tragt ein dreieckig zugebissenes Blatt wie einen griinen Sonnenschirm hoch. In wenigen Stunden sind sie imstande, einen Baum kahl zu fressen. Tiefer im Urwald springen die Kapuziner-Affen — gelb mit einem schwarzen Kappchen aul dem Kopfe —, hangt das A'i oder Faultier mit dem Kopf nach unten, sieht man, wenn man sich ruhig verhalt, ein Armadillo Oder kann, erreicht man einen breiteren FluB, auch von einem Alligator iiberrascht werden. Der Tucan mit seinem schweren Schnabel thront auf einem vorragenden Ast, und an Schlangen fehlt es nicht. Am schonsten sind die griinen wie die bunten Papageien, die in den Palmenkronen schwatzen, und der rote Kardinal, der wie eine stengellose Bliite niederzufallen scheint. Und die Fiille von Insekten! Ich schwelgte in der Menge des Neuen, ohne dariiber die Zeit zu vergessen, doch, wie sehr ich gleich mich bemiihte, die schnellste Gangart einzuhalten, brauchte ich voile zwei Stunden auf Schusters Rappen. Im Bananenwinkel herrschte Gewitter- schwiile, und am folgenden Morgen entlud sich — vor der alten Frau — das Gewitter. Wenn ich nicht gehorchen — in a 11 e m gehorchen wolle, so konnte ich auf der Stelle gehen .... Meine Gesamtersparnisse, fiirsorglich in die Zipfel eines Taschentuchs gebunden, beliefen sich auf elf Dollars — meine Einnahmen von Monaten, nicht Wochen! Und mit diesen ge- ringen Mitteln sollte ich an einem so hoffnungslosen Orte neu auflbauen? Dennoch zogerte ich nicht einen Augenblick. An- statt auf die Knie zu sinken und unbedingten Gehorsam zu ver- sprechen, packte ich meine geringen Habseligkeiten. Die Er- bitterung des Alten kannte keine Grenzen. „Sie gehen? Sie gehen?“ murmelte er, und etwas wie Schmerz klang durch. Dann, von Wut befallen, forderte er mich auf, zu zeigen, was ich eingepackt hatte. Wer kannte mich? Wortlos packte ich meinen kleinen Koffer und drehte ihn um, daB die Sachen in alle Richtungen flogen. Beschamt drehte er sich ab und ging ins Amt. Ich dankte seiner Frau, suchte ein Zimmer in Panama und holte mein Gepack, was einen der kostbaren Dollars verschlang. Hinter mir schloB sich die Gartenpforte des Bananen- winkels und damit jener Abschnitt meines Lebens, in dem ich Sklavin gewesen war. Zwischen Trompeter und Pfiff. Nun hauste ich in einem Hotel der Avenida B und zahlte wochentlich drei Dollars fur den finsteren Raum. Die Wande, 112 der Boden, die Leute waren braun, und ich selmte mich krank nach dem Griin der Bananen. Neben mir wohnte ein Trom- peter, der immerfort blies — entweder auf der Trompete Oder als Sclinarchender. In den Tropen gibt es keine ganzen Wande — ein Gitterwerk beginnt etwa einen halben Meter oder hoch- stens einen Meter vor der Decke und hat die Bestixnmung, frische Luft durch alle Raume durchwehen zu lassen. Man kann durch dieses Gitterwerk zum Nachbar hineinspahen oder auch etwas auf ihn werfen; in jedem Fall gibt es nichts, was den Ohren verborgen bleibt .... Unten, im Gasthofgarten, pfiffen die Hausburschen oder sangen, wenn es Neger waren, ununterbrochen Hymnen. Kein Volk lebt so tierisch unbefangen dahin, wie diese nach Amerika verpflanzten Schwarzen, und keins singt mit solcher Ausdauer geistliche Lieder. Sie beten das Vaterunser zu Zauberzwecken von hinten nach vorn, sie brennen die Kerze des „heiligen An- tonius des Feuers“ (des Teufels) an der verkehrten Seite an, um jemand damit zu rufen, und stecken in eine ebensolche Kerze zu erhohter Wirkung drei schwarzkopfige Stecknadeln in Kreuzform. Wer jemand toten will, laBt fiir den noch Lebenden eine heilige Messe samt Gesangen lesen und wenn der Tod be- sonders schnell eintreten soil, so legt man den Namen des zu Sterbenden verkehrt geschrieben unter das Kopfkissen eines Toten mit in den Sarg. Es gibt kein Gebot, das nicht taglich gebrochen wiirde, aber sowohl die Neger, wie auch ihre Seelen- hirten sind iiberzeugt, es mit strengster Glaubensbefolgung zu tun zu haben. Neben mir hauste eine Russin, deren Streitworte mit ihrem Mann und deren Bratengeruch immer storend zu mir herein- drangen. Sie trug die Asche ihres Kindes in einer kleinen Vase im Koffer mit sich herum, und ich hatte stets das Gefiihl, daB sie sich einmal irren und sie als Zahnpulver verwenden wiirde. Allerdings weiB ich nicht, ob sie sich je die Zahne putzte! Mit Miihe und Not fand ich zwei Schiilerinnen — Ameri- kanerinnen fiir Spanisch — und eine davon riet mir, zu einem gewissen Photographen zu gehen und ihm meine Dienste anzu- tragen. Sie warnte mich indessen, daB er „ein Mann wie alle Manner" war, doch darin hatte sie unrecht. Er nahm meine Arbeit nach einigem Zogern an, das heiBt, er ersuchte mich, jeden Abend von sieben bis zehn Uhr bei ihm zu entwickeln und die Platten zu schwemmen, und zahlte dafiir 15 Dollars monatlich. Ich erzahlte ihm, weshalb ich den alten Deutschen verlassen hatte und daB mir um diese Art Leben nichts war, und obschon ich jeden Abend in der Dunkelkammer mit ihm auf einer Kiste stehend arbeiten muBte, sagte er nie etwas, das mein Bleiben unmoglich gemacht hatte. Er gab mir fast immer etwas 8 113 zu essen und war von riihrender Giite gegen mich. Von alien Mannern im schonen und siindigen Panama war er der einzige, der mir nach unserer ersten Unterredung sagte: „Kiimmern Sie sich nicht um das, was Ihnen hier gesagt wird. Was Sie fur Recht ansehen und als Ihren besonderen Weg gewahlt haben, das ist — von Ihrem Standpunkt und fur Ihre Entwicklung — das unbedingt Richtige. Menschen konnen nicht so wachsen, wie andere biegen; jedes Wesen hat den Keim zu seiner Einzelentfaltung in sich und niemand soil dagegen arbeiten." Er war Jude, aber er stach selbst von den meisten Christen hochst vorteilhaft ab . . . . So malte ich in meiner kleinen Bude, schrieb und unter- richtete, lemte entwickeln und suchte weiter nach Erwerbs- moglichkeiten. Und Neujahr kam und ging. In der Kanalzone. Ich hatte den Schotten und seine Frau besucht, und all- mahlich verbrachte ich mehr und mehr Stunden bei ihnen in der Zone. Zuzeiten schlief ich sogar drauBen, denn Herr M. hatte Nachtdienst und Frau M. angstigte sich allein, da viele Einbruehsdiebstahle vorgekommen waren. Heute ist es anders; denn President Harding, dem die Zone als Eldorado geschildert worden war, und der nur zwei Tage da geschmorrt hatte, schaffte bald die friiheren Vorteile der Be- amten ab. Damals hatte jeder Kanalangestellte seine freie Wohnung, die besseren und alteren sogar ihr eigenes Hauschen, doch nie ein bestimmtes. Die Einrichtung gehorte der Kanal- verwaltung, so daB kein Angestellter mehr als sein Bettzeug und Geschirr mitzubringen hatte. Kam die Kiindigung, so kam vierundzwanzig Stunden spater auch schon der Wagen, und man siedelte um. Ich selbst bewohnte in den folgenden Mo- naten Ancon, Balboa, La Boca, das Quarantanegebiet und neuerdings Ancon — Orte, die iiber zehn Meilen in der Runde zerstreut sind. AuBerdem wurde den Kanalbeamten unentgeltlich Holz zu- gestellt, Licht und Wasser waren frei, und das so notwendige Eis kostete bei zwanzig Pfund taglich nur zwei Dollars monat- lich. In den Kommissarien kaufte man gegen Kanalkarte und Namen weit billiger als in Panama ein, und wer erkrankte, wurde im Hospital unentgeltlich behandelt. Dagegen durfte nie¬ mand daheim behandelt werden und alle Frauen muBten im Hospital entbinden. 114 Sehr streng war die Reinlichkeitsinspektion. Nirgends durfte Schmutz sichtbar sein, stehendes Wasser gehalten oder Obstschalen weggeworfen werden. Nicht nur in der Kanalzone, sondern auch in Panama selbst, hatte jedes Haus eine groBe, mit einem festen Deckel versehene Abfallsbiichse, die taglich geleert wurde. Alle Tiimpel wurden mit Petroleum begossen, und wo das Gebiisch zu dicht war und Miicken Unterschlupf fanden, wurde sofort ausgeschlagen. Die StraBen waren wie gewaschen. Die Hauschen selbst waren die besten Tropenbauten, die ich auf der ganzen Reise gesehen habe. Das innere Geriist war aus Holz, die AuBenwande jedoch aus feinem Drahtnetz. Eine breite, sehr schone, immer mit Blumen umsponnene Veranda bildete den Hauptteil des Hauses und war allgemeiner Wohn- raum. Die Schlafzimmer hatten Jalousien von innen, die ge- schlossen werden konnten, und die Kiiche war zur Halfte aus Holz. Der Wind konnte Tag und Nacht durchblasen, ohne In- sekten hereinzutragen, und das einzig Storende war der feine Schleier vor den Augen, der alles wie durch einen Nebel er- kennen lieB. Auf dem Dach des kleinen Porticos lag nicht selten eine Iguana und sonnte sich unter rosenrotem Liebeswein Oder gliihender Bougainvillia. Wie ein verkleinerter Drache sah das Tier mit seinem Stachelriicken, groBen Kopf und langen Schwanz aus, war aber so harmlos, daB es immer auf der Hut vor dem geringsten Angreifer war. In dieser Umgebung fand ich zum erstenmal wieder zu mir zuriick. Die Stille, die prachtvolle Tropenwelt rings um mich her, die Liebe des Ehepaars und dazu die reizende Nelly, die Perle von Ancon, — der weiBe Zwergpinsch, der im Hause die Stelle einer Tochter einnahm und so sehr Mensch geworden schien in den zwolf Jahren Erdensein, daB ein Verkehr mit VierfiiBlern iiberhaupt nicht mehr in Frage kam .... Einmal wusch ich meine Kleidung im Waschbecken der Hinterveranda. Eine Weile sah mir Frau M. andachtig, doch ohne Begeisterung zu, dann nahm sie mir das Kleid aus der Hand und sagte: „Gehen Sie auf die Veranda, Kind, wo mein Mann sitzt. Sprechen Sie mit ihm und malen Sie; denn das verstehen Sie ausgezeichnet. Das Kleid aber_bewahre mich! das wasche ich lieber selbst!" Und so geschah es, daB ich mit meiner Wasche nie wieder etwas zu tun hatte und lieber Blumenbilder malte, die nach Schottland an die Verwandten des lieben Ehepaares gingen. Als Hausfrau habe ich nie geleuchtet . . . 8 * 115 „EsisteinlangerWeg, derkeineKriimmung kenn t.“ Schlaftrunken wackelte ich in die Kiiche. Frau M. drehte gerade Pfannkuchen um, und die reizende Nelly beobachtete sie dabei so klug, wie es nur ein Hund kann, der schon beinahe Mensch geworden ist und fiir Pfannkuchen iiberdies eine be- tonte Schwache hat. Ueber die Schulter hinweg rief mir die Pfannkuchenkiinstlerin zu: „Wissen Sie, was man meinem Manne gestern abend ge- sagt hat? Ihre Ernennung zum Dolmetsch von Panama sol! in der Zeitung stehen.“ Mein Schlai war weg. Wo? Wie? Wann? Der Aufruhr endete mit meinem Davonstiirzen zum Nach- bar und dem Wiedererscheinen mit dem Hauptblatt der Republik. Unsere Pfannkuchen brannten an und verkohlten trotz Nellys warnendem Gewimmer, wahrend wir lasen, daB ich zum Dol¬ metsch von Stadt und Provinz von Panama ernannt worden war. 0 Seligkeit ohne Ende! Der Tag verging wie im Traum. Ich sauste zum Postamt hinunter, ich fand richtig die Ernennung, ich lief ins Justiz- gebaude und leistete feierlich meinen Amtsschwur, ich wahlte die Eiicherei auf der Plaza zu meinem Aufenthaltsort und wurde nun sozusagen noch dafiir bezahlt, daB ich da saB und arbeitete: ich trug meinen Namen in das groBe Buch ein und — o Krone der Freuden! — man iiberreichte mir die Siegel. Als Gehalt waren 150 Pesos ausgesetzt und fiir jede Privat- sache durfte ich extra rechnen. Es gab sechs Gerichtshofe, in die ich in Panama selbst gerufen werden konnte, und notigen- lalls wiirde ich auch verreisen miissen. Am Abend rief ich durch die Tiire: „Wer kommt?“ „Unser liebes kleines Madchen!" „Nichts da! Der Dolmetsch von Stadt und Provinz von Panama!" Selbst Nelly bellte vor Freude .... Im Kreisgericht vier. Zur Zeit, als ich Dolmetsch von Panama wurde, erregte ein Fall besonderes Aufsehen. Es handelte sich um einen ge wissen Neger Samuels, der des Mordes angeklagt war und schon drei Monate in Untersuchungshaft saB. Nun kannte ich den Fall schon von meinen Freunden her; denn Samuels waren die Nachbarn von Herrn und Frau M. drauBen in Las Sabanas, wo sie eine ldeine Pflanzung hatten. Nach Art der Neger kam es wohl manchmal zum Streit, und Frau M. erzahlte lachend, daB die Umgebung iiberzeugt gewesen war, die schwarze Nach- 116 barin habe unter dem Wohnhaus einen Knochen vom Coco Solo (dem Friedhof) vergraben, urn zur Rache fiir eine Hiihneruntat (Frau M.s Hiihner hatten Mais weggefressen) eine bose Krank- heit heraufzubeschworen, ein Glaube, der dadurch seine Be- kraftigung gefunden, daB Frau M. tatsachlich derart an Ma¬ laria gelitten hatte, und wie leblos liegen geblieben war. Sie aber, die gute Seele, erzahlte nichts vom Knochen, sondern nur von der Giite der Negerin, die ihr wahrend der Krankheit bei- gestanden und ihr den Haushalt besorgt hatte. Ueberhaupt wuBte die Schottin immer nur Gutes von jedermann zu sagen und beschrieb die Menschen stets in so goldigem Licht, daB ich mich oft fragte, warum m i r solche Wunder nicht unterlaufen waren, bis ich entdeckte, daB alle Menschen fiir sie der Wider- schein der eigenen Herzensgiite waren. Sie rief so selbstlos in den Menschwald hinein, daB sogar der schlimmste Baum noch ein gutes Echo horen lieB. Seither wuBte ich genau, daB die Menschen manchmal keine Engel gegen mich waren, weil ich selbst vom Engelzustand viele Meilen entfernt war. Es versteht sich also, daB Frau M. die Negerin und ihren gesetzlichen Anhanger als uniibertrefflich schilderte und sich den Fall sehr zu Herzen nahm. Wie groB war daher die Freude aller, als ich bei der ersten groBen Verhandlung als Dolmetsch neben dem Angeklagten saB. Mein Entziicken bewegte sich dagegen in sehr engen Grenzen; denn so wichtig ich mil- auch vorkam, so durcheiste mich der Gedanke, daB der geringste Fehler, die fliichtigste Unaufmerksamkeit meinerseits dem An¬ geklagten das Leben kosten konne, und ich schwitzte daher arger als je zuvor im heiBen und siindigen Panama. Es gibt in der Republik keine Schwurgerichte. Die zwolf Geschworenen sind unbekannte Personen. Der Richter ent- scheidet den Fall immer selbst nach reiflicher Ueberlegung, be- raten von dem Verteidiger und dem offentlichen Anklager. Es soli da heiBen: „Wer schmiert, der fahrt“ und mit der Gc- rechtigkeit nimmt man es in Panama nicht so genau. Das darf nicht verwundern, denn die ganzen Lebensbegriffe sind dort andere, und Verhaltnisse bestimmen nicht nur Menschen, son¬ dern auch Obrigkeiten. Bezeichnend ist, daB die Republik einen von den Vereinigten Staaten aufgestellten fremden Revisor bat, damit die Zahlungen geleistet und die Beamten, Lehrer und staatlichen Angestellten genau entlohnt werden. Von den Leuten besserer Klasse lebt einer vom anderen. Wer Geld hat, der gibt und erhalt andere, und wenn er verschuldet ist, geht auch er und lebt vom Gelde eines weiteren. Wie bei den Tropen- pflanzen eine auf der anderen wachst und die unterste erstickt wird, so geschieht es auch unter den Menschen. 117 Das ist alles, was ich — die ich der Republik zu Dank verpflichtet bin — sagen mochte. Die Verhandlung begann um zwei Uhr nachmittags und dauerte bis sechs. Neben mir, zusammengedriickt und mil Tranen in den Augen, saB der alte Samuels, und neben ihm stand die braune Saule der Gerechtigkeit mit einem Kniippel. Auf einem hohen Stuhl, der meine FiiBe in der Luft lieB, saB der „Herr Dolmetsch“, wie ich angesprochen wurde, und hinter mir schnauften eher als atmeten Samuels’ Frau und die nach- sten Freunde und Zuhorer hinter dem kafigartigen Bau, der die „Galerie“ bildete. Der Schreiber, ein weiterer Schriftfiihrer und der Verteidiger waren links, der offentliche Anklager rechts vom Richter, und vor dem Fenster baumelte eine Kala- basse an einem Ast und schien mir zuzunicken. Kurz erzahlt drehte es sich um folgendes: Samuels brachte jeden Abend Kohle nach der Stadt, und da er sie des Zolls halber um halbzwolf nicht mehr einfiihren durfte, stellte er das Fuhrwerk ein und begab sich zu FuB nach Hause. Unterwegs traf er eine Negerin vor ihrem Hause stehend an und verplauderte sich mit ihr zehn Minuten. Wah- rend er hier miiBig die Zeit vergeudete — Warnung! — betrat ein Mann (nach der ersten Aussage ein Soldat) das Geschaft eines Chinesen und begann auf die drei darin befindlichen Asi- aten zu schieBen. Der Besitzer wurde schwer verletzt, die anderen versteckten sich hinter dem Ladentisch und briillten aus Leibeskraften. Der Larm verscheuchte den Rauber, und als der Schutzmann schnell die Nachbarschaft durchforschte, fand er niemand auBer Samuels. Er verhaftete ihn und schleppte ihn sofort zu den Chinesen, die vor Angst halb blind und halb taub waren und die in dem Neger den Rauber zu er- kennen wahnten. Auf diese Angabe hin wurde Samuels sofort ins Gefangnis geworfen, und da seine Frau sich schamte, ihn als Arrestanten offentliche Arbeiten verrichten zu sehen, trug sie ihm taglich zweimal das Essen von Caledonia Road bis zur Bucht — eine gute halbe Stunde weit —, gab alles Geld, das sie besaB und das sie verdiente (Negerinnen verdienen am schnellsten und leichtesten durch „Liebe“) dem Verteidiger, der sich Zeit lieB und den Fall erst im Januar, mehr als drei Mo- nate nach dem Vorfall, zur Verhandlung brachte. Der offentliche Anklager zerzupfte Samuels und brachte allerlei Zeugen vor, die beweisen sollten, wie nichtswiirdig der arme Mann gewesen, unter anderem einen Jamaikaneger mit einem Sprachfehler und volliger Unfahigkeit, seine Gedanken so herauszubringen, daB sie Kopf oder Schwanz hatten. Ich mufite ihn immer wieder unterbrechen, um seine sinnlosen Be- hauptungen, etwas zu Sinn verdichtet, dem Gerichtshof zu 118 iibersetzen. Er sagte „Fferd“ bei jedem dritten Wort und De- richtete in einer halben Stunde, was ein gesunder Mensch in zwei Minuten erledigt hatte — daB Samuels einmal, vor Jahren, fiir ein verlaufenes Pferd keinen Schadenersatz zahlen wollte und daB man das „Fferd“ spater wirklich auf einem nahen Acker fand. Heiter war auch der Chinese, der so verwirrt war, daB er auf jede Frage, die verkehrte Antwort gab. „Wie lange sind Sie in Panama?" „Einundzwanzig Jahre.“ Verwunderung, weil der Mann jung aussah. „Wie alt sind Sie?“ „Sechs Monate." Gelachter. „Wann kamen Sie an?“ „ Samuels guter Mann, unschuldig." Der Gerichtshof muBte ihn schliefilich einfach wegjagen. Er stotterte und schwitzte zum Erbarmen, schlimmer als der Dolmetsch oder der Angeklagte. Der Verteidiger wusch den Angeschwarzten rein, stellte die Stiickchen, in die der Angeklagte zerlegt worden war, neuer- dings zusammen und bewies, wie undenkbar das Verbrechen war. Um sechs Uhr wurde Samuels zuriickgefiihrt, und ich stob die Treppen hinunter. Wenn meine Arbeit voriiber war, ver- schwand ich wie ein geolter Blitz. Es ist immer weise, als Frau schnell zum Riickzug zu blasen. Auf Palo Seco. Von La Boca (dem Mund) sah man iiber den hier aus- laufenden Kanal hiniiber nach der kiinstlichen Naosinsel und weiter hinaus auf den Golf von Panama mit den zerstreuten Perleninseln. Man sah auch die niedere, vorspringende Insel Palo Seco, die man nur mit arztlicher Erlaubnis und unter strenger arztlicher Aufsicht besuchen darf. Mehr noch als auf dem Gemauer Alt-Panamas liegen hier die toten Jahrhunderte wie versteinerte Wolken, die das Nie- derfallen vergessen und so — als Bahrtuch — dicht iiber der stillen Insel schweben. Wie Gerippe leuchten die weiBen Rin- den der Urwaldbaume aus dem eintonigen Griiri und sogar die herrlichen tiefblauen handgroBen Falter bewegen sich langsam wie Sargtrager. Wir sind auf der Aussatzinsel, dem Ort der Lebendigtoten. Oben, auf der niederen Anhohe, befinden sich die Wohn- hauschen, ein bescheidenes Lichtspielhaus, winzige Garten, ein Tropenpark voll fremdartiger Vogel, die scheinbar verschleierte 119 Stimmen haben. Die Kranken arbeiten im Garten oder sitzen auf bereitstehenden Banken oder liegen — eine iibelriechende faulende Masse — auf den Betten drinnen im luftigen Raum, aber wo sie auch sein mogen, immer geht der Tod unsichtbar an ihrer Seite, und immer krampfen sie sich an das Sein, wahrend sie doch nach Erlosung schreien. Die Augen sind ver- schwollen und rot, die Zunge dick und ungehorchend, das Ge- sicht voll weiBlicher oder violetter Flecke, und von den Handen und FiiBen fehlen alle oder einzelne Glieder. Dieser Kranke hat die schuppige, jener die feuchte Art des Aussatzes, und in den Blicken alter brennt der Wunsch, nochmals von der AuBen- welt zu horen. Kein Brief erreicht sie, und bei ihren Ange- horigen rollt das Leben mit tausend neuen Anforderungen her- an und laBt sie — die VerstoBenen — unberiihrt, als waren sie langst schon begraben. Als ich einmal nach Toboga, der ersten der Perleninseln, fuhr, brachte man ein achtjahriges Madchen nach der Insel der Geachteten. Es hatte eine feuerrote Warnungsscharpe um und saB in einem kleinen Boot, das angekoppelt wurde. Nichts Schrecklicheres, als das endliche Entgleiten dieses Bootes vor Palo Seco. Einsargen eines Menschen bei lebendigem Leibe ... Unten, in Panama, wo alle Rassen der Welt Schulter reiben miteinander, schreitet immer unsichtbar, doch alien be- wuBt, der vielartige Schauertod: die Pest, die Cholera, das gelbe Fieber, das in wenigen Stunden dahinrafft, der Aussatz, die tiickische tropische Malaria, und vielleicht erklart sich der giiihende Lebenshunger dieser Menschen aus der Anwesenheit so furchtbarer Gefahren, ist doch schon Palo Seco allein ein wahres „Memento mori“. Der schwarze Magier. Ein Reisewerk, in dem nur die allerpersonlichsten Erfah- rungen Platz finden konnen, erlaubt kein Beschreiben des ver- zweigten Aberglaubens, lernte ich doch iiber die Wudu-Opfer, den Indianerdamonenkurs, die Geisterbeschworungen in Ur- waldgrotten, den Liebeszauber der Negerinnen und so weiter genug, einen ganzen Band zu fiillen, daher mochte ich nur ein einziges Abenteuer in Zauberkreisen anfiihren, das fur mich immerhin schwerwiegende Folgen hatte. Als Dolmetsch kam ich mit allerlei Leuten zusammen. Panama hat eine bedeutende Einwohnerzahl, doch die Europaer stechen heraus, und iiberdies zog mich meine Stellung sehr ins offentliche Licht. Ging ich auf der StraBe, so horte ich gar oft hinter mir „el Senor interprete“ sagen, was mich belustigte, denn niemand sah weniger nach Mann aus als ich. Die Richter 120 nannten mich weit treffender: „Das Dolmetschlein“, und der Richter des fiinften Kreisgerichtes lachelte immer, wenn er mich wie eine Elster oben auf dem schwarzen Wiirdenstuhi sitzen sah, von dem ich, so oft ich sprach, wie ein Kind her- untergleiten muBte. Da sich jeder Verbrecher gewissermaBen als mein Freund betrachtete, ich auch sehr haufig Privatiibersetzungen erhielt, so kam ich unter anderen mit einem Columbianer zusammen, der — fliichtig betrachtet — das unscheinbarste Ding der Welt war und eine ungeheure Abneigung gegen das Waschen hatte. Da er auf seinem Rad stets einen tadellos weiBen, mit Duft- wasser besprengten Hund mitfiihrte, erlaubte ich mir die Frage, warum er diese lobenswerte Reinlichkeit nicht auf sich selbst ausdehne, und erfuhr, daB dies seiner Mannlichkeit Abbruch tue. „Es schwacht meine Liebeskraft,“ meinte er. Seit jener Zeit war es immer mein Verlangen, ganz Siidamerika einmal taglich unter Wasser zu setzen. Das wiirde den Leuten seelisch und korperlich wohltun. Ob die Englander eine so beherrschte, groBartige Nation sind, weil sie sich so viel waschen? Es lebe das Wasser! Von Zeit zu Zeit brachte mir jener Columbianer von starkem Geruch und unschuldsvollem Aussehen Uebersetzun- gen, die ich ihm billig ausfiihrte. Er erzahlte mir eine Menge vom Urwaldleben, und seine Kenntnis der Zaubergetranke war iiberwaltigend. Er konnte Liebestranke brauen, Zauberlampen zusammenstellen, Menschen zur Trunksucht verleiten oder sie davon heilen, aus dem Kaffeesatz wahrsagen, jemand vergiften, daB er einfach an Herzschwache starb, und verschiedene wert- volle Dinge dieser Art_ Ich horte ihm gern zu, und Frau M. erlaubte ihm zu kommen, wenn sie sich auch in solchen Fallen —- zur Schonung der Geruchsnerven — auf die Hinterveranda zuriickzog. Eines Tages sprang er wie gewohnlich wieder im ganzen Raume auf und ab und plauderte iiber Zaubersachen, die ich, da dies mein Lieblingsstudium war, lebhaft verfolgte und auf- schrieb. Allmahlich kam er indessen auf das Leben selbst zu sprechen, vom Gluck der Liebe und all dem Kram, von dem ich ohnehin die Ohren iibervoll hatte. Zu meiner inneren Ueber- raschung begann ich zu denken, daB er ja recht habe, daB man vom Dasein nichts besitze als gerade diese Sinnenlust, daB man um jeden Preis alle Erfahrungen auskosten miisse, und erst, als neben diesen Gedanken ein noch tieferes Empfinden in. mir gleichsam sagte, „wie seltsam fremd du heute denkst", wurde es mir klar, daB mich der Zauberer hypnotisierte, und zwar von binten und ohne auBere Behelfe. Alle Hochachtung! Ich setzte 121 indessen Gegenstrom ein und empfahl mich. Einen gehassige- ren Blick habe ich selten in Menschenaugen gesehen .... Nun hatte ich, obschon ich in die Zone gezogen war, teils aus Vorsicht, um nie wieder in eine abhangige Stellung zu ge- raten, teils um nicht in der Kanalzone zu leben, wenn ich Dol- metsch von Panama war, das Zimmer neben Russin und Trom- peter beibehalten und arbeitete da iiber Mittag. Ich nahm ein kleines Futterpaket aus der Zone mit und legte es, mit schrift- stellerischem Ordnungssinn, auf mein Bett. Wollte ich es aber zu Mittag essen, so wurde mir sonderbar iibel, und ich lieB es liegen. Auch hegte ich immer den Wunsch zu schlafen, sobald ich mein Zimmer betreten hatte, iiberwand indessen das Be- gehren, weil ich meist zu malen oder zu iibersetzen hatte. Eines Tages sagte Frau M. zu mir: „Rind, was ist Ihnen? Sie sehen so elend aus und essen nicht mehr. Was haben Sie?“ „Mir ist nicht schlecht; ich bin nur ewig miide, am meisten unten in meinem Zimmer." Und ich beschrieb ihr meine Ge- fiihle beim Betreten des Raumes. Frau M. war seelengut, doch teilte sie mit anderen Ameri- kanern das starke Vorurteil gegen alles, was nicht englisch sprach und weiJ3 war. Sie schopfte sofort Verdacht, begieitete mich hinab und durchstoberte den Raum mit der Miene eines Geheimpolizisten. Wir entdeckten den Diebstahl mehrerer an und fiir sich geringwertiger, von mir oft beriihrter Sachen, wie auch das Verschwinden meiner Handtasche, in der ich eine Gedichtsammlung aufgehoben hatte, deren Verlust mir beson- ders naheging. Erst als wir das Bett machten — es hatte nur zwei Bettlaken und ein Kissen darauf, — bemerkten wir, daB ein femes Pulver dariiber hin verstreut war. Es war durch das Abnehmen des Bettzeugs zum Teil verschiittet worden, doch war genug vorhanden, um uns zu iiberzeugen, daB es eine un- angenehme betaubende Wirkung besaB. Da packte Frau M. meine Koffer und trug alles sofort nach Balboa mit. Natiirlich zeigte ich den Diebstahl bei Gericht an. Oeffent- licher Dolmetsch sein und bestohlen werden wie ein unbekann- ter Nigger! Es waren auch alle Beamten Aug’ und Ohr fiir das Dolmetschlein, indessen wurden die Uebeltater nicht gefunden. Aus der Anzeige erwuchs jedoch ein heiteres und ein tragisches Erlebnis. Da ich ausgeraubt und fast getotet worden war — ob¬ schon ich vermute, daB sich der schwarze Magier beim Trom- peter eingeschlichen, durch das Gitter das Pulver geschiittet und gehofft hatte, mich nachts im Schlaf auBerst geschwacht zu iiberfallen, nicht ahnend, daB ich nie in Panama iibernachtete — wollte ich das Zimmer ohne Kiindigung verlassen, und Frau 122 M. gab mir darin recht. Gerade als ich die Moglichkeit eines Auszugs erwog, erschien ein Schutzmann. Der kleine Russe verbarg sich unter dem Bett, seine Mutter wurde unhorbar und stellte sogar den Zwiebelbraten vom Herd; der Trompeter ver- stummte, der Hausknecht verdunstete, und meine Wirtin ver- schwand in die innerslen Gemacher. Was ein iibles Gewissen alles vermag! Das Komische an der Sache sah ich allein; denn der Schutzmann kam keineswegs um den Diebstahl zu erfor- schen; er war „Mann wie alle Manner" und nahm die Gele- genheit beim Schopf, mit einer guten Ausrede zu mir zu kom- men und vorsichtig anzufragen, ob ich mich — so allein — nicht nach einem Schutz sehnte. Wer schiitzt besser als ein Schutzmann? Ich war von bodenloser Dummheit und ebenso tiefer Hof- lichkeit. Wie ich ihn anlachelte und nett auf ihn einsprach und ihn fur den Diebstahl in teres sierte, wie ich seine Anspielungen nicht begreifen konnte. Rein vernagelt! Zum Schlufi begaben wir uns vereint die Treppe hinab. Das Haus war ein Sarg: leer und still. Erst als wir zum Tore hinaus waren, blies der Trom¬ peter die Arie, die im siindigen Panama dem deutschen „Es ist im Leben haBlich eingerichtet" entspricht. Das zweite Nachspiel iiberzeugte mich, daB man als Frau in Tropenstaaten nicht leben konnte, wenn man nicht an kaputten Nerven vorzeitig ins Grab zu klettern beabsichtigte. Ich saB in der Biicherei und machte Vorstudien fur Mittelame- rika, als wieder ein Schutzmann (sie gleichen sich wie ein Ei dem anderen) auftauchte und mich mit feierlich ernsten Gebar- den bat, in den Hof hinaus zu treten, weil er mir in der Dieb- stahlsgeschichte Mitteilungen zu machen hatte. Ich tat wie ge- heiBen, und er erzahlte mir im gleichen Fliisterton des Vertrau- ens, daB wir den Verbrecher nie finden wiirden (eine Ansicht, die ich lebhaft teilte) und daB mir nur ein Wesen in ganz Pa¬ nama dies zu sagen vermoge. Wer? Ein Obimann (ein Neger- zauberpriester). Obimanner hatte ich schon eine ganze Menge kennen gelernt, und iiberdies war ich sicher, auch durch zehn Obimanner nichts zuriick zu erhalten, und in schonender Weise teilte ich der Saule der Gerechtigkeit diese meine Ueberzeugung mit. Die Saule bat indessen so beweglich, ihn doch einmal zu solch einem Manne zu begleiten, daB ich bedingungsweise ein- willigte und erklarte, einmal kommen zu wollen, wenn es meine sehr in Anspruch genommene Zeit erlauben wurde. Er reichte mir eine Karte mit seinem Namen und bat, mich um sieben Uhr an der Ecke erwarten zu diirfen. Wir trennten uns voll ausgesuchter Hoflichkeit, und ich lachelte, weil eine Frau am sichersten lachelt, wenn sie einen Wunsch nicht zu er- fiillen geneigt ist. 123 Am Nachmittag trat ich bei meinem Photographen ein und zeigte ihm die Anschrift, indem ich seine Meinung einholte. „Ich glaube zu wissen, wo das ist!“ erklarte er, „werde mich jedoch selbst hinbegeben, um sicher zu sein!“ Ich dankte ihm, und am Abend, wahrend wir auf der Kiste in der Dunkelkammer standen und entwickelten, sagte er sehr nachdenklich: „Die Sache ist recht gefahrlich fiir Sie. Das Haus, das Sie besuchen sollen, wird allerdings von ihm bewohnt, liegt in- dessen dicht am Eingang zur StraBe der roten Laternen (das Reich der Freudenmadchen) und Sie miissen wissen, daB die Frau, die in jener StraBe angetroffen wird — aus was immer fiir einem Grand sie dahin geraten ist, ein Jahr lang darin blei- ben und . . . ihre Tatigkeit ausiiben muB. Das kann von der Polizei erzwungen werden." Und dazu hatte mich ein Schutzmann der Republik — mich, eine beeidete Amtsperson — verleiten wollen .... Schneller als sonst verlieB ich von da ab die verschiedenen Gerichtsgebaude und laBte traurigen Herzens den EntschluB, bald die sehr giinstige Stellung aufzugeben und weiterzureisen. Potpourri. Taglich ging ich von Balboa nach Panama an der hohen Mangogruppe kurz vor dem Halbweghaus und dem beriichtigten Coco Solo voriiber. Erst war das junge Laub rotlila gewesen, dann hellgriin, nun standen die Blatter wie grime Dolche nach alien Richtungen, und an den langen Frachtfaden hingen die goldgelben, oft rotlich angehauchten Friichte nieder. Wer wollte, durfte sie auflesen, doch bei vielen Leuten brachen die Mangogeschwiire aus. Der Geschmack ist gut, doch storen die Faden, die an den Zahnen hangen bleiben. Ich hatte alle Tropenfriichte und Gemiisearten kennen ge- lernt, von der gelbfleischigen Yucca bis zum rotlichen, moor- riibenartigen Badu, am liebsten aber aB ich die Brotfrucht in Scheiben geschnitten, gebraten und mit Butter iibergossen. Wir hatten indessen nie Kuhbutter, sondern Kokosfett, weil sich dieses besser hielt. Auch nur Blechbutter (aus Biichsen) weil sich frische Butter selbst auf Eis nicht gut halten wollte, weshalb wir im Scherz riefen: „Die Kuh auf den Tisch!“ Das Tropenrind ist namlich sehr mager und gibt fast keine Milch. Selbst das Fleisch ist zah und unschmackhaft, und die Stiere sind lange nicht so wild wie in Europa. Die Tropen wirken driickend auf Menschen und Vieh. Bei den Menschen geht das leicht in Arbeitsunlust iiber. 124 Wunderbar waren die Mainachte. Man war in der soge- nannten Trockenzeit (es regnete taglich einmal, wahrend sonst drei bis vier Gewitter niedergingen), und die Kanalzonewiesen waren von Leuchtkafern derart besucht, daJ3 es wie ein Sternen- fall aussah. Oft stand ich vor dem machtigen Golf und beob- achtete das Meerleuchten; hinter mir, als leuchtender Regen, gingen die Gliihwiirmchen nieder, und fiber mir funkelten die Sterne wie hinter einem Schleier von leicht glanzenden Tranen. In der Feme, scharf und schwarz umrissen, zeigte sich der be- riihmte Pik von Darien .... Und unbemerkt, von kleinen Abenteuern durchbrochen, glitt der Mai in den Juni. Samuels war nach langen Verhand- lungen freigesprochen worden. Unzahlige Verbrecher hatten neben mir gesessen und mir ihr Leid vorgeklagt. Um Geld und Wissen reicher dachte ich an die Abreise. Von meinen Gerichtserlebnissen mochte ich nur noch zwei hervorheben: Zwei Kinder, ein Knabe und ein Madchen, hatten zur Karnevalszeit, der wildesten und ziigellosesten selbst in dieser Stadt der Laster, vierzig Dollars gestohlen und in Knallbonbons und Feuerwerk verpufft. Der Knabe war acht, das Madchen, eine kleine Negerin, zehn Jahre alt. Diese Kin¬ der wurden mit gewohnlichen Verbrechern eingesperrt und waren monatelang in Untersuchungshaft. Ein anderes Mai hatte ich in der Vorverhandlung zwei kleine schwarze Freudenmadchen vor mir. Sie waren erst einen Monat im Viertel der roten Laternen und waren dreizehn und vierzehn Jahre alt. Als sich der Richter auf einige Minuten ent- fernte, tat ich, was ich sonst nie tat, ich stellte eine person- liche Frage an die Angeklagten. Sie waren so kindlich, hatten so gute grofie Glotzaugen in runden, ausdruckslosen Gesichtern, daB ich forschte, wie es ihnen im Freudenhaus gefiele. Viel- leicht schossen mir Rettungsgedanken durch den Kopf; jeden- falls iiberraschte mich die Antwort: „So — so!“ meinten sie und zogen die Lippen krumm. Sie hatten einem chilenischen Matrosen die Augen ver- bunden, wahrend der wiirdige Zuhalter die Uhr und die Geld- tasche aus den liber dem Bett hangenden Kleidern zog. Spater kam der Mann vor mich. Es kostete mich da zum ersten Mai Miihe, gegen einen Menschen vollkommen unparteiisch zu sein und lediglich meiner Pflicht zu genxigen. Am liebsten hatte ich ihn mit FuBtritten die Treppe hinabgerollt. Aber ich war be- eideter Dolmetsch und saB auf meinen Gefiihlen. Die Nordamerikaner, die vor mich gebracht wurden, waren immer in einem Zustand kochender Wut. In den Vereinigten Staaten war das Trinken verboten, und daher holten sie in Panama das Verbotene nach. Sie waren immer todbetrunken, 125 so daB sie gar nicht merkten, was mit ihnen vorging. Meist wurden ihnen im Kerker die Schuhe vom Leib gestohlen, und, was sie am meisten entriistete, war der Umstand, daB sie un- verkostigt blieben. Ein junger Mann war in einem Wagen mit zehn Negerinnen ausgefahren und hatte erst wahrgenom- men, daB alles nicht gewesen, wie es sein sollte, als er auf offener LandstraBe im Staub und mit einem Loch im Kopf er- wachte. In der Regel wurde eine hohe Kaution erlegt, und die lieJB man dann verfallen. Es war dies, wenn nicht die billigste, so doch die einfachste Losung der Sache. Ein sehr hoch bezahl- ter Advokat wusch in anderen Angelegenheiten die Amerikaner des Nordens rein. Es ging aber nie ohne hohe Geldverluste ab. Die „Gringos“ sind schwer verhaBt, und wenn sie einem Spa- nisch-Amerikaner in die Hande fallen .... Bevor ich Panama verlieB, sah ich die beiden Freuden- madchen noch einmal. Das altere war durch einen Schutzmann schwanger gemacht und hatte ein verwahrlostes, gemein gewor- denes Aussehen. In den Ziigen des kleineren Kindes lag hilf- lose Trauer. In der Hohe von Veraguas. Sie waren alle sehr gut gegen mich gewesen, und meine Seele war volt Dank; auf den tiefsten Tiefen meines Denkens aber lag der angeschwemmte Unrat, der mir zugeworfen wor- den war, und die Bitterkeit, daB der Mann im Weibe nur den Gegenstand seiner fliichtigen Lust und nicht ein Wesen sieht, dem er sich mitteilt, mit dem er des Lebens Wechselfalle verstandnistief miterlebt, das er seiner Eigenschaften und Eigenheiten — kurz, des Gesamtbildes halber lieb hat, diese Bitterkeit ist nie wieder von mir gewichen. Sie hat mir etwas iiberlegen Kiihles verliehen, das mich unberiihrt durch alle Ge- fahren gleiten laBt; denn um das Spielzeug des Augenblicks zu sein, dazu bin ich mir zu gut, aber es hat das in mir gebrochen, was unerlaBlich ist, um Liebe, irgend eine Art der Liebe, zu empfinden. Heute steht zwischen der physischen Hiille eines Mannes und mir der unsichtbare Schutzkafig, wie man ihn sichtbar und aus GuBeisen in Peru findet. Durch diesen Kasten hindurch beschaue ich mir leidenschaftslos seine Seele. Durch ihn kann ich aber auch nie den Weg zu einem Gefahrten finden .... Es hat im Leben alles seine Licht- und seine Schatten- seiten. Dies gehort nicht zu einem Reisewerk. Mein Bericht ist indessen nicht allein ein Anfiihren von Blumen, die ich gemalt und Hausem, die ich bewohnt, oder Landern, die ich bereist habe, sondern er zeigt auch die Wirkung, die eine solche Reise auf das Gemiit einer Frau ausiibt, und ist eine Warnung. 126 Frauen, die ein gesundes, alltagliches und folglich gliickliches Feben genieBen wollen, bleiben am besten daheim oder wenig- stens in Europa, und vielleicht lernt durch meine Offenherzig- keit einmal ein Mann, daB die Methode des Troglodyten, der seine Gattin mit der Keule niederschlug, um sie zu besitzen, auf die Frau des zwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr betorend (oder betaubend) wirkt. Ich fuhr mit einem Dampfer der Pacific Mail, der vor- wiegend Frachten mitfiihrte und nur eine erste und eine dritte Klasse hatte. Wie gewohnlich fuhr ich in der Dritten, und wie damals, bei meiner Abfahrt von Europa, folgten mir Blitz und Donner, war ich umgeben von Araberinnen. Eine Lehrerin aus Jerusalem wanderte mit ihrer Mutter nach Las Honduras aus, und sie hing an mir wie eine Klette. Ich war vom Direktor der Veloce empfohlen worden, und als ich mich zum nie verlocken- aea P r itt e kiasseiraB hinabbegab, teilte mir der erste Offizier mit, daB ich etwas von der Kost der Ersten erhalten wiirde. Ob- schon ich, wie die iibrigen, in unserer Schlafkabine essen muBte, natte ich doch besseres Gedeck und erhielt verdaulichere Sachen. 10 * rau eiI L es Negers, dessen Freund Schiffskoch war und die n£ iv? ,p a n Francisco reiste, war meine Tischgenossin und sc nef auch unter mir. Sie hatte ein Tochterchen namens TV 4 6 ^ ’ sc hwarz wie eine Schornsteinbiirste und ebenso frisiert. Mutter und Kind waren so sauber, daB ich mein Schicksal leichter ertrug. \\7 ^j n ^ er ,Tar la S en drei Araberinnen, in der einen Ecke ein Wrack aus mehreren Rassen zusammengegossen, und vor der Kabme lagen nachts die Matrosen in so wenig Kleidung, wie die strenge amerikanische Schiffsbehorde gestattete. Dicht daran grenzten die Maschinenraume, und auf der anderen Seite die Kiichen. Wenn man berichtet, daB wir ohnehin eine Luft- temperatur von 40 Grad Celsius im Schatten hatten, wird man uur glauben, daB ich morgens als nasser Klumpen mit elendem Gefuhl aufstand. Der Schiffsarzt — diese edlen Herren haben oft nicht ein- ^al das Gehirn einer Laus, vermutlich der Grand, warum sie ftchiffsarzte sind — riB mein Augenlid hoch und erklarte mich iur blind. Da ich spater wenigstens sechs Stunden taglich auf Ueck schrieb, hat er sich hoffentlich iiberzeugt, daB ich ein Paar kutsehender Augen hatte. Auch wollte er mich impfen, was ich gewaltig iibelnahm. Dreimal in einem Jahre geimpft zu wer- den, ist mehr als Fleisch und Blut — jedenfalls ein Frauenarm, dicht wie das Gesicht eines reichsdeutschen Studenten aus- sehen soli — ertragen kann. Italiener sind reizend — siehe den „Bologna“! — aber schmutzig sind sie, Gott vergebe ihnen! Auf der Pacific Mail 127 waren genug unerlaBliche Orte, und sogar besonders fur Frauen bestimmte, und alle rein! Die Betten hatten Kopfkissen und weiBe Bettlaken, und man hatte ordentliche Tische, von denen man essen konnte, ohne einseitig auf einem Taupfeiler schau- keln zu miissen. Wir fuhren an der Kiiste von Veraguas vorbei. Da hausen sehr wilde Indianer, und man kennt noch Teufelsbeschworun- gen eigenster Art. Es geht da fast wie bei einer spiritistischen Sitzung zu, und allerlei grauenhafte, mattschimmernde Schemen zeigen sich an den Felswanden der Grotte. Hier vernimmt man auch schon das merkwiirdige Briillen der Briillaffen, das den Uneingeweihten fiirchten laBt, es befinde sich ein Lowe in der Nahe. Costa Rica. Ich rollte aus dem Bett, naB wie eine Kugel. Je nasser, desto besser, denn da ertragt man die driickende Hitze leichter. Ein amerikanisches Friihstiick, aus Eiern, gebratenem Speck, Butterbrot, Pfannkuchen, Kartoffelscheiben und Pflaumenkom- pott bestehend, brachte mich neuerdings zu Kraften, und ich kletterte auf Deck, um mir das neue Land zu betrachten. Costa Rica hat zwei Vorteile. Die Menschen sind da schon lichteren Schlages, und das Bergklima ist so gesund, daB man von Panama nach San Josd auf Sommerfrische gehen kann. Am herrlichsten aber sind die vielen feuerspeienden Berge, — der Poas mit einem kochenden See im Krater, der Tor- realba, Irazo, Miravalles und so weiter. San Jose liegt, umgeben von diesen Bergriesen, in der Nahe des ewigen Schnees. Die Stadt hat ein Prachttheater — zu groB fur die etwa 30 000 Einwohner — und sehr hiibsche Anlagen; aber die Asche der sieben sie umkranzenden Berge liegt oft zoll- dick auf Bauten und Baumen. Man erreicht San Jose am besten von Puerto Limon in der Limonbucht, die ich vor Monaten ge- kreuzt hatte. Die Hauptausfuhrartikel sind Kaffee, und noch mehr Bananen. Zehn Millionen Zweige (jeder Zweig hat zwischen 60 und hundert Bananen) werden jahrlich ausgefiihrt, und zwar von der United Fruit-Company, deren Schiffe auch Ananas, Mangos und Bananen von Panama wegfiihren und Pfirsiche, Aepfel und Birnen zur Kanalzone bringen. Die Schiffe nehmen eine sehr geringe Zahl von Passagieren auf, denn das Innere besteht aus Eiskasten, in denen man die Friichte aufbewahrt. In vier Tagen erreichen sie New Orleans, und von da verschickt man das Tropenobst iiber die ganzen Vereinigten Staaten. Wir naherten uns Puentoarenas im weiten Golf von Nicoya, und uns griiBte die Flagge Costa Ricas — blau, weiB. 128 rot, Silber, blau in Streifen — und das Wappen, das an die Zeiten Columbus’ erinnerte. Es zeigte ein Segelschiff unter Goldsternen und eine auf- oder untergehende Sonne. Puentoarenas (Sandspitze) hat ein ungesundes Klima. Viele Leute werden sofort heiser, und manch ein Sanger muB unver- richteter Sache wieder umkehren. Ich hatte dariiber nicht zu klagen. So schnell wie moglich kletterte ich in ein Boot und lieB mich von einem braunen Schiffer ans Land rudern. Auf meine Bitten hin nannte er mir, was angebaut wurde, zeigte mir die ausgedehnten Kaffeepflanzungen an den Abhangen, die Mais- felder im Sumpfgebiet, die Tropenobstbaume und vereinzelte Baumwollstraucher, deren Wolle wie schmelzender Schnee auf dem Geast lag. Kahl wirkten die fernen Berge, und trotz der zerstreuten Pflanzungen wirkte Puentoarenas ode. Ich durchstreifte den unbedeutenden Ort, durchwanderte die Markthalle, kaufte eine Icao — eine unserer Pflaume ahnelnde Frucht, die rotblau und an den Polen weifi war, weiBes Fleisch hatte und nach nichts schmeckte — und wagte mich sogar in den umliegenden Busch. So oft ich Schritte ver- nahm, versteckte ich mich im Dickicht. Vor Tieren hatte ich eigentumlicherweise keine Angst. Ich stieB auf keine Gift- schlange, war aber entziickt vom Falterreichtum und sah die Viuda oder Witwe, einen griinblauen Vogel, den roten Kardi- nal und einen Titi oder Uistiti, einen jener winzigen Affen Mittelamerikas, die beinahe ein Rattengesicht haben. So still und friedlich war’s, daB sich die griinblauen Ei- dechsen dicht heranwagten und ich viele Insektenformen beob- achten konnte. Nachdem ich noch einen wunderschonen Vogel mit tiefgelber Brust, weiBem Kopfchen, schwarzen Fliigeln und dunklem Schwanze gesehen hatte, begab ich mich wieder in den Ort zuriick, wo die Kirche mit freistehendem Holzturm malerisch unter Kokospalmen gelegen ist und mir die Leute wie dem ge- fiirchteten Lindwurm nachstarrten. Seeleute griiBten mich mit „Hallo, Miss!“; denn nur eine verriickte Amerikanerin geht in solchen Lochern an Land, und eine zahnlose Alte hangte mir T 3 er Zapodillas mit der Versicherung an, daB ich — hatte ich einmal eine gegessen — zehn wiirde essen wollen, eine Vorher- sagung, die nicht eintraf, so daB ich die drei iibrigen Friichte neber einem Jungen schenkte, der hineinbiB, als ob er wirklich aoch zehn hatte essen konnen. . Die niedrigen Holzhauser in spanischem Stil mit Fenster- kafigen oder festen Gittern standen zu beiden Seiten auffallend w eiter, sandiger, doch mit gutem FuBsteig versehener Gassen, und das Grand Hotel Imperial ist groB fur den Ort; denn unter Linaugigen ist der Blinde bekanntlich Konig. Ganz am Ende •der Stadt erblickte ich eine alte Frau in einem Tropengarten 9 129 voll Kokospalmen, einem Chirimoyabaum, roten Hibiscus- und bunten Crotonstrauchern, die wie Feuergarben dicht am Zaun emporziingelten, und lachelte ihr zu. Sie lachelte zuriick und bat mich einzutreten. Das war gerade, was ich gewollt hatte; denn nun konnte ich mich mit ihr iiber Land und Leute unter- halten. Sie zeigte mir eine Art Walker aus Lavastein, mit dem sie auf einer schwarzen Lavaplatte Mais und anderes Ge- treide so lange walkte, bis es feinmehlig geworden war — jedenfalls fein genug, urn einen flachen Kuchen daraus zu backen. Sie machte auch Kokosbutter daheim und schenkte mir Tamarinden und eine Chirimoya, eine Frucht mit sehr weichem, siiBen, weiBen Fleisch, die von auBen an unsere Artischoken erinnert. Sie hatte im Garten auch Eierpflaumen, Maranones (eine birnenartige Frucht, goldgelb und rot, die den Kern am Ende wachsen hat, der seinerseits noch eine eBbare NuB ein- schliefit) und Anones, die siiBeste Frucht der Tropen, pfirsich- groB, grim mit roten Punkten. In der Nahe von Puentoarenas sind die reichhaltigen Gold- und Silberbergwerke, und die Frau erzahlte von den Cholos, die da fur wenig Geld arbeiten miissen, vom allgemeinen Mangel und der Unverschamtheit der Nordamerikaner, von den Erd- eichhornchen, die so groBe, unterirdische Gange graben, daB man gezwungen ist, die Rinder auf diesen zerstorten Reisfeldern zwei Jahre lang weiden zu lassen, ehe sie wieder verwendbar waren, von der Wallfahrtskirche von Nuestra Senora de los Angeles, wo alle Wiinsche erfiillt wurden, von der Strafinsel Lucas, auf der Mais und Zuckerrohr gepflanzt wurden, und von Cartago, der alten Hauptstadt, die von einem Erdbeben vollig zerstort worden war. Als ich ihr schon gedankt und die Schwelle gekreuzt hatte, rief sie mir noch nach: „GriiBen Sie mir Ihre Mutter, kleine Senorita, denn auch ich habe Kinder unter dem Herzen getragen und weiB, wie es der zumute sein muB, die nun allein daheim weilt und nicht ahnt, wo sich ihr Kind befindet." Spat am Abend fuhren wir an der Vogel- und der Zucker- hutinsel vorbei an die Herradura-Erhebungen heran und end- lich weiter hinaus ins offene Meer. Nicaragua. Ein neuer Fahrgast war an Bord gekommen in Costa Rica — eine braune Frau mit zwei Kindern und einem Chine- sen, der sehr alt und der iiberdies auch ihr Gatte war. Mittel- amerikanerinnen heiraten gern chinesische Kaufleute, weil sie bei ihnen nicht schwere korperliche Arbeiten zu verrichten 130 brauchen und nur die Verpflichtung haben, viele Kinder zu ge- baren, eine Pflicht, die sie nur zu gern erfiillen. Nun fuhr diese gelbe Menschruine in ihr Land zuriick, vermutlich damit die Gebeine in der geliebten Heimaterde ruhten, und nahm Frau und Kinder in das fremde Land. Ich bangte um das Schicksal der gutmiitigen und nicht iiblen Frau, die da in ein feindliches Land voll fremder Sitten einer sehr fraglichen Zukunft entgegenfuhr. Sie hatte eine belustigende Art, vor jeder Rede immer „Wenn Gott will" zu sagen und, wenn sie iiberrascht wurde, „Ave Maria purisima" auszurufen. Ihr Sohnchen, der kleine Jesus, trug ein Schnellfeuerhoschen und heulte immerzu. Das Mad- chen war braver. Die Dampfbarkasse, die den neunzigjahrigen Herrn Holt- mann, den reichsten Mann des Landes, aufs Schiff gebracht hatte, trug mich ans Land. Ich war etwas scheu, denn Nicara- gua solite das wildeste Land Mittelamerikas sein, und ich hatte noch Peru frisch in der Erinnerung. An Land aber wollte ich. Man studiert weder Menschen noch Pflanzen vom Deck aus. a iu 6111 Keisender der ersten Klasse, geschweige denn der iuhr ans Land. Die meisten Menschen fahren wie die _ lsekoffer durch die Welt, und die groBte Zahl der sogenannten Q ;r, Q riS ro’ u ie behaupten, alles gesehen zu haben, liest alles in ,???H?b e sitzt dann einfach im Gasthaus und scniurit Eiskaffee Oder nimmt Whisky-Soda. Ich will gar nicht eugnen, daii es angenehmer ist, als in der Tropenglut herumzu- lauten. Man redete mir zu, erst das Mittagsmahl abzuwarten, doch ich erwiderte, daB man im Leben taglich essen, nicht aber taglich ein neues Land betreten konne, und so stand ich um min Uhr iruh schon am Strand des lieblichen San Juan del Sur, einer so stillen, tiefgriinen, sonnigen Bucht, wie ich nie wieder eme angetroffen habe. Mein Erscheinen im Orte erweckte, der Seltenheit solcher Laste wegen, entsprechendes Aufsehen, und als ich auf dem treien Marktplatz einen geschnitzten Flaschenkiirbis kaufte, hatte ich gleich einen Kreis junger Nicaraguaner um mich, die mir berichteten, daB die „Senoritas“ von San Juan del Sur diese Schnitzarbeiten ausfiihrten. Kochinnen verlieBen den Herd, um nKch anzustaunen, faule Hausfrauen, die, im Liegestuhl ver- sunken, einen Pantoff el mit der groBen Zehe wippten und sich lachelten, erwachten zu Tatigkeit und beugten sich liber die niedere Holzbriistung der braunen Holzveranda. Unendlich arm- LGuschT^ rkten d * 6Se ® auten na °b den schonen Panamakanal- Kirchturm steht getrennt vom eigentlichen Bau, und it b . eide bat der MeBner aus eigener Tasche einen Garten an- fc> e gt, m dem viele Tropenblumen und besonders die „Vulkan- 131 blume“ bliihen. Sie ist weichrosa und heiBt im Osten die „torichte Jungfrau". Sie erinnert am ehesten an unseren Flie- der. Die Poinciana regia oder Schirmmimose war in Bliite, und daher brachen die scharlachroten, blattlosen Riesenkronen wie Feuerschirme aus dem umliegenden Griin, wahrend auf dem gelbweiBen Sande die entflatterten Bliiten einen herrlichen Tep- pich bildeten und hier, an diesem vertraumten Strand, der hiigelumkettet war, sah ich auch zum ersten Male den beriich- tigten Manzanillo Oder Giftbaum, unter dem einzuschlafen schon das Verderben sein sollte. So arg ist es nicht, aber es ist wohl moglich, daB die machtige Tropensonne die Friichte und Blatter so sehr erhitzt, daB die Feuchtigkeit (also der Giftsaft) in kleinen Mengen verdunstet und dadurch von dem unter dem Baume Ruhenden tatsachlich eingeatmet werden kann. Die Frucht ist in der Tat auBerordentlich giftig, und viele Morde werden mit dem Saft des grunen, harmlos scheinenden Apfels ausgefiihrt. Man erlaubte mir nicht einmal, aus wissenschaft- lichem Interesse einen Manzanillo mitzunehmen, obschon die hellgriine Frucht in Mengen unter dem steifen dunklen Blatt- werk hervorschaute und leicht erreichbar war. Ich durchwanderte die ganze Umgebung und schlug auch den Weg ein, der zur Trockenzeit hin zum Maraguasee fiihrt, der aber nun ein Meer von Schlamm mit einigen fiir FuBgan- ger oder Reiter verwendbaren Furchen war. Als ich indessen Pferdehufschlage vernahm, verbarg ich mich im nachsten Ge- striipp, bis der bosartig aussehende Reiter verschwunden war. Ich hatte nicht die Absicht, die peruanischen Erfahrungen zu wiederholen. Auch trug ich nun einen vergifteten Dolch bei mir, so daB ein Abenteuer nicht nur mir teuer zu stehen ge- kommen ware .... Wenn unter Tieren, trage Klauen! Auf dieser LandstraBe nach Rivas traf ich bei einer Schmiede viele Frauen und naherte mich daher dem Gebaude. Sie hatten einen groBen grauen Affen und luden mich ein, ihn anzuschauen. So lieferte er uns genug Gesprachsstoff, und als wir warm geworden waren, erzahlten sie mir viel von den dor- tigen Verhaltnissen und etwas iiber den Aberglauben der Ein- geborenen, iiber den Mischlinge stets erhaben scheinen und von dessen Wahrheit sie innerlich dennoch fest iiberzeugt sind. Als ich spater durch das Dorf wanderte, rief man mich in viele Hauser, zeigte mir da geschnitzte Kiirbisse, dort einen Hirsekuchen und oft Zainoschweinchen, seltsame Tierchen, die an ein Schwein erinnern, aber dicht und steif behaart sind und lange scharfe Krallen an den Zehen haben, mit denen sie gut klettern. Sie lassen sich leicht zahmen. Da sie indessen sehr schnell wachsen und mit Vorliebe auf Fasten, Tiir und Tisch 132 klettern, malte ich mir die Freude meiner kiinftigen amerikani- sehen Hausfrau iiber solch ein „ SchoBschweinchen" aus und iehnte dankend ab. Nicaragua ist ein auBerordentlich reiches Land, in dem jedoch ein Auslander (ich kannte viele, die es versucht hatten, in Panama) kein Fortkommen findet. Die Mischlinge beuten ihn aus, stellen sich liebenswiirdig und scheuen vor keiner Nie- dertracht hinter dem Riicken zuriick, trachten ihm nach Gut und Leben, und von den Indianern wird er begreiflicherweise ebenso stark und offener gehaBt. Sollte ihm Erfolg trotz alter Hinder- nisse bliihen, so findet die Regierung immer ein Mittel, ihn seines Geldes zu berauben, ehe er das Land verlaBt, und nur wenigen Leuten ist es gelungen, festen FuB zu fassen. Die Nord- amerikaner aber kamen in Massen und schoben sich mit der kal- ten riicksichtslosen Tatkraft, die ihnen eigen ist, vor, bestachen und blendeten mit ihrem Gelde und erreichten es schon nahezu, in den Besitz der Landereien um die Seen zu kommen, da sie den Bau eines zweiten und ihnen besser gelegenen Kanals zwischen Atlantik und Pazifik planen; denn der Panamakanal konnte mit wenigen Bombenwiirfen aus der Luft unbrauch- bar gemacht werden, und ist das geschehen, so muB die Flotte um Kap Horn den Weg nach Hawaii und den Philippinen ein- schlagen und kame in diesem Fall zur Verteidigung selbst Kali- forniens langst zu spat. Erst in Corinto brach der HaB gegen die Amerikaner so recht durch, und die einfachsten Frauen klagten iiber die ge- heime Macht, die Lebensmittelpreise hinauftrieb und den Ein- fluB des eigenen Volkes erbarmungslos unterdriickte. In der Tat kann man in ganz Nicaragua sehr gut mit nordamerikani- schem Geld zahlen. Leon ist die Stadt der Kunst und des Wissens. Granada erfreut sich guten Rufes, und erst dann kommt Managua, die Hauptstadt. Das Land verdankt seinen Namen dem einstigen Hauptling Nicarao. Es gibt in San Juan nur eine zweiklassige Volksschule, und wer mehr wissen will — doch wenige sind so neugierig — muB einen groBeren Ort aufsuchen. Corinto. „Wir sind in einem Hafen.“ Die Negerin, ihren schwarzen Edelstein im Arm, rief es, u nd ich fuhr vom Lager auf wie ein Soldat, der im Dienste Gngeschlafen ist. SchweiBtriefend kroch ich aufs Deck. Der Raderaum lag am auBersten Ende des unteren Schiffsteils und reichte nicht ganz bis zur Schiffswand, so daB irgend ein vor- witziger Matrose sich den SpaB machen konnte, plotzlich iiber die Scheidewand zu spahen. Das machte das Bad weniger er- quicklich, als es bei Seewasser ohnedies schon war. Vom Schiff aus iiberrascht Corinto. Die Hauser sind nicht langer ebenerdig, haben Bogengange und wirken ganz an- sehnlich, doch geht man erst den Hafendamm entlang, so schwindet das Trugbild, und man steht mitten in einer echten, drittklassigen Tropenstadt mit ebenerdigen Holzhiitten, Garten, aus denen Kokospalmen und Icacos ragen, sumpfige Graben, m it. Dorngestriipp eingefaBt, und Sand, der die FiiBe schnell er- miidet. Sobald ich der Araberin auf dem Postamt geholfen hatte und meine Zecke aus dem heiligen Land losgeworden war, wan- derte ich durch den Ort, und ein kleiner Junge, der seine schul- zwanglose Kindheit mit Schabernack ausfiillte, zeigte mir mit belustigter Miene die Schule, in der der Lehrer eben ein Opfer- lamm verpriigelte. Ein kleines Madchen, braun wie ein Ton- topf und fast ebenso geists.priihend, machte mich spater auf die Kirche aufmerksam und wies nach dem Park — einem trau- rigen Orte ohne Banke — worauf ich mich wie iiblich in die Markthalle begab, um mir die Gemiise- und Obstarten anzu- sehen und die, die ich spater malen wollte, zu kaufen. Hand- gemalte Tonkriige und Palmenstrohkorbchen begeisterten mich am meisten, waren aber zu umstandlich, mitzunehmen. Einsam wie immer durchwanderte ich planlos die weiten StraBen, in denen das Gras die Pflasterung bildet, und in denen es nicht die iiblichen Holzzaune, sondern dichte Reihen von langblattrigem Stachelkaktus zur Abwehr gab. In einem Garten stand eine Nicaraguanerin und sprach mich an, schenkte mir Icacos und lud mich endlich in ihre Hiitte ein, wo sie mir im Fliisterton viel iiber die verhaBten Gringos und spater viel iiber das Leben iiberhaupt erzahlte. Der Raum war sehr einfach, enthielt nur die unentbehrlichsten Mobelstiicke und roch stark nach Kreolin. Sie sagte, daB dies so sein miisse, um die Schlangen abzuhalten, die sonst in das Haus kamen. Daher ginge sie auch nie ohne Licht ins Freie und zoge es vor, sogar im Raum ein Oellampchen brennen zu lassen. Erschliige man eine Schlange, so miisse man immer darauf gefaBt sein, auch noch die zweite zu finden. Die Korallenschlange mit schoner hellroter Zeichnung, die Klapperschlange, die indessen immer warnend klapperte, eine schwarze Schlange und die ge- fiirchtete Castellano seien die schlimmsten, doch behauptete die Frau, ein Gegengift aus verschiedenen Krautern zu besitzen. Ich blieb bei ihr, bis die ersten Schatten in blauen Strei- fen dahintanzten, besah mir einige Felder, kaufte die erfrischen- den, doldenartigen griinbeerigen Manones und sprach mit den Kindern, die unter hohen Schattenbaumen Reiskuchen, die in Blatter gewickelt waren, verkauften, wahrend alte Frauen ihre 134 Schiirzen fur mich aufbreiteten, so daB ich auf dem Marktplatz unter ihnen sitzen und mit ihnen plaudern konnte; sie boten Affen, Perroquitos und groBe Pagageien feil, und jede beschrieb ihre Provinz als die beste und reichste. Es gab Gold und Sil- ber in den Bergen, Marmor, Kupfer und andere Erze, und die Walder haben herrliche Holzer wie Palo campeche, Gummi- baume und so weiter. Die wildesten Indianer leben an der unge- sunden Moskitokiiste am Atlantik; sie zahlen die Tage nach Nachten, die Monate nach den Monden und nennen ein Jahr „nam“. Die Sonne sank mit der Jahe der Tropen; ich saB wieder auf Deck und belauschte zwei politisierende Nicaraguaner. Die schwarzen Umrisse des Corro negro hoben sich noch ab, dann schwand Corinto, wie so vieles aus meinem Leben geschwun- den, und ich saB mit meiner Blumenlast von Nicaraguabliiten (kleine Tulpen von iiblem Geruch), dem Jasmin der Guten Hoffnung und den trockenen Totenblumen auf der Deckbark und fiihlte die nie endende Einsamkeit wie ein Bahrtuch auf mir. Ich sprach mit anderen nur, um zu lernen! Ich ging durch das Leben wie ein Trappist, dem Schweigen und der Arbeit geweiht. Amapala, Las Honduras. Der Golf von Fonseca ist unbeschreiblich; er soil prachtiger sein als die Einfahrt nach Rio de Janeiro. Die Schatten der Nacht mit ihrem tiefen Tropenblau lagen noch auf Bergen und Wassern als wir einfuhren, und dem Geschnatter der Ara-* berinnen verdankte ich es, daB ich den Coseguina schon im Finstern erspahte. Er warf Rauchgarben von bedeutender Hohe aus, und im herrschenden Dunkel leuchteten sie wie Feuer. Die Sonne kam — ein glutender Ball — und vergraute das Bild eine Sekunde lang, dann verwandelte sie, ihr Rot abwer- fend, wie ein Konig seinen Purpurmantel abwirft, das Meer in glitzernde blaue Streifen, aus denen wie Smaragde die Insel- chen traten. Sie waren alle sehr dicht bewaldet, hiigelig, von Faltern umgaukelt, in hellstes Sonnenlicht getaucht — und dazu die ernsteren Berge des Hintergrundes, das flimmernde Wasser, der Zug der Mo wen, der Rauch des Coseguinas und endlich das BewuBtsein, daB hier drei Republiken zusammen- stieBen — all dies gab der Landschaft einen erhebenden Reiz. Einmal soil der Golf ein geschlossener See gewesen sein, der erst durch ein Erdbeben mit dem Meer verbunden wurde. Sein Flacheninhalt betragt ungefahr achttausend Kilometer, und seine Buchten gleichen den Windungen einer verfolgten Schlange. Die Inseln Zacate Grande, Tigre, Gueguensi, Expo- sicion, Verde und Guca gehoren zu Las Honduras, und gegen- 135 tiber von Zacate Grande befindet sich der kaum hundert Kilo¬ meter lange Strand des Festlandes. Der iibrige Boden gehort im Norden San Salvador, im Siiden Nicaragua. Amapala liegt auf der Tigerinsel, hat stark aufsteigende Gassen und ist so wild, da!3 Fremde nur ungern landen. Halb- nackte Indianer mit schaurigen Wuschelkopfen rudern heran und fiihren ans Land. Auch die Araberinnen stiegen hier aus, und die Mutter der Lehrerin lud mich zu sich nach Tegucigalpa, was lieb von ihr war. Diese Leute und die Chinesen sind die ein- zigen, die in Mittelamerika zu Geld kommen konnen; denn sie denken nur an das Verdienen, sind mit jeder Unterkunft zu- frieden und brauchen ihrer Rasse halber keinerlei Aufwand zu treiben. Es gibt Leute, die zwanzig Jahre in einer Stadt leben und nie spazieren gehen. Sie kennen die gewohnlichsten Stra- Ben nicht, sie kehren heim, ohne das Land wahrhaft gesehen zu haben; tagsiiber arbeiten sie fieberhaft im Geschaft, und nachts sind ihnen ihre Frauen alles. In Erinnerung an die heifien Nachte durchdosen sie den Morgen. Darin verstehen sich die dunklen Eingeborenen. Die StraBennamen sind gelungen: die StraBe des Ent- ziickens (ein elendes Winkelwerk!), die DistelstraBe, die Briicke der Tapferkeit, das GaBchen des Reichtums (an Abf alien) und so weiter. Manner mit gierigen Glutaugen, in denen schon die Bestie erwacht, den spitzen Hut fast im Nacken; Weiber mit schweren Biindeln, oben im Biindel das Kind; in der Regel mit Blusen, deren Kiirze ein Bewundern des Magens gestattet, be- kleidet. Das Schiff liegt lange im Golf von Fonseca; denn Elfen- bein- und Toluniisse, Kautschuk, Schlangenhaute, Felle und Kopra werden verladen. Vom Meere aus fiihrt die alte Reichs- straBe allmahlich hinauf in die fast unbekannten Hochtaler von Las Honduras und erreicht endlich auf einer Hochebene die Hauptstadt des Landes Tegucigalpa, was „ Stadt der Silber- hiigel“ bedeutet. Das ist der politische, Comayagua dagegen der geschichtliche Mittelpunkt. Das Land heiBt „die Tiefen“, weil das Meer an der atlantischen Seite ungewohnlich tief ist. Am groBartigsten sind wohl die Ruinen von Copan, wo man Tempel mit Reliefbildern von gefliigelten Soldaten finden soil,, und wo sich Monolythen aus glattem Granit aus dem Dschun- geldickicht erheben und beweisen, daB hier eine wunderbare Kultur untergegangen ist. Grotten gibt es da und Gestein, wie man sie nirgends in der Nahe findet, was manche Forscher auf den Gedanken brachte, es miisse dieses Volk schon Flug- werkzeuge besessen haben, urn fremde Waren hinaufzuschaffen. So weit erstrecken sich die Ruinen, daB man annimmt, es miisse diese Stadt so groB wie das heutige London gewesen 136 sein. Die Hieroglyphen, die dem Maya-Alphabet oder einer noch alteren Zivilisation entstammen, sind unentzifferbar. Ein anderes, leichter besuchbares Wunder von Las Hon¬ duras ist die Blutquelle. Ein Bach aus echtem Blut flieBt aus einer Grotte und hat nicht nur das Aussehen, sondern auch den widerlichen Blutgeruch, und tiefer unten, wo sich der Bach erweitert und stockt, sitzen viele Gallinazos oder Aasgeier und nahren sich von diesem verwesenden Blute. Die Indianer flie- hen den Ort, da sie die Grotte voll boser Geister wahnen, doch die Europaer haben nun entdeckt, daB Millionen von Fleder- mausen darin ihre Brutstellen haben und daB sich diese Fleder- mause von den drei Monate hindurch auf den umliegenden Ab- hangen weidenden Rindern nahren. Das so gewonnene Blut flieBt auf den Grottenboden und von da ins Freie. Dennoch ist der Ort unheimlich. Unbeschreiblich schon sind die Urwalder mit ihren Drachen- blut- und Seidenwollbaumen und verschiedenen Harzen, der direkt aus dem Erdboden schon abzweigenden Manaccapalmen, den kostbaren Farbeholzern und dem Copaiba, aus dem man den wertvollen Perubalsam gewinnt; unheimlich auch die Schlangen, die von den langen Aesten im Halbdunkel des Ur- walds schwingen und auf ein Opfer lauern. Zuzeiten kann man, wenn man sich still verhalt, einen Coatl (einen dachs- artigen Baren), ein Ocelot (einen kleinen Leoparden) oder ein Opossum oder Beuteltier erspahen, aber am meisten fiihlt man die Hitze und die Angst vor den Mitmenschen . . . Von San Lorenzo kann man mit einem kleinen Boot wie- der nach Amapala zuriick. San Salvador. Je heiliger der Name, desto schlechter in der Regel- die Menschen. Wir liegen vor Cucuco, dem Hafen von La Union. Himmel, welches Loch! Man ist dankbar, daB ein giitiges Ge- schick einen nicht zum Bleiben verurteilt hat. Die Cholos kamen in einem Hosenrest und einem breiten Strohhut auf Deck, was einen Mitreisenden sagen lieB: „Er hat ein Hemd, das nie zerreiBt und vollstandig sitzt.“ Fiir wasserdicht schien es der Braune nicht zu halten, denn dem Wasser wich er aus wie der Teufel dem Weihsprengel . . . Der Schiffsarzt von dunkler Farbe sprang aufs Deck und wurde von unserem Eisenbart begriiBt. Die Soldaten in hell- brauner Uniform, aber ohne Schuhe, versuchten stramm zu stehen, und drei Koter suchten ihren Besitzer. La Union liegt iiber vier Kilometer von dem kleinen Hafen- ort entfernt, doch da das Schiff bis zum Abend blieb, folgte ich dem Rate einiger Leute und bestieg das vorsintflutliche Ding, 137 das man in San Salvador Zug nannte und das an eine Kaffee- miihle mit einer angekoppelten Kaffeebiichse erinnerte. In die- sem einen Wagen saBen Manner und Frauen mit machtigers Biindeln und besprachen Kaffeepreise und andere Tagesneuig- keiten. „Wann kommt der Zug zuriick?“ fragte ich den Fiihrer des urzeitlichen Dampfrosses, als ich ihm meine zehn Centavos iiberreichte. „Oh, es gehen viele Ziige!“ meinte er. „Einer kommt um vier Uhr hierher zuriick.“ Ich gab mich damit zufrieden und vertiefte mich in den Anblick der Landschaft. Man fuhr mitten durch einen Urwald, der immer wieder versuchte, das ihm geraubte Gebiet zuriickzuerobern. Die machtigen Wurzeln der Seidenwollbaume bildeten wahre Banke; das Gewirr der Schlingpflanzen war so ungeheuer, daB man nicht wuBte, ob, was da baumelte, im Dunkel zitterte Oder dro- hend vorgestreckt schien, einzig das dicke Stammgewirr der Lianen Oder diese oder jene gefahrliche Giftschlange war. In Cucuco hatte ich viele trockene Haute von Riesenschlangen ge- sehen und vermutete daher den Urwald schon da voll dieses Getiers. Aus dem tiefen Grim brachen am Rande rote Bliiten, und auf dem Erdboden lagen Niisse und Kerne, wie ich sie nock nie geschaut hatte. Die Kaffeemiihle hielt, die unzahligen Packchen verschwan- den samt deren Besitzern, und ich wanderte hinter ihnen drein der Stadt zu. Die Gassen waren elend, unberechenbar auf- und absteigend, schmutzig und nur selten Garten aufweisend. Die Pflastersteine waren groB und uneben, der FuBsteig schmal und die Hunde bissig. Kein Tier nimmt derart den Charakter der Menschen an wie der Hund. Wo die Hunde bissig sind, sind es auch die Menschen. Ochsen zogen plumpe zweiradrige Wagen, die Rader waren ohne Speichen, und der Lenker schien an Ver- stand seinen Ochsen gleich. Das Biirgermeisteramt wurde von Soldaten bewacht, und die Domkirche war im Zusammenfallen; denn Erdbeben sind haufig in La Union. Hiibsch war der Park mit seinen Konigspalmen, und der Marktplatz war interessant, weil alle Ladenhiiter Europas sich in den dortigen Buden ver- sammelt hatten. Die Verkauferinnen waren dumm oder miir- risch, und was zum Verkauf geboten wurde, war schlecht. In Riesenkorben, flach wie ein heimischer Waschekorb, lag Kaffee, und das Gemuse war welk. Hiite aus Karls des GroBen Zeiten auf Stangen wie Haupter von gekopften Verbrechern, und Eier, daB sich eine europaische Henne sicher solcher Erbsen geschamt hatte. 138 Die Manner kamen aus den niedrigen verwahrlosten Stein- bauten und griiBten mich mit hohnischen Bemerkungen. Sie erschopften endlich ihre englische Wortkenntnis, und nur ein besonders dicker Braunbauch riel mir zartlich „Darling“ nach. Ich drehte mich um und rief „Dummkopl“ zuriick, um seine Sprachkenntnis niitzlich zu vergroBern. Bevor sein trages Tro- pengehirn das verarbeitet hatte, war ich um die nachste Ecke verschwunden. Nach etwa zweistiindigem Herumirren naherte ich mich wieder dem Bahnhof. Es ging gegen vier, und um sechs Uhr sollte das Schiff abfahren. Der Zug brauchte etwa eine Viertel- stunde, also hatte ich Zeit. Vier Uhr und nichts kam. Ein Viertel nach fiinf und Stille. Da fragte ich den Beamten, wann der Zug eigentlich abginge. „Um sechs!“ hieB es. Ich war! ein, daB er nach Angabe des Schaffners und auch der Fahrgaste um vier Uhr abgehen sollte. ,, Ich weiB nicht!" meinte der Herr Stationschef und ging in sein Loch zuriick. Nach einer Weile trommelte ich ihn wieder heraus, um ihn zu fragen, wie lange man zu FuB gehen miisse. „Vier Kilometer!" Es war zwecklos zu fragen, ob der Weg sicher war. Ich ent- schloB mich, um vollig sicher zu gehen, wenigstens was die Richtung anbelangte, dem Geleise zu folgen. Da mufite ich nach Cucuco kommen. Ich ging und ging. Die Tropensonne besaB noch ihre voile Kraft. Sie riB mir die Haut vom Nacken, den der Hut nicht stark genug beschattete; sie verbrannte mir die nackten Arme, bis sich die rote Haut in Blasen zu trennen begann; dabei ver¬ brannte mir der gliihende Sand die Sohlen meiner Schuhe und endlich meine FuBsohlen, was ich bedeutend unangenehmer empfand. Durch die Striimpfe spiirte ich die heiBe Bodenaus- strahlung und das Braten der Sonnenstrahlen wie tausend Na- delstiche und immer wieder muBte ich den Hut liiften, um das Gehirn auskiihlen zu lassen. Ich legte griines Laub in den Hut, weil das dem Kopf gut tat und ihn schiitzte. Aber alle diese Leiden waren nichts, verglichen mit der ge- heimen Seelenqual, die mich verzehrte. Ich ging nicht nur zum ersten Mai ganz allein durch ein Stuck Urwald, ich ging allein als weiBe Frau in einem tollen Lande; aus dem nahen Gestriipp, das jede Aussicht verhinderte, konnte ein kleiner Leo¬ pard springen, sich eine Riesenschlange strecken, ein Tropen- bar stiirzen; in den Sandlochern mochten Vipern verborgen sein, und wer sagte mir, daB nicht wilde Indianer herabgestiegen waren von den Inlandhohen, um den Dampfer aus sicherer Ent- fernung anzustaunen? Sie konnten aus dem Dickicht einen 139 Pfeil losschieBen, sie konnten mich mit ihren Speeren iiberfal- len und — Aergstes von allem — ich konnte auf dem einsamen Wege einem Mischling begegnen. Unwillkiirlich griff ich bei diesem Gedanken nach dem Dolch in meiner Tasche. An einem klaren Wintertage daheim schnell auszuschrei- ten ist ein Vergniigen; in den Tropen liber den Boden hinweg- zufliegen, der unter den FiiBen brennt, ist ein ganz anderes Ver- gniigen. Ich schnob wie ein KriegsroB vor dem Angriff, ehe ich den Urwald ganz erreichte. Dann fiihlte ich mich durch die hohen Baume und das Strauchwerk so weit gedeckt, daB ich es wagte, etwas ruhiger dahinzugehen. Zweimal glaubte ich, je- mand hinter mir kommen zu horen, und zweimal brach ich durch das Gestriipp in den Urwald ein, um darin Schutz zu suchen. In solchen Augenblicken waren mir alle Raubtiere und alle Schlangen gleichgiiltig. Bei jedem Schritt wechselten die Empfindungen. Es raschelte rund um mich, und ich bemiihte mich zu erraten, wel¬ ches Tier und von welcher GroBe es sein mochte; es krachte in den Baumkronen, und ich erwartete irgend ein WurfgeschoB von einem Affen Oder einem Wilden; es knisterte vorsichtig, und ich fragte mich, ob ein Ocelot oder ein verborgener Feind in fast lautlosem Nahen war. Nicht nur erhoben Kokospalmen ihre feurigen Kronen iiber die verschiedenformigen, undurchdringlichen Baummassen, es wuchs am Wegrand auch oft ein Domengebiisch und eine Kak- teengruppe, durch die eine Elefantenherde nicht durchgedrun- gen sein wiirde, und gerade als ich solch einen Wall erreichte, erblickte ich, bei der Biegung hinter mir, ein Zweibein mann- lichen Geschlechts und im Augenblick noch unbestimmbarer Abart. War ich friiher stramm ausgeschritten, so setzte ich jetzt mein Wetterbein nach vor, ungeachtet um den SchweiB, der in Bachen an mir niederrann. Hinter mir, kaum naherriickend, kam das Zweibein. Ich flog iiber den Boden dahin — nicht laufend, aber mit einem von Peru her einstudierten schwingenden Schritt, der die Kilometer fraB. Hinter mir keuchte der Unbekannte. Ich hatte manch einen gliihenden Verehrer jener Erdstriche auf solche Art kalt gelaufen. Auf einmal rief das menschliche Ocelot beschworend hinter mir: „ Signorina!“ Ich drehte mich um. Der Anruf war nicht spanisch, und iiberdies war ich bereit, vom Frieden zum Kampf iiberzugehen. Etwas Aderlassung wiirde seine Liebesglut behaglich dampfen,. 140 „Gott sei Dank, daB ich Sie eingeholt habe!“ stohnte der Unbekannte. „ Ich will auch zum Schiff zuriick, und dieser Esel von einem Stationsbeamten . . Geteiltes Leid ist halbes Leid. Es war ein Italiener, der von Las Honduras in ein anderes gottverlassenes Reich Mittel- amerikas reiste, um dort Rosinen und Florentinervasen zu ver- kaufen. Vereint legten wir den Weg zuriick, und er erzahlte mir, was er gelitten hatte, wenn er ein Krachen dicht neben sich ver- nommen, und zeigte mir seinen Hals, der gleich dem meinen rot wie der Kamm eines erregten Hahns war. Halbtot, mit heraushangender Zunge und verlcohlten FiiBen stolperten wir gegen halbsechs den Hafendamm entlang, als uns ein sonderbar knarrendes Gerausch hinter uns erschreckte und vom Geleise scheuchte. Es war der Zug, der mit uns zugleich in Cucuco eintraf! Der Italiener machte von seiner Muttersprache ausgiebi- gen Gebrauch. Ich schlich mich auf Deck und ins Badezimmer. Mir fehlten die Worte. La Libertad. Ihr Gotter — schon wieder ein Loch! Weiche, langgestreckte Erhebungen und vom am Strand, wie aus einer Kinderkiste genommen, eine Anzahl irgendwie hingestellter windschiefer Hiitten. Die Brandung wiitend, so daB man wie bei Mollendo mit dem Kran ans Land gezogen werden muBte und dafiir den Landpiraten einen Dollar zahlen sollte. Aber wer etwas sehen will, darf die Opfer nicht scheuen. Die Reisenden der ersten Klasse, die mich zuerst wie den wandelnden Aussatz gemieden hatten — sie waren ja die Rei- chen! — waren (vielleicht weil ich sie wie die Cholerabazillen mied) zur Ueberzeugung gelangt, daB ich vielleicht trotz der ent- ehrenden Dritten ein Mensch sein mochte und sogar ein den- kender, weil Tiere namlich kein Tagebuch zu fiihren pflegen, oder doch hochstens nur Hunde an beliebten StraBenecken... So muBte ich bei meiner Heimkehr von meinen Landerfah- rungen erzahlen; denn niemand wollte sich der Miihe unterzie- hen, selbst an die unbehagliche Kiiste mit ihrer Fiebergefahr zu gehen. In La Libertad stieg nun zu meiner Verwunderung auch ein Herr ans Land, um — wie er behauptete — ein Meerbad einzunehmen und um zu erforschen, wann der Zug ins Inland fuhr und ob man die Hauptstadt San Salvador in einem Tage erreichen, besehen und das Schiff erreichen konne. Ich hatte ein Abenteuer mit San Salvador-Ziigen gehabt und wiinschte nicht, etwa zwanzig Kilometer laufend zuriickzu- stiirzen. Ich besah mir daher den Ort und die Umgebung. Man behauptet, daB die Leute hier fleiBiger seien, und das scheint der Fall zu sein, denn auf den Abhangen sind schon Kaffee- 141 pflanzungen, und im Tal findet man Zuckerrohr, Mais, Taro und Yuca. Die Hohengebiete sind gesunder und kiihler als die der Nachbarn, und das tragt natiirlich zu groBerer Wirksamkeit bei. Die besten Karieeanlagen sind die bei Sonsonate, wohin man auBerhaib von La Libertad schon schauen kann. Dahinter liegt San Salvador. Die alten Azteken nannten das Land Cuscatlan oder „Land der Halsketten“, das will sagen „der Reichtiimer“. Hinter der heutigen Hauptstadt „im Tal der Hangematten“ (weil Erdbeben so sehr an der Tagesordnung sind) kommt Asutuxtepeque oder „Ort der Schildkroten“, und Sonsonate bedeutet „Ort der Wasser“ und wurde von Pedro de Alvarado im sechzehnten Jahrhundert gegriindet. Die Leute sind braun, schmutzig, arm. Die Siimpfe der Ebene erzeugen Fieber, und die Schiffe, die anlaufen, sind gering an der Zahl. Die winzigen Spezereiladen sind alle in Handen von Chinesen, der vereinzelte Stoffladen — wenn vorhanden — wird meist von einem Araber gefiihrt. Ich sollte fiir meine Ne- gerin Haarnadeln kaufen und versuchte es in drei Hafen ver- gebens, ehe ich diesen Luxusartikel bei einem Chinesen erstand. Die Frauen lassen das Haar einfach offen hangen und waschen nur von Zeit zu Zeit den LausiiberschuB ab. Gegen Abend traf ich den Mitreisenden am Strande. Er lud mich zu einem Meerbad ein, aber ich bin nicht gern im Salz- wasser und hatte keine Sehnsucht, in der mir angebotenen Herrenhose (die mir allerdings bis unter die Achseln gereicht hatte, denn ich bin fiinf FuB nicht hoch) die bewundernden Vor- nehmen von La Libertad zu begliicken. Da ich aber auch gern erfahren wollte, ob man endlich von Acajutla aus noch bis San Salvador kommen konnte, willigte ich ein, mit ihm zum Agen- ten zu gehen und spanisch zu verhandeln. Nun ist eine Weltreise schon deshalb eine Schnellschule des Lebens, weil die Menschen hier iiberstiirzter die Politur absprin- gen lassen als daheim, und deshalb erlemt man an einem Tage, was man in Europa — wo die Tiinche besser klebt — oft erst nach Monaten oder, wenn man wie ich Pech gehabt hat, erst nach Jahren erlernt. Der Mitreisende hatte am Bord eine ungewohnlich schone, sehr stattliche und entziickend gekleidete Frau, die iiberdies nette Umgangsformen und einigen Verstand hatte. Sie war unzwei- felhaft die weitaus schonste Frau auf dem ganzen Schiff und natiirlich weiB. Ich bin klein, war damals braun gebraten wie ein Indianerkind, und mein Spiegel sagte mir jeden Mor¬ gen, daB ich mir nicht einmal selber schon vorkommen konnte, und sich selbst findet sogar der Teufel schon. Andere Leute wiirden mich unter die unleugbar HaBlichen zahlen, und mir 142 machte der Mann eine Liebeserklarung. Ich hatte seit Genua genug an Alter und Weisheit zugenommen, um die Erklarung ins richtige Fach zu tun, aber daraals freute ich mich zum ersten Mai, nie geheiratet zu haben. Wenn jeder Mann jede Frau mit jeder Vogelscheuche jedesmal, wenn er loskam, hintergehen wollte?!! . . . Der Agent wohnte im dritten Stock, und eine unbequeme Holztreppe, ungewohnlich steil und halsbrecherisch, fiihrt nach oben. Ehe ich es wuBte, hatte mich der Amerikaner vom Boden aufgehoben und keuchte mit mir treppaufwarts. Zuerst wollte ich mich wehren, dann dachte ich mir, daB etwas Erringen von konzentrierter Lebensweisheit auch den Zweibeinen mannlicher Ausgabe von Nutzen war, und so lieB ich mich drei Stockwerke hinaufschleppen. Wir hatten 40 Grad im Schatten, und ich war nie vom Stiegensteigen — auch bei minderer Hitze — ein Freund gewesen. Wenn es ihm also SpaB machte, wie ein Wiistenkamel meine 47 Kilo schwankend und keuchend drei Stockwerke hoch zu schleppen, so sollte er die korperliche Uebung haben. Daraus wiirde er spater lernen, daB man zuwei- len etwas umsonst im Leben tut, und daB man, selbst im Meer der Liebe, zuzeiten auf ein Riff oder einen Wellenbrecher stoBt. Das war seelenfordernd . . . Die Auskunft des Agenten war unbefriedigend. Hinab ging ich iibrigens die Treppe auf eigenen FiiBen. Bescheidenheit ist eine Zier! „Hast du dich unterhalten, Liebster?" fragte seine Frau, als uns der Kran aus dem Korb warf. „Es war wunderschon!" sagte er. De gustibus .... AcajutlazuFiiBendes Izalco. Das ist der wichtigste Hafen von San Salvador, dieses kleine Dorf voll Strohhiitten, Aasgeiern und nackten Kindern. Wir lagen wieder weitab vom Strand, und die Hitze, vereint mit der Fliegenplage(sie flogen vom Land her zu uns), war uner- traglich. Auf den verankerten Fahrzeugen, die menschenleer schaukelten, saB da und dort ein Ibis. Das Landen war sehr kostspielig. Einen Dollar jede Fahrt und iiberdies einen Dollar Landungstaxe. In solch einem Loch! Die Leute kranken an Selbstiiberhebung. Ist man indessen einmal am Land, so findet man dennoch einen gewissen Zauber. Hinter dem Ort erheben sich, unheim- lich rasch und spitzansteigend drei Vulkane im Halbkreis — der Izalco, der San Miguel und die Santa Ana. Den ganzen Tag hindurch lagen Wolken wie Trauerschleier verhiillend um die Spitzen, doch gegen Abend zogen sie meerwarts, und man 143 sah das Ausbrechen des Feuers auf dera Izalco, der oft „der Leuchtturm Mittelamerikas" genannt wird. Aasgeier, kleine Garten, Falter jeder Farbe und Form im nahen Urwald, der von Dornpalmen strotzt, vemachlassigte Fel¬ der, abgearbeitete Frauen und iiberall im Dorfe brennender Lavasand, schwarz und von der Sonne allzu leicht erhitzt. Von hier geht der Zug nach der Hauptstadt. Keine Worte vermogen die Schwermut zu schildern, die iiber diesen siid- und mittelamerikanischen Hafendorfern liegt. Der Sand, die Berge, die Leute sind tot. Sie schienen mir jedes Mai wie durch einen Zauberspruch zu einem unfiihlenden Augen- blicksleben erweckt. Immer das gleiche Griin des Hintergrun- des, die gleichen vernachlassigten, unbequemen Holzhiitten, die trostlos traurigen Frauenaugen, die liisternen Blicke der Man¬ ner, die das einzig Lebende in all der toten Herrlichkeit sind, und dariiber, wie ein Unheilssiegel, die gliihende Sonne der Tro- pen. Ich habe spater viele Dorfer auf noch einsameren Land- strecken, auf verstreuten Inseln gesehen; aber nie sind sie mir so tot vorgekommen wie diese Orte der spanischen Republiken. Als ob Spaniens sterbender Geist sie todbringend angehaucht hatte. Die arme Costaricanerin mit ihrem alten Chinesengatten sagte mit einem Seufzer: „Gott zuerst, wenn wir nur aus diesen Lochern schon drau- Ben waren!“ Das schwarze Stuck Menschlein unter mir bekam einen Zahn und nahm die Welt krumm. Es brachte mich um die ge- ringe Ruhe, die man zwischen Maschine und Kiiche im Tief- schlund des Schiffs in tropischen Gewassern zu finden ver- mochte. Jede Fahrt wurde fur mich zum Fegefeuer . . . San Jose de Guatemala. Um fiinf Uhr friih schrillte das Schiff schon „Guten Mor¬ gen", und ich fuhr vom Seegras oder Stroh auf —- denn nicht einmal in dichterischer Freiheit will ich von dem Bett „aus den Federn" sagen — um ans Land zu gehen. Da aber der braune Pillendreher noch nicht die iibliche Borduntersuchung vorge- nommen hatte, wartete ich auf meinen gebratenen Speck, ge- folgt von Pfannkuchen und eingeleitet durch eine Grapefruit — eine bittere Riesenorange — das beste gegen Seekrankheit. Es ist von San Jose beim besten Willen nichts zu sagen, als daB es die iiblichen breiten Gassen voll Lavasand, Sonne, Aasgeiern, nackten Kindern und haarlosen Hunden hat, und daB die Glocke im Kirchturm schief hangt. Der Markt besteht aus Palmenstrohdachern wie Schwamme, unter denen die Buden stehen. Er bietet nichts. Eine eiformige dunkelgriine Frucht 144 soil die Suppe sehr verbessem. Alligatorbirnen wurden aufs Schiff getragen. Man iBt sie mit Whisky eingegossen oder mit Salz, Essig und Oel. Ich mag sie nicht. Im Urwald, in den ich mich mit altem Leichtsinn wagte — dreifach uniiberlegt der Menschen, der Tiere und des gefahr- lichen Tropensumpffiebers wegen — fand ich ganz herrliche Falter, die meisten schneeweiB in alien GroBen, doch einige so tiefgelb, daB sie fast braun wirkten und mehrere mit bunten Fliigeln. Die Nachtfalter aber sind so groB wie Spatzen und wirken ungemein haarig. Manchmal umkreisten mich auch die dickhalsigen schwarzen Geier. Bei einem verfallenen Hause schreckte ich eine Iguana auf, doch kaum hatte ich mich liber ihre Flucht laut ergotzt, so fuhr auch mir der Schrecken in die Glieder; denn hinter dem Gestriipp erspahte ich ein gesatteltes Pferd. Da ich seine Gemiitsart nicht kannte und noch weniger die seines Gebieters, blies ich zum iibereilten Riickzug und floh tief in den Busch, ehe ich auf Umwegen den Strand neuerdings erreichte. Ich lernte mehrere neue Palmen und eine Anzahl oliger Palmniisse kennen; aber die gefahrlichen Stechmiicken, die mich angriffen, und der heiBe Sand, der durch das Leder meiner Sandalen brannte, machten das Wandern wie immer zur Pein. Kurz vor San Jose traf ich ein junges Mischlings- weib, und sie zeigte mir auf Wunsch die Viscoyoniisse, die den echten und gesuchten Coyolniissen ahnlich sind und vom Stamm einer niederen Palme hangen, deren Wedel indessen, derart mit Dornen gespickt, den Zutritt sehr erschweren. Um die Chacras oder Holzhiitten der Umgebung fand ich Garten mit Mangos, Bananen und Kalabassen. Die Leute sind furchtbar arm. Fleisch haben sie nur selten. Das beste, das sie Fremden anbieten, ist Schlangenfleisch, das in Scheiben geschnitten und wie unser Aal gebraten wird. Es schmeckt nicht schlecht, — kostete ich doch aus wissenschaft- lichen Griinden trotz Abneigung davon — aber da viele Gift- schlangen gegessen werden, dringt das Gift in den Korper ein und erzeugt haBlichen Ausschlag, der in einer Art Eiterbeule endet. Gastlich aber sind sie bei aller Armut, diese armen brau- nen Menschen von Guatemala, von denen neunzig vom Hundert nicht lesen konnen! Die „goldene Jugend“ gleicht der von Peru — hochmutig ohne Ehrgeiz, sinnlich und dabei weiberverachtend, roh gegen die Untergebenen, schnell eingeschiichtert von den Vorgesetzten und von gliihendem HaB gegen die Europaer erfiillt. Nichts an ihnen ist tadellos als die Biigelfalte des Beinkleides, und ihre gelbe Gesichtsfarbe, die sie gern weiB nennen mochten, hat etwas Krankhaftes, das mich den einfachen Mann aus dem Volke mit seinem gesunden Braun vorziehen lieB. 10 145 Champerico. Von da geht die Bahn nach der Hauptstadt Guatemala, wo es etwas kiilder und angenehmer sein soli. Das ist wiinschens- wert, denn in Champerico war die Hitze unertraglich. Ich hatte Wadenkrampfe, und iiberdies war in der Nacht ein furchtbares Gewitter niedergegangen. Nun toste die Brandung wie ein wil- des Tier. Kein Hafen ist so heimtiickisch wie die weite Reede von Champerico. Drei Vulkane begrenzten auch hier den Gesichtskreis. Man- groven greifen mit ihrem saftigen Grim und ihren feurigroten Bliiten tief in das Meer hinein, und die goldgelben Mangos hangen an langen Faden von den breitkronigen Baumen. Wind- gebeugte Kokospalmen spiegeln sich im Blau der See, und schwarzer Lavasand umgibt die hellbraunen Hauser. Die we- nigen Geschafte sind in Handen von Chinesen. In Guatemala herrscht indessen das gelbe Fieber, und Reisende werden nur ungern an Land gelassen. Hier findet man — tiefer im Urwald — das „ruhige Herz“, eine schone Blume und den Baum, dessen Frucht Affenhand heifit. Leider konnte ich kein gut erhaltenes Stuck finden, so sehr ich auch danach suchte. Aus dem Wachs einer Pflanze machen die Eingeborenen Kerzen. Im Wappen von Guatemala findet man den heiligen Vogel Quetzal. Vor vielen Jahrhunderten kam einmal ein lichter Lehrer in diese Erdstriche, und was er an Weisheit lehrte, blieb teilweise im Volk erhalten. Die Zauberpriester der Azteken nannten diesen Meister unbekannter Herkunft Quetzalcoatl, und sein Sinnbild war die gefiederte Schlange. Vor der Abfahrt kam der amerikanische Konsul an Bord. Er war schon bejahrt, und sein Name war die ganze Kiiste Mittelamerikas hinab bekannt, nicht nur in Champerico. Einge- borene besuchten ihn, wenn sie vom Innern herabstiegen, und wer ein Geschaft plante, zog ihn zu Rate. Mitten unter den Holz- bauten steht ein etwas besseres, doch keineswegs behagliches Holzhaus: sein SchloB. Er sagt, daB er lieber der erste Mann in Champerico als ein Unbekannter in den Vereinigten Staaten sei. In seinem Fall ware ich lieber der letzte Mann in Nord- Amerika als der erste in Champerico. Das Friedhofsabenteuer. Spat am folgenden Abend erreichten wir den Isthmus von Tehuantepec, und als es nachtelte, ankerten wir den Felsen von Salina Cruz gegeniiber. Von diesem ersten Hafen Mexi- kos sprachen die Seeleute wie wir von Wien oder Berlin, und ich konnte kaum das Tagen erwarten, um diese GroBstadt mit 146 Nachtleben (alle mannlichen Reisenden waren abends noch ans Land geeilt) wenigstens bei Sonnenlicht in Augenschein zu neh- men. Was ich sah, als ich aufs Deck wankte, waren steil an- steigende, scharfe Felsen, welche fast unbewaldet waren und nur in den Spalten Kandelaberkakteen, Teller- und Schlangen- kakteen, Aloen und Stachelflechten aufwiesen. Der Ort aber kletterte nach kurzer Ebene den Berg hinauf, und von irgend einer GroBe war nichts zu erspahen, wenn die Zahl der Hauser auch die aller anderen Hafenorte iiberstieg, und die wichtig- sten Bauten in der Tat aus Stein waren. Dunkelhautige Menschen schritten an mir voriiber — viel dunkelhautigere, als ich bisher getroffen — und der Schnitt der Augen war beinahe mongolisch. Etwas Wildes und zugleich Schwermuttiefes liegt in den Ziigen; vielleicht ist das die letzte Spur ihrer Aztekenvorfahren. Ich muBte meine grime Landungskarte vorzeigen, ehe ich das Hafengebiet verlassen durfte und die kurze freie Strecke betrat, der entlang man nachts Landende iiberfallen und ausrauben sollte. Einladend war das Land in dieser Hinsicht nicht. Die Lagerhauser wurden von den Englandern angelegt und kosteten liber eine Million, denn hier sollte der Zucker aus Haiti aulgestapelt werden, doch der Panamakanal machte dem Unternehmen ein Ende. Der Weg vom Hafen, am Zollamt und dem Regierungsbesitztum voriiber, das mit einem hohen Eisen- gitter umzaunt ist, dehnt sich und ist unangenehm sonnig; er fiihrt iiber die Schienen der Eisenbahn, die nach Tehuantepec geht. Salina Cruz liegt namlich an der engsten Stelle der Land- enge von Tehuantepec, wo nur 216 Kilometer den Atlantic vom Pazifik trennen und in der reichen Provinz Oaxaca. Der heitie Sand verbrannte mir wieder schmerzhaft die Fiifle, ehe ich mitten im Ort war, dessen Hauser bessere Holz- bauten mit verzierten Veranden waren und schon ein echt mexi- kanisches Aussehen hatten; doch als ich das auBerste Ende der Flachstadt erreichte und nach links abbog, stand ich mitten unter elenden Bambushauschen. Die Wande waren so lose zu- sammengefiigt, daB man wie durch ein Gitter alles, was darin geschah, beobachten konnte, und da die Bewohner ebenso neu- gierig waren, mich anzustaunen und auszufragen, wie ich sie, landete ich bald in einer dieser Hiitten. Die Tracht der Mexikaner ist seltsam. Die Manner haben Hiite wie der Misti, — doch ohne Schnee — eine radgleiche Krempe gekront von einem Zuckerhut. Um einen Dollar hatte ich solch einen Hut kaufen, ihn aber hochstens durch die Welt mir voran rollen konnen, denn er war nicht viel kleiner als meine Wenigkeit. Hemd und Hose oder Ueberreste solcher Dinge vollenden die Mannerkleidung; die Frauen aber hatten eine 10 * 147 kurzarmelige Bluse, die vor dem Magen endete und bei man- chen Bewegungen einen Teil der Brust sehen lieB, wahrend ein sehr faltiger Rock die geheimsten Reize verbarg. Kopf und FiiBe verblieben unbedeckt. Die Kinder liefen nackt herum. Mexiko ist ein armes Land bei all seinem Erzreichtum, sei- nen kostbaren Pflanzen, seinen ausgedehnten Erdolquellen. So arm, daB die Leute ganz und gar nicht gastlich sind. Selbst in Guatemala bot man mir von den einheimischen Speisen oder dem Obst zu kosten an, doch nie in Mexiko. Was man haben wollte, muBte man kaufen, und die Leute fanden eine Sache, die iiinf Centavos kostete, schon teuer. Im einzigen Raum, den die Hiitte enthielt, kauerte die Frau vor dem Holzkohlenherdchen, das nicht einen FuB hoch war, und briet Tortillas, das mexikanische Brot, aus grobem Mais- mehl. Ihre Tochter stand am schragstehenden Lavastein und walkte mit einem Lavastossel das grobe Mehl mit etwas Was- ser zu einer flachen Masse. Sobald diese gefestigt und glatt genug geworden war, reichte sie einen solchen ganz diinnen Pfannkuchen der Mutter, die ihn in die leicht bestaubte Eisen- schiissel (ebenfalls flach) warf und ohne Fett iiber gelindem Feuer briet. Die Tortilla ist ganz gut, aber schwer verdaulich und erweckt das Gefiihl des Gesattigtseins. In einem Ton- gefaB hatte die Frau gekochte Flaschenkiirbisse, die mit dem Saft des eben gepreBten Zuckerrohrs gesiiBt waren. Das war das Mittagessen — vielleicht die einzige Mahlzeit — der Leute. Einrichtung gab es keine. Zwei oder drei Kisten, einige Ha- dern, zu einem Haufen gesammelt und nachts wohl das Bett darstellend, und quer durch den Raum schwebend die Hange- matte, in der immer nur der Herr des Hauses lag, wahrend sich seine bessere Halite abplagen muBte. Mit vornehmer Ueber- legenheit sah er auf sie herab. Ich ging von Hiitte zu Hiitte, beantwortete Fragen und stellte sie. Immer arbeiteten die rundlichen Frauen alles, was getan werden muBte. Ihre Bluse war unter der Brust mittels eines Knotens zeitweise verengt, doch hinten immer offen. Die Manner brummten verstohlen iiber die Regierung und die Priester, die so viel Geld zur EheschlieBung forderten, daB viele Leute lieber in freier Liebe zusammenlebten. Auch spater er- fuhr ich von gebildeteren Leuten, wie sehr die reichen Pflan- zer, die Auslander und selbst die Priester das Volk ausniitzen, und das gibt wohl die Erklarung fur die heutigen Priesterver- folgungen ab. Weiter und weiter. Die Abhange waren voll Kakteen, und schon nach kurzem Versuch gab ich die Entdeckungsreisen ins Pflanzenreich auf und begab mich wieder zuriick in den besseren Teil der Stadt. Mir folgten die Rufe der Frauen, die mir gut- 148 miitig zuwinkten, und das Klappern der Mannersandalen im heiBen Sand. Ich besuchte die Kirche, in der man einen Holz- christus hatte, dem echtes Menschenhaar angeklebt war, die Mutter Gottes ein prachtvolles Gewand aus schwarzem Samt trug und die Heiligen ungewohnlich dumme Gesichter schnitten. In der HauptstraBe waren alle Geschafte in Araber- oder in Chinesenhanden und selbst die beiden Gasthauer wurden von Auslandern geleitet (Guasti und Gambrinus). Auch das ist ein Zeichen, wie unternehmungsunlustig die Bewohner Mittelame- rikas sind. Alle Bergwerke, alle GroBhandelshauser, alle klei- nen Laden werden von Auslandern bedient. Der Stadtpark hatte nur gebrochene Banke. An Bord hatte man mir schon ofter gesagt, daB ich es nicht versaumen solle, den sehr interessanten Friedhof, der unweit der Stadt gelegen ist, in Augenschein zu nehmen, und nacb dem Mittagessen begab ich mich trotz vierzig Grad im Schatten auf den Weg, ihn zu suchen. Ich fand mehrere sehr schone, bunte Steine, die ich sammelte, und hatte schon das niedrige Busch- werk vor der Friedhofsmauer erreicht, als ich ein Mannszwei- bein auf mich zukommen merkte. Die Mexikaner, ebenso wenig wie die anderen spanischen Mischrassen, verschwenden in Liebesangelegenheiten ihre Zeit. In zwei Minuten hatte er mir sein Herz, eine Menge Geld und die Heirat angeboten. In weiteren zwei Minuten hatte ich seine lockenden Anerbietungen hoflich abgewiesen. Da erfaBte er mich wie einen Sack und schleppte mich kurzer Hand auf den ge- schichtlichen Friedhof. Ich zappelte vorn mit den Armen und hinten mit den Beinen in der Luft, aber fur den Augenblick hatte er die Oberhand, denn sein Hut allein war schon groBer als ich. Er iegte oder richtiger stellte mich auf das passendste Grab und kaum hatte ich wieder Boden unter den Ledersan- dalen, als auch ich zum Angriff iiberging. Mit einem Ruck hatte ich den Dolch aus der Tasche und sagte: „Mensch, dieser Dolch ist in Curare, das todlichste aller Gifte, getaucht. Wenn ich Sie mit diesem Dolche (der verrostet war und schaurig aussah!) auch nur ritze, miissen Sie in spa- testens drei Stunden auf elendeste Weise sterben!“ Nun war er ja nicht ganz iiberzeugt, daB es sich mit dem Dolche und dem Gift gerade so schlimm verhielt, aber Angst hatte er immerhin, und deshalb begann er, andere Saiten auf- zuziehen. Er entnahm seiner Brieftasche eine iiberraschende Menge von Zehndollarnoten und Iegte sie dicht vor dem Grab- stein nieder, stammelte viel Unsinn von kurzen zehn Minuten und wimmerte wie ein Hund, der den Stock sieht und dennoch einen saftigen Braten will. In solchen Augenblicken lernte ich 149 sehr viel iiber das Leben, die Sinne und die Manner. Es gab mir von den Einrichtungen des lieben Herrgotts eine hochst mindere Meinung . . . „Heben Sie das Geld auf,“ befahl ich, „und stecken Sie es ein. Ich bedarf dessen nicht. Ich bedarf auch — Gott sei’s ge- lobt — keines Mannszweibeins und dieser Liebe, die keine Liebe ist. Ich bin ein Mensch und kein Vieh! Und nun marsch mir voran Salina Cruz zu, oder mein Dolch gehtlhnen in dieHaut!“ Im Gansemarsch, er knurrend und fluchend, ich die Augen auf seine Wirbelsaule gerichtet, kehrten wir, an den bunten Steinen, die ich alle liegen lassen muBte, voriiber, nach der Stadt zuriick, und es geschah, daB ich auf dem beriihmten Fried- hof gewesen war und n i c h t s von ihm gesehen hatte. Am Abend erzahlte ich irgend jemand mein Abenteuer. Noch einmal lernte ich viel iiber Menschen und deren Art. All jene Erstklassepassagiere, die sich sonst nie um mich gekiimmert hatten, besuchten meinen Aussatzplatz (ich saB dort etwas ab- geschieden von den iibrigen) und forschten mich aus. Nie aus Mitempfinden, stets nur des Gruselns wegen, und von da ab waren sie allzeit begierig zu erfahren, was ich auf dem Lande „erlebt“ hatte. Nur die Costarikanerin sagte: „Gott zuerst, gegen uns Frauen ist das Leben Feind.“ Vor Jahren war Salina Cruz so ungesund, daB die meisten starben, die iiber acht Tage blieben; heute sind die Verhaltnisse leidlicher, doch weit entfernt von gut. Der Ort ist sehr gut be- festigt, und der weite Wellenbrecher schutzt die Einfahrt. Ehe dieser kiinstliche Hafen angelegt war, muBte der Kapitan mit zwei schleifenden Ankern lavieren. So fruchtbar ist das hoher gelegene Inland, daB die Kaffee- biiume bis zu zehn Pfund, die Zitronenbaume 5000 Zitronen im Jahr tragen, daB Zuckerrohr dreiBig FuB hoch wird und die Tabakblatter eine Lange von 50 cm erreichen. Mein letzter Eindruck von Salina Cruz war der fette chinesische Waschmann, der das gewaschene Biindel der Schiffs- und Offizierswasche pustend iiber die Landungsbriicke schleppte, und ein Mexikaner, der dem Schiffskoch grinsend eine kleine Katze schenkte. Dann glitten wir am Leuchtturm- hiigel hinaus ins freie Meer .... Acapulco. Die Katze fand unser Schiff ein Erdbebengebiet und schrie die ganze Nacht. Sie vereitelte die geringe Schlafmoglichkeit, die wir besessen hatten. Die Hitze war todlich. Eine neue Mit- reisende mit drei Kindern walzte sich nackt und stohnend auf dem Boden, die Costaricarin seufzte „Ave Maria purisima", 150 und ich kugelte hilflos von Ost nach West, ohne die Augen schlieBen zu konnen. DrauBen, auf dem Gang, jammerten die Matrosen und Heizer. Ein Tag ohne Landen; am Abend Gewitter. Noch eine Nacht der Leiden, dann glitten wir durch die Ein- fahrt in den Hafen von Acapulco, einem hochst eigenartigen Ort, wie ich ihn so nie wieder gesehen habe. Die Hauser kletterten mit viel Anmut und Geschick den steilen, kantigen Fels hinan, und man steigt nicht auf Erde aufwarts, sondern klimmt auf alien Vieren (wenigstens wenn man nicht in Aca¬ pulco geboren ist), iiber runde, ungeheure, ganz glatte Stein- blocke, die das Aussehen jener Felsen im hohen Norden Skan- dinaviens haben, die vom Eis glatt geschliffen worden sind. Die HauptstraBen in der Ebene, zwei an der Zahl, haben, wie in Panama, einen vorspringenden ersten Stock, so daB man sich unter einem gedeckten Fufisteig — etwas sehr Niitzlichem zur Sonnen- und Regenzeit — befindet, doch die zahllosen Rohr- hutten, die iiber den Berg verstreut sind, liegen in winzigen Garten. Vor solch einem Garten blieb ich stehen, und die Frau darin rief mich zu sich herein. Wie gewohnlich hatte der Raum wenige Mobel, aber er war doch auBer der Hangematte um einen Tisch, einige Stiihle und einen Schrank reicher. Ich weiB nicht, wie es kam, aber von dieser Frau erfuhr ich mehr iiber Land und Leute, als durch alle die Biicher, die ich vorher gelesen hatte. Sie erzahlte ihr Leben, und darin, wie in einem Spiegel, entrollte sich das ganze Mexiko mit seinem Licht und seinen Schatten. Sie war eine Witwe und gehorte zu Acapulco, wie einer der Riesensteine, die den Aufstieg erschweren. Friih morgens ging sie in den Wald hinein, der hier nicht so iippig wie tiefer im Siiden war, bearbeitele das Maisfeld auf der ersten Lich- tung und sah nach dem Zuckerrohr auf der zweiten, sammelte Brennholz auf dem Heimweg und pfliickte junges Laub be- stimmter Baume an Stelle von Kohl oder Spinat. Wie ein- fach das klang! Wenn sie indessen Holz sammelte, hielt sie immer scharfe Ausschau nach der gefiirchteten Korallen- und be- sonders nach der griinen Schlange, die nicht auswich, und die, sich zusammenziehend, sich dem Feinde entgegenwirft. Ich glaube, der richtige Name ist Peitschenschlange, weil sie wie ein Peitschenhieb losfahrt. Auch muBte die Frau beim Durch- eilen des Urwaldstiickleins sorgfaltig nach oben schauen, denn zuzeiten lauerte eine Riesenschlange auf Beute, lieB sich aus dem dichten Laubwerk und Lianengewirr herab und um- strickte das Opfer, oder es schlich sich ungesehen ein Raubtier auf sie los. 151 Arm muBte sie sein troiz der netteren Hiitte und des Gartchens voll Blumen und einzelnen Obstbaumen, denn sie erzahlte mit angehaltenem Atem von den Gliicklichen, die vom siiBen Stadtbrot essen durften, das 15 Centavos das Laibchen kostete. Mais kostete 15 Centavos das Liter, hundert Bananen zur Reifezeit nur 25 Centavos, Majoran in Biischeln 5 Centa¬ vos, einfaches Brot 5 Centavos, und Zuckerbrotchen gab es zwei fur 10 Centavos! Dennoch klagte sie fiber die teuren Zeiten. Dann — als wir vertrauter wurden — erzahlte sie im Hiit- teninnern von den Schrecknissen der Revolution. Die feind- lichen Truppen zogen durch Acapulco, raubten, mordeten und pliinderten, wo und wann sie nur konnten. Madchen und Frauen wurden mitgeschleppt und muBten dem Heere zu Diensten stehen, Knaben und Manner wurden erstochen, die Hiitten aus- geraubt und niedergebrannt. Vier Tage lag sie mit Gatten und Kindern verborgen und ohne Nahrung oder Licht in der Hiitte, wahrend Truppenteile durchzogen. Sie wagten nichts zu kochen, damit der aufsteigende Rauch sie nicht verrate, und nachts eilten fremde Menschen durch die finstere Hiitte, die so leer war, daB sie nichts, nicht einmal die Verborgenen unter mo- derndem Maisstroh fanden. Seit vier Jahren — lange Zeit — hatte es keinen Biirgerkrieg mehr gegeben, und man erholte sich langsam. Spater, als wir unter Baumwollstauden und Maranon- baumen im Gartchen saBen, erzahlte sie vom groBen Theater- brand, bei dem so viele umgekommen waren, und vom gefiirch- teten Cyklon im Jahre 1910, der ganze Hauser ins Meer ge- tragen, vom Cordenazo de San Francisco — dem furchtbaren Wind, der zuzeiten am vierten Oktober blies und viel Unheil anstiftete, — und immer liefen die Schweinchen unter unseren Stiihlen dahin und durchtrappelten die offene Hiitte, in der zwei Kinder in der Hangematte lagen und einzuschlafen ver- suchten. Ich schenkte der Frau ein Geldstiick, weil sie so arm schien und mir ihre schlichten Erzahlungen das ganze Lebens- bild jahrein, jahraus von Acapulco entschleiert hatten. Ob sich das herumsprach Oder ob die Acapulcaner nur ungewohnlich neugierig waren, weiB ich nicht, aber man rief mich in Hiitte auf Hiitte, und immer lag der Mann in der Hangematte, arbei- tete die Frau vor dem Herde kauernd und saB ich auf einer umgestiilpten Kiste, beantwortete Fragen und stellte sie, er- fuhr, daB man eine nahende Riesenschlange am besten mit Steinwiirfen vertreibt, wo die Schildkroten ihre Eier in den Sand legen, wie man nach Gold in den Bergen sucht und wo man in Mexiko dies oder jenes findet. Man sprach vom Oce- 152 lot, vom Puma, den Wildkatzen, dem Opossum oder Beutel- tier, dem Coyote und so weiter. Wenn das Beutaltier verfolgt wird, stellt es sich nicht selten tot, lafit sich herumwerfen und riihrt sich so wenig, daB man nicht einmal das Atmen bemer- ken kann, doch kaum ist der Feind weg, so springt es auf und lauft davon, daher sagt man in ganz Amerika „ Opossum spie- len“, das heiBt, sich tot oder unwissend stellen. Endiich war ich die Schar der Neugierigen losgeworden und wanderte allein iiber weitere Felsen und noch krummere Berg- straBen, wo schone rosa Winden und die herrlichen Vulkan- blumen bliihten, sah Perroquitos mit einem gelben Fleck, doch groBer als die in Panama, und kroch in eine Quebrada oder Schlucht hinab, wo Esel weideten, nicht ohne Besuchskarten zu hinterlassen. Abends spielt in dieser Quebrada unten am Meer die Musik, und die FiiBe der Schonen treten in die Esels- erinnerungen. An den Jiguerillos voriiber, aus deren Friichten die Einge*- borenen Seife machen, gelangte ich wieder auf einen Bergabn hang, auf dem Pincones, ein Abfiihrmittel, wuchs, und besuchte einen Fischer in seiner Lehmhiitte. Er erzahlte, wie er die Schildkroten fing, indem er sie durch den Hals spieBte und wie erbarmlich sie schrien, wenn dies geschah, wie man das Schild- patt ins Wasser legen miisse, um es bearbeiten zu konnen, und wie man es erst biegen konne, wenn es stark, aber vorsichtig erhitzt worden war. Die Riesenschildkroten werden nur gegessen, das Gehause ist wenig wert. Die Eier — oft zwolf Dutzend von einem Tier — werden in den warmen Sand gelegt und die Stelle mit den Pfoten gut vertrappelt. Die Eier der Riesen¬ schildkroten sind fischig im Geschmack und so groB wie eine Orange. Mein letzter Weg war zur altspanischen Festung jenseits der Klippen, wo man noch die ehemaligen Folterwerkzeuge sehen konnte. Von der angrenzenden Kaserne, zu der ein Palmenhain fiihrt, genieBt man eine sehr schone Fernsicht iiber den ver- zweigten Klippenbau und Acapulco auf den Abhangen der Felsen. Wohin man indessen in Acapulco geht, so wird man geduzt. Die Koter sind gut und — so weit ich Erfahrung habe — die Mannszweibeine leidlich. Von alien Orten war mir Acapulco weitaus der liebste. Oft wunderte ich mich iiber den Grund, und erst viel spater erfuhr ich, daB schon seit Jahrhunderten Ja- paner nach Acapulco kamen und sich da ansiedelten. Das Miidere und Hoflichere im Wesen verdanken die Bewohner gewiB der Beimischung aus Asien. Von hier aus fuhren einst die ersten spanischen Entdecker nach den Philippinen. Vier 153 Monate dauerte die Hin-, vier Monate die Riickfahrt, wenn sie Gluck hatten . . . Um das Schif! lagen viele Kahne mit Verkaufsgegenstan- den — Zigarren, Schildpattwaren, Friichte, Korbchen und Ton- gefaBe. Ich setzte mich dankbar an den Speisetisch; denn ich hatte seit dem Friihstiick nichts gegessen, und es war Nacht. Manzanillo. Das Aepflein! Ein hiibscher Name fur einen haBlichen Ort. Ich war froh, vom Schiff zu kommen. Auf so langer Fahrt werden die Manner wild, kampfen, brummen, lieben; die Kinder, Affen und Papa- geien erganzen den Larm; das ewige Fleischessen macht krank und die Hitze erzeugt Gliederschmerzen. Wenn ich eine Weile in der gleichen Stellung verblieb, wurden die Gelenke ungehor- sam wie das Elastik in einer Gliederpuppe. Die Schmerzen dauer- ten Tag und Nacht. Man bezahlt eine Studienreise sehr hoch. Wer nur im Deckstuhl liegt, hat es freilich besser. Ich muB, wenn ich todmiide auf Deck gekommen bin, malen oder schrei- ben. Und ich bin ein Opfer der Dritten . . . Als ich die Leiter hinabhumpelte, standen vier Schiffer be- reit. Jeder erhaschte mich bei einem Korperteil, um mich in sein Boot zu ziehen, und ich sah Sterne. Zuletzt siegte der braune Affe, der meinen solidesten Teil, das Magengebiet, er- wischt hatte, und entriB mich mit einem Ruck den anderen. Dabei fielen wir bei einem Haar ins Wasser. So landet man in Manzanillo. Auch Manzanillo klettert zwei Hiigel empor, die indessen nur wie griine Schnecken auf einsamer LandstraBe inmitten der weiteren Ebene und der geringen Erhebungen des Hinter- landes wirkten. Weit dahinter schieben sich hohere Berge her- an, und deshalb blast ein etwas kiihlerer Wind herunter. Die Leute waren weniger gastlich oder neugierig; vielleicht machte ich auch — da mir elend war — weniger freundlich einladende Nasenlocher. Alles reitet auf Mauleseln und Eseln, die sogar durch die schmutzigsten und abschiissigsten GaBchen sicher gehen. In die weitere Umgebung wagte ich mich nicht, da die Mexikaner das Lasso gebrauchen und so nicht selten auch Menschenopfer ein- fangen, die dann neben ihren Rossen herlaufen und ihnen blind- lings, Gott weifi wohin, folgen miissen. Die Koter waren nicht bosartig, obgleich keiner so schone Namen wie in Acapulco (Schmetterling, Hausfreund, Freuden- nuB) fiihrte. Vor dem Ort waren einfache Hauschen aus alten Petro- leumbiichsen erbaut worden; Fenster hatte man vergessen, 154 und die Bank davor war eine Reihe alter Zuckerkisten. Die Ziegel der besseren Hauser erinnern an sanft ansteigende Wellenkamme und verraten daher doch schon Eigenart. Von hier fahrt die Eisenbahn nach Colima und ist in zwei Tagen in Mexiko, der Hauptstadt. Spater besuchte ich, wie iiberall, den Markt, beschaute die dunkelvioletten, runden Tomaten, die eine auBere grime Schutzhiille haben, die Granatapfel, Alligatorbirnen, Zitronen und die luftballonartigen, bald roten, bald blauen oder griinen, nuBgroBen Kugeln, die in Wahrheit Kaugummi sind. An solch einer Kugel, die den Mund vollig ausfiillt, kaut man drei Stun- den. Man verkaufte auch in Essig gelegtes Kraut und saure Gurken und vor allem Bananen und Zuckerrohr. Schweine, wohin man schaut, und Zopilote, die alien Unrat auffressen; zwei kleine Friedhofe hinter dem Hiigel unweit eines Sees, wo man von Fiebermiicken angefallen wird, und vor allem Fliegen. Millionen! Hier findet man die gefiirchtete Palanca- und die Wein- schlange, die sich durch starken Weingeruch zu erkennen gibt, und im Meer gibt es Mantel-, Schleier-. Schwert- und Sage- fische. Als ich am Abend im Park von Manzanillo, dem Giftapfe- lein, saB, klopfte mir jemand von hinten auf die Schulter. Es war ein kleines Madchen. Es lachte mich an und fragte mich nach meinem Namen und woher ich gekommen. Wir sprachen eine Weile zusammen, und die kleine Mexikanerin gab mir ein „Zuckerl“. Ich habe oft an das Kind gedacht; es war die ein- zige Gabe aus Mexiko . . . An Bord verteilte der Kapitan Handtiicher an alle Passa- giere und die Mannschaft, und wir muBten auf die Fliegenjagd gehen. Das Schiff war schwarz von ihnen, und wir fegten die Leichen der Erschlagenen ins Meer. Mazatlan. Der Ort liegt an dem Wendekreis des Krebses und ist heiBer als andere Orte Mexikos. Und Fliegen!!! Der Kapitan blieb drei Meilen drauBen vor Anker, um der Brut zu entgehen, und als ich an Land stieg, glaubte ich auf Rosinen zu gehen. Es waren aber nur Fliegen, die auf dem Sande saBen. In der Markthalle war alles, aber auch alles unter Netzen, und unter den Netzen saBen noch Fliegen. Sie gingen in Nase und Ohren; sie waren allgegenwartig. Schwarz waren die Wande von ihren Zeichnungen und schwarz alles, worauf sie sich niederlieBen. 155 Das Colegio Aleman, von einem Deutschen geleitet, ist sehr hiibsch gelegen; die Kirche nett, die Geschafte schon vielver- sprechend, und die kugelformig geschnittenen groBen Baume auf dem freien Platz entschieden eigenartig anziehend. Wer die Hitze und die Spanier liebt, kann in Mazatlan schon leben. Ich freue mich, den letzten Hafen erreicht zu haben, der Mittel- amerika angehort. Zu bitter ist mein Reisen durch die Gebiete der Mischlinge gewesen. Die Stadt — denn das ist sie schon — liegt in der Sina- loaprovinz, an der Einfahrt in den tiefen und heiBen Golf von Kalifornien, wo Perlmuttermuscheln und Schildkroten in Men- gen zu finden sind und von wo aus man die reichsten Berg- werke Mexikos erreichen kann. Hier findet man ebenfalls einige Ruinen aus der Aztekenzeit, und oben auf dem Hiigel der Ein¬ fahrt liegt die Sternwarte. Dicht vor Mazatlan liegen die Revillagigedoinseln, auf denen einige Englander in trostloser Einsamkeit leben; eine der Inseln ist Strafkolonie, und ein Amerikaner, der einmal in Mexiko ein beriihmter Rauberhauptmann war, denkt dort iiber die Wechselfalle des Lebens nach. Vor Los Angeles. Ein 25 Meter langer Walfisch tauchte in Schiffsnahe auf und spie Wasser und Weltverachtung neben uns aus. Die Kiiste war kahl und trostlos bis dicht vor San Diego. Das Wetter war umgeschlagen und plotzlich kalt. Ich hiillte mich in meinen Jerusalemschal und fror, daB die Zahne klapperten. Mowen, schneeweiB mit grauen Schwingen, zogen voriiber, und fliegende Fische schnellten aus dem Wasser empor. Los Angeles ist der Ort der Sterbenden. Die Leute, die hier gute Geschafte machen, sind vor allem die Bestattungs- unternehmer. Es werden Leichenzimmer angekiindet und wie Hotelzimmer gemietet. Viele glauben in diesem milden Klima in ewigem Sonnenschein gesunden zu konnen und lassen ihre Knochen im weichen braunen Sand. Die verschiedenen religio- sen Sekten bliihen hier aus dem gleichen Grunde; denn bei so viel Bestattung interessiert das Kommende. Erst in dritter Linie kommen die Filmgesellschaften. Hinter Los Angeles liegt das Imperial Valley (Kaisertal), und das liegt mitten in der Wiiste. Im Hause selbst ist zur Sommerszeit bie Hitze so ungeheuer, daB man nicht den bloBen Arm auf eine Holztischplatte legen kann, ohne das Empfinden einer Verbrennung zu verspiiren. Viel arger als in den Tropen ist die Hitze der Subtropen in den kurzen Sommermonaten, doch dafiir ist der Winter ein langer, sonniger Herbst. 156 Hinter San Diego kam San Pedro und Santa Monica. Friih am Morgen fuhren wir am Kap Santa Barbara voriiber und gegen neun Uhr an dem von Concepcion mit dem besten Leuchtturm der ganzen Kiiste. Der weiBe Rauch eines Zuges glitt wie ein Nebelschweif die kahle braune Kiiste entlang. Masern sind ausgebrochen. Das wird die Landung noch erschweren. AufderEngelinsel. Bei den Nordamerikanern ist alles Pose: Ihr Fortschritts- geist, der nur die Neugierde eines Kindes ist und schnell erlischt, wenn nicht groBer Gelderfolg der Lohn ist; ihre Sucht nach Tu- gend, die das Land „trocken“ macht und nur Trinker erzieht, dabei aber Millionen in erhohten Preisen in die Taschen der Handler spielt; ihr Drang nach Wissen, der wie ein fliegender Fisch liber die Oberflache schieBt, und ihr Volkstum (ihre ge- priesene Demokratie), die nur auf dem Papier und im Munde ist, denn nirgends auf Erden wird der arme Schlucker, der sich nicht die erste Klasse nach Amerika leisten kann, so elend und schimpflich schlecht behandelt, wie gerade in dem „freien“ Lande. Und an der Westkiiste konnen die Nordamerikaner nicht einmal einwenden, daB sie den Strom der Zuwanderung hemmen und priifen miissen. Es wandert ja so gut wie niemand von da ein, und warum darf der Schurke, der in der Ersten fahrt, seiner paar Dollars halber unter Biicklingen ans Land, wahrend der arme Gebildete in der Dritten sich jede Demii- tigung gefallen lassen soil? Vor dem Landen — es war zwei Uhr nachmittags, und nur die Passagiere der ersten Klasse konnten an einem Sams- tag abgefertigt werden, die armen Teufel der Dritten, die es wahrlich notiger hatten, aus der Holle herauszugelangen, soil- ten nach der Engelinsel — driickte mir ein Matrose eine dick- bauchige Flasche in den Arm und sagte mir, ich moge „Ma- genmittel" sagen, wenn ich am Zollamt vorbeiginge. Gleichzeitig bemachtigte er sich meiner Schreibmaschine und eilte davon, und meiner Erika ware ich mit zehn Schnapsflaschen durch feindlichen Kugelregen nachgegangen. Auf dem Schifflein tausch- ten wir unsere Schatze. Das ist amerikanische Ehrlichkeit! Die Engelinsel war bald erreicht, und durch einen schonen Park begaben wir uns hiigelwarts. All unser Gepack war in einem Raum neben dem Landungsdamm geblieben. Als wir in den Schlafsaal traten, stiegen mir die Haare zu Berge. Drei Reihen Eisenbetten wie in Gefangnissen waren iibereinander- getiirmt — dreiundvierzig Betten alles in allem — und nicht ein Stuhl im ganzen weiten, unfreundlichen Raum! 157 Mit Hilfe der Negerin legten wir sechs Matratzen auf zwei der untersten Betten und fiillten damit die Oeffnung so weit aus, daB wir das Kind unbesorgt zwischen uns legen konnten, sonst ware es sicher auf den harten Boden gefallen. Graue Wolldecken, auf denen wer weiB wer und wieviele gelegen hat- ten, wurden uns auf besonderes Verlangen gegeben, und als ich emstlich bose wurde, gestattete man mir als Schriftstellerin, etwas aus meinem Koffer vom Landungsplatz zu holen. Hierauf wurde uns gesagt, daB jedes Verlassen des ersten Stockes und das Betreten der Treppe mit 14 Tagen Arrest bestraft werden wurde. Im Speisesaal waren Manner und Frauen streng ge- schieden, und Gatte und Gattin durften nicht zusammen spre- chen. So schnell wurde aufgetragen, daB man das Gebotene in sich hineinwerfen und in den „Kerker“ zuriickkehren muBte. Die henkellosen Kaffeetassen — fur Chinesinnen und Japa- nerinnen bestimmt — brannten die Finger. So viel Wanzen habe ich selten in einer Nacht genossen wie in jener auf der Engelinsel. Beryl weinte fortwahrend, und ihr Wasserlein lief trotz eines Tuchschutzwalls zu mir her- iiber. Die Frau aus Guatemala mit ihrer Dienerin schnarchte wie ein WalroB und die Costaricarin stohnte „Ave Maria purisima". Gott zuerst, das war wirklich eine Hollenreise! Am nachsten Morgen stellte ich meine Erika (die ich er- obert hatte) auf eins der untersten Betten und schrieb stehend meine Reiseberichte heim. Ich war die Einzige, die englisch sprach, auBer der Negerin, die zu erschreckt war, um einen Laut auszustoBen, und daher hieB es immer: „Eine Ihrer Gruppe hat ... die Treppe erreicht, den Deckel des Hauses der Erleichterung offen gelassen, das Was ser ausgeschiittet" oder eine andere Unart begangen. Zu „meinei Gruppe gehorten Chinesinnen, Frauen aus Mittelamerika, dunkle Mischlinge, die ich kaum je angesprochen hatte. Unter all diesen war ich die einzige weiBe Frau. Zum SchluB begannen wir aber alle, gemeinsam dariiber zu lachen; denn wie kam ich endlich dazu, andachtig dabei stehen zu miissen, wenn eine „meiner Gruppe" die Kloake putzte oder nach ihrem Kinde den Boden aufwischte? Der ganze Sonntag verging uns im Gefangnis, denn so schon die Anlagen waren und so blau der Himmel, wir durften uns nicht aus dem dumpfen Kerkerraum riihren und wurden selbst, polizeilich bewacht wie Verbrecher, in den Speisesaal zur halblauen Fiitterung gefiihrt. Noch eine Wanzennacht mit Beryl als Springbrunnen und die gutherzige Negerin zur Rassendurchduftung (alle Neger und auch die Indianer haben einen betont starken Rassengeruch), noch einen Morgen mit 158 dem Gerausch der Asiaten in unseren Ohren, die sich vor der Tiire die Zahne putzten und die Zunge reinschabten, dann iiihrte man uns den Hiigel hinauf zum Arzt, der mir bei der Augenuntersuchung fast die Wimpern ausriB, mir in Mund, Hals und beinahe in den Magen hinabschaute, mich Knie- und Armbewegungen machen lieB und mich endlich noch zum Frauen- arzt schickte. Die Frau Doktor begniigte sich zu ihrem und meinem Heile mit einem Blick auf mein Gesicht. Ich dachte schon, es wiirde auf eine Jungfrauenuntersuchung ankommen, da diese Menschabart in den Vereinigten Staaten meiner spa- teren Erfahrung nach zu den vorgeschichtlichen Erscheinungen gehoren diirfte, und endlich durfte ich als Fiihrerin meiner Gruppe zu weiterer Untersuchung zum nachsten Behordenteil gehen. Hier muBten wir beweisen, daB wir lesen und schrei- ben konnten. Vor mir las die Costaricarin und die reiche Pflanzerin aus Guatemala, die es bitter beklagte, die Dritte ge- wahlt zu haben, und dann kam ich, bereit, mit einem sanften Lacheln zu beteuern, weder in Wort noch in Schrift einer Sprache fahig zu sein. Der Beamte studierte indessen meinen PaB, in dem Journalistin stand, und stellte keinerlei Frage. Auch war ich ja der ungliickliche Dolmetsch meiner Gruppe ge- wesen, von der ich nun Abschied nahm. Die Mutter der nassen Beryl, die mir dankbar war, empfahl mir eine Negerbekannte, und ungeachtet etwaiger Farb- und Rassenvorurteile anderer hegab ich mich in ihrem Schlepptau nach Divesadero Road, wo ich ein kleines Zimmerchen inne hatte — das angenehmste, das ich seit Jahren bewohnt, weil es so unbedingt still war und ich auBerordentlich lautempfindlich bin. Am goldenen Tor. San Francisco ist sehr schon. Die StraBen erinnern an London, auch die Aufschriften und das reiche Anzeigenwesen, doch fehlt der Stadt — bis auf das beruchtigte Chinesenviertel — der Reiz des Unerwarteten. Man weiB, wo eine StraBe be- ginnen und wo sie enden wird, auch wenn sie drei Meilen lang sein sollte; man ahnt nach dem ersten Haus, wie alle weiteren Hauser dieser Reihe innen und auch drauBen sein werden; man stofit nie auf etwas Altes, Sonderformiges, Ungewohntes. Das macht die Stadt ein wenig langweilig. Am herrlichsten ist die offentliche Biicherei, in der man Bucher in den verschiedensten Sprachen gegen die Unterschrift eines Hausbesitzers oder den Erlag von — glaube ich — zehn Dollars ausgeliehen erhalten kann, und wo angenehme Tische zu tiefem Studium im groBen Saal einladen. Sonst findet man die iiblichen Vorteile der GroBstadt, doch weniger Musik als bei uns und keine Oper. 159 Die Geschafte hatten fiir mich einen gewissen Reiz der Neuheit. Das beste bleiben die Delikatessenhandlungen, in denen man nicht nur die iiblichen Wurst- und Brotsachen, son- dern auch allerlei fertige Salate (Fisch-, Bohnen-, Erdapfel-, Kraut- und gemischten Salat), Mayonnaise, heiBe Wiirstchen, gekochten Hummer und andere Leckerbissen erhalt, so daB man nie zu kochen braucht und dennoch gut speisen kann. Ich lebte von krachenden Rollchen und etwas Leberwurst, kochte Tee da- zu und aB Pfirsiche in Mengen. Selten nahm ich drei Mahl- zeiten zu mir. Infolge groBer Gelenkschmerzen durch die plotz- liche Abkiihlung (San Francisco schien mir im August ein Eis- keller nach den Tropen) arbeitete und studierte ich im Bett unter vier Decken, aB mein Friihstiick erst nach elf Uhr und machte daher das Mittagsmahl daraus, schrieb zwei oder drei Stunden auf der Erika, begab mich auf Studienwanderungen durch die Stadt oder nach dem Park des Goldenen Tores, malte, wenn noch Zeit blieb, tauschte Bucher in der Biicherei ein, kaufte wieder Rollchen und etwas Wurstsachen und kroch da- mit — Biichern, Wurst, Brot und so weiter — ins Bett, um unter den vier Decken schmerzlos die leiblichen und die geisti- gen Geniisse bis gegen Mitternacht zu genieBen. Das Schonste von San Francisco ist unzweifelhaft der Golden Gate Park. Er liegt in erreichbarer Nahe von Divisadero Road (erreichbar ist fur mich, was innerhalb einer halben Geh- stunde liegt) und ist wie ein Wald in tiefer Einsamkeit. Man ahnt nicht die Nahe einer GroBstadt. Hohe Eukalypten mit ihren mattgraugriinen, steifen, sichelformigen Blattern bilden einen Schutzwall gegen die StraBe und gleichzeitig einen ausgedehn- ten Hain. Die warme Sonne entlockt ihnen den harzigen Ge- ruch, der so wohltuend wirkt, und das Mondlicht verwandelt sie alle in schimmernde Halbmonde. AuBer ihnen findet man Araukarien (Nadelbaume mit auf- fallend dicken zweigartigen Nadeln), subtropische Palmenarten, Zierstraucher aller Gattungen und Lander und Blumenbeete, die in alien Farben aus dem griinen Rasen gliihen. WeiBe Sau- len spiegeln sich unvermittelt in kleinen, von buntlaubigen Baumen umstellten Weihern, und iiberall, wo man auch geht, laufen einem zahm die grauen Eichhornchen Amerikas entgegen, klettern einem selbst auf den Arm und betteln in entziickender Weise um Niisse und Leckerbissen. Auch viele Vogel sind zahm, und unterzieht man sich der Miihe, den Park zu durch- queren, so erreicht man am unruhigen felsigen Strand die Klip- pen, auf denen die Seehunde tollen. Sie sind gar nicht scheu und machen die gelungensten Purzelbaume ins Wasser. In San Francisco hatte ich zwei unerwartete Freuden: Man hatte mir zugeredet, doch auch fiir obersteirische Blatter 160 zu schreiben, und mir fiinf Adressen geschickt. Ein Beitrag er- schien viel spater im Obersteirer Blatt, drei blieben unbeant- wortet und endeten vermutlich im Papierkorb, und der fiinfte und — wie ich glaubte — schlechteste Beitrag (jedenfalls war mir der Panamakanal schon etwas iiber geworden als Thema) erhielt eine sehr nette Ant wort vom Schriftleiter der Knittel- felder Zeitung, der um fremde Marken und weitere Beitrage bat und natiirlich „Lieber Herr Karlin!" schrieb. Allmahlich ent- spann sich zwischen uns eine bis auf den heutigen Tag be- stehende Freundschaft. Die zweite Freude loste sich unmittelbarer fruchtbringend aus. Herr Dr. Perz, der damalige Schriftleiter der Cillier Zei¬ tung, hatte seine Schwester in San Francisco verheiratet, und diese hatte den Wunsch geauBert, mich, falls ich wider Erwar- ten nordwarts kommen sollte, kennen zu lernen. Nun besuchte ich sie und verbrachte viele sehr schone Stunden in ihrem Hause, zumeist in ihrer Kiiche, fur die ich groBe Vorliebe ent- wickelte. Frau Rom sagte mir eines Tages: „San Francisco ist wun- derschon! Hier ist es nie heiB!“ „Das merke ich zu meinem Schmerze," erwiderte ich zahne- *“ a PP ernc b »mir ist noch nie warm geworden." Meine erste Handlung war es auch gewesen, mir ein Wolljackchen und warme Handschuhe zu kaufen, und wenn ich an einem wind- stillen Tage an der Sonnenseite eines Hauses dahinlief, konnte ich mir sogar vorstellen, daB es nicht unbedingt kalt war. Aber warm???! Los Altos. Ich kam durch Frau Rom mit sehr vielen Oesterreichern und Deutschen zusammen und wurde im Kraftwagen bis nach Los Altos gefiihrt. Diese Vorstadt liegt wohl dreiBig Meilen Oder mehr auBerhalb von San Francisco im Hiigelland und die Fahrt dahin unter Eukalypten und sich verfarbenden Baumen war wunderschon. Bald ist man unter Obstbaumen, unter denen die Pflaumen als blauer Teppich liegen (Pfirsiche werden den Schweinen vorgeworfen). Ueber all dem ist ein leuchtend blauer Himmel, und die Berge sind mattrotbraun, das einzig Tote im Bilde. Es ist eine Eigenart der Vereinigten Staaten, daB man iiberall im Freien ein Zelt aufschlagen und wohnen kann. Wo ein freies Grundstiick ist, darf man eine Weile lang wohnen, und daher ist eine Sommerfrische mit Kessel und wandernden Wan- den sehr billig und interessant, wenn auch nicht iibermaBig be- haglich. Wir picknickten ebenfalls auf solch einem baumiiber- U 161 saten Rasen und genossen die Schonheit ringsumher, bevor wir bis nach Los Altos fuhren und auch da reichlich bewirtet wurden. Das war eine typische Farm mit Mandel-, Pfirsich-, Pflaumen-, Birn- und NuBbaumen. Die bliihenden Baume waren vorwiegend Akazienarten und Pfefferstraucher. Von Los Altos aus kann man Mount Hamilton besteigen und die beriihmte Sternwarte besuchen, doch gerade im August sind die Klapperschlangen blind, weil sie ihre Haut wechseln und infolgedessen nicht imstande, ihr iibliches Warnungsklap- pern horen zu lassen, weshalb Bisse zu befiirchten sind. Wir unterlieBen aus diesem Grunde den Aufstieg. Wunderbar sind die in einiger Entfernung hinter Berker- ley schon anzutreffenden Rothollbaume. Sie sind teilweise so ungeheuer, daB ein Wagen mit Pferden durch ein Loch im Stamm unweit der Wurzel durchfahren kann, und vierzig Man¬ ner umspannen kaum die groBten; doch schoner und wunder- samer als das seltsame Schimmern ihrer rotlichen Rinde im Sonnenlicht und als der kerzengerade Stamm, ist ihr hohes Alter. Man vermutet, daB sie schon zu Christi Geburt groBe Baume gewesen sein miissen und daB manche vielleicht das Alter der Pyramiden haben. Was also hat solch ein Baum ge- sehen! Wie oft mag die Erde um San Francisco in Spriingen aufgeklaflt sein, um sich viel spater wieder zu schlieBen? Welche Veranderungen hat das Meer, die Bucht hier erfahren? Was mag wohl der Wind, der bald von Alaska herabblast, bald von Japan und China hersausend endlich diesen Widcrstand findet, ihnen zugefliistert haben? Was wissen ihre Kronen vom Sein der Welt? Von den Wolkenkratzern, den betrunkenen Amerikanern und von Dingen, die jedermann aus tausend Berichten weiB, will ich gar nicht sprechen. Erwahnen mochte ich dagegen, daB eine sehr schone Sitte es der anstandigen Frau gestattet, sich — wenn sie allein nachts gehen muB — in die Flagge der Streifen und Sterne zu hiillen. Beleidigt oder belastigt sie nun ein Mann, so beschimpft er die eigene Landesfahne und wird sehr streng bestraft. Fiir Ueberfall — auch wenn die Frau keine anstandige sein sollte — ist die Strafe bei erwiesener Gewalt fiinfzehn Jahre schwerer Kerker. Vergreift sich ein Neger, so wird er gelyncht. Man wandert also ziemlich sorglos durch San Fran¬ cisco. Im kalten Klima — und der Wind kann einem das Mark gerinnen machen — gehen die Mannszweibeine (zum Unterschied von richtigen Mannern so genannt) nicht so leicht aus den Fugen. Ganz schlimm ist der Nebel. Manchmal verlieB ich um zehn Uhr die Biicherei und land das StraBenpflaster vollig naB. 162 „0 Himmel, es regnet!" rief ich da wohl entsetzt, mit den Gedanken mitleidig bei meinen weiBen Schuhen mit absatzlosen Gummisohlen, von denen ich ebenso wenig wie von meiner Erika zu trennen war. „Woher denn, MiB“, meinte da irgend ein San Francis- caner wegwerfend, „das ist ja nur Nebel!“ Immerhin Luftfeuchtigkeit genug, einen Mantel zu durch- dringen und das Gefiihl nasser Kalte zu erzeugen. Auf dem „Empire State“. Zwei Monate verweilte ich in San Francisco, lernte Land und Leute kennen und durfte mich in der prachtvollen Biiche- rei auf meine weitere Fahrt vorbereiten; denn nur nach ein- gehender Vorbereitung hat ein beschrankter Aufenthalt in einem Lande Wert, sonst sieht man einzig das Oberflachliche und geht ewig irre. Ich wahlte endlich zum Ziel die Sandwichinseln, heute Hawaii, von wo aus ich entweder nach dem eigentlichen Siid- seeinselreich abschwenken oder den Weg nach Japan ein- schlagen konnte. Es war der erste feierliche Dampferabschied. Von Genua war ich bei fallendem Regen im Dunkeln weggefahren, von Peru aus hatte ich nur Kustendampfer beniitzL doch der Em¬ pire State kreuzte die ungeheure Flache des Stillen Ozeans- und daher spielte die Musik feierliche Weisen, wahrend die Taue gelost wurden. Papierschlangen flogen durch die Luft. Menschen weinten oder winkten, und wieder fuhr ich mutter- seelenallein in die Feme. Und noch einmal im Zwischendeck. Zu Land bin ich — vermutlich weil ich irgendwo auf Erden Haus und Weingarten habe — der Kapitalist, der auf das Volk herabsieht, nicht in Hochmut, bewahre, aber doch mit dem un- zweifelhaften Empfinden einer Grenze. Ich schatze geputzte Fin- gerniigel und Nasen, ich liebe gute Umgangsformen, und ein un- geschliffenes Wesen, auch wenn von Tugenden begleitet, hat bei mir nie sonderlich viel Anklang; auf Deck dagegen bin ich nicht nur Sozialist, sondern ein erbitterter Kommunist und geheimer Umstiirzler. Warum behandelt man den, der nicht mehr nls fiinfzig Dollars fiir eine kiirzere Fahrt bezahlen kann, wie ein minderwertiges Tier und den, der hundertfiinfzig aus seinem JeberfluB zahlt, wie einen gottbegnadeten Fiirsten? Einfachere Lager, einfachere Kost, ungiinstigere Schiffsteile zur Verfii- gung __ a jj (j ag j s ^ selbstverstandlich, aber dieses wegwerfende Dehandeln der Zwischendeckreisenden ist etwas, das in unse- fem Volkszeitalter verboten werden miiBte. Die Amerikaner, If 163 die immer von ihrer gepriesenen Volksherrschaft reden, kennen iiberhaupt nur Erste und Dritte. In der Dritten fahrt „Tier“, in der Ersten die Spitzen der Nation. Auf diesen Dampfern ist in der Ersten auch die Farblinie gezogen. Chinesen, selbst wenn reich, Japaner Oder andere „Farbige“ wie man da sagt, diirfen nicht aufgenommen wer- den. Sie fahren in der Dritten unter der menschlichen AusschuB- ware. Aus diesem Grunde saB auch ich mit einer Russin, die Amerikanerin geworden war und einen Chinesen geheiratet hatte, unten im grausen Zwischendeck, obschon sie das Geld zu besserer Ueberfahrt besaB. AuBer uns beiden gab es nur Japanerinnen, Chinesinnen, einige Portugiesinnen (ebenfalls braun und nicht weiB) eine Philippinoschonheit wie eine einge- dorrte WalnuB und irgend ein Wesen, aus mehreren Rassen zu- sammengegossen. Die Asiatinnen waren natiirlich alle verhei- ratet, und die Manner kamen zu alien Stunden des Tages und der Nacht, sprachen laut, aBen in der Kabine, kleideten sich um. Ich hatte, wie immer, um ein Oberbett gebeten und sab auf all das Treiben mit meiner Erika hinab. So unsicher waren die Verhaltnisse, daB ich die Schuhe anbehalten muBte, um sie fiber Nacht nicht zu verlieren, und mein Koffer, mein einziger Koffer, war unten im Schiffsraum. Aus Versehen hatte man ihn mir weggenommen und dort hineingeworfen. In Honolulu konnte man ihn nicht finden, beteuerte, ihn auf den Damm ge- stellt zu haben, und zahlte mir fur den Verlust trotz all meines Zorns keinerlei Entschadigung. Der Koffer fuhr unterdessen nach Singapore und kehrte nach drei Monaten ehrlos und etwas starker verbogen, samt Inhalt zu mir zuriick. Darin befand sich das von mir selbst zusammengestellte und hand- geschriebene Worterbuch in zehn Sprachen und der peruanische Gotze, so daB meine Freude beim Wiedersehen ungeteilt war. Das Geschrei der Kinder war ununterbrochen im Schlaf- raum, und orientalische Frauen — besonders Japanerinnen — schlagen die Kleinen nie. Sie klopfen ihnen beruhigend auf den Riicken und damit endet alles. Hat das Kind sich ausgebriillt, so ist es von selbst wieder still. Am schrecklichsten empfand ich das Essen. Wir saBen an langen ungedeckten Tischen, und die Speisen wurden mitten daraufgestellt. Nun muBte man zusehen, daB man etwas er- haschte, denn die Portugiesen waren wie Wilde. Sie iiberluden ihre Teller in der Angst, nicht genug zu erhalten, und die besten Brocken waren weg, ehe man an den Topf herankam. Oft lieBen sie Speise zuriick, aber immer auf ihren Tellern... Auch war die Kost so geschmacklos, daB wir oft den Chi¬ nesen Reis abbettelten. 164 Der Steward und Obersteward waren sehr nett, und auch die Offiziere — bei den wenigen Begegnungen — zuvorkommend. Es sprach sich herum, daB eine Journalistin in der Dritten fuhr, und bald brachten mir die Damen Korbe von schonera Obst (Abschiedsgaben aus der Heimat) zur Verteilung unter die armen Asiatinnen, und ich hatte auch selbst Obst genug. Mich reizten am meisten die Korbchen selbst, die ich aber, um mich nicht zu belasten, schlieBlich dennoch wegschenkte. Von da ab stiegen Mannchen und Weibchen au! das niedere Deck herab, und zuerst hatte ich groBe Freude daran. Als aber eine alte Dame mich wie einen vorzeitlichen Dinosaurus nach alien Sei- ten drehte, mich nach dem Alter meiner Eltern fragte und meine Koplweite (die angeblich eine besondere war) zu messen begann, wurde meine Begeisterung zu Wasser. Ich schien mir wie eine Leiche auf dem Aufschneidetisch. So nett die Gaben waren, so empland ich die Demiitigungen bitter, da ich nicht das Gefiihl hegen konnte, die Gaben von Gleichgestellten zu erhalten. Was immer ich zu Lande war — zu Wasser war ich nun ein Stuck der menschlichen AusschuBware und das iibergroBe Interesse, das meinem vom Zahn der Zeit und des Schicksals stark ver- bissenen Hute gezollt wurde, trieb mir die Gansehaut iiber den Riicken. Nichts empfand ich auf meiner weiten Reise so furcht- bar, wie die Blicke der Ersten auf mich unten im Zwischen- deck. Da hinauf gehorte ich meiner heimatlichen Stellung, meiner Bildung und meinen Wiinschen nach, und hier unten, in Schmutz, Unwissenheit und Unschliff muflte ich mich her- umtreiben, einzig weil wir ehemaligen Oesterreicher ein ver- armtes Volk geworden sind . . . Giite aber herrscht unter dem Wrack des Zwischendecks, und man lernt das Leben tausendmal besser kennen. Was er- zahlten mir alle die, die eine westliche Sprache verstanden! Und beim Abschied driickte mir eine Chinesin mit geheimnis- voller Gebarde einen Brief in die Hand. Ich nickte, eilte vom Schiff und steckte das Papier in die Tasche. Spater, als ich das Schreiben aufgeben wollte, sah ich zu meinem Schrecken, daB keine Adresse daraufstand, und als ich es erbrach, um Naheres zu erfahren, fand ich fur mich einen Dollarschein! Selbst die Asiatin hatte ermessen, wie arm ich sein muBte, um als Europaerin im Zwischendeck zu reisen. Sie half als Frau der Frau .... Honolulu auf Oahu. Hilo mit dem wunderbaren Krater von Hale mau mau, dem ”. aus des ewigen Feuers“, der einen Teil von Kilauea ein- mmmt, ist die groBte der Hawaiischen Inseln; doch Honolulu auf der kleineren Insel Oahu ist der Haupthafen der Gruppe 165 und wird von alien Schiffen beriihrt, die von Osten nach Westen fahren. Es hat daher einen ausgedehnten Hafen, und man lindet da Menschen aus aller Herren Landern, die alle fiihlen, daB sie ihre Sitten und oft ihr Herz daheim im Mutter- lande gelassen. Aus diesem Grunde ist Honolulu nicht viel weniger siindig als das schone Panama, aber man verzeiht ihm die Siinde schwerer, weil es WeiBe sind, denen die Gruppe ge- hort, und nicht Mischlinge, und weil das Klima nicht so ver- heerend wie das Mittelamerikas ist. Die Inseln liegen an der Aequatorialgrenze und sind im Winter angenehm warm, im Sommer nicht unertraglich heiB (fiir Tropenbegriffe). Die Insel Oahu ist wild zerkliiftet, und man merkt es den Bergen an, daB hier das unterirdische Feuer erbarmungslos ge- wiitet, die scharfen Tropengiisse das Erdreich bearbeitet haben, denn alle Abhange sind rissig und stark gefurcht; die Spitzen sehen oft haarscharf aus, und das Felsgestein schimmert liber¬ al! aus dem hellen Griin. Es gibt nichts Schoneres als das enge, ansteigende Nuuanutal, wo der Weg von Guavabaumen (gelbe Friichte mit vielen roten Samen, schmackhaft, aber mit im An- fang unangenehmem Geruch) und den langnadeligen Kasuarina- baumen (Eisenholz) begrenzt ist, und das in einer Reihe steil- abfallender unheimlicher Felsen endet, iiber die hinab der sieg- reiche Kamehameha seine Feinde in den Tod auf den Klippen und in das Meer trieb. Wunderschon lichtgriin und glatt wir- ken die Wiesen, lieblich bliihen die groBen, hellfarbigen Tro- penblumen, goldgelb leuchten aus dem Gestrauch der Garten die Kelche des Alimanders und mit weichem Rieseln flieBen die Bache aus gekliiftetem Gestein. Japaner und Chinesen arbeiten in ihren Garten, und um den Pali, die obersten Felsen, wirbeln die feinen weiBen Nebel, in denen die Elfen hausen sollen. Lieblicher, weiter ist das Manoatal, in dem es fast immer regnet, wenn der Regen auch eher einem starken NebelreiBen gleicht und iiberraschend schone Regenbogen ihm folgen. Be- riihmt ist natiirlich der Strand unter dem Diamantenhaupt — der weite Strand von Waikiki (springendes Seewasser), wo die Leute baden und der beliebte Sport des Wellenreitens stattfindet, wo in den Berg eingebaut, alien verborgen, die Kanonen sind und wo man die Wasserbehalter mit den Tropen- fischen findet. Ich gerate nicht leicht in Entziicken, aber diese Fische sind mir immer als das Prachtvollste der Siidsee er- schienen. Ihre Formen sind so seltsam — sie gleichen Froschen der Vorzeit, breiten Bandera, flachen Tellern, Schmetterlingen, Nadelkissen und anderen undenkbaren Dingen, und dabei haben sie Farben, wie man sie nur im Kiinstlerrausch traumen kann: tiefgelb mit einem leuchtenden schwarzen Schatten, blau wie ein Sommerhimmel mit rosa Lichtem, lichtgriin wie ein war- 166 mer Lenzwald im Mai mit braunen Schatten und goldig wie zerflossenes Sonnenlicht. Manchmal haben sie das Auge auf dem Riicken, oft hervorstehend wie einen Knopf, zuzeiten wie eine Perle auf dem schwarzen Streifen um den Korper und immer schimmern sie im Wasser wie aus feinster Seide ge- macht. Man sieht den gefahrlichen Polypen mit seinen furcht- baren Fangarmen und die Meerspinne mit ihren unzahligen Beinen. Stundenlang konnte ich durch das graue Hauschen wandern und die Wunder der Tiefen bestaunen. Oahu ist die befestigtste Insel der Nordamerikaner, und sechzig- bis achtzigtausend Mann liegen auf der Ebene in Ba- racken und Zelten, um bereit zu sein, die Gruppe gegen die Japaner zu verteidigen. Im Grunde aber ahnt jeder Ameri- kaner, daB sie gegen eine feindliche Flotte nicht zu halten ist. Auch erhoht ein anderer Umstand das Interesse der beiden GroBmachte des Stillen Ozeans an diesen Inseln. Um Oahu hebt sich langsam der Meeresboden; warum, weiB man nicht genau, wahrscheinlich infolge von Sandverschiebungen und Druck von der BehringstraBe herab. Sicher ist, daB schon in fiinfzig Jahren ein Gebiet wie das heutige Kalifornien dazu- gewachsen sein wird, und die Amerikaner dadurch in uner- warteten Landbesitz kommen werden, was auch den Japanern nicht unwillkommen schiene. Ich wohnte in einem Holzbau in Circular Lane. Nicht immer konnte ich wohnen, wo ich wollte, mufite ich doch auf Billigkeit den ersten Wert legen. Die Aussicht ging auf die Punschschale (Punschbowl), — einen alten Krater unmittel- bar hinter Honolulu und seiner Form halber so genannt — und einige Garten. Immer war es grim um mich her, und ich bedurfte dessen in einer Art, wie ich das heute gar nicht genug beschreiben kann. Obschon ich mich scheinbar ganz von Peru erholt hatte, waren mir zwei Dinge geblieben: eine groBe Ver- bitterung und Gereiztheit, die in langen Weinkrampfen zu enden pflegten und die sich nicht iiberwinden lieBen, und ein seelisches und geistiges Unklarsein, das sich besonders im Ge- sprach kundtat. Ich konnte meine Gedanken nicht wie einst klar ausdriicken, auBer auf schriftlichem Wege, und ich erhielt meine geistige Vollkraft erst lange nach Japan zuriick . . . . Dies aber machte mich empfindlich und menschenscheu, und die Demiitigungen, die mir in Honolulu wurden, waren die schwersten der ganzen Reise, wenn sie auch — im milderen Licht der Vergangenheit, nicht so schaurig waren. Sie bezogen sich durchweg auf meine Kleider. »Mein Gott, warum pudern und schminken Sie sich nicht? Warum tragen Sie nicht modernere Kleider? Warum nicht oeidenstriimpfe?“, kurz, der Fragen war kein Ende. Einmal 167 sagte mir ein steinreicher Amerikaner, dessen Korrespondenz ich gern geleitet hatte: „Ich wiirde Sie sehr gern anstellen, wenn Sie wie eine Tausenddollarpuppe angezogen waren . . „Ich dachte, Sie brauchten jemand, der fiir Sie arbeiten kann!“ erwiderte ich kalt und verlieB das Amt. Ein anderes Mai sagte mir jemand: „Gut, ich stelle Sie an, doch jeden Sonntag miissen Sie mit mir hinausfahren, und da werden wir eine herrliche Zeit haben!“ Ich lehnte das Anerbieten ab. Nicht aus Priiderie, wie ich schon oft erwahnt habe. Ein Weib mag sich schenken — das ist ihr Eigenrecht. Man tauscht sich fiir hohere Werte aus. Sich aber mit Haut und Haar einem Vorgesetzten „auszu- leihen", ist mir auch zur Zeit groBten Hungers nicht in den Si nn gekommen. Eine Frau muB auf sich einen Preis setzen, ganz besonders, wenn sie Kiinstlerin ist. Ein Schwein wiihlt mit anderen Schweinen im Dreck, ein Adler paart sich meinet- wegen in den Liiften oder schwebt allein. Dem Schlamm iiber- laBt er, was in den Schlamm gehort. Dort lieB ich die Mann- zweibeine dieser Auflage. Das Blatt im Zaun. Indessen — trotz Mangel an Schminke und Puder, die mir immer eine widrige Tiinche gewesen, der ich fern geblieben bin, wie allem, was falsch ist oder unrichtige Vorstellungen erweckt, — und trotz meiner Kleider, die weder schon noch modern waren — fehlte es mir nicht an einer gewissen allge- meinen Anerkennung. Das kam so: Schon auf dem Empire State hatte man sehr liebenswiirdig von der Schiffahrtsgesellschaft aus den Schriftleiter des Star Bulletin auf mich aufmerksam gemacht, und zum ersten Mai in meinem Leben wurde ich „interviewt“. Schon in Panama hatte man liber mich berichtet, doch in gedrangter Form. Hier aber schrieb man eine lange Wurst iiber meine Reise, meine Erlebnisse und Plane und dadurch wuBte jeder in der weiBen Ansiedlung (in Honolulu gibt es, wie schon erwahnt, alle Rassen und Volker, und die Europaer sind im Verhaltnis ge- ring an der Zahl), wer ich war und was ich in Hawaii wollte. Eines Abends saB ich wie gewohnlich in der schonen luf- tigen Biicherei und studierte die Vorgeschichte der Inseln, als sich jemand von riickwarts fiber mich neigte und meinen Namen nannte. Ich sah auf und erkannte einen Bekannten aus Panama, der mir seine Adresse mit der Bitte gelassen hatte, iiber die Inseln als Aufenthalt fiir Pflanzer zu berichten. Da ich indessen noch keinerlei Erfahrung erworben hatte, war 168 keine Antwort abgegangen, und hier war er nun auf dem Wege nach dem Siidseeinselreich, um sich irgendwo niederzulassen. Ala er Honolulu erreicht hatte und einsam durch die StraBen ging, sah er in einem Zaun eine zusammengerollte Zeitung, die jemand weggeworfen hatte, und auf der ersten Seite, ihm ins Gesicht starrend, war mein Name! Nun wuBte er, daB ich an zwei Orten friiher oder spater auftauchen wiirde: am Postamt und in einer Biicherei. So ging er zuerst in die Biicherei, und am ersten Tisch — noch mit dem Hut aus Panama — saB ich. Er blieb mehrere Monate in Honolulu, und da er nach Tahiti wollte, unterrichtete ich ihn in freien Augenblicken in franzosischer Sprache. Geld dafiir nahm ich keins, denn wir waren im Augenblick beide arm, doch kaufte er mir bei einer erfahrenen Japanerin zuzeiten eine Apfeltorte, die ich mit Freuden verschlang und die — warm genossen — auch ver- daut wurde. In kaltem Zustand war sie schon gefahrlicher, doch besaB ich damals noch eine Magenwand wie die Haut eines Nashorns und iiberlebte viele solche Torten. Die Zuckermiihle. Weit fort von Honolulu wagte ich mich in der ersten Zeit nie, denn ich war zu sehr verschreckt geblieben, aber mit dem alten Siidsee-Ansiedler ging ich gern in die Schluchten, und eines Tages iiberholte uns ein Kraftwagen auf der StraBe nach Eewa. Der Herr rief uns an, erklarte, er kenne mich (gesegne- ter Star Bulletin!) und lud uns beide ein, mit ihm zu fahren. Es war der Schulinspektor, und ich hatte dadurch Gelegenheit, viele Schulen zu besuchen, die Unterrichtsart Amerikas in fremder Ansiedlung kennen zu lernen und mich iiber all die Kinder zu freuen, die gelb, braun oder bleichorange auf den Banken saBen. Einzelne Kinder waren nicht nur sehr aufge- weckt, sondern auch lieb, und als ich ihnen von unserem Land erzahlte — den Schnee vor alien Dingen beschreibend, von dem sie keine Ahnung hatten — sprachen mich viele harmlos an und forschten mich iiber Europa aus. Hierauf fiihrte uns der Herr in die angrenzende Zucker- miihle; denn Zucker ist neben Ananas und Bananen das Haupt- erzeugnis von Hawaii. Auf den Feldern arbeiten Portugiesen und in der Fabrik Filipinos, zuzeiten auch Chinesen. Man zieht natiirlich eigene Staatsangehorige vor und vermeidet das Anstellen von Japanern, die sehr tuchtige Arbeiter, doch zu sehr mit Augen und Ohren versehen sind, die alles horen, alles seheij und die es dann ermoglichen, daB die Japaner den WeiBen alles nachmachen. . Das Zuckerrohr ist sehr schwer zu bearbeiten. Es erfordert nchtiges Anpflanzen und Beobachten, geniigend Regen bis 169 nahe zur Reife und dann Diirre oder wenigstens starke, un- unterbrochene Sonne, dann wird das Rohr suB. Es ist sehr hart und kann nur einzeln mit dem Messer geschnitten wer¬ den; es wiegt viel und ist so hart, daB man es miihselig zum Wagen tragt, und dennoch konnen die Wagen nicht naher in das Feld hinein; es muB, nachdem es geschnitten wurde, mog- lichst schnell gemahlen werden, wenn sich der Zuckergehalt nicht erheblich vermindern soli, und all das eriordert geschickte und zahlreiche Hande zur richtigen Zeit. In der Fabrik — ich glaube der groBten ihrer Art —, ist alles so gebaut, daB weder Stoff noch Zeit verloren gehen. Die Wagen fahren in die hohe Halle hinein, die in der Mitte eine breite und tiefe Rinne hat, und in die man mit Hilfe von einer Art Eisenrechen das Zuckerrohr vom Wagen wirlt. Dann bewegt sich diese Rinne aufwarts, wo im ersten Stock die Ar- beiter die Masse erwarten und sie schnell in die Miihlen werfen, von wo aus der Salt in riesige Fasser, der Braunzucker in breite Kiibel und der Rest zur Rumbereitung abgesondert wird. Der Braunzucker wird hier nicht verfeinert, sondern wird nach Amerika geschickt, und Rum darf heute nicht mehr ge- macht werden. Daher verwendet man den Saft als Sirup und fiillt ihn in Biichsen. Was an reiner Faserung iibrig bleibt, das geht in die Heizraume und speist das Feuer, so daB Brenn- material gespart und alles verwertet wird_ Die Arbeiter bekommen einen Dollar taglich und freie Wohnung in kleinen Holzhiitten. Uns scheint ein Dollar nun allerdings sehr viel Geld, aber sein Kaufwert ist in Hawaii sehr verringert. Ein Laib Brot (kleiner als unsere Zwanzig- groschenweckchen) kostet zehn Cents, fiinf Bananen zehn Cents, ein Liter Milch zwanzig Cents, ein Ei 5 Cents usw. Bei Euro- paern kommt hinzu, daB sie gewisse Rassenpflichten haben, sich besser kleiden, sich nur in besseren Gasthofen zeigen miissen, ein Umstand, der zu peinlicher, versteckter Entbeh- rung fiihrt. Ich ging immer durch die StraBen, als ob ich aus dem besten Gasthof getreten sei, aber mein Magen knurrte in einer wahren Jeremiade, denn zum Friihstiick gab es Tee und Brot und zum Nachmittagsmahl (Abendbrot und Mittagstisch) Brot mit Tee. Vor dem Schlafengehen einen Apfel oder eine Banane, und wenn es gut ging, eine der genannten Apfeltorten, die den Magen mit genug Ballast beschwerten, um das Gefiihl von Sattigung hervorzurufen. Man fiihlte sich damit wie ein Schiff vor dem Kentern. Spater, als meine Krafte nachzugeben drohten, kaufte ich beim Chinesen Schweinefleisch und Bohnen in einer Fiinfzehncentbuchse. Das Schweinefleisch war un- sichtbar bis auf ein Stiicklein Fett von NuBgroBe ganz oben, doch die Bohnen waren gut. Ich trank ungezuckerten Tee da- 170 zu, studierte, malte, schrieb und wanderte uber zwei Stunden taglich in und um Honolulu, ohne je in Klagen auszubrechen Oder jemand zu belastigen. Ich bezahlte mein Zimmer piinkt- lich, auch wenn ich hungrig blieb, und lieB nie den Gedanken fallen, die Weltumseglung zu beenden, — aber mit der Lust und dem Mut, die ich aui dem „Bologna“ gehabt, war es zu Ende. Der Ueberfall. Allmahlich verdiente ich etwas, selbst in dieser Stadt, dem furchtbarsten Orte furs Verdienen. Gegen Weihnachten ver- kaufte ich allerlei Handzeichnungen, und spater iibersetzte ich fiir die Zuckerversuchsanstalt ( Sugar Experiment Station), wo man sehr gut bezahlte. Es waren meist Arbeiten aus dem Spanischen ins Englische, und fachtechnisch. So gern ich sie hatte, so selten waren sie indessen. Immerhin halfen sie mir iiber wirkliche Not hinweg. Es blieb mir unmoglich, die Weiter- reise zu ersparen, es gestattete mir aber dieses Uebersetzen wenigstens, ohne Sorge um die nachste Zukunft zu leben, und Einladungen da und dort lieBen mich die taglichen „Bohnen“ mit Schweinefleischgeruch ertragen. Da aber kam das Ungliick. Das Haus, in dem ich mein Heim hatte, war von Misch- lingen bewohnt. Ich versuchte, mich ihnen fernzuhalten. Man weiB namlich da oft nicht, wie man wieder frei wird, denn so gutmiitig diese Menschenkreuzungen sind, so gehen sie gern zu einer uns Europaern unangenehmen Vertraulichkeit iiber. Meine Tiir schloB schlecht und lieB sich hochstens von innen gut verriegeln. Der Umstand, daB der Bau aus Holz war und die Laden unversperrt blieben, trug zur Unsicherheit bei, und daher war es kein Wunder, daB ich — die ich nicht genug Geld besaB, um eine Bank in Anspruch zu nehmen — mein ganzes Vermogen (allzu klein!) in der Handtasche mit herumtrug. In den heiBen Tropen etwas unter der Kleidung zu tragen, ist unmoglich. Ich war mit zwei bekannten Damen nach Kaimuki in die Sternwarte gegangen. Wir hatten den Mond und einige Pla- neten bestaunt und waren nach neun Uhr wieder in Honolulu angekommen. Als ich von meinen Begleiterinnen Abschied ge- nommen hatte, ging ich die breite, hell erleuchtete Beretania Street entlang und bemerkte unter einer Laterne einen dunklen hochgewachsenen Mann — scheinbar einen Filipino. Ich ruhig an ihm voriiber. Einige Sekunden spater vernahm ich mir folgende Schritte und eilte schneller dahin. Alles, was ich befiirchtete, war, wieder belastigt zu werden, denn in dieser Hinsicht war das „Paradies des Stillen Ozeans“, wie es die 171 Amerikaner nannten, fast so schlimm wie Peru. Die Belasti- gungen arteten zuzeiten bis zur Gemeinheit aus und machten mich jeden Mann, der sich mir naherte, gut, schlecht oder gleich- giiltig, fiirchten. Ich bin klein, und es ist nicht sonderlich an- genehm, plotzlich etwas wie eine Tigerpranke auf dem Ober- arm zu verspiiren und eine Tigerstimme von Leidenschaft und deren Freuden (von mir sehr angezweifelt) ins Ohr gebrummt zu erhalten, um so weniger, wenn man einige Tage lang die Spuren der Pranke blau auf dem Arm und die Spuren der Worte schwarz auf dem Herzen tragt. Die StraBe war weder einsam noch stark besucht, obschon es eine der HauptstraBen war. Kraftwagen sausten in Menge an mir voriiber, und einzelne FuBganger gingen in geringer Entfernung in ein Haus. Da bemerkte ich die Schritte des Un- bekannten dicht hinter mir, wich triebmaBig scharf zur Seite, fiihlte einen stechenden Schmerz im Riicken, einen weiteren in der linken Hand und lag flach auf der Nase auf dem harten Pflaster. In der verletzten Hand hielt ich den durchrissenen Riemen meiner ledernen Handtasche. Obschon ich den Riicken wund und die Vorderansicht meines Seins noch wunder hatte, war ich blitzschnell auf den Beinen; denn hier lief jemand sozusagen mit meiner Person- lichkeit davon. Selbst an das Geld dachte ich nicht in erster Linie: in der Tasche war mein PaB, und ohne PaB war ich vollig machtlos in fremdem Lande. Ich flog, so schnell meine FiiBe mich trugen, laut schreiend hinter dem Rauber her. Nicht ein Kraftwagen hielt, wieviel bittende Zeichen ich auch machte; niemand kam auf meine Notrufe herbei, bis ich einen Japaner traf, dieser lief, da er frischer war, nach ein paar gekeuchten Worten von mir hinter dem Manne her; ein Amerikaner gesellte sich, hundert Schritte weiter unten, uns zu. Der Mann bog in eine dunkle Seitengasse; wir nach. Der Amerikaner als der frischeste, ereichte ihn im Augenblick, als der Dieb in einen kohlschwarzen Hohlweg abschwenkte, lief im Anprall an ihm voriiber und verlor einige kostbare Sekun- den im Wenden und Einbiegen; der Japaner, der dem Manne ebenfalls recht nahe geriickt war, fiel in ein nicht wahrgenom- menes Loch vor dem Hohlweg, und ich traf mit heraushangen- der Zunge atemlos ein und konnte keinen Schritt mehr machen. So standen wir vor der finsteren Hohlgasse und muBten bei aller Tragik zum SchluB lachen. Wie sehr wir auch suchten, der Mann war uns entgangen. Die Polizei, die wir sofort anklingelten, erschien dreiviertel Stunden spater und richtete nichts aus. Arm wie eine Kirchen- maus und ohne jedwede Urkunde schlich ich heim. 172 Seidenstriimpfe. Das ist die Odyssee einer Frau, einer jungen und kleinen, deshalb breche ich die Geschichte des Raubes nicht hier ab. Meine Geschlechtsgenossinnen sollen wissen, mit welchen Schwierigkeiten man zu kampfen hat, wenn man im fernen Ausland mit geringen Mitteln (vor dem Geld verbeugen sich alle), nur der Kunst leben wollend, allein reist. Friih am Morgen begab ich mich zum Star Bulletin — denn war ich nicht gewissermafien der Findling des Blattes und da- her verpflichtet, interessante Neuigkeiten dem „Stern“ zu- kommen zu lassen? — und erzahlte mein Abenteuer. In der Abendausgabe erschien denn auch eine lange Besprechung an erster Stelle und es wurde dem Diebe vorgeschlagen, wenig- stens den PaB in einen Umschlag zu tun und an mich zuriick- zusenden. Einige wertvolle Briefe, ein schwarzer Achat, all mein Geld und all meine Urkunden waren verloren .... Wenn ich gedacht hatte, daB der Mann doch nicht lesen konnte oder wollte und daB meine Bekannten, die leider lesen konnten und wollten, handeln wiirden, wie sie es taten, so hatte ich dem Star Bulletin wahrlich nicht mein Abenteuer mitge- teilt. Die Tranen, die ich iiber den Verlust vergoB, waren nichts, verglichen mit den Tranen und dem Aerger, den ich in der nachsten Woche zu ertragen hatte. Der Fernsprecher, der in Amerika in jedem Hause zu finden ist, klingelte den ganzen Tag. Und wenn ich das iibliche „Hallo“ hineinrief, so kam es iiber den Draht schon zuriick: „Aber ich begreife nicht! Wie kann man sein ganzes Geld bei sich tragen! Jeder verniinftige Mensch...!“ und so weiter, bis ich den Strom unterbrach und abklingelte. Nach der Tat sind Menschen immer sehr klug. Mrs. M., die stets sehr gut gegen mich gewesen, berief mich sofort zu sich. Ich lief spornstreichs zu ihr. Als ich die Treppe emporstieg, sah ich wohl kleiner und wackeliger aus als gewohnlich, denn sie schlug die Hande zusammen und sagte: „Nein, so geht es nicht weiter! Sie miissen sich einen Ge- liebten nehmen, um beschiitzt zu sein!“ Mit meinen chronisch blau und grim gequetschten Armen, die mir einen angenehmen Vorgeschmack von dem gaben, was „Liebe“ bei einem Mann bedeuten muBte, wenn er das Recht besaB, einen am ganzen Leibe blau und grim zu quetschen, kann man sich denken, mit welcher Begeisterung ich den Vor- schlag entgegennahm. Ich habe es immer als Zeichen groBer Selbstbeherrschung von mir angesehen, dafi ich mich nur um die eigene Achse drehte und im Weggehen bemerkte: 173 „Von zwei Uebeln wahle ich, so oft als tunlich, das kleinere!“ Am Abend klingelte es wieder an und Mrs. M. ent- schuldigte sich. „Sie haben keine Ahnung, wie schwach und klein Sie aus- schauen!“ rief sie reumiitig iiber den Draht. War das nicht eben der erste Grund, mich vor dem Griin- undblauzustand bewahren zu wollen? Ich verstehe vermutlich die Manner in diesem Punkt nicht, doch sicher noch weit we- niger die Frauen .... Die Ratschlage waren erbitternd — eingestanden, doch der Umstand, der mich damals wie ein vorzeitlicher Drache Luft und Wut schnauben lieB und mich heute am meisten zum Lachen reizt, war das Strumpfangebot. In Europa fangt die Liebe (oder was landlaufig diesen Namen triigt) wenigstens mit Blu- men, Zuckerwerk oder Fensterwanderung an; in Amerika mit Striimpfen. Jeder Mann meiner weiten Bekanntschaft, der mich innerhalb der „Diebeswoche“ traf, lachelte eigenartig und ver- sicherte im Laufe des Gesprachs, daB ich reizende Beine hatte und daB sie in Seidenstriimpfen — die zu geben ihm eine Riesenfreude ware — noch entziickender wirken miiBten, woraufhin ich immer behauptete, daB sie sich — fur mich, die ich als Besitzerin solch reizender Beine wohl Hauptperson bei der Sache war — angenehmer in Baumwollstriimpfen anfiihl- ten, die auch — Dank sei der Vorsehung und den Wirkfabri- ken! — weit leichter zu stopfen waren. Wenn ich all die Strumpfangebote angenommen hatte, wiirde ich ein Geschaft er- richtet haben. Da ich sie ablehnte, nahm ich nicht an FuBbeklei- dung, sondern nur an Menschenkenntnis zu. Nach einer Woche wurde ich grob, im Kubikgrad grob! Ob ich jemanden um Hilfe angebettelt hatte? Ob ich unter jeman- dem stiinde? Ob mir iiber mich selbst das Verfiigungsrecht fehlte? Und ich mied alle, die ich kannte, wie die leibhaftige Pest. Das half! Ich erhielt von der Zuckeruntersuchungs- anstalt Uebersetzungen, die mich iiber Wasser hielten, machte Ausziige aus Urkunden fur jemand anderen und iibersetzte ein Buch aus dem Danischen ins Englische fur das Bishop-Museum. Da ich hoch nach Geld springen muBte, lieBen mich alle sehr hoch springen, nur die Zuckergesellschaft nicht. Sie bezahlte immer gut, und ich verlangte nie mehr, als ich als Dolmetsch in Panama verlangt hatte. Irgend ein Ausniitzen eines anderen ist mir immer widerlich gewesen. „Ihre kleine Freundin ist eine Gans!“ sagten die Seiden- strumpfanbieter zu Mrs. M. und ich freute mich dessen. Ganse diirfen bekanntlich mit eigenen Federn herumlaufen. 174 Als Wellenreiter. Eines Abends lud man mich nach Waikiki ein. Wir stiegen in ein Auslegerkanu — ich in einem geborgten Mantel, da mir stets kalt war — und fuhren im Mondschein auf das Meer hin- aus. Vor uns dehnte sich die glitzemde Flache, hinter uns grinste schwarz der unheimliche Pali, der stark befestigte Diamanten- kop! und der weiBe Strand von Waikiki. Das Wellenreiten begeisterte mich. Wir warteten, weit drauBen vor der Riffbran- dung, auf eine Welle. Sahen wir sie kommen, so ruderten wir alle wie toll, um ihr voranzueilen. Plotzlich schoB sie daher, hob das Kanu und trieb uns mit rasender Schnelligkeit dem Strande zu . . . Einmal aber ruderten wir nicht schnell genug, und die Welle baumte sich turmhoch hinter uns. Wie eine schaurig griine Mauer hob es sich dicht hinter mir, dann-platsch!- kam ein Niagara auf uns nieder und fiillte das Boot bis zum Rande. NaB wie ein voller Schwamm saBen wir da. „Steigen Sie aus, damit wir das Boot ausleeren!“ meinte Frau F., und ich muBte lachen, denn wir konnten alle nur ins Meer steigen. Das taten wir denn auch, ich samt Hut und Mantel, was um so komischer wurde, sobald ich ins Boot zuriick wollte, denn als meine Gummischuhe einmal oben auf der Was- serflache waren, wollten sie um keinen Preis wieder zuriick, und ich muBte wie ein toter Fisch ins Kanu gehoben werden. In fremden Kleidern lag ich spater auf dem weiBen Sand und aB Wiirstchen, wahrend die Hawaiier auf dem Ukulede spielten und ihre alten Lieder sangen. Unendlich schwermiitig klang es. Die Hawaiier sind sehr gastlich. Ihr Leibgericht ist der Poi, eine sauergewordene Masse gekochten Taros, wie Kleister aussehend und wie ein solcher mit Saurezusatz schmeckend. Man iBt ihn aus einer Kokosschale mit dem gut geleckten Zeigefinger, der daher auch der Poifinger heiBt. Gewaschen braucht die Schale nicht zu werden; denn man wascht sie ohne- dies mit dem Finger gut aus. In alter Zeit verlangte es die Gastlichkeit, daB man eine Poiladung erst im eigenen Munde zur Kugel rollte und sie dann dem Gast mit der Zunge in den Mund schob, doch die WeiBen zeigten so viel Abneigung gegen diese hawaiische Fiitterungsart, daB sie langsam eingestellt wurde. Mitten im bleichen Mondlicht tanzten sie nun die Hulahula im Grasrock, einen verbotenen, schaurig sinnlichen Tanz. Um ihn besser vorfiihren zu konnen, losen die Frauen den Madchen iangsam das Fleisch von den Rippen und erleichtern dadurch das Muskelspiel. Da die Kanaken („Kanaka“ bedeutet heute 175 Siidseeinsulaner, ist aber ein polynesisches Wort, das einfach „Mann“ bedeutet) sehr dick werden, hangen indessen diese losen Fleischmassen in spateren Jahren recht verunschonend herab. Der letzte Prinz Hawaiis. In alten Zeiten zeigten sich sonderbare Veranderungen am Himmel und eigenartige Fische am Strand von Waikiki, wenn ein Prinz aus echtem Hauptlings- oder Konigsblut starb, und nun lag der letzte echte Prinz von Hawaii auf der Bahre. Eine ganze Woche lag er so in der sehr christlichen Kirche mit sehr heidnischen Brauehen. Wir gingen um drei Uhr mor¬ gens vom Strandweg hinein und auf das Chor. Unten, im Schiff der Kirche, stand die riesige Bahre, und am Kopfende saB die Gattin des Toten, umgeben von den Nachsten ihres Hofes, auf einer Art Thron. Tag und Nacht muBte sie wachen und durfte sich nur fur kurze Mahlzeiten entfernen. Sie war ganz in WeiB gekleidet und hob sich hell vom griinen Hintergrund der Zier- baume ab. Rund um die Bahre standen die Manner aus unvermischtem Blut in den herrlichen Federmanteln der alten Zeiten, die nun zum letzten Mai von Lebenden getragen werden sollten. So schon und seltsam sind sie, daB ein Mantel auf eine Million Dollars geschatzt wird. Sie sind aus gelben und roten Federn sehr geschmackvoll zusammengestellt. Diese Federchen aber wurden von eigenen Vogelfangern den Vogeln lebend vom Schwanz ausgezupft und die Tierchen wieder fliegen gelassen, um weitere Federn zu entwickeln, denn ein Vogel hatte einzig zwei Federn! Es brauchte fast hundert Jahre, ehe solch ein Mantel zustande kam. Kamehameha, der bedeutendste Hauptling (meist Konig genannt) trug solch einen und im ganzen gibt es vier oder fiinf. Die iibrigen Herren trugen Federkragen, immer noch schon und kostspielig genug, doch nur die Schultern deckend, nicht bis zu den FiiBen fallend. Sie alle standen re- gungslos bis auf die Bewegung des einen Arms, der das Kahili bewegte. Das ist ein groBer Federfacher oder richtiger Wedel, der bewegt werden muB, um die Geister von der Leiche abzu- halten. Riesenkahilis von drei Meter Hohe standen um die Bahre im weiteren Umkreis und wurden ebenfalls von Zeit zu Zeit sachte geschwungen. Am schonsten und ergreifendsten war der Gesang. Alte Hawaiierinnen, die noch die unheimlichen Klagegesange beherr- schen, lieBen ihre Stimmen ertonen, und etwas so Prachtvolles, so Markerschiitterndes, so Geisterhaftes habe ich nie, nie wie¬ der vernommen. Es klang wie eine Beschworung durch die Kirche, war durchaus heidnisch und wundersam ergreifend. Man 176 fiihlte sich zuriickversetzt in das Reich des Einst, ahnte die fin- steren Dorfer, durch die niemand zu gehen wagte, denn der Zau- berpriester hielt heimlich Ausschau nach einem Opfer und nahm, wer da ging, um ihn den Gottern zu weihen, wenn bei festlichen Anlassen der kleine Hund, der vollig haarlos und oft an einer Frauenbrust groB geworden war, nicht geniigte. Da stand — in solch einer Nacht — wohl der beriichtigte Knochen- brecher auf dem Weg zum Pali und umschlang jeden, der sich vorbeiwagte, ihm einfach die Rippen und darauf das Genick brechend, bis der weise Jiingling, nackt und gut mit Oel gerie- ben, um schliipfrig zu sein, sich an ihm vorbeiwagte und ihn seinerseits totete. Da vernahm man das wilde Kriegsgeschrei, das Stiirzen zu den langen Kriegsbooten, das Schiirfen des Hol- zes auf nassem Sande und dahinter das Heulen der Weiber . . . Durch dieses Singen jauchzte die Brandung, lachte die Sonne der Tropen, wimmerte die Wildheit eines Urvolkes, und unten, ununterbrochen und lautlos, gingen die Kahili hin und her, neben und iiber der Fiirstenleiche. Verstummten oben die Frauen, so sangen unten die Manner, und wieder dachte man an schroffe Felsen, an verheerende Springfluten, wie sie oft die Kiiste dieser Inseln aufsuchen, traumte von Polo, der grausa- men Feuergottin, die im Hale mau mau, im Hause des ewigen Feuers, schlummerte und auf irdische Geliebte wartete, die sie ins Verderben lockte. Und dann dachte man an Neu-Hawaii, an die aussterbenden Kanaken, die minderwertigen Mischlinge, die Fremden, die hier die Herren spielten und neue Laster zu altbekannten fiigten; die ihre neuen Waffen den alten Kriegern aufbiirdeten und die aus allem Geld schlugen, selbst aus der Sonne am Strand von Waikiki, wo die schiefen Kokospalmen ihre Traume den Wellen anvertrauten und der Wind wie eine Mutter an der Wiege in den langnadeligen Kasuarinen sauselte. Schriftstellerfreuden. Es gab Tage, an denen ich verzweifeln wollte. Nach dem Ueberfall konnte ich mir keir.e Bohnen mit Fleischgeruch mehr leisten, und mein bejahrter Schuler war abgereist. Er suchte eine passende Pflanzung, und auf Hawaii war in dieser Hin- sicht nichts zu machen; denn Land war teuer und wenn man es auch gut bestellte, wuBte man nie genau, wohin mit dem Ertrag. Fr entschied sich daher erst fur Pago-Pago im amerikanischen Samoa und verblieb zum SchluB auf einer Insel unweit von Tahiti. Mit ihm verschwanden auch die Apfeltorten aus meinem EBbereich. Und immer noch saB ich im verhaBten Paradies des Stillen Gzeans und muBte mir von jeder Frau meine Kleider ais un- 2 177 modern vorwerfen und mir von jedem Mannszweibein, das einen Blitzableiter suchte, eine Herznachahmung billigster Auflage nachwerfen lassen. Da schrieb mir meine Mutter, daB mein Werk „Mein klei- ner Chinese" nun endlich bei den Deutschen Buchwerkstatten erschienen war, und einige Wochen spater erreichten mich giin- stige Besprechungen zusammen mit den Biichern. Der Post- beamte musterte die deutsche Anschrift mit boswilligen Blicken — damals wurden die Reichsdeutschen noch bitter gehaBt (1921) — aber ich wanderte mit der Last sehr vergniigt heim, bedeckte das Bett mit Biichern und stellte mir noch einmal, allerdings nicht mehr so lebhaft wie damals auf dem Taupteiler des „Bo- logna“, vor, daB ich bestimmt war, der Welt ein Bein auszu- reiBen. Heute tiihle ich dagegen, daB mir — bildlich gesprochen we- nigstens — die Welt ein Bein ausgerissen hat. So geht es auf dieser rundlichen Welt, die die beste aller bekannten Welten sein soli. Wenn es die beste ist, dann ist sie ein arg miBlun- gener Lehmpatzen. Die Zeugenschaft. Einmal muBte ich einer Bekannten als Zeugin dienen. Die Gerichtssachen habe ich ganz vergessen. Genug, daB ich als stummer Gegenstand vielen Begegnungen mit Gerichtsherren beiwohnte. Das trug mir nicht nur fiinf Dollars, sondern ein unerwartetes Anerbieten ein, fiir das ich noch heute dankbar bin. Die Dame bot mir an, mir das Reisegeld nach Japan zu leihen. Fiir dort hatte ich aus der Heimat Empfehlungen und war sicher, mit meinen Sprachkenntnissen so viel zu verdienen, um leben zu konnen. Von San Francisco nach Hawaii darl man nur auf ameri- kanischen, von Hawaii nach Japan dagegen nur auf japanischen Schiffen fahren — so sind die Bestimmungen, die wohl die Ge- sellschaften reich, die Reisenden dagegen arm machen. Wieder nahm ich eine Karte — die allerbilligste — und dazu auf einem orientalischen Dampfer. Hier gab es vier Klas- sen: die Erste, Zweite, Mittel und Dritte. Selbstredend fuhr ich mit dem geborgten Geld (hundert fiir die Fahrt, fiinfzig fiir den ersten Anprall) in der Dritten. Moglicherweise war ich durch meine zweijahrigen Entbeh- rungen und die ewigen Sorgen, Schrecknisse und das schwere Studium, das ich neben meiner Brotarbeit verfolgte, schon her- abgekommen — jedenfalls empfand ich diesmal den Abstieg in den Schiffsunterraum driickender als je zuvor. Schon der Ge- ruch, der einem entgegenschlagt, faul, ranzig, voll Oel, See- krankheitsresten und sclnveiBtriefender Menschheit, ist furcht- bar. Man sollte iiber der Treppenoffnung die Worte vom Hollentor anbringen: „La8t, die ihr eingeht, jede Hoffnung schwinden!" GewiB ist, daB ich meine Hoffnung drauBen lieB, als ich die Kabine betrat. Es gab Lagerstatten — drei oder vier in einem dreieckigen Raum — aber ohne Bettzeug, ohne Decken, ohne Kissen; nichts als gahnende Bretter. Ein halbverriicktes Weib unbestimmter Rasse lief ein und aus. Ein Diener, der kein Wort engliseh verstand, brachte eine zerschabte henkellose Tasse mit Griintee. Ich brach in Tranen aus . . . Die Honolulufreunde waren alle sehr nett gewesen. Sie hatten mich trotz alles Straubens in neue modernlinige Kleider gesteckt, mir einen ihrer Ansicht nach christlichen Hut auf meinen Bubikopf gedriickt und mich so sehr mit Leis behangt, daB ich wie eine wandernde Blumenkonigin aussah. Diese Leis oder Gewinde gibt man immer den Abreisenden. Sie sind teils aus duftenden Blumen, teils aus Seide oder gedrehtem gelben Crepepapier, teils aus roten Gliicksbohnen. Nun saB ich als ge- knickte Blume in all der Herrlichkeit auf einem Bett, das aus nichts als harten Brettem bestand, und schlang meine Arme um die getreue Erika. Ihr taten wenigstens die Bretter nicht weh. Nach einer geraumen Weile rief man mich zum Abendbrot. Ich saB an einem kleinen Holztisch ganz allein. Zwei unabge- schmalzene Kartoffeln starrten mir vertraumt und unlustig ins Gesicht, und ein wasseriger Kohl vermengte seine fragwiirdigen Diifte mit denen ringsumher. Seitlich offneten sich die Mann- schaftskabinen, der Vorratsraum, der Waschraum, und mir gegeniiber, mit dem Schiffsankerzeichen, grinste ein wichtiger, doch nicht sehr appetitlicher Ort, der halb offenstand. Dem japanischen Geschlechtsempfinden gemaB war ich von Ben mannlichen Reisenden — drei an der Zahl — getrennt wor¬ sen, und wenn ich an ihre traurigen, verschlossenen Gesichter denke, bin ich dankbar dafiir. Aber so in einem dumpfen Schiffs- gang in stolzer Einsamkeit unverarbeitetes Gemiise und ein Stuck riechendes Fleisch zu verzehren, ermangelte jedes Reizes, and alles, was ich tun konnte, war, auf Deck zu steigen und in einer Ecke weiter zu weinen. „Sind Sie seekrank?" fragte plotzlich ein Seeoffizier und fteigte sich iiber mich. „Nein, danke!“ erwiderte ich und versuchte zufrieden und tapfer dreinzuschauen. „Gehoren Sie in die Erste?" fragte er, wohl vom neuen Kleid und den schonen Gewinden getauscht und vielleicht auch von etwas anderem, das mich immer wieder zu meiner Klasse zuriickfiihrte. Da sagte ich traurig, daB ich hinabgehorte. 12 * 179 Er ging, und ich saB aui dem Rand der Deckklappe und dachte mir, daB Tugend — vielgepriesen in Schonschreibheften und Sonntags zwischen elf und zwolf in Kirchen — keinerlei praktischen Lebenswert zu haben schien, denn hatte ich all die Seidenstriimpfe fur meine gepriesenen Knieverlangerungen an- genommen, so sa.Be ich jetzt oben in der Ersten. Nun safi ich — in Tugend und Tranen gehiillt — auf dem zugigen Deck der gesellschaftlich Aussatzigen. Und dabei hatte ich gern gewettet, daB ich mehr gelernt hatte als all die Jodel, die da oben zu Mu- sik die Kinnbacken bewegten. D i e aBen nicht mit dem Blick auf den Ort, wohin die Tafelreste endlich getragen wurden! Wie schon erwahnt, zur See bin ich Kommunist. Auf einmal beriihrte mich wieder der Hauch einer Stimme (Japaner beriihren nicht korperlich, Ehre sei ihnen!), und ein Matrose winkte mir geheimnisvoll, ihm zu folgen. Ich stieg in die Tiefen hinab und durchgondelte das ganze Schiffsinnere, bis ich wirr im Kopf war, dann schob sich eine Tiir, endlich ein Vor- hang zuriick — ich stand in einer sehr netten, ganz leeren Ka- bine und oben, auf dem besten Bett mit Decken, Leintiichern, Kissen und so weiter saB-meine Erika!!! Man hatte mich in die Mittelklasse befordert. Da wuBte ich, was ich mir immer schon gedacht hatte, daB sie gut sind — die Japaner. Die fiinf Schweigsamen. In der Mittelklasse waren nur einige Japanerinnen mit Kindem, von denen eins immer auf dem Riicken, das andere an der Brust lebte, und fiinf Manner, die Slawen waren und einem Trappistenorden angehoren mochten, wenigstens was Schweig- samkeit anbelangte. Wir saBen am gleichen Tisch und aBen Kartoffeln und Fleisch, das schon einen Stich hatte, Tag auf Tag; wir griiBten uns auf Russisch und schwiegen uns sonst in alien lebenden und toten Sprachen aus. Ich kroch ins Bett zu meiner Erika und verbrachte meine unbehagliche Seereise teils auf dem Bauch, teils auf dem Riicken. So weit als tunlich studierte ich das Schiffsleben und erging mich in philosophischen Erwagungen, unterbrochen von praktischen Versuchen, warum der Benjo oder „Ort der Einsamkeit" ein viereckiges Loch (warum nicht rund?) hatte und warum an einer Breitseite ein Porzellanbrett mit einem kleinen Schwung nach innen be- festigt war. Da man die mannlichen Mitreisenden iiber der- artige Entdeckungen nicht leicht befragen, noch anderen Besu- chem zuschauen kann, blieb ich bis Japan im Ungewissen und erfuhr erst viel spater, daB dieser unbequeme Vorbau als Knie- stiitze gedacht ist. In der Tat kann man bei dem Modell knie- weich werden . . . 180 Einige Tage vor der Ankunft kam einer der Schweigsamen zu mir und zerstorte meinen Glauben an sein Trappistentum, indem er mich ersuchte, ihm einen Liebesbrief aus dem Kroa- tischen ins Deutsche zu iibersetzen. Ich verstehe kein Wort kroatisch, doch meine Kenntnis des Slowenischen, wenn auch liickenhaft, besonders in modernen Ausdriicken, ermoglichte es mir, den Sinn zu entdecken, und dann — Liebesbriefe gehen Gott sei Dank nach einer einfachen Form. Dabei aber erfuhr ich, daB wir Landsleute waren. Eine Sache erbitterte mich ungemein. Um den Opfern der Verfrachtung — denn was waren wir anderes als Kisten, die verschifft wurden? — eine Abwechslung zu bereiten, gab man am Abend, wenn die Magen nicht in Umdrehung waren und der Himmel klar blieb, auf Deck Lichtspiele, und da sah ich einen Film, der die Grausamkeiten der Deutschen in der furchtbarsten Art zeigte. Vergewaltigungen, Toten und Aushungern der Kin¬ der, Brand, Totschlag und so weiter, und das sahen Asiaten, die ja nicht wissen konnten, daB es sich bei diesen Filmen um Hetzpolitik handelte, die selbst bei uns im Kriege nur mittel- maBig gezogen und heute jedwede Bedeutung verloren hatte. Solch ein Film verpflanzte aber unter Millionen und aber Mil- lionen Menschen die Vorstellung, daB die Reichsdeutschen das widrigste Gesindel auf Erden waren. Ich habe nicht begriffen, warum gegen den Verkauf solcher Filme von seiten Deutsch- lands nie starkerer Widerstand geleistet wurde. Das war ja volksehrenriihrig, und ich hatte mich jeder, auch einer feind- lichen Nation gegeniiber, so einer Sache Einhalt zu bieten be- rufen gefiihlt. Auf dieser Fahrt verlor ich einen Tag aus meinem Leben, denn ich schlief an einem Donnerstag ein und wachte an einem Samstag auf. Dabei schlief ich indessen nicht achtundvierzig Stunden, sondern kreuzte nur den hundertachtzigsten Grad. Elf Tage fuhr ich an fernen Inseln voriiber, dann merkte ich kiihlere Luft, obschon wir Anfang Juni hatten und dann hieB es: „Morgen sind wir in Japan!" 181 Im fernen Osten. Ein feiner Regen umstaubte das zarte Griin der Kiiste vor Yokohama, nachdem wir einige Stunden vergeblich im Nebel den Eingang in die Bucht gesucht hatten. Es war der poetische Friihlingsregen, den Japaner anhimmeln, der mir aber gar nicht dichterische Begeisterung entlockte, schon deshalb nicht, weil zu meiner Reiseausriistung wohl die Erika, nicht aber ein Regenschirm gehorte. Erstens bin ich von iiberfliissigem Tra- gen kein Freund, und dann sind Schirme heimtiickische Gebilde, die sich zu Unzeiten zwischen die Beine schieben und diesen wie dem eigenen Riickenmark dadurch gefahrlich werden, und nebstbei fehlt ihnen auch noch der notige Takt, wenn zufallig nicht gleich mitgenommen, sofort „hier“ zu schreien. Wenn ich aber in dichterischen Hohen schweife, vergesse ich gegen Laden- tische lehnend, etwas so irdisch Nebensachliches wie einen Schirm. Ich troste mich damit, dafi man tieter als bis zur Haut nicht naB werden kann, und kaufe lieber Hiite, die gegen eine geiegentliche Durchweichung nichts einzuwenden haben. Kaum waren wir auf dem Land, so wurden die Russen ge- sprachig. Wir aBen zusammen Curry und Reis in einem kleinen Gasthoi europaischer Art, durchwanderten ganz Yokohama und nahmen erst am Abend Abschied. Ich fuhr nach Tokio und iibernachtete im Seyvkken-Hotel. Auf dem Bahnsteig gewann ich den ersten Einblick in japanisches Denken. Der Trager Nummer 3 war ein nettes Biirschchen und schleppte alle unsere Sachen zu den verschiedenen Ziigen. Als ich nun als Letzte den Tokiozug erwartete, fragte er nach einigem Zogern und mit seinem freundlichen ostlichen Lacheln: „Ich bitte um Entschuldigung, aber sind Sie ein Mann Oder eine Frau?“ Bis auf den Bubikopf ist nichts Mannliches an mir als meine mannliche Seele, die wenig weibliche (und meine Feinde wurden wohl behaupten, iiberhaupt keine) Tugenden entwickelt hat. Ich erwiderte daher etwas erstaunt: „Ich bin eine MiB.“ „Das dachte ich mir auch,“ meinte er sichtlich befriedigt, „aber Sie standen namlich immer bei Mannern.“ Himmel, wenn es so einfach ware, sich zu verwandeln, wollte ich gem den ganzen Rest meines Lebens immer neben Mannern stehen . . . Die Erfiillung eines Wunsches. Ich hatte den Wunsch gehegt, bei Russen zu wohnen, um vvieder einmal Sprachiibung zu haben, und mit Freuden las ich daher, daB ein Zimmer in einer russischen Pension unweit der Ginza in Yurakucho Sanchome zu haben war. Ich steuerte denn auch los, diese Pension zu finden, doch anstatt wie ein denkendes Wesen mit Fragen irgendwo zu beginnen, fuhr ich drei Stunden au! der Elektrischen rund und rund durch ganz Tokio, immer in der Hoffnung, durch Zufall in das Europaer- viertel zu gelangen. Ich gelangte nie dahin, weil es kein solches Viertel gibt. Zum SchluB hatte ich einen Geistesblitz beim Vorbeifahren an der Druckerei des englischen Blattes, in dem ich die Anzeige gelesen hatte, und dort erfuhr ich die Lage von Yurakucho. Eine Viertelstunde spater geleitete mich ein sehr hoflicher Japaner in einem Rock (so erschien mir im ersten Augenblick die aus ge- legten Falten bestehende Studentenhose, Hakama genannt) bis an das Haus, und wieder eine Viertelstunde spater hatte ich ein Zimmer ohne Kost in der russischen Pension erhalten. Es kostete vierzig Yen monatlich (achtzig Mark), besaB nur Bett, Tisch und kleinen Schrank und ein einziges Fenster, das die Aussicht auf die Eisenbahnbriicke, die grauen Dacher Tokios und auf ein japanisches Gasthaus frei lieB. Daraus kann man ersehen, daB fur Europaer das Leben ungewohnlich teuer ist. Die Russin war eine gebildete, altere Dame, die Tochter sehr schon, lieb und ganz jung. Sie nahmen sich meiner mehr an, als dies sonst unter Fremden der Fall ist, und die Tochter machte gegen Abend lange Rundgange mit mir, wobei sie mir alierlei Interessantes zeigte. Nach Bezahlung der Wohnungsmiete blieb mir ein geringer Betrag, aber ich war bei guten Leuten und vor allem unter Europaern, und daB es mir gefallen wiirde, merkte ich sofort. Der Tee im Amt. Alle, an die ich Empfehlungsschreiben hatte, kamen mir lieb entgegen, besonders wo es sich um Japaner handelte. Vi- comte SH. forderte mich auf, ihn in seinem Amt zu besuchen, und als ich dort eintraf, brachte uns der Diener sofort Tee in kleinen henkellosen Tassen. Das ist immer so bei jeder Ge- schaftsunterredung und jedem formlichen Besuch. Trinkt man die Schale leer, so wird damit angedeutet, daB der Besuch sein Ende erreicht hat. 183 Japaner interessieren sich sehr fiir Politik, und er erkun- digte sich sofort nach meiner eigenen politischen Einstellung. Er machte mich mit sehr reizenden Polen bekannt, und durch diese kam ich mit Dr. B. zusammen, einer Reichsdeutschen, die mir aufierordentlich entgegenkam und der ich viele Annehm- lichkeiten und spater viele Schuler verdankte. Ihr Gatte war Hochschullehrer an der Handelsakademie, sie selbst arbeitete im Laboratorium der groBten chemischen Fabrik Tokios. Sie war herzensgut, aber im Gegensatz zu meinen Honolulufreunden, die alle Geisterseher waren, durchweg stofflich in alien An- schauungen, und wenn ich von physischen Vorempfindungen sprach, schrieb sie das meinem Magen — eigentlich der darin vorherrschenden Leere — und nie meiner Seele zu. Sie fuBte ganz im Natiirlichen und zog mich wahrscheinlich schon durch den unbedingten Gegensatz an, denn in mir steckte immer ein gewisser Hang zur Mystik, den der Osten und besonders die Siidsee mit ihrem Zauberwesen noch vertiefte. Der Mann in der Wanne. Durch Vicomte Sh. erhielt ich die Anstellung fiir einen Ferienkurs an der Meiji-Universitat, die sich besonders mit fremden Sprachen beschaftigt. Frau M., eine Japanerin, die in Frankreich aufgewachsen war, und die sich von ihrem japani- schen Gatten geschieden hatte, weil sie behauptete, daB die sechs Jahre an seiner Seite verlorene gewesen waren (man sieht, wie sehr Erziehung auch auf das Rassentemperament zuriick- wirkt), hatte mich um fiinf Uhr zur ersten Unterredung bestellt. Fiinf Uhr bei Japanern bedeutete gegen sechs, so daB ich im ganzen Gebaude nicht eine Seele zu entdecken vermochte. Ich gelangte endlich in den groBen Hof, in dem in einer Ecke eine groBe Tonne und darin ein Mann stand Oder saB. Er erblickte mich ebenfalls und kroch langsam aus dem heiBen Wasser, nichts als das schmalste weiBe Stoffstreifchen als Lendentuch um. Wir verbeugten uns sehr formlich voreinander und ich gab mein geringes Japanisch, das aus „bitte“ und „verzeihen Sie giitigst!" bestand, zum Besten. Da sein Englisch meinem Japa¬ nisch glich, sprachen wir nur mittels Zeichen; dann verbeugten wir uns wieder sehr hoflich. Er sprang in die Tonne zuriick, und ich begab mich iiber eine der Treppen in den zweiten Stock hinauf. Unter Duplikaten. Die dunkelste Zeit meines Japanaufenthaltes war, als ich die Anstellung bei einer reichsdeutschen Maschinengesellschaft erhielt. Das dort verdiente Geld ermoglichte es mir, meine Honoluluschuld, die eine Ehrensache war und mir deshalb 184 schwer auf dem Herzen lag, zu decken, wahrend die Einnahmen vom Abendkurs einerseits und einigen Stunden, die man mir in der Pension verschafft hatte, andrerseits hinreichten, um mein Zimmer zu bezahlen und karglich zu leben. Ich bin nie im Leben fur den kaufmannischen Teil einer Sache gewesen; ich habe weder richtig zu rechnen, noch meine Arbeiten praktisch in Geld umzusetzen gewuBt; mir ist alles, was mit Kaufen und Verkaufen zusammenhangt, in die Seele hinein zuwider. Am meisten Maschinen. Und dazu war bei diesem Handelshaus ein Herr, dessen Erscheinen mir das Mark in den Knochen gerinnen lieB. Er warf mit „ Schweinehund“ herum, und seine Augen gingen mir wie der Dorn eines Kan- delaberkaktus durch und durch. Wenn er mich ansah, erstarben alle Gedanken in meinem Gehirn. Aber vielleicht hatte ich mich in diesen Betrieb, in dem die Schreibmaschinen unaufhorlich klapperten, die Befehle iiber mich hinsurrten, die Fernsprecher klingelten und die Japa- nerinnen trippelten, hineingefunden, wenn nicht so viele Um- stande, die nichts mit der Firma zu tun hatten, ungiinstig ein- gedrungen waren. Erstens die Sommerhitze. Die Tropen sind kiihl gegen Tokio im Juli und August. Ein Ofen, aber nicht ein trocken heiBer, sondern ein Dampfofen! Die Kleider schimmelten und veran- derten die Farbe; die Schuhe wurden grim, das Haar hing in Strahnen, die Kleider klebten an der Haut, und die Nachte mit den zahlreichen Stechmiicken und der ungeniigenden Luftmenge waren so furchtbar, daB die schone Zina und ich eines Abends drauBen auf dem Hinterbalkon schliefen. Erst qualten uns die Miicken tot, und gegen Morgen fiel ein so starker, ungesunder, kaltnasser Tau, daB wir Gliederschmerzen davon hatten und das frischere Lager aufgeben muBten. Am Tage seufzten wir mit Frau K., so oft wir uns trafen: „Ach, kako zarkoje!" (Ach, wie heiB es ist!) Ich aber muBte ins Amt, und zwar um halbzwei Uhr nach- mittags, nach einem Weg von zwanzig Minuten am heiBen sonnebeschienenen Kai und hierauf saB ich hinter einem Vor- hang, der gliihend zu sein schien und ein der Sonne zugekehrtes Fenster notdiirftig verdeckte. Da saB ich von zwei bis sechs Oder halb sieben, denn bei Reichsdeutschen gibt es in dieser Hinsicht keine Ordnung. Man bleibt, so lange Arbeit ist, und wenn die Stunde noch so lange geschlagen hat. Bei Amerika- nern und Englandern wird man nicht nur weit hoflicher behan- delt, besser bezahlt und mit mehr Vorteilen aus dem Hause (PreisermaBigung usw.) bedacht, sondern man geht immer piinktlich auf die Minute weg und erhalt Ueberzeitgeld, falls man wirklich einmal bleiben muB. 185 Drittens war ich — ohne mir dessen ganz bewuBt geworden zu sein —seelisch noch so erschiittert, daB ich meine Gedanken nicht vollkommen zu sammeln vermochte. Nur in der Schrift- stellerei — vermutlich weil mein ganzes Herz dabei war — vergaB ich nichts; sonst flog alles aus mir heraus wie Spreu vor dem Wind, und ein Festhalten irgend einer Sache kostete mich furchtbare Anstrengung. Viertens, und alles hing moglicherweise damit zusammen, war ich hochgradig unterernahrt. In San Francisco Brot und Tee, in Honolulu ebenfalls und nun, in Japan, folgende Nahrung: Zum Friihstiick ein Stuck Salsenbrot um zehn Sen; mit- tags Bohnenrollchen — fiinf, wieder um zehn Sen; abends um zehn Sen rote Pfirsiche, und der Mann, von dem ich sie erstand, wuBte so gut, daB es mir auf Menge und nicht auf Giite ankam, daB er mir immer eine Anzahl halbverfaulter als Uebergewicht schenkte. Diese Bohnenrollchen aber waren das Entsetz- lichste, was ich mir denken konnte. Ein unangenehmer, diinner siiBlicher breiiger Teig und darin eine blauschwarze Masse aus zerdriickten siiBen Bohnen! Aber sie waren billig und fiillten den Magen. Dennoch, wenn ich dem Schrecken des Maschinen- betriebs gegeniibersaB, der eben von einem reichlichen Mittags- mahl kam und seine Verdauungszigarre rauchte, dachte ich mir nicht selten: „Ich mochte gern wissen, was d u leisten wiirdest, wenn du nach sc'nlaflosen Nachten vom friihen Morgen an unterrichten, in der groBten Hitze mit leerem Magen auf der Maschine klap- pern und abends Studienwanderungen von zwei Stunden Dauer machen miiBtest, auf die nichts als rote harte Pfirsiche und ein heiBes Bett folgen durften!“ Niemand wuBte davon, und selbst daheim in der Pension machte ich immer ein Gesicht, als ob ich mich richtig satt ge- gessen hatte. Der„Asahi Shimbu n“. Dr. B. machte mich mit der Reporterin des „Asahi Shim- buns", des bedeutendsten Blattes von Tokio, bekannt, und da- durch wurde ich nicht nur eingehend besprochen, was mich mit vielen Leuten zusammenfiihrte, von denen ich lernen konnte, sondern ich schrieb von da ab ofter fur die Zeitung selbst oder die Beilagen und verdiente dabei genug, mich endlich aus dem Morast des Mangels zu winden. Mein Bild, das eines Tages erschien, glich einer kraushaarigen Asiatin mit einem Mund wie ein Ofentiirl, aber dennoch schrieb mir ein junger Mann aus dem Norden und bat mich, mein Reisebegleiter werden zu diirfen. Ich solle ihm indessen heimlich antworten, da er mit 186 mir zu entlliehen gedenke, weil sein Onkel, der ein Sardinen- geschaft betreute, ihn nicht ziehen lassen wolle. Ich riet ihm liebevoll, weiter Sardinenbandiger zu bleiben, und erhielt so einem Onkel seinen kostbaren Neffen. O ye, who tread the narrow way By Tophet flare to Judgement Day, Be gentle when the heathen pray To Buddha at Kamakura. R. Kipling. Eine Stunde von Yokohama liegt das stille Fischerdorf Kamakura. Die machtigen langgezogenen Wellen des Stillen Ozeans rollen feierlich heran und benetzen den Strand, auBer wenn die unterirdischen Machte grollen, die Erde erbebt und die wiitende Springflut den Ort zu zerstoren sucht. Nicht immer war Kamakura so still wie heute. Nach dem Fall der Fujiwara, die sich zu sehr verweichlicht hatten, kam der stolze Krieger Yoritomo Minamoto und griindete Kamakura, die Ritterstadt. In dieser Zeit entwickelte sich der Ritterstand mit seinen Vorziigen und Nachteilen. Dem Ritter zu folgen, dem Fiirsten die Treue zu bewahren, alles Schwache zu meiden, waren die fiihrendenldeale. Auch in der Religion war das sanfte Anrufen Amida Buddhas der Yodo-Sekte in die Angst vor der Holle mit all ihren Strafen iibergegangen, denn fiir so furcht- lose Krieger bedurfte es eines starkeren Halts als den hoher Ideale im Glauben. Der ungeheure Gingkobaum, dessen Blatter wie Facherchen sind, die sich im Herbst lichtgelb verfarben, hat das Entstehen und den Verfall Kamakuras mitgemacht, und das Rot der neueren und der alteren Tempel und Schreine leuchtet aus dem tiefen Sommergriin. Was aber heute nocli Kamakura beriihmt macht, ist der Riesenbuddha, dessen Tempel die Springflut dreimai davon- getragen und der auf einer geringen Anhohe Wind, Wetter und dem verheerenden Erdbeben trotzt. Er sitzt auf einer sich offnen- den Lotosknospe, und die beiden Opferbecken zu seinen FiiBen sind so groB wie ein Mensch. Wie ein Berg ragt er empor, und sein Anblick wirkt iiberwaltigender, je langer man davor verweilt. Er ist der beste Ausdruck des Buddhismus, den ich irgend- wo gesehen habe. Die lose gelegten Finger verraten Ruhe, die Haltung ist natiirlich, frei, ohne Steife, mit einem leichten Vor- sinken, wie ich es liebe. Die Glieder haben die weiche Rundung des Weisen und Denkers, nicht die harten Schwellungen des Muskelmenschen, der die meisten Europaer so begeistert. Durch diese nachlassige Haltung entstehen denn auch die drei Bauch- falten, die dem Japaner groBter Kunstausdruck sind, zeigen sie 187 doch an, wie gut der Kiinstler eben die Ruhe, das etwas Kraft- lose des Philosophen, das iiberwiegend Geistige seiner Gestalt dadurch festgehalten hat. Der tatige Westen freut sich wie ein Kind seiner Korperkraft, doch der denkende, sich vertiefende Osten sucht nach der Macht des Geistes, dem der Korper nur GefaB, einzig Behelf und Ausdruck ist. Der Buddhismus sucht Befreiung vom Zwang der Sinne. Ein allmahliches Hinauswachsen der Seele iiber das rein Kor- perliche, Stoffliche, das Aufgehen (nicht Ausloschen) in der Allseele, in der allein alle Erfahrung und alle Weisheit zu iinden sind, dabei jene nirwanische Ruhe, die nichts langer er- schiittert, die in sich alles gefunden hat, was die Welt in all ihrer Unbegrenztheit bieten kann. Das alles driickt das Buddhagesicht aus. Eine iibematiir- liche erschiittemde Ruhe liegt auf den stillen Ziigen, und um den Mund ist ein feiner Zug — nicht Lacheln und doch der An- flug einer weichen Belustigung, der zu sagen scheint: ,,N i c ht s, was da ist im wechselvollen Spiel des Veran- derlichen, beriihrt mich, aber ich kenne aus meiner eigenen Er¬ fahrung heraus das Sehnen eines Menschenherzens, und nun lachle ich iiber den Trug, der dich gefangen halt und all dein Denken umnachtet, und bemitleide dich, bis du den Weg gefun¬ den, der zu Nirwana fiihrt!“ Man steht vor der ungeheuren Eisengestalt und fiihlt etwas von dieser iiberweltlichen Ruhe, die uns schwermiitig macht, weil unser schwaches Herz an das Vergangliche gebunden ist. Hinter Kamakura fiihrt eine lange Briicke zum Schrein von Enoshima, der in die Klippen eingebaut ist. Japanerinnen in ihren Kimonos, ein Kind auf dem Riicken, nahern sich, schlagen in die Hande, werfen eine Opfermiinze und verschwinden wieder. Hier haust die Gottin der Schonheit, des Reichtums und der Kunst, und ihre Dienerin ist die Schlange, weshalb die Verehrer Bentens weder Schlange noch Eidechse, ja nicht ein- mal eine Schnecke toten wollen. Etwas Weiches, Sonniges liegt iiber dem Glauben der Ja- paner. Auf meinen Wanderungen durch Stadt und Land stieB ich oft auf einen Fuchsschrein. Er ist der Erntegottin Inari ge- weiht, und ihre Diener sind die Fiichse. Sie tragen im Schwanz den Schliissel zur Schatzkammer und bewachen nachts, unter dem scharlachroten Torii, dem Tempeltor, die Schatzkugel der Gottin. Zu ihnen betet man um Geld, und daher findet man immer einen Fuchsschrein hinter einem Geishaviertel. Ob den Fiichsen oder dem Schicksal zu Dank — jedenfalls hatte ich immer genug Geld in Japan. Die schonste Gestalt der Gotterlehre ist Jizo. Er war der Lieblingsjiinger Buddhas, und er verwirft niemand, wie siind- 188 haft er auch sein mag. Sein Lacheln erlischt nie, und daher steht sein Bild auf dem Grab der Selbstmorder und der Ermordeten. An StraBenecken findet man ihn, auf der sich offnenden Lotos- bliite stehend, und Mutter binden ein Kimonorestchen an seinen Arm oder werfen Kieselsteine in das Steinbecken, um den Jiin- ger zu erinnern, daB er den Kleinen im FluBbett des Himmels helfe, wenn der bose blaue Teufel Oni und die Hexe Shodzuka- no-baba herbeifahren, um die Steinhaufen umzuwerfen, die jedes Kind fiir die Eltern errichten muB, ehe es in den ewigen Frie- den eingehen darf, und zwar immer ein Steinchen fiir eine Siinde des Vaters, eins fiir eine Siinde der Mutter. Das Totenfest. Am liebsten wanderte ich abends auf der hellerleuchteten Ginza auf und ab und freute mich iiber die Enichi oder Abend- markte. Da konnte man um wenig Geld sehr hiibsche Sachen erstehen, und all das Treiben spiegelte den Charakter des Vol- kes. Da lernte man alle Schichten der Bevolkerung kennen und auch die Bediirfnisse des Einzelnen. Anfang Juli hatte man das Fest des Ochskonigs und der Weberprinzessin gefeiert, und im Hain um Ueno hatten die Studenten Gedichte zu Ehren des Liebespaares an die Zweige gebunden, denn nur in dieser einen Nacht konnten die verbann- ten Liebenden von einem Ende der MilchstraBe zum anderen gelangen, und zwar nur bei schonem Wetter, wenn die Elstern eine Briicke bildeten, iiber die hierauf die Liebenden zueinan- der wandern konnten. Kurz darauf feierte man das Bonfest — friiher am siebenten Tage des siebenten Mondes — und die Ginza war an diesem Tage nicht nur abends voll Buden, son- dern schon vom friihen Morgen an, und man sah in den hiib- schen Korben alle Erstfriichte, viele davon noch unreif, die den Toten geweiht werden sollten. Noch ganz griine, unbedingt Irische Tatami oder Strohmatten lagen zusammengerollt da, und in Bambusvasen standen Lotosknospen. Durch den ganzen Osten ist die Lotosknospe namlich das Sinnbild der Seele; denn wie sich diese beim ersten Morgen- strahl mit einem Knall dem Lichte offnet, so offnet sich auch die Menschenseele beim ersten Strahl des ewigen Lichts erst zu voller Bliite. Am Abend vor dem Bonfest werden die frischen Matten vor der Tokonoma oder Ehrennische des Hauptraumes ausge- breitet, die Erstfriichte nebst Sake oder Reiswein und frischem Reis in kleinen TaBchen vor die Ahnentafel gestellt und im Hof zwischen Eingang und Haustiire ein Feuer angeziindet, da- mit der Rauch den Seelen heimwinke. Sie werden nicht schreck- 189 haft empfunden, diese heimkehrenden Geister; es sind die nachsten Verwandten, die an allem Anteil nehmen, die helfen und raten sollen und so gut zu alien Festen gehoren wie die Lebenden selbst. Den SumidafluB hinab (durch Tokio) laBt man kleine Entchen aus Metall oder Papier, eine angeziindete Kerze ent- haltend, meerwarts treiben, damit auch die Seelen der Er- trunkenen eine Opfergabe haben, und daher wirft man auch alle Totenfriichte endlich ins Wasser. Ueberall sieht man ein warmes Erinnern, doch nirgends Trauer, die das Sein anderer Menschen verdiistern konnte. Es ist Grundzug des Japaners, seinen Kummer fur sich zu be- halten und niemand damit lastig zu fallen. Selbst wenn sie eine Trauerbotschaft ankiindigen, tun sie es immer lachelnd. Sie sind Meister der Selbstbeherrschung, ohne dadurch streng zu scheinen. Meine Nikkofahrt. Durch Herrn Dr. B. erfuhr der englische Dichter und Pro¬ fessor E. Speight von mir und lud mich in sehr liebenswiirdiger Weise ein, mehrere Tage in Nikko zu verbringen, und da ein Bankfeiertag sich angenehm zwischen Sonntag und Wochen- tag schob, konnte ich eines Abends abreisen. Man fahrt vier Stunden von Tokio nach Nikko, immer iiber eine fruchtbare Ebene langsam den nodwestlichen Ber¬ gen zu. Auf dem Bahnsteig drangte sich die Menge. Mutter spran- gen in die Luft, um damit das auf den Riicken geschnallte, laut heulende Kind zu beruhigen; andere Kinder, ruhig und mit tief- ernsten Augen, die wie Glanzkohlenstiickchen aus dem gelben Gesicht stachen, wischten sich ihre Tropfstumpfnase in Mutters frischgeoltem Haar; andere klammerten sich an die Kimono- falten und die allerreifsten trugen Biindel. Manner und Frauen iiberkugelten sich formlich beim Einsteigen, und kaum hatten sie Platze gefunden, so flogen die Sandalen von den FiiBen und verschwanden die FiiBe unter dem Kimono. Alle steckten ihre kleinkopfigen Pfeifchen in Brand, taten zwei Oder drei Ziige und steckten sie vergniigt in das Gurtelband zuriick. Alte Frauen mit mehr Glatze als Haar und mit schwarzleuchtenden Zahnen (in friiherer Zeit muBten sich alle verheirateten Frauen die Zahne schwarz polieren, um fremde Manner nicht langer in Versuchung zu fiihren) schenkten Sake in kleine TaBchen, die sie auch irgendwo aus ihren Falten hervorzauberten, und tranken sich gegenseitig zu. Den verstauten Korben ent- stromte ein Sammelgeruch von Daikon, Bohnenkuchen und Fischen. 190 Die Kiribaume mit ihren Facherblattern und dem seidigen leichten Holz, aus dem man die Getas oder Holzsandalen macht, begrenzten die Strecke, und immer wieder zeigte sich ein Lotos- teich mit seinen weiBen und seltener rosa Bliiten und den rie- sigen tellerartigen Blattern. Nicht nur der heiligen Bliite wegen zieht man die Lotos. Die Wurzel ist, wenn in Scheiben ge- schnitten, ein hiibsches und gutes Gemiise (weiB und durch- loehert wie ein Schweizerkase), und die gebratenen Korner (der schwarze Same, so groB wie Mais) schmecken gut. Allmahlich, als der Zug an Geschwindigkeit und die Luft an Warme zunahm, begannen die alten Manner ihren Kimono, unter dem nur das Lendentuch war, zuriickzuwerfen und sich den Bauch zu facheln und als dies keine fiihlbare Erleichterung brachte, streckten sie der Reihe nach die Beine bis zum Ober- schenkel zum Fenster hinaus. Hei, wie die frische Luft da das erhitzte Fleisch entlangflog! Kurz war indessen diese Freude; denn gar bald zeigte sich ein demiitiger Schaffner und bat, „sich giitigst herablassen und die geehrten Beine hereinziehen zu wollen, denn ein voriibereilender Zug oder sonst ein unvermu- tetes bedauerliches Vorkommnis konnte die sehr ehrenwerten Beine mitnehmen“ und so weiter. So kamen die Oberschenkel wieder unter die Kimonos und nur die Facher flogen . . . Mir gegeniiber saB ein junger Mann mit viel gutem Willen und wenig Englisch. Er starrte mich lange an und fragte dann todernst: „Meinerlieber fahrt wohin?“ Zuerst wuBte ich nicht genau, was er sagen wollte, doch lange Uebung mit Auslandern hat mich sprachgewandt ge- macht, und so erriet ich, daB ich „Meinerlieber“ war, worauf- hin ich ihm mitteilte, daB ich nikkowarts steuerte. „Sag’ nicht „Kekko“ (schon) vor Nikko“, das japanische „vedere Napoli e morire" wurde natiirlich angefiihrt und mehreres iiber Mei- nerlieber gefragt. Plotzlich fuhren wir in einen Bahnhof ein, und der junge Mann warf mir den blauweiBen Facher, den er getragen, zu, indem er iiberstiirzt iiber die Schulter zuriickrief: „Meinerlieber hat den Facher!“ Sprach’s und verschwand auf immer aus meinem Leben. Ich fachelte mich noch jahrelang mit meiner Nikkogabe. Um Japans Geschichte zu verstehen, muB man — ob man nun will oder nicht — ein wenig von Gotterlehre einflechten. In alter, alter Zeit, als ein Gott sein Schwert in den Ur- schlamm steckte, zog er damit Japan an die Oberflache, und weil der Schlamm noch wegspritzte, entstanden all die Insel- chen, die den Zutritt erschweren. Amaterasu-o-kami, die Sonne, lieB spater die beiden Himmelskinder Izanagi und Izanami herabsteigen und die Insel richtig formen. Izanagi als Mann, 191 tat dies gewissenhaft, doch Izanami verweilte sich und fiber - hastete ihr Werk, daher ist diese Kiiste auch voll Unebenheiten. Als sich die beiden Prinzen trafen, sagte er: „Wie angenehm, eine schone Frau zu treffen!" und sie erwiderte: „Wie ange¬ nehm, einem hiibschem Jiingling zu begegnen!" So geschah, was nach solchen Erklarungen gewohnlich geschieht, und aus dieser Verbindung entstand Jimmu Tennu, der erste mensch- liche Herrscher von Japan, von dem alle anderen abgeleitet sind. Amaterasu-o-kami schenkte ihm die drei Schatze — den Spiegel als ihr eigenes Sinnbild, die Schatzkugel, die Ebbe und Flut regiert, und das Schwert, das dem Harun al Raschids ahneln soli. Diese drei Dinge sollen noch im heiligsten aller Shintoschreine, in Ise, aufbewahrt werden. Da der Kaiser indessen von der Sonne abstammt und iiber alle MaBen heilig ist, sehickte es sich lange nicht fur ihn, seine FiiBe bildlich oder wirklich auf den Erdboden zu stellen, und daher wurde er immer auf Handen getragen, gefiittert und blieb so eine Gestalt, die viel Ehren, doch keinerlei Macht hatte. Der Shogun oder Herzog — oder erster Minister in unserem Sinne — regierte in der Tat durch die vielen Jahrhunderte, und das Haus, dem er entstammte, war zur Zeit das machtigste. So war es bei den Ashikagas, den Fujiwaras, der tragischen Fa- milie Heke, bei dem Eroberer Toyotomi Hideoshi, der Nikko er- baute, und bei den Tokugawas, deren erste Regenten, Iemitsu und Inyatsu, in Nikko begraben sind und die das geschichtliche Nikko wirklich ausmachen. Wahrend andere Anhanger pracht- volle Tempel (im wild iiberladenen, aber sehr wirkungsvollen Stil des goldliebenden Toyotomi) erbauten, legte ein Daimyo oder Prinz die herrlichen Kryptomeria-Alleen zur Erinnerung an. Diese sind nun dreihundert Jahre alt und eine Sehenswiir- digkeit. Nicht so stark wie die kalifornischen Rotholzbaume, sind sie doch ebenso gerade und von prachtvollem Bau, iiber- dies nur in Japan zu finden. Durch diese lange Allee und den frischen, ganz landlichen Ort hindurch erreichte ich die rote Briicke, die als Scharlach- bogen das blaue Bergwasser iiberspannt, und wanderte durch den ansteigenden Wald, durch den man einen Ausblic.k auf die Tempel hat, bis zur echt japanischen Behausung Mr. Speights, der mir sehr herzlich entgegentrat und mit dem ich spater und den ganzen folgenden Vormittag oben auf der Holzveranda saB, iiber alles Denkbare plauderte und seinen Gedichten lauschte. Ich schlief nach japanischer Sitte auf Steppdecken auf den Matten ausgestreckt und fand das im Sommer sowohl weich wie auch kiihl, nur empfand ich ein gewisses stilles Heimweh nach den Schuhen, die nach japanischer Sitte unten geblieben waren. 192 Seltene Blumen, fremde Straucher wiegten sich im Mor- gennebel, zuzeiten durchschnitt der Anschlag eines Tempelgongs lang und feierlich die Ruhe und starb im Schweigen unhorbar dahin, dann kreisten wieder die weiBen Nebel und zwitscherte ein japanischer Fink im nahen Geast. Nachmittags stiegen wir hohenwarts, erblickten unten im Tal die hellgriinen Reisfelder, die aufschwirrenden Enten, die vereinzelten Torii, die buntgekleideten Menschen und bewun- derten die figureniiberladenen Saulen, die geschwungenen Dacher, die flimmernden Nischen der reichsten Tempel von Dai Nippon, doch fur mich war die flieBende Beschworung vor einem Bauernhauschen bedeutungsvoller als all die Tempel- pracht. Das war die Seele des Volkes, die sich hier auBerte. Eine Mutter war im Kindbett gestorben, und da hatte der Gatte der Sitte gemaB ein Seidentuch im nachsten Tempel gekauft, die vier Zipfel an einen Pfahl gebunden und darunter auf eine Bank einen Eimer und einen Schopfer gestellt. Jeder, der vor- iiberging, sollte ein Gebet fiir die Tote sprechen und Wasser in das Tuch gieBen. War das Tuch von Wind und Wetter ganz vernichtet, so war die Seele frei . . . Bis dahin aber durfte man die Wasche des Kindes nicht im Freien trocknen, denn da kam sie und weinte in diese Kleid- chen, und da jammerte das Kind, sehnte sich fort und starb ebenfalls. Eigentiimlich ist ein japanischer Wald mit seinen Fohren und Bambus, fremdem Strauchwerk und farbigem Ahorn. Zu¬ zeiten findet man lichtgelbeAffen, doch um sie zu sehen, muB man tiefer eindringen. Man ahnt den Tengu — den Luftgeist mit der langen Nase, der zuzeiten seine Biirde daranhangt, nachdem er die Nasenspitze einem anderen Tengu auf die Sehulter ge- legt hat — und den Shojo, der die Gewasser bewacht und oben, an Stelle von Haaren, eine Fliissigkeit tragt, die ihm Kraft ver- leiht. Er ist sehr gefahrlich, doch hat er eine Schwache: er will so hoflich wie sein Nachbar sein, daher tut man gut, sich tief zu verbeugen, denn da muB er es auch tun; dabei rinnt die Fliis- sigkeit aus und laBt ihn kraftlos, und ehe sie sich neuerdings gesammelt hat, ist man schon fiber das Wasser hinweg und in Sicherheit. Im Yoshiwara. Hinter dem Abendmarkt liegt der Kwannontempel, der zu den besuchtesten Tokios gehort und der Gottin der Barmher- zigkeit geweiht ist. Als man sich namlieh nach der Naraperiode (um das Jahr tausend unseres Zeitalters) mehr an das Welt- fremde des Buddhismus gewohnt hatte und der Glaube einge- biirgert war, bemerkte man, daB sich die Urkraft des treibenden 13 193 Weltalls nicht nur als etwas Unvorstellbares auBerte, sondern auch durch Eigenschaften kundtat wie durch Licht, Giite, Barm- herzigkeit und so weiter, und daher wurden diese Eigenschaf¬ ten bildlich dargestellt und endlich auf diese Weise zu bestimm- ten Gottheiten. Die Besucher trieben wie vom Wind getragene bunte Herbstblatter in den dunklen Tempel hinein, warfen Miinzen in den Opferstock, verbeugten sich lachelnd und fluteten zum ent- gegengesetzten Tor hinaus. Jeder Beter riB am Gongseil, klatschte in die Hande, lieB die Gottheit teilnehmen an seiner Freude und empfahl sich ihr, urn wieder davonzuflattern, vom Strom des Seins erfaBt. DrauBen reihten sich die Theater und Erfrischungshallen um den Tempel, und dahinter, zu FuB er- reichbar, war die verbotene Stadt, das Yoshiwara. Ein Maler — mein Zeichenlehrer, denn ich wollte gern etwas von japanischer Malart erlernen — begleitete mich. Am Schutzmann vorbei, der den Eingang bewachte, und am Liebes 7 tempel, an dem die beiden Sinnbilder geschlechtlicher Liebe in Relief zu sehen sind, gingen wir durch die vielen StraBen, und obschon wir am Ort der Sinnenlust waren, muB ich lobend be- tonen, daB die Freudenstadt in Japan bedeutend sittlicher als der beste Stadtteil einer siidamerikanischen, besonders perua- nischen Stadt es im grellen Mittagslicht ist — und auch weit sicherer! Ich wurde von niemandem belastigt, angesprochen oder irgendwie unangenehm angestarrt. Nur die alten zahnlosen Mannchen in den Kafigen an jedem Eingangstor lachelten mir zu und forderten mich auf, einzutreten, indem sie die Preishohe nannten. Selbst die Madchen, die sich oben iiber die Galerien und Veranden neigten, waren tadellos gekleidet und betrach- teten mich mit sichtlichem Vergniigen. Ich trug ein rosa Kleid von Pfirsichbliitenfarbe, und man rief mir daher „hiibsch, hiibsch" zu. Wie sehr ich das Gegenteil war, lieB sich aus der Entfernung nicht erkennen, und das Kleid, ganz vorwiegend indessen die helle Farbe, war hiibsch . . . Die Hauser sind darin von den iiblichen Bauten verschie- den, daB sie keinen Zaun herum haben, mehrere Stockwerke tragen und die beiden Eingange an jeder Hausecke mit einer Galerie verbunden sind, in der man die lebensgroBen Bilder der Schonen studieren und sich die wahlen kann, die einem am besten gefallt. Friiher saBen die Madchen selbst hinter dem Gitter. Die Preise wechseln nach dem Wert der Frau. Eine enge, glattpolierte Treppe fiihrt in den ersten Stock, und die Schuhe bleiben unten. Oben sind die Zimmer, und da die armen Madchen ungeniigend gefiittert werden, so ist es Sitte, daB der Mann zuerst ein Abendbrot bestellt. Es gibt auch Stammgaste, die sich untertags anmelden. Auch erfordert es die Sitte, solch 194 einem Madchen irgend eine kleine Gabe mitzubringen, daher Desteht die Stadt aus einer breiten MittelstraBe, wo man alles, was man wiinscht, kaufen kann. Die Madchen werden — das erfuhr ich erst viel spater ge- nau, als ich bei einem Japaner wohnte, der sich mit Geisha- und Yorobefreiungen beschaftigte und ewig mit der Polizei auf dem KriegsfuB stand — sehr ausgeniitzt; denn wohl bindet sie der Vertrag nur zwei oder drei Jahre, aber sie machen unterdessen so viel Schulden (miissen sie, von der Not gezwungen, machen), daB sie in Wahrheit nie frei werden. Wollen sie infolge eines Sterbefalls in der nachsten Familie ausgehen, so werden sie von einem alten Weibe begleitet, sonst ist ihnen jedes Verlassen des Ortes verboten. Eins haben sie unseren ungliicklichen Madchen voraus: Es wird nicht als Schande angesehen, im Yoshiwara zu dienen. Viele verkaufen sich, um den darbenden Eltern zu helfen; viele, um einen begabten Bruder in Europa studieren zu lassen, und da die Ehen friiher immer von den Eltern geschlossen wurden und die Eheleute sich wohl achteten, nicht aber liebten, spielen in Japan die Liebesgeschichten stets im Yoshiwara, und nicht selten gehen zwei Liebende zusam- men in den SumidafluB, um im nachsten Leben vereint bleiben zu konnen. Mein Begleiter wiederholte mir immer wieder, daB dies ein „ungezogener Ort“ war, und auch, daB man Bekannte nie grii- Ben solle, weil man sich, der Yoshiwarahoflichkeit entsprechend, nicht erkennen diirfe. Er empfahl mir oft, mir die Schonen auf den Balkonen anzusehen, kniff indessen selbst die Augen zu oder starrte geradeaus, wohl der Versuchung wegen. Die sieben Herbstgraser.. Ende September, die Zeit der sieben poetischen Herbst¬ graser, die man drauBen auf der weiten Ebene um Tokio suchen, in die Vase der Tokonoma (Ehrennische) stellen und andachtig bewundern soil. Sie gehoren zum Herbst- oder Erntemond, der immer tiefrot ist, weil sich der Ahornbaum auf dem Mondacker verfarbt und Gluck bringt. Ich hatte viele neue Schiiler und war recht zufrieden. Einige lernten Englisch, andere Franzosisch und mehrere, ungewohn- lich nette, Deutsch. Sie waren alle sehr hoflich, fleiBig und an genehm, und iiberdies lernte ich eine Menge von ihnen. Zuerst lasen und schrieben wir, doch zum SchluB der Stunde muBte gesprochen werden, eine dem Schuler peinliche Auf gabe, da alle Lernenden behaupteten, es ware so schwer — nicht nur sprachlich, sondern auch gedanklich — mit uns Europaern zu sprechen. Daher wahlte ich immer etwas von Japan, und da 13 * 195 der Schuler den Stoff beherrschte, ungemein gern iiber sein Land sprach und sich sehr bemiihte, alles erdenkliche Wissen auf diesem Gebiet zu samraeln und auszukramen, waren wir beide sehr befriedigt von den Stunden. Ich erfuhr dadurch sehr viel und kam der Seele Japans so nahe wie ein Bewohner des Westens dies irgend kann; iiber die Schranke springt niemand. Hierauf begann ich nachzudenken, warum wir so schwer zu verstehen sein sollten, und kam, nach langem Priifen, zu fol- gendem Ergebnis: Die Japaner sind viel unbeweglicher im Denken als wir, dafiir aber ausdauernder und tiefer. Oft begann ich ein Ge- sprach, fand das Fortbewegen schwer, weil mein Zuhorer aus irgend einem Grunde nicht mitkonnte und lieB es fallen, um zu etwas vollig anderem iiberzugehen. Da starrte mein Schuler ge- wiB unsehend in das Zimmereckchen und antwortete nach ge- raumer Weile, nicht auf das, was ich seit vielen Minuten sprach, sondern auf das friihere Gesprach, das er mit Beharr- lichkeit zurechtgeknabbert hatte. Die Japaner sind nicht fiir’s Sprunghafte. Die beste Art sie zu verwirren — auch wenn sie die Sprache gut beherrschen — ist das Springen von einem zu einem ganz anderen Gegenstand. Sie konnen nicht zehn Ge- danken auf einmal wie eine Menge lauflustiger Jagdhunde an einer Leine halten; aber wir vermogen uns nicht so zu vertiefen. Gedanken zu sammeln, sie lange ausschlieBlich auf einen Gegen¬ stand zu richten und alles Nebensachliche auszuschalten, ist fur uns eine ebenso schwierige Leistung. Einen einzigen Schuler muBte ich aufgeben, weil ich nicht imstande war, ihn langer anzuschauen. Er kam friih am Morgen vor dem Friihstiick und gehorte der niedrigeren Volks- schicht an. Hoflich war auch er, doch von einem Taschentuch hatte er nie gehort. Seine Nase rann wie die Adelsberger Grot- tenbildungen. Mein Magen war der Nase nicht gewachsen. Ich erklarte, zu beschaftigt zu sein, und lieB Geld und Nase laufen. Die iibrigen Schuler schniiffelten so lange es ging und benutz- ten hierauf Papiertiicher, die im Kimonoarmel verschwanden. Dankbar und entgegenkommend waren sie weit iiber das euro- paische MittelmaB hinaus, und wenn ich ein Volk zu den En- geln zahlen wollte, miiBte ich das unbedingt bei den Japa- nern tun. Wann immer ich auf der StraBe gehen mochte, nie wurde ich belastigt, zu jeder Zeit half man mir gern mit ausfiihrlicher Erklarung und praktischem Beistand, und wenn mich jemand am Tage ansprach, so war es nur ein Schuler, der gern vier Satze Englisch an den Mann brachte und sich iiber alle MaBen klug vorkam. Dann verbeugte er sich und verschwand, stolz 196 mit einem waschechten Auslander in des Auslanders trii- gerischer Sprache verkehrt zu haben. Nicht minder belustigte mich, wenn es nicht regnete, das Warten auf die Elektrische. Japaner stehen da nicht wie wir, sondern sie kauern sich nieder und empfinden das als Ruhe- stellung. All diese kauernde Menschheit, manche Manner schon in europaischer Tracht, um einen Laternenpfahl geschart zu sehen, war sehr lustig, und heute kann ich auch kauern und mit einem Handler einen FuB iiber dem Erdboden verhandeln, wahrend ich die auf der Erde ausgelegten Waren betaste (schauen und nicht beriihren gibt’s im Osten nicht) und um den Preis feilsche. Eins empfand ich bis zur Unertraglichkeit: meine Kost. Ich arbeitete nicht mehr im deutschen Handelshaus, hatte meine Schuld beglichen und verdiente genug, um mein Zimmer zu zah- len, aber nicht in solchen Mengen, um mir die teure Pension leisten zu konnen. Etwas Reis taglich, eine Suppe oder etwas Gemiise hatte ich mir gern vergonnt, konnte mir diese Sachen indessen nicht beschaffen, denn im japanischen Hotel zweiter Klasse zu essen, hatte jenes unangenehme Aufsehen erregt, das ein Europaer gern vermeidet und hatte mich vielleicht in den Augen der Gelben, sicher in jenen der WeiBen hoffnungslos her- abgesetzt. Ich kaufte Sardinen, bis ich sie haBte, und lief um europaisches Geback bis weit iiber die Ginza; da schlug mir die Russin vor, ihre Tochter im Englischen fiir die Priifung vorzu- bereiten und dafiir von ihr einfach, wie sie selbst aBen, ver- kostigt zu werden. Ich ging begeistert darauf ein und hatte mich gerade in das vormittagige Schriftstellern, das nachmittagige Unterrichten, das abendliche Erfahren und Lernen hineingefun- den, als mein Leben eine unerwartete Wendung erhielt. Im Schatten des Adlers. Mrs. F., meine Amerikabekannte, die nun in Japan bei einer groBen Firma Korrespondentin war, fragte an, ob ich ge- neigt ware, bei einer deutschen Gesellschaft, deren Name nicht verraten werden durfte, eine Stellung anzunehmen, und ich sagte glatt „nein“; denn so gern ich die Deutschen sprachlieh habe, so wenig begeistern mich die reichsdeutschen Arbeitsver- haltnisse. Dazu muB man geboren sein. Oder vielleicht habe ich doch etwas von reichsdeutscher Begeisterung fiir die Arbeit, nur liegt mein Feld dem Handel zu weit entfernt; denn wenn ich schreiben darf, bin ich so gliicklich und gehe so sehr darin auf, wie der Deutsche in seinem Geschaft. Da mich indessen Ma- schinen und Duplikate bis zum Steifwerden langweilen, war mein „Nein“ ein sehr entschiedenes. 197 Und dennoch wollte ich gern verdienen. Zwei Tage spater traf ich die Dame zufallig wieder. „Sie wollen wirklich nicht?" „Nicht um die Welt.“ „Warum wollen Sie eigentlich nicht? Man zahlt wenig- stens 150 Yen fiir die paar Morgenstunden.“ „Ah — und gibt 150 Yen Grobheit dazu! Ich kann mich an den Ton nicht gewohnen. Ich habe zuzeiten fiir Reichsdeutsche nach Diktat glatt in die Maschine geschrieben. Himmel, wie un- freundlich sie immer waren und wie sie knurrten! Dagegen waren die Englander reizend. Kiihl, gelassen und durch und durch hoflich. Ich gehe nicht.“ „Es ist kein Handelshaus. Wenn ich wiiBte, daC Sie anneh- men wollten-ich soil eben nicht-“ Ich war zufrieden, nur unterrichten zu diirfen — ein weites Feld unbedingter Hoflichkeit — und sagte das. Frauen aber be- harren auf einem Gedanken, und gerade als wir uns trennen wollten, bemerkte sie: „Man ware gewiB sehr hoflich gegen Sie. Man sucht eine Hilfe bei der Deutschen Botschaft." Bei einer Botschaft!! Nun denke ich lachend zuriick, was ich mir darunter vorstellte. Ein halbes Himmelreich! Geheim- nis, Zauber, Kabale, Gefahren, vermummte Damen und mas- kierte Fremdlinge, Wunderschranke und eine Weisheit, die ge- wissermaBen aus den Schranken hervorquoll. Zum Gliick schloB dieses magische Bild auch eine unbedingte Hoflichkeit ein, denn nur die besten aller Sterblichen kamen zur Botschaft, und das bestimmte mich. Der Reichsdeutsche, der mich einzufiihren be- stimmt war, meinte allerdings als Dampfer auf meine jah ent- fachte Begeisterung, daB alles auf Erden, also auch eine Bot¬ schaft, seine Licht- und Schattenseiten habe. Natiirlich legte ich es mir so aus, daB man auf den Stufen ermordet werden konne, was nicht ohne Reiz der Romantik — wenigstens fiir die Hinterbliebenen — war. Am folgenden Morgen erschien ich im Amtsgebaude, das nicht wie ein Maschinenfolterwerk auf staubiger StraBe, son- dern richtig wie ein MarchenschloB, von hoher Mauer umgeben, in einem entziickenden Park lag, wurde von meinem Beschiitzer wie von einer liebenden Gluckhenne empfangen und hierauf vor den Kanzler gefiihrt, vor dem ich, da er so aussah wie ein Mann auszusehen hat (jedenfalls in meiner Einbildung), der die Ge- schicke der Volker wie Balle durcheinanderwirft, gehorsamst zusammenklappte. Er blickte mich mit jenem Adlerblick an, den uberhaupt zu entwickeln nur ein Reichsdeutscher imstande ist, gewann aber mein Herz durch die weise Bemerkung (siehe das 198 Diplomatentalent!), eine Kritik meines Romans irgendwo ge- lesen zu haben und er wiinsche das Werk zu lesen. Meiner Anstellung stellten sich politische Hindernisse ent- gegen, denn selbst als Oesterreicherin hatte man iiber mich irgend einen Halt gehabt, doch als Sudslawin war ich — auBer- halb der Botschaft — nicht zu packen. Da ich jedoch meine Werke in Deutschland verlegte, meine Aufsatze in reichsdeut- schen Blattern erscheinen lieB und niemand, der gerade tauglich gewesen, in Tokio war, so wollte man bis zur Ankunft des Bot- schafters Dr. Soli ein Auge zudriicken. Ob ich auf eine Woche zur Probe kommen wollte? So begann mein Botschaftsdienst. Lange Zeit floBten mir die altehrwiirdigen Kasten eine groBe Ehrfurcht ein, doch je mehr ich von dem Inhalt zur Abschrift erhielt, desto mehr schwand die Ehrfurcht. Selbst Sachen, die sich mit den Schick- salen der Volker befassen, konnen recht langweilig sein, und die aufregendsten von alien sah der Kanzler ganz allein. Als Auslanderin durften mir gewisse Sachen ja auch nicht iiber- geben werden, und alles, was zum Beispiel halbgeschrieben ver- nichtet wurde, muBte zu Fetzchen zerrissen in den Papierkorb Oder direkt ins Feuer wandern; denn die Japaner sind sehr schlaue Diener und stellen Akten leicht wieder zusammen. Hier muB ich auch erklarend einschieben, daB ich einer Bot¬ schaft wohl alle Wichtigkeit zuschrieb, indessen von keiner Neu- gierde befallen war. Meine eigene Arbeit war und ist noch immer das, was mich zu sehr erfiillt, und daher vergaB ich so haufig den Anlagestrich — jenes geheiligte Zeichen, das, iiber dem Schreibrand hinausgestellt, andeutet, daB hier dem Text eine Beilage hinzugefiigt wurde. Was ich hier schriftlich niederlege, wird keine Behorde be- leidigen, ja die, die es lesen und mich gekannt haben, werden gern unterschreiben, was Andeutung und nicht Verrat ist. Eine Botschaft ist etwas GroBartiges. Es ist ehrend, dort tatig ge¬ wesen zu sein, der Aufenthalt ist lehrreich, aber man muB im Leben von einer Erfahrung nicht notwendigerweise zu oft haben. Alles hat seine Licht- und Schattenseiten, und wo so viel Licht ist, haben die Schatten einen finsteren Anstrich. Am argsten sind die Botschaftsnasen. Nicht die in Menschengesichtern, denn diese waren samtlich gut gewachsen, sondern die amtlichen. Man vergiBt einen Beistrich oder einen Buchstaben oder den schrecklichen Anlagestrich, und der unmittelbare Vorgesetzte lenkt die Aufmerksamkeit des Schuldigen auf das Versehen. Dann kommt damit der Kanzler, der Gesandtschaftssekretar, der Gesandtschaftsrat, der Botschaftsrat und zum SchluB, wenn man Pech hat, Seine Exzellenz selbst! Bis man alle Phasen mit- 199 gemacht hat, sind Tage verstrichen und die Nase wie die eines Tengu, nur daB man seine Lasten nicht daranhangen kann. Schweigen ist bei einer Botschaft Gold: gegen AuBenstehende, wenn sie fragen, gegen die Vorgesetzten bei der Nasenvertei- lung, bei spateren Erzahlungen — und mit diesem Gold waf ich verschwenderisch, weshalb ich auch ersucht wurde, noch drei Monate langer zu bleiben, als ich es wollte. Und noch eins: Nasen ohne Ende, denn wenn man bei einer reichsdeutschen Be- horde einmal nicht brummt, so bedeutet das schon „ausgezeich- net“. Es geschieht selten! Aber die Nasen werden in so liebens- wiirdiger Weise erteilt, und man wird mit ausgesuchter Hoflich- keit behandelt, verkehrt mit Menschen, die wirklich zu den besten des Volkes gehoren, auch darin, daB sie alle tadellose Umgangsformen haben, daB man sich bei einer Botschaft — was immer sonst an Schatten auftauchen moge — wohl fiihlt. Zwischen Maschinen und Diplomatic liegt die ganze, bei alien heutigen Anschauungen uniiberbriickbare Kluft zwischen Adel und Volk. Schon die Botschaftshuthanger scheinen zu sagen: „Ich bitte um das Vorrecht, deinen Hut entgegennehmen zu diirfen!“ Im Geschaftshaus hatte es vom Nagel geheiBen: „Du Urschl, da hang’ deinen Gehirndeckel auf!“ Der Ton war es, der mich alles vergessen lieB; ich zap- pelte immer gern durch den schonen Park, denn wen man darin auch treffen mochte, der war und blieb, selbst wenn ver- argert, Ritter. Ich hatte viele Japaner kennen gelemt, einige aus sehr vor- nehmem Hause, und wenn ich mich auch morgens vier Stunden tiichtig abplagen muBte, so verbrachte ich zur Entschadigung. die Abende auf japanischen Entdeckungsfahrten (in Gastholen, bei hauslichem Schmause) Oder saB auf dem Koffer der Russin,. horte ihren Erzahlungen zu und liefi mir von ihr wahrsagen, wahrend 0 Take san (das ehrenwerte Fraulein Bambus) in der Kiiche ihr Unwesen trieb oder trockenen Fisch fur unsere schwanzlose Katze rieb. Zuzeiten zeigten sich noch die Gift- flecken — Reste meiner Perutage — und auch eine gewisse Schwache, meine Gedanken klar zu sammeln, doch sonst wurde ich allmahlich wieder, was ich einst gewesen . . . Der Septembersalon. Zu den schonsten Vorkommnissen jener Zeit rechne ich mein Zusammentreffen mit japanischen Kiinstlern bei Tadaichi Okada san. Ich traf da die Hofschauspielerin Suzuki, viele mo- deme Maler, einige hohe Staatswiirdentrager und durchweg, 200 Maimer und Frauen, die einen weiten Blick und etwas zu sagen hatten. Der junge Okada erklarte mir die japanischen Gedichte und erzahite die vielen Sagen, die sich an den Tanuki kniipfen. Das ist ein Tier des Landes, eine Kreuzung zwischen Waschbar und Dachs, der die Gabe besitzen soil, sich in eine alte Frau Oder in einen Monch zu verwandeln, der nachts, wenn er sich einsam fiihlt, mit seinem dicken Schwanz an eine Hiitte pocht, und der einen Riesenbauch hat, auf dem er, wenn er sich zufrie- den fiihlt, trommelt. Viele Marchen handeln von ihm, und er paBt in die herrlichen japanischen Herbstabende wie ein Stern an die Himmelswolbung: er belebt. Durch diese Bekanntschaft erhielt ich Einblick in das japa- nische Kunstideal, das sich von dem unsrigen so weit entfernt und doch auf seine Art ebenso groB ist. Das Ideal des Japaners in der Kunst wie im Leben ist das Einheitliche, Eingedankliche. Er geht bei alien Dingen auf das Unpersonliche, Ewige, Allgemeine zuriick, daher hat er auch ein so ausgepragtes Farbenharmonie-Empfinden. In einem japani¬ schen Hause sind die Matten weiBgelb, die Papierfenster gelb- weiB, die Holzwande licht, die Decke dunkler, der Pfeiler ganz dunkelbraun. Eine einzige Vase, ein einziges Bild unterbricht den von GelbweiB zu Braun laufenden Ton. Selbst das Feuer- becken, der Hibachi, paBt sich an, und die Seidenkissen, die als Sessel dienen und ganz diinn sind, liegen so, daB alles einen gefalligen harmonischen Eindruck macht. Sie malen auch nur eine Sache auf einmal und nie im Ver- haltnis zu anderen Dingen. Einen Kirschbliitenzweig aus dem Nebel brechend; einen Vogel, einen kahlen Ast, einen rauhen Fels — Begriff Winter. Alle losgelost von ihrer Umgebung, doch ohne daB man den Mangel an Hintergrund empfindet. Am schonsten sind die Sumibilder — japanische Tusche. Es liegt etwas geheimnisvoll Vertraumtes in diesen Bildern. An Stelle unserer Schlagschatten haben sie Schatten im Gegenstand selbst und Gauffrage. An Stelle der Perspektive Verkleinerung, und da meist kein ausgesprochener Hintergrund ist, fiihlt man keinen Mangel. Feinste Ausfiihrung und dennoch plastische Fernwirkung. Sie pflegen den Schonheitssinn in jeder Weise; durch die bunte Tracht, vorwiegend bei Kindern, durch das Schmiicken der Geschafte, durch die Blumenfeste, das Ziehen von Zwergbaum- chen, das Malen zur Freude nach einem Festessen, die Wan- derungen ins Freie, durch die Schonheit im eigenen Heim, durch das Ankaufen der billigen Farbendrucke, die der Ukiyoeschule angehoren und Arbeiten groBer Meister sind, und durch tausend andere Dinge. 201 Weihnachten. Der Herbst ist die schonste Jahreszeit Japans, und jeder Tag war eine Freude. Ich brauchte gute zwanzig Minuten von Yurakucho bis zur Deutschen Botschaft und durchquerte da den Hibiyapark. Das Laub der Ahorne schwamm als rote Flotte iiber den Teich, iiber den die Enten trieben, und das Immergriin vieler Baume verlieh dem Weg etwas Soramer- liches. Die Gartner wickelten die Bananen in Stroh und schiitzten die Subtropenpalmen. Die Chrysanthemen waren in vielen schnell errichteten Buden gezeigt worden. Eine solche Blumenpracht kennt man bei uns nicht. Es gab Stocke mit zwei- hundert Bliiten und einzelne, gelbe, die zu einer Krone gezogen waren, doch die Chrysanthemen, die sich wie ein Wasserfall nie- dergossen, und die sparlich flockigen weiBen gefielen mir am besten. Die Leute kamen und besprachen sie sachlich, priiften die Form der Zweige und die Zahl der Bliiten und immer schaute das Mannchen zuerst und rief dann um die Meinung seiner demiitig gebeugten Halite iiber die Schulter zuriick. Immer sind die besseren Halften iibrigens nicht demiitig ge- beugt; denn der Hausmeister der Botschaft stand sehr unter dem Pantoffel seiner keifenden Alten, und das Gebot des dreifachen Gehorsams — dem Vater, dem Gatten und dem Sohne gegen- iiber — erfahrt bei aller ostlichen Demut manche Triibung. Die Morgenlander kennen begreiflicherweise keine Weih- nacht, aber die Europaer lassen sich das Friedensfest nicht nehmen, und die ganze Botschaft war von Pfefferkuchenduft und Vorfreude erfiillt. Die Russinnen sparten jeden Sen, weil sie beabsichtigten, nach Deutschland zu ziehen und die Pension langsam aufzulosen, doch kam ich nicht um den Anblick eines Weihnachtsbaums. Mein Rundbesuch am Weihnachtsvormor¬ gen (ein Sonntag) war ein wahrer Hamsterzug. Jede der Damen und auch der Kanzler, der damals noch Junggeselle war, gaben mir Pfefferkuchen und Marzipan, und von Dr. Solf erhielt ich Seide zu all dem Zuckerzeug. Drei Wochen lang alien wir drei (die lieben Russinnen und ich) an dieser Pfefferkuchenmenge. Es war auch Sitte — ich glaube, nur in Japan, da ich es sonst bei Reichsdeutschen nicht bemerkt habe — Seife zu schen- ken, und ich wusch mich und alle meine Sachen ein halbes Jahr lang mit Weihnachtsgeschenken. Am Christtag arbeitete nur der Kanzler einige Stunden vor- mittags, aber am zweiten Feiertag kamen alle schon fur den Vormittag, und da ich auch zur Vormittagsgesellschaft gehorte, kam ich auch. Den Feiertag habe ich noch nicht entdeckt, an dem man bei Deutschen gar nicht arbeitet. Ich erinnere mich noch — nicht ohne Belustigung — einmal an einem Feiertag gekom- 202 men zu sein, von dem ich nichts wuBte. Die beiden unmittel- baren Vorgesetzten waren da, und ich arbeitete in voller Un- schuld bis nach elf und wunderte mich, daB niemand sonst ins Zimmer trat. Da meinte der Kanzler mit seinem feinen Diplo- matenlacheln: „Ich habe vergessen, Ihnen zu sagen, daB heute eigentlich Feiertag ist!“ Er, der nie etwas vergaB!! Da er indessen immer gut gegen mich war (Nasen abge- rechnet) und mich fiitterte, wenn mich ein feindliches Geschick zum Bleiben verdammte, so fiigte ich mich klaglos ins Unver- meidliche. N e u j a h r. Das ist das groBte Fest des Jahres. Alle Schulden miissen bezahlt sein, sonst wird man ungliicklich im neuen Jahre, neue Kimonos werden gekauft, neue Entschliisse gefaBt, die Ginza ist ein einziger endloser Kaufladen, voll von Wunderdingen, und die Geschafte prangen im herrlichsten Schmuck. Vor jedem Haustor steht ein B ambus — das Sinnbild der Rechtschaffenheit und Treue, der Ausdauer — und eine Fohre, das Sinnbild des langen Lebens. Die Strohschnur versperrt gleichsam den Eingang und hat den Zweck, Krankheiten abzu- halten, und der Krebs, als scharlachroter Punkt aus umgeben- dem Grim brechend, erinnert wieder an den Herzenswunsch des Fernostlers: endlose Jahre. Die bittere Orange spricht von „Ge- schlecht auf Geschlecht", und auf roten Lacktassen sieht man die henkellosen Sakeschalen zum Banzai (Prosit) und die Got- terkuchen oder Mochi. Das sind furchtbare Gebilde aus kleb- rigem Reis, die — je langer man sie iBt, desto groBer im Munde werden und wie Gummi unzerreiBbar, dabei klebrig wie Kleister sind, zu Neujahr iiberall angeboten werden und denen man, wenn man nicht sehr unhoflich sein will, nicht entgehen kann. Das beste ist, sie moglichst schnell mit aasgeierartigen Schlingversuchen in den Magen zu befordern und sich der Hoffnung hinzugeben, daB aus dem Magen alles einmal wieder herauskommt. Alles, was man zu dieser Zeit tut, ist sinnbildlich. Man iBt „Heringskinder“ (Fischlaich) weil dies das Sinnbild der Fruchtbarkeit ist, man kocht vor den Festtagen, doch nicht in der Neujahrsnacht, und man begibt sich auch nicht zur Ruhe; das Haus darf nicht gefegt werden, um das Gliick nicht fortzu- fegen, und man erwartet Neujahrsgaste von Mitternacht an. Alle miissen ein TaBchen Sake trinken, und an diesem Tag hat jeder das Recht, angeheitert zu sein. So lebhaft der Nacht- markt, so stark die Ellbogenstofle, die einem die gutgelaunte 203 Menge gibt, so still ist der Neujahrstag selbst. Nur die mannlichen Gaste fahren in Rikschas, die riickwarts ein Fahn- chen angebunden haben, um ihre Besuche zu machen, und zwar immer der Untergestellte dem Uebergestellten. Die Frauen des Hauses bewirten nur. In dieser ersten Nacht des Jahres muB man auch ein Bild mit dem Schatzschiff, begleitet von den sieben Gliicksgottern, drei Falken und oben der Ansicht des heiligen Berges Fujiyama unter das Kopfkissen legen, um von einem dieser Dinge zu traumen. Man besucht einen Tempel in der Richtung, die fiir diesen Zeitabschnitt die gliickliche ist, und man merkt sich das Tier, das dieses Jahr bestimmt. Der Kreis besteht aus zwolf Tieren, dem Tierkreis angepaBt, und je nach dem Tier richtet sich der Charakter des in dem Jahre Geborenen. Wir waren eben vom Rattenjahr in das Hahnjahr gekommen, und alle Wunschkarten trugen dieses Federvieh. In der ersten Woche spielen alle Leute daheim Gesell- schaftsspiele mit den Kindern und auf der StraBe ebenfalls alle Federball. Die Schlager werden in besonderen Buden massen- haft verkauft, und die meisten haben zum Schmuck, aus echter Seide und schon gemalt, Gesichter beriihmter Schauspieler, doch findet man auch Kirschbliitenzweige und andere Verzie- rungen. Die GroBe schwankt ebenfalls zwischen leichten Kinderschlagern und solchen, die wie ein Tennisschlager sind. Noch hatte die Kalte nicht eigentlich eingesetzt, wenn auch der Hibiyapark schon ziemlich entlaubt war und der graue Dunst triibselig um die langen Fohrennadeln kreiste. Grau hingen die Winterwolken auch iiber Tokios graue Dacher, graue StraBen, den graubraunen Sumidaflufi, die winterlichen Japa- ner in ihren wattegefiitterten, abgesteppten Kimonos, in denen das Kind stak und mit dem unbedeckten Kopf wie ein verges- senes Ackerriiblein herausspahte. Feierlich aB man die sieben heilsamen Krauter und verlas am achten Tage das vom Kaiser selbst preisgekronte Gedicht des Jahres. Der Herrscher stellte das Thema, und jedermann konnte am Wettbewerb teilnehmen. Auch Prinzen beteiligten sich. Die besten Gedichte legte man am Morgen des Preistages vor, und aus diesen wurde wieder das beste gewahlt und gekront. Jeder Japaner schenkt etwas am Neujahrsabend, und auch ich erhielt von alien Schiilern und Bekannten ganz reizende Gaben, die alle meiner Sammlung einverleibt wurden. Bam- busschachteln mit Lack iiberzogen, Seidentaschchen, japanische Kalender, ein Kakemono (Wandbild) und auch praktische Sachen, wie Kuchen, Reis, Tee. Bei einer Englanderin feier- ten wir ein Nachchristfest, und auch sonst war ich so viel geladen, daB ich eine Unmenge fremder Speisen kennenlemte. 204 Immer saB ich ganz pflichtschuldigst auf den Matten, erst mit den Fersen unter mir, spater seitlich vorgestreckt, um nicht ganz und gar steif zu werden. Das sclilimmste war das Auf- stehen, denn da kippte ich immer einige Male um, ehe ich wieder ins Gleichgewicht kam und der Blutkreislauf neuer- dings hergestellt wurde. Eins empfand ich stets unangenehm: das Verlieren der Schuhe. Es war mir, als bliebe mit ihnen all mein Selbstver- trauen auf der eisigen Schwelle zuriick, und dann in die durch- frorenen Schuhe die FiiBe stecken zu miissen, gehorte zu den Schattenseiten des Festes. Beim Sitzen versteckte man die FiiBe schon aus zwei Griinden: erstens der Sitte und der Warme, und zweitens, weil man immer ein boses Strumpfgewissen hatte. Wie neu solch ein Wirkwarending auch sein mag, Locher entwickeln sich schnell wie die Siinde. Dagegen saB ich ganz gewandt an den kleinen Tischchen, nahm meine noch nie gebrauchten Hashi oder EBstabchen aus der Papierhiille, fischte alles, was auf den einzelnen Tellerchen und in Napfchen war, in mein Reisschalchen und schaufelte die Kugeln gewandt in den Mund. Ich aB gern mit diesem ostlichen Schanzzeug, und der herrliche trockene Reis, der das Brot er- setzt, fehlt mir noch heute. Man mufite die Schale mit einem Heben der flachen Hand der abseitssitzenden Hausfrau (Damen essen auch in den vornehmsten Hausem nicht mit, sondern bedienen die Herren und die Gaste iiberhaupt) iibergeben und von ihr mit einer eben solchen Gebarde und dem Ausruf „de- miitig nehme ich an!“ entgegen genommen und an die Stirn gehoben werden. Ich begniigte mich mit einer Verkiirzung, denn ich wollte nicht den Reis auf mich und die Matten als Sternschnuppenfall herabregnen sehen. Wohl aber kniete ich beim Erscheinen der Hausfrau immer richtig nieder und schlug mit der Stirn dreimal nach rechts hin (rechts, um ein Zu- sammenstoBen der Kdpfe zu verhiiten!) auf die Matten. Das machte den Japanern sehr viel SpaB, weil mein kurzes Haar dabei wie ein Federwischer umflog. Sie finden, daB wir Augen wie Affen haben (so rund und licht), und daB wir iiberhaupt sehr unterhaltend sind (als Wilde). GewiB hat man mich oft nur eingeladen, um mein komisch fremdes Tun aus der Nahe zu beobachten. Da mir aber die Fernostler ebenfalls unterhal¬ tend vorkamen, dachte ich mir, daB unsere gegenseitige Be- lustigung nichts Verletzendes an sich hatte, wir uns also nur gegenseitig sozusagen „anspaBten“. Die Geistervertreibung. Anfang Februar rostet man in jedem Hause Japans Bohnen — die Zahl ist vom Alter des Hausherrn abhangig — und wirft 205 sie abends unter viel Geschrei und zum Jubel der Kinder in alle Ecken. In Tempel dagegen kommen Schauspieler auf Wunsch der Priester. Sie tragen altmodische Gewander und Masken und werlen ganze Sacke voll gerosteter Bohnen in alle Ecken, weil dadurch die Geister verscheucht werden sollen. Am wil- desten geht es dabei im Gogogujitempel her. Etwas Eigentiimliches sind die Haarstrahnen, die man so oft in einzelnen Tempeln an das Gitter um eine Fudostatue ge- kniipft sieht. Sie stammen von Frauen, die ein schlechtes Leben gefiihrt haben und nun geloben, keine Siinde mehr zu begehen. Will jemand — zum Beispiel ein Handwerker — recht geschickt werden, so nimmt er ein Stiickchen seines Kimonos und kniipit es mit der linken Hand an das Gitter der Gottin Benten. Wer eine Priifung bestehen will, schreibt diesen Wunsch auf ein Zettelchen, das er sorgfaltig kaut und dann mit aller Kraft durch das Gitter hindurch der Gottin auf die Biwa, die japa- nische Laute, spuckt. Bleibt der Zettel haften, so erfiillt sich der Wunsch. In Handfertigkeit sind uns die Fernostler unbedingt vor- aus. Sie haben eine riihrende Geduld, sich mit einem Gegen- stand lange zu befassen. Ihre prachtvollen Lackarbeiten, bei denen jedes Stuck zwanzig-, dreiBig-, ja hundertmal bestrichen und poliert werden muB, ihre Cloisonnevasen, ihre winzigen Edelsteinschnitzereien sind Zeuge davon. Aber auch im tag- lichen Leben widmen sie sich liebevoll der einfachsten Arbeit und gebrauchen dabei zehn Finger extra, denn ihre Zehen sind fast ebenso niitzlich und gewandt wie die Hande. Sie riihmen unsere technischen Errungenschaften und -machen sich diese Werte zunutze, doch ihre Auffassung der Arbeit ist wohl die richtige: schon, gediegen und nicht iiberhetzt. Das Leben ist schlieBlich eine Reise und wird dadurch nicht angenehmer, daB man sie im ExpreB zuriicklegt. Wer mit dem gemischten Zug fahrt, sieht und genieBt mehr von all dem, was an der Strecke liegt. Wir erreichen in unserem LebensexpreB auch das Ziel — das Grab — schneller, doch ist dies Zweck der Reise? Im japanischen Haus. Es war mitten im Winter — die Pflaume, kaum in Bliite, mischte ihr weiBes Flockengewoge mit dem des wirbelnden Schnees — als die Russinnen die Reise in die Heimat antra- ten und ich dadurch mein Heim verlor. Es kam nach einem groBen Erdbeben, bei dem sich die Wande des alten Baus ge- offnet und die Hauser sich einander genahert hatten. Im euro- paischen Hotel zu wohnen, war mir zu teuer, in einem japa- 206 nischen, das keine Oefen und bloB Schiebetiiren kennt, zu kalt and ungemiitlich. Wer mochte mein nachster Nachbar sein? Endlich, als ich schon ganz verzweifelt war, sagte mein Schiiler Ito: „Wenn Sie mit einem japanischen Zimmer von zweiein- halb Matten zufrieden sind, konnen Sie um 15 Yen monatlich bei mir wohnen. Ich lebe im Haus meiner Tante, und nur eine nahe Verwandte mit ihrem kleinen Kinde wohnt auch noch da.“ Nichts anderes war zu finden, und da er mir einen Gasring zur Heizung und als Kiiche versprach, der Raurn einen Tisch und Stuhl besaB, so daB ich nicht auf dem Boden zu kauern brauchte und ich mir sagte, daB ich viel lernen, wenn auch nicht behaglich leben wiirde, packte ich meinen bescheidenen Kram und siedelte um. Billig war es ja, und da ich spater dafiir unterrichtete, vermehrte der Wechsel meine Ersparnisse, wenn- gleich nicht das Korpergewicht, denn fiir das Kochen bin ich nie gewesen: erstens, weil ich fast nichts kann, und zweitens, weil mir nie die Zeit dazu bleibt. Es gibt meiner Ansicht nach Wich- tigeres zu tun, und in Tokio war ich in der Tat sehr angestrengt. Ich arbeitete den ganzen Morgen bei der Botschaft, unterrich- tete nachmittags bis sieben und schrieb dann und am Sonntag meine Beitrage fiir verschiedene Blatter. Nirgends ist es mir so klar geworden wie in Tokio, wie unheilvoll es fiir Schrift- steller (nicht einfach Journalisten) ist, Geldarbeit zum Neben- oder gar Hauptberuf zu haben. In dem einen Jahr in Japan schrieb ich nicht eine einzige rein belletristische Sache, ob- schon ich Sonderkorrespondent eines der bedeutendsten Textil- blatter Deutschlands wurde und journalistisch nicht zurxick- blieb. Viele werden sagen, daB man aus der Erinnerung heraus schreiben kann. Das beweist mein Japanroman. Indessen gibt es Augenblicksstimmungen, kleine Nebensachlichkeiten, denen gerade der tiefste Lebenszauber anhangt, die man erfassen muB, wahrend sie noch andauern. Ein Maler erinnert sich an tausend Nebellandschaften, die er gesehen, und malt sie gewiB auch ge- treu aus der Erinnerung, doch den Nebel, aus dem er — eigent- lich gestimmt — das leuchtende Herbstrot eines jah von der Sonne herausgefundenen Baumes brechen sieht und gleich malt, wird etwas viel Lebendigeres sein. Ich erwahne dies nur, um dem Leser verstandlich zu machen, warum mich spater die Not- wendigkeit, nicht durch mein Schreiben, sondem auf anderen Gebieten Geld zu verdienen, so sehr erbittert hat. Damals war die Mark noch unsichtbar, die Krone unsichtbarer und ich ganz bereit, immer und alles im Ausland zu verdienen. Es klingt so romantisch, wenn ich heute von meinem Woh¬ nen in einem Papierhauschen schreibe, aber damals war es Februar und sehr kalt, wenn der Tokiowinter auch hinter dem 207 unsrigen weit zuriicksteht. Ich schlief in dem kleinen Zimmer auf zwei Steppdecken Herrn Itos und deckte mich mit zwei Erbstiicken der Russin zu. Ein altes Sofapolster wurde Kopf- kissen, und morgens rollte ich alles wieder zusammen und lieB es in die Wand verschwinden. Die Futon liegen zu lassen gilt als sehr iibelbedeutend, weil man nur bei Schwerkranken das Bett unberiihrt laBt. So dicht auf dem Boden war es so kalt, daB es mir immer schien, als fiele ich in einen Keller, und wenn ich morgens auf- sprang, war ich aus aller Kaltenot, sobald ich aufrecht stand. Mein Friihstiick, auf dem Gasring zubereitet, bestand aus Tee und Zwieback, und ich wusch mich in der Kiiche. Um acht Uhr muBte ich das Haus verlassen, um gewiB um neun Uhr bei der Botschaft zu sein, und mit dem Laufen war es zu Ende, denn man fuhr eine Stunde mit der Elektrischen. 0, diese Fahrten! Die Wagen waren so voll, daB man oft nicht einmal bis aufs Trittbrett gelangte. Eroberte man sich indessen dort Raum fur einen FuB, so war man sicher; denn der Schaff- ner wies nie ab, und der Lenker lieB den Wagen manchmal wie ein storrisches Pferd jah nach hinten ausschlagen, wodurch drinnen alle Leute wie Bohnen geschiittelt wurden, was Raum machte, und drauBen fiel auch noch irgend jemand ab und machte auf diese Weise Platz. Man war meist derart einge- quetscht, daB man alle menschlichenFormen durchfiihlte undin keinem Lande als in Japan ware ein Fahren dieser Art moglich gewesen. In Peru hatte man der Frau vermutlich vor Gier die Kleider vom Leib gerissen, aber die Japaner sahen mit ganz kalten Fischaugen iiber mich hinweg und waren sich scheinbar nicht bewuBt, daB ich Weib war. Das machte das Fahren ertraglich. Unangenehm war es auch, meine Schuhe jeden Morgen vom poetischen Friihlingsregen ganz verschimmelt zu sehen. Als grime Frosche hockten sie vor der Haustiir oder in dem kleinen Fach, das zwischen der auBeren und der inneren Schiebetiir liegt und fiir Schuhe bestimmt ist. Nur die Tiir im Bretterzaun wird verriegelt. Abends, das heiBt, gegen Sonnenuntergang, wird das Haus, das tagsiiber alle Schiebewande offen hat, zugescho- ben, und zwar mit einem Farm, der glauben macht, es stiirze alles ein oder es fahre ein vom Erdboden erfaBter Mobelwagen voriiber. Der gleiche Larm kiindet friih morgens das Oeffnen der Schachtel an. Das groBte Abenteuer war indessen —- fiir mich wenigstens — das Bad. Bei der Russin liatten wir eine Art Wanne und heiBes Wasser zum Ueberschiitten gehabt. Hier naherte sich mein Hausherr vorsichtig mit der Frage, ob ich auch einmal baden wolle (Europaer stehen im Rufe, ungeheure Schmutz- 208 finken zu sein, die sich nie waschen), und sis ich bejahte, sagte er mir, daB ich im Hause seiner Tante quer durch den Hinterhof baden konne und daB er mich holen werde. Ich gab mich damit zufrieden. Am Abend kam er. Ich muBte die Schuhe durch das Haus tragen, vor der Hintertiir anziehen und durch den schneenassen Hof in das Nebengebaude wandern. Im offenen Gang saB die alte Dame im Lendentuch und mit nacktem Oberkorper und fachelte sich die verschrumpften gelben Briiste. Es war ihr heiB nach dem Bad. Im kleinen Baderaum brannte kein Licht, und ich konnte nur durch die Milchscheibe der Schiebetiir einigermaBen er- kennen, wo ich war. Endlich wurden die Umrisse einer Holz- tonne immer klarer, und ich entdeckte eine Art Leiter von drei oder vier Stufen, die zum Tonnenrand fiihrte. Der Hahn der Wasserleitung war iiber einem Becken in der Ecke. Zuerst wusch ich mich japanischer Sitte gemaB mit war- mem Wasser und Seife gut ab, hierauf versuchte ich, in die Tonne zu steigen, aus der sich hohe Dampfwolken walzten. Vergeblich! Krebsrot zog ich mein linkes Bein zuriick und ver¬ suchte es mit dem rechten, muBte dieses retten und steckte das andere hinein. Vierzig Grad kochten die Haut zu Bohnenfarbe. Nie, nie wiirde ich in diese kochende Tonne hineingelangen, und doch sehnte ich mich nach dieser Warme, die ich so sehr ent- behrte, seit ich die Tropen verlassen hatte. Da fragte Herr Ito, die Hand auf die Schiebetiir legend: „Ist es Ihnen zu heiB? Soil ich kaltes Wasser nachgieBen?“ Das half! Mit einem Satz war ich in der Tonne, rot wie ein Krebs und ohne Atem, aber drinnen. Dankend lehnte ich ab, froh, im Fall eines Aufgehens der Tiir wenigstens in Dampf gehiillt zu sein. Von da ab badete ich mindestens dreimal wochentlich, obschon ich die letzte Badende war. Nach Landes- sitte kommen zuerst die Manner, dann alle Frauen und endlich kam ich — denn Europaerinnen sind schmutzig (Japaner baden oft zweimal taglich) und vertragen iiberdies keine so groBe Hitze, so daB man das Bad etwas kalter machen muB. Immer- hin kochte ich in vierzig Grad. In offentlichen Badeanstalten wiischt der Badwaschler die Frauen. Das finden sie ganz na- tiirlich. Meines Hausherm Gattin (denn als das entpuppte sich die nahe Verwandte) hatte nichts dagegen gehabt, wenn er mir auch den Riicken geschabt hatte .... Die Mahlzeiten blieben skizzenhaft. Auf dem Heimweg kaufte ich um zehn Sen Brot und um zehn Daiken den langen japanischen Rettig und machte ein Mittagessen daraus. Abends kaufte ich Zwieback und verspeiste jhn im Bett, wahrend ich las und Tee trank. Der Gasring stand neben dem Kopfkissen, 209 so daB ich Kiiche, Lager und Biicherei an einem Fleck von einem Meter Umkreis hatte. Oft war ich eingeladen, und damit erhielt ich mich am Leben. Alles, was ich bei der Botschaft einnahm, legte ich in der Yokohama Specie Bank an, und lebte von dem, was ich durch das Unterrichten verdiente. Er- innerungsstiicke und die notigen Kleider erstand ich von meinen journalistischen Arbeiten fur japanische Blatter. Das erinnert mich an das Hemdhosendrama. In Yoko¬ hama kann man fertige Unterwasche fiir Europaerinnen finden. Da ich ungewohnlich klein und vorne wie ein Brett, hinten wie ein Fensterladen bin, waren alle fertigen Sachen fiir mich Sacke, in denen ich verschwand. Endlich erstand ich in Tokio selbst eine Kinderhemdhose, und nach diesem Muster lieB ich von der Tante meines Hausherrn mehrere Stiicke machen. Wir lagen alle drei — er als Dolmetsch — auf den Matten und be- sprachen die Herstellung. Nach einigen Tagen kam Herr I. und brachte mir die Sachen. „Wieviele Kleider tragen Sie iibereinander?" fragte er, denn Japaner tragen je nach der Temperatur vier, fiinf oder mehr Kimonos, einen auf dem anderen. Ich versuchte, ihm zu erklaren, wie wir uns kleideten. Am Abend fragte er, ganz ohne bosen Hintergedanken und nur aus wissenschaftlichem Interesse heraus, ob ich ihm zeigen konnte, wie die Hemdhosen stiinden. Leider konnte ich dem Wunsche nicht gut willfahren. Japanerinnen tragen ein rotes Tuch um die Mitte und bis zum Knie reichend; es wird so fest gebunden, daB die Beine nicht auseinandergehen und der Gang beeintrachtigt wird. Be- geht eine Frau Selbstmord, so bindet sie eine Schnur um die Knie, damit sie auch nach dem Todeskampfe in keiner unan- standigen Stellung angetroffen werde. Manner tragen nur ein ganz kurzes Lendentuch, das sie auch nachts umbehalten. Sie schlafen in ihren Tagkimonos, und jeder Schlafer hat nur An- spruch auf seine Mattenlange- und Breite. Es konnen vier oder sechs Personen in einem mittelgroBen Kaum schlafen, Kinder bei den Eltem. Alle Japanerchen tragen in den Tropfjahren Guttaperchaeinlagen, so daB nie ein Geruch bemerkbar und der Seidenkimono der Mutter, auf der das Parasitchen lebt, nie in Gefahr ist. Durch den Friihling. Ich konnte ein ganzes Buch allein von Japan fiillen, und mit Ueberwindung kiirze ich die Beschreibung der ferneren Monate im Land der aufgehenden Sonne ab. Im Mai — wenn im Hibiyapark die Azaleen und die Glycinien in erstaunlichen Massen und erstaunlicher Schonheit bliihen, wehen die groBen Seidenfische vor jedem Haus, in dem 210 Knaben sind. Dann feiern die Japaner das Knabenfest. Der Karpfen ist das Sinnbild des starken Mannes, denn nur er flieBt den Strom gegen alle Hindernisse aufwarts, wie es der Kraftvolle im Leben soli; aber man findet auch um die Familien- flaggen herum die Figur des Kintaro, der einen Hasen und einen Baren zum Spielgenossen gehabt hatte und in der Einsamkeit groB geworden war, und die Momotaros des Pfirsichkindes, das einem alten Ehepaar in einem roten Pfirsich geschenkt worden war und ihnen aus treuer Sohnesliebe spater einen eroberten Schatz heimbrachte. An diesem Tage fiillen sich die Augen der Mutter, die keine Sohne haben, mit bitteren Tranen .... In dieser Zeit aber regnet es auch mit einer Ausdauer, die nur einen Fernostler nicht aus der Fassung bringt; alles schimmelt und man bleibt im StraBenschlamm geradezu stecken. Dieses feinfadige NaB bewundern die Einheimischen und nennen es poetisch, weil es so weich auf Bliiten und frisches Grim fall! Man macht trotzdem Tempeiausfliige, bringt allerlei Anhanger mit, besucht die Graber der siebenundvierzig tapferen Ronin oder fahrenden Ritter, die aus Liebe zu ihrem verratenen Herrn alle Harakiri begingen, opfert vor Tenjin, dem Gott der Schulkinder, der einmal ein weiser Lehrer war und nun — aus weiB der Himmel welchem Grunde — in Ochsen- gestalt verehrt wird, und pilgert zum Erfinder des japanischen Alphabets, der gekiirzten Katakana, zu Kobo Daishi. In jenem Tempel sieht man iiberall auf den Tischen der Buden Dharmas ohne Augen. Man kauft solch einen Dharma, nimmt ihn heim und malt ihm erst die Augen ein, wenn der Wunsch, den man geauBert hat, erfiillt wurde. Dharma war ein buddhistischer Weiser, der sieben Jahre mit dem Gesicht einer Mauer zuge- kehrt saB, um besser iiber die Weltratsel nachdenken zu konnen und dem, da sie iiberfliissig geworden, die Beine abdorrten. Im Anfang fiel ihm das Wachen schwer, und als der Schlaf sich seiner immer wieder bemachtigen wollte, riB er sich Augen- wimpern und Augenlider aus und warf sie erziirnt auf die Erde. Daraus entsprang die Teestaude, damit Leute, die wachen wollen, sich nicht langer die Lider auszuzupfen brauchen. Vor Fujiyama. Zu den nettesten meiner Schuler gehorten zwei Herren, die beide groBe Freunde und in sehr hoher Stellung, dabei aber so bescheiden waren, daB ich erst kurz vor meinem Abschied aus Japan von der Ernennung des einen zum Finanzminister erfuhr. Sie lernten Deutsch, lasen Faust und konnten so herzlich wie Kinder lachen. Eines Tages nahmen sie ihre Kochin und ich Qieine Kamera mit, und so zogen wir hinaus nach Odawara, wo M* 211 der eine der Herren ein Landhaus hatte. Odawara ist eine uralte Stadt mit einer von groBartigen Wallen umgebenen Festung und mit Hauschen und Miihlen, wie man sie sonst nur in Bilderbiichern findet (die in Japan von hinten nach vorn und von oben nach unten gelesen werden!). In der Schlucht, durch die wir am nachsten Tage auf Fujiyama zu kletterten, liegt der beriihmte Badeort Miyanoshita mit seinen heiBen Schwefelquellen, und dahinter verschwindet man in das sogenannte Teufelstal. Der ganze graue Abhang ist eine einzige Rauchwolke, denn es sind da viele siedende Schwefelquellen, deren Rauch so erstickend ist, daB man das Gesicht verhiillen muB, wenn man dicht an ihnen vorbeigeht, um davon nicht etwa betaubt in die heiBe Quelle zu fallen, in der Eier gekocht werden und Wasser in kiirzester Zeit siedet. Ein schauriger Wind blies an diesem Tage iiber den Berg hin, und je hoher wir kletterten, desto mehr verrann das Grau schleppender Wolken mit dem seltsamen WeiB der dampfenden Bergabhange. Als wir zum Asahisee niederstiegen, heulte der Sturm durch das hohe Bambusrohr, das unheimlich achzte und krachte, und knisterten die Fohren, wie von machtigen Geister- handen geriittelt. Der heilige Berg lag hoffnungslos in einer dichten Nebelmasse, die sich zu klatschendem Regen verdichtete, so daB wir am Ufer in einem Gasthof eingeregnet wurden. Der See warf Wellen wie ein bewegtes Meer, und nirgends konnten die sonst verkehrenden Schifflein auslaufen. Der Nachmittag floB in den Abend, und immer noch saBen wir im Hotelzimmer, das gleichzeitig unser Speiseraum war (in Japan sind die Hotels in sehr viele Zimmer geteilt, so daB jede Gesellschaft fur sich allein ist und nur die gegen die Veranda offenen Tiiren bleiben). So unbedeutend dieser Friihlingsregen war, so entschied er iiber ein Menschenschicksal und brachte zwei andere in eine schmerzhafte Verkettung. Als wir namlich so vereinsamt im Zimmer saBen, begann ich Herrn A. zuzusprechen, nach Europa zu reisen und seine Kenntnisse zu verdoppeln. Er erkundigte sich genau nach den zu erwartenden Ausgaben, und wir wurden vom Eifer so fortgerissen, daB wir Plane entwarfen, Reise- strecken festsetzten und Studienzwecke besprachen. Spater fuhr mein Schuler von seiner jungen Frau, die ihm eben eine Tochter geschenkt hatte, auf zwei Jahre weg nach Europa, be- suchte meine Mutter, meine Verwandten und Freunde und kehrte schon wieder in sein Land zuriick, alles, ehe ich — sturm- gebrochen — in den eigenen Hafen einlief. Er aber gab mir ein Empfehlungsschreiben an jemand auf Formosa.... doch ich will nicht vorgreifen. Spat nachts fuhren wir im Wagen iiber Berg und Tal im stromenden Regen nach Odawara zuriick. Wir schliefen in den 212 leeren japanischen Raumen, nur durch Schiebetiiren getrennt, und ich erwahne nochmals zu groBem Lobe der Japaner, daB ich das nicht einmal mit WeiBen gewagt hatte. Ich lag auf vier Futon unter und vier iiber mir und wirkte auf und unter all den Stoffmassen wie eine Erbse unter Matratzen. Nichts als ein Haarschwanzlein sah vor. In Fischerdorfern. Wieder flossen die Tage wie die Perlen eines Rosenkranzes durch meine Finger. Manchmal betete ich den freudenreichen, wenn ein groBes Blatt meine Beitrage annahm, zuzeiten den schmerzhaften Rosenkranz, wenn mich das Gefiihl meiner Ein- samkeit iiberkam. Mitten unter Menschen war ich allein. Diese vielen Menschen der eigenen und der fremden Rasse waren nur Schiffe, die der Wind des Schicksals an meinem eigenen Schifflein vorbeitrieb und die ich bald aus dem Ge- sicht verlieren muBte. Der englische Dichter, der da sagt, daB die Sonne nur e i n Licht ist und es iiber Millionen Sterne gibt und dennoch das ganze Licht der Welt mit der hinsterbenden Sonne stirbt, hat recht. Die laue Zuneigung der Bewohner der ganzen Erde wiirde an Wert nicht der vollen Liebe eines einzigen Menschen gleichkommen, und ich liebte niemand, und niemand auf der Welt liebte mich — weder Kind, Weib noch Mann. Ich meine in dem Grad, in dem allein ich es gewiinscht hatte, und so wanderte ich die Kugel auf und ab, wie der bewuBte rollende Stein, der kein Moos sammelt: vollig ungebunden und vollig einsam. So oft ich Freunde machte, muBte ich weiter. Das war in meiner friihesten Jugend so gewesen, war es auf der Welt- reise und wird es immer sein. Fur die Seele einer Frau ist es schlecht, weil sie kalt und wurzellos wird und allmahlich die Fahigkeit einbiiBt, mit anderen Lebewesen vereint zu leben. Heute hause ich in meiner Klause wie ein Eremit. Wenn jemand an der Glocke reiBt und ich ihm offne, mochte ich ihm — da ich aus fernen selbstgeschaffenen Traumwelten zuriick muB in cine Umgebung, die jeden Reiz fur mich verloren hat — am liebsten „Memento mori“ zurufen und die Tiire zuschlagen. Da ich aber einmal bei einer reichsdeutschen Botschaft war, wo man seine Jugendlehren vom „Es schickt sich nicht“ wieder auffrischt, so verbeuge ich mich an Stelle dessen und frage, vielleicht nicht zu hinreiBend liebenswiirdig, nach dem Begehren des Besuchers. Einmal nahm mich jemand in ein japanisches Theater mit, in dem ich in einer Loge, die wie eine umgekippte Kiste war, auf Matten saB und dem Spiel zusah, das so vollig anders als bei uns ist und wo der Szenenumbau mit Hilfe von sogenannten 213 „schwarzen Mannem" (schwarzgekleideten Bedienten) geschieht und von den Zuschauern weggedacht werden soil; wo die Mu- siker oben auf der Biihne selbst sitzen und auBer den japani- schen Instruraenten noch die beiden „harmonischen Holzer“ eine groBe Rolle spielen, wo die Handelnden raeist Yoros aus dem Freudenviertel und alte Ritter darstellen Oder wie in „Kirare Yosaburo" einen aus Liebe und Weltverachtung zum Rauber gewordenen Helden verhimmeln. Manchmal sah ich Tanzstiicke, und nichts geht iiber die Ausdrucksfahigkeit der Hande ostlicher Kiinstler. Jeder Fin¬ ger redet, jede Handbewegung hat den Reiz einer Melodie, und gerade der Umstand, daB die Ziige so unberiihrt bleiben, erhoht in meinen Augen die Schonheit der Darstellung. Tragik liegt nicht in Grimassen, sondern in den feinen, abgetonten Be- wegungen, wie sie Menschen im hochsten Schraerz machen, in jenem hoffnungslosen Sichgehenlassen, wenn man merkt, daB es so ist, immer zukiinftig so bleiben mufi . . . Manchmal fiihrten mich meine Schuler hinaus an die Kiiste, um das Leben der Fischer kennen zu lernen, den Zauber der verborgenen Tempel, die aus Fohrengewirr iiber den unbegrenz- ten Ozean schauten und deren graugriine Dacher in ihrem Schwung an die langen, graugriinen Wellen des Meeres er- innerten. Der Bonitofisch wird, nachdem ihm Kopf und Schwanz ge- nommen wurden, getrocknet, und zwar auf luftigen Hiirden, die mitten auf der StraBe stehen und auf deren stark gesenkte Flache Sonne und Staub fallen. Nach und nach wird der Fisch so hart, daB er sich zwanzig und dreiBig Jahre lang halt, ohne sich irgendwie zu verandern. Er dient, auf einem besonderen Reibeisen geschabt, zur Wiirzung von Reis und Gemiise. Solch einen harten Fisch verschenkt man zum Abschied als Sinnbild, daB sich der Beschenkte so gesund erhalte und so unverandert wie ein trockener Bonito bleibe. Auch muB jede Gabe mit dem Noshi und der Doppelgabenschlinge versehen sein. Nur bei Trauergeschenken ist die Schlinge einfach, weil auch der Tote nicht zuriickkehrt. Seegras Oder Nori wird ebenfalls getrocknet und als Ge- miise gegessen, und auch eine Algenart scheint verwendet zu werden. Die kiinstliche Perlenindustrie ist dagegen ein Ge- heimnis und wird unweit des heiligen Ise betrieben. Man legt ein winziges Ding — einen so kleinen Buddha, daB man ihn nur mit dem VergroBerungsglas wahrnehmen kann, oder ein anderes winziges Dingelchen in die Auster hinein, legt sie zu- riick ins Meer (in abgegrenzter und an wohlbezeichneter Stelle) und nimmt sie erst nach drei Oder vier Jahren heraus. Dann 214 ist die Perle oder der umsponnene Gegenstand fertig. E c h t sind die Perlen ja auch, aber kiinstlich sind sie, und so schon und stark wie die natiirlichen sollen sie doch nicht sein. An einer Stelle ira Meer bei Kotsuura findet man ganz rote Fische. Diese diirfen nicht gefangen werden, sie wagen sich daher dicht an das Boot heran, und man fiittert sie. Bei der schonen Nihonbashi, der groBten Briicke Tokios, •findet taglich der Fischmarkt statt. Da tragt man auch den Fischgott spazieren, der auf goldenem Thron in prachtvoller Turmsanfte sitzt, und hier herrscht Ebisu, der getreue Gliicks- gott, der im Oktober auf Erden bleibt und nach dem Wohl der Menschen, besonders der Fischer sieht, wahrend die iibrigen Gotter zur jahrlichen Versammlung in den Himmel fahren. Sayanora. Musik, Aberglaube, Zwergbaumchen, Hunde und der schone japanische Hahn mit seinem Riesenschwanz, Marchen, Geister und Gotter, die Ainus auf Hokkaido, die heiBen Quellen auf Kiushiu, die ich besuchte, und in denen man ein sonder- bares Skelett, halb mit Mensch-, halb mit Tiergesicht aus dem heiBen Schwefel zog, Beppu, wo man die Tiicher in den ver- schiedenen Erdquellen farbte, und Kokura mit seiner Fabrik, wo die Madchen wie in einer Schule untergebracht und ebenso gut beaufsichtigt sind; die prachtvolle Inlandsee mit ihren tau- sendlnseln, Kobe, Osaka — die Handelsstadt, Kioto, Nara- sollen sie alle unerwahnt bleiben? Nein, die beiden letzten Orte darf ich nicht ganz tibergehen. Dr. Solf war nicht nur auBerst beliebt bei den Japanern, die ihn klug und leutselig fanden und deren Anteilnahme fur Deutschland er in hohem MaBe erregte. Wenn diese Freund- schaft nicht politisch auffalliger an den Tag trat, so war das in dem Umstande zu suchen, daB die Japaner Angst vor England haben und vor allem trachten miisseu, sich mit dieser GroB- macht richtig einzustellen. Sonst aber war Japan — gewiB durch die Erfahrung und den Takt des Botschafters — sehr ge- neigt, den Deutschen entgegenzukommen. In den Blattern las man immer wieder von der Armut der lernenden Jugend in Deutschland, und viele Gaben von kleinen und oft unbemittel- ten Schiilern liefen ein. Ja, ein armer Bauer, der in die GroB- stadt. kam, fand den Weg zur Botschaft und trug sein Scherf- lein bei, um der deutschen Not zu steuern, und friiher als andere Volker gaben es die Japaner zu, daB Deutschland in jeder Hin- sicht zu stark war — auch an Wissen, Geist und Charakter, was einem Lande mehr als Kriegskraft zu Ehren gereicht — um Jemals zu Grunde zu gehen. 215 Auf die Bitte Dr. Solfs hin war ich noch drei Monate iiber meine urspriingliche Zeit geblieben, und, so sehr man mir zu- sprach, vermochte ich nicht langer zu verweilen; denn der Weg vor mir war steinig und lang. So nahm ich denn mit ehrlich schwerem Herzen Abschied von der deutschen Botschait, froh, auch das Leben bei einer politischen Behorde kennen gelernt zu haben. Mit Empfehlungsschreiben versehen, mit Geschenken von iiberall beladen, verliefi ich am 1. Juli 1923 das Land, von dem ich, wie von keinem sagen darf: „Niemand hat mich beleidigt, niemand mir ein Leid zuge- fiigt!“ 1st das nicht das schonste und ehrendste Denkmal, das man einem Volke setzen kann, und ist nicht die echte Vater- landsliebe die, so zu leben, daB der Fremde mit solchen An sichten scheidet? Man spricht den Japanern groBe Sinnlichkeit nach. Wie hoch einschatzbar eben deshalb ihre vornehme Kiihle im Lande der Schiebetiiren! Gesegnet seien sie! In Kioto. Kioto ist die alte Konigsstadt (Yedo, das heutige Tokio, ist das Werk der Shogunen). Der Zauber des Mikado umgibt das stille Stadtchen mit seinem inneren Kranz alter, gekrummter, dunkelgruner Fohren und seinem auBeren Kranz von blau- schimmernden Bergen. Hier sind verschlafene Tempel am Ende verschlafener Gassen, und die Unberiihrtheit vergangener Zeiten liegt wie ein schiitzender Prunkmantel iiber allem. Unweit von Kioto ist Uji, wo die jungen Leute Leuchtkafer im Juni fangen und auch ihre Herzen gegenseitig einzufangen trachten. Da befindet sich auch, im Grim verloren, der schonste Tempel aus der Fujiwaraperiode, der gliicklichen Zeit Japans, in der die Frauen hochgeehrt und frei waren, wo Manner prunkvolle weibliche Trachten anlegten, wo es geniigte „Amida Buddha“ in unzahliger Wiederholung zu rulen, um selig zu wer- den und wo das Leben mit sanftem Facherschwingen verging. Uralte Fresken bedecken die Wande und weichlinige Dewas oder Engel stehen in Stein im Halbdunkel. Das Tempeldach bildet mit den Umbauten einen Phonix mit ausgestreckten Fliigeln, und der ganze Reiz des Mittelalters liegt wie ein staubiger Goldmantel auf allem. N a r a. Nara ist heilig. Das ist die Statte des Buddhismus, und der prachtvolle riesige Buddha, obschon nicht so ansprechend wie der von Kamakura, ist aus der Naraperiode —iiber 1000 Jahre zuriick. Hier entwickelte sich das Volk zuerst zu Kunst- empfinden, zu neuem Glauben und zum BewuBtsein eigener 216 Macht. Es ist die Wiege der Kultur, die hier Fremdes ab- streiite und die eigenen Bahnen zu gehen versuchte. Nara macht auch auf den, der sich weder mit Religion, noch mit Kunst beiaBt, einen ganz eigenen Eindruck, denn die Hauser sind vom Hauch des Westens, der alle Poesie in kalte Prosa zieht, noch unberiihrt, und durch die breiten, aber altmodischen Strafien laufen unbehindert die heiligen Rehe. Sie kommen aus dem riesigen Narapark mit seinen zahllosen Tempeln und Schreinen, laufen auf die Rikschas, die gemachlich dahinrollen, zu, und beschnuppern fragend den Fremden, geben ihm einen gutmiitigen StoB mit der Nase, wenn er geizig genug ist, ihnen nichts zu geben, und laufen wieder davon. Friiher war auf das Toten eines solchen Rehs die Todesstrafe ausgesetzt, und auch heute wiirde das Verletzen fur den Tater ernste Folgen haben. Wer aber wollte solch hiibschen Tieren etwas Boses zufiigen wollen? Osaka ist dagegen die kalte Handelsstadt mit vielen Elek- trischen, groBen Geschaften und schon unhoflich gewordenen hastenden Japanern. Ist Eile und blindes Geldsuchen wirklich Hauptzweck eines Menschen? Ist die vornehme Gelassenheit, die in stilleren Stadten an den Tag tritt, nicht die bessere, echtere Lebenskunst? Im Land der Morgenstille. Jedermann kennt Japan, wenigstens aus Bildern und Be- schreibungen heraus, doch kaum acht Stunden von Moji ent- fernt liegt Fusan an der Kiiste Koreas, und damit gleitet man in Gebiete, die wenig besucht und weniger beschrieben werden. Kaum sind wir iiber die Grenze und unterliegen der iiblichen Plage von PaB- und Gepackuntersuchung, so verwandeln sich die heimkehrenden Studenten, die bis hierher in graue Kimonos gehiillt waren, in das steife, durchsichtige WeiB ihrer Landes- tracht und lacheln zum ersten Mai selbst mit ihren schwer- miitigen Augen unter hochgeschweiften Brauen. Alle Volker, die unfrei sind, — Korea ist nun unter japanischer Herrschaft — haben diese eigentiimliche Schwermut im Blick. Als ob sie immerwahrend auf eine tote Vergangenheit schauten, und viel- leicht sind sich die wenigsten dieses Umstandes bewuBt. Mir gegeniiber sitzt ein altes Weiblein in kurzem weiBen Leibchen und einem sehr weiten, durchsichtigen Rock aus Hanf- gewebe, unter dem ein zweiter, ebenfalls weiBer und steifer Unterrock vorschaut. Darunter kommt eine weite, unten ge- bundene Hose und an den FiiBen tragt sie komische Schnabel- schuhe, teils aus Gummi, teils aus Stoff. Ein alter Mann hat sie nur aus Stroh und wirft sie mit den Zehen wie Balle auf 217 und ab. Die Kinder haben das Haar geflochten, die Erwachsenen geknotet. Beim obersten Haarschopf pflegten unzufriedene Ehefrauen ihre ungehorsamen Gatten zu ziehen. Ob man die Sitte bei uns einfiihren sollte? Die weiehe Sanftheit japanischer Landschaft war wie weg- gewischt. Naherriickende, hierauf wieder zuriickweichende Berg- riicken, seltsamformig und schwachbewaldet, wurden sichtbar, und alles wirkte herber, frischer, unberiihrter, selbst die Reis- felder, aus denen sich oft Kraniche erhoben. Die Bauernhaus- chen hatten flach wirkende, strohbedeckte Dacher, die wie mit einem groBen Fischemetz iibersponnen schienen, und einige von diesen Hiitten waren nur aus Lehm irgendwie zusammen- geworfen. An den Aeckern entlang, wie stumme Wachter, liefen Pappeln, und nackte Kinder wechselten mit halbnackten Leuten. Alle Naturvorgange spielten sich angesichts des fahren- den Zuges ab. Ich faBte eine unerklarliche gliihende Zuneigung zu Korea. Es heimelte mich an, und der Eindruck des unberiihrten Landes lieB Geschichten wie Miicken durch mein von Anlagestrichen etwas verdorrtes Gehirn fliegen. Da ritten auf holprigen Feld- pfaden Manner auf winzigen Pferden, trugen schwarze RoB- haarhiite, die wie umgekippte Ofenrohren am Ende der langen gelben Gesichter saBen; oder es schliefen koreanische Feld- arbeiter im Schatten eines Heuschuppens, die lange Pfeife mit dem winzigen Kopfchen neben sich, den Hut seitlich auf dem Ohr ruhend; unter dem Vordach eines einfachen Gasthofes speiste ein besserer Mann, mit seinen Stabchen den Reis in den Mund werfend, und hatte auf Kopf und Schultern den unge- heuren Hut, der wie ein umgestiilptes Waschbecken aussieht und ein Ueberbleibsel vergangener Tage ist. In den guten alten Zeiten schlugen sich die Koreaner namlich so gern gegenseitig die Kopfe ein, daB ein weiser Regent den EntschluB faBte, dem abzuhelfen, indem er anordnete, daB jedermann einen irdenen Hut tragen muBte. Enstand nun ein Streit, so zerbrach der Hut, und da man mehrere Monate arbeiten muBte, ehe man genug Geld zu einem neuen Hut hatte, wurden die Leute sanft- miitiger und anstatt sich halb oder ganz totzuschlagen, be- schimpften sie sich gegenseitig mit wachsender Gewandtheit, so daB — obschon die Hiite heute aus RoBhaar sind — diese schone Sitte noch geblieben ist. Den ganzen Tag hindurch raste der Zug durch die frucht- baren Ebenen, an Bahnhofen voriiber, denen der pfefferige Duft fremder Kost und fremder Rasse entstromte, und am Abend naherte man sich Seoul (Saul) oder wie die Japaner nun sagen „Keijo“. 218 Line Bekannte Herrn A.’s, eine hiibsche Japanenn, er- wartete mich, und in einer Rikscha rollten wir ihrem Hause zu. Manner mit dem „Tsige“ oder langen Riickenbrett, an dem riesige, ganz untragbar scheinende Lasten befestigt sind, stol- perten an uns voriiber, Frauen in ihren durchsichtigen schnee- weiBen Kleidern mit Kdrben au! dem Kopfe kreuzten unseren Weg, und vor den niedrigen Geschaften standen machtige Eisen- topfe, die das Sauerkraut der Koreaner und ihre stark riechende Pokelware enthielten. Auf langen Schnurvorrichtungen, die Mauern entlang und auf dem FuBboden, trocknete iiberall Pfeffer, und gelungen war es, daB fiir Hunde ein niederes Loch in der Hausmauer gelassen worden war, durch das sie ein- und ausschleichen konnten, oline jemand zu belastigen. Katzen, die seit altersher verachtet sind, standen fauchend auf den dicken Strohdachern und wurden von ihren menschlichen und hiindi- schen Feinden verfolgt. Was ich auf Reisen so anziehend und zuzeiten doch so schwer finde, ist das ewige Sichumstellen. Heute lebe ich ja- panisch, morgen koreanisch oder wieder als WeiBe, und selbst da nie unter den gleichen Verhaltnissen. Kaum war ich in mein vorlaufiges Heim gekommen, so brachte man mir eis- gekiihlten Gerstentee und fiihrte mich sodann ins Badezimmer, wo in einem Bambuskorb der iibliche Yukatajikimono und ein Obi bereit lagen, und daher erschien ich, sehr zur Belustigung und Befriedigung meiner Gastgeber, als Japanerin. Nur muBte ich den Kimono von links nach rechts (also nach unseren Be- griffen verkehrt schlieBen), denn von rechts nach links schlieBt man ihn nur bei Toten, vielleicht weil da das Herz, das im Leben frei sein soil, mehr bedeckt wird. Das hat bei mir wenig Gefahr; das Herz wirkungsvoll um- zubringen, haben sich zu viele Leute von Kindheit an bei mir bemiiht. Nun ist es der Muskel, der das Blut umherschieBen laBt und nicht einmal in der Eigenschaft sonderlich hervor- ragend . Die nachsten Tage vergingen mit dem Besichtigen der Sehenswiirdigkeiten, und obschon ich es eigentlich vorziehe, aufs Geratewohl durch die StraBen einer fremden Stadt zu pilgern und den fremdartigen Duft — korperlich und seelisch zu nehmen — einzuatmen, so fiigte ich mich hier hoheren Wiin- schen, durcheilte das Museum, sah die alten Buddhagemalde (noch mit runden Augen, ein Zeichen, wie alt sie waren und wie fremd noch der neue Glaube), die seltsamen Dachziegel mit der veralteten Schrift, die Porzellanvasen, der Stolz koreani- scher Kunst, die sich hauptsachlich in der Keramik hervortat, und durfte, geleitet von haselnuBbraunen Offizieren, die schonen Parkanlagen der koniglichen Garten besuchen und selbst die 219 Wohnraume im alten Palast, in dem die schone Konigin Ii ge- totet worden war. Die Quelle im Park ist von schon geformten Steinen umgeben und heiBt Paradiesquell. Die Offiziere tran- ken eifrig, doch mich hat Wasser immer kalt gelassen. Man soil nach GenuB dieses Wassers lange, lange leben. Gott schiitze mich davor. Im Pagodenpark steht die dreizehnstockige Pagode. Die obersten drei Stockwerke stehen daneben, weil die Japaner sie fortzuschleppen beabsichtigten. Es gelang ihnen jedoch nicht. Unter der Pagode sitzen alte Manner und rauchen Pfeife — im Nichtstun sollen die Leute stets groBartig gewesen sein — und spielen ein Wiirfelspiel, wahrend die Kinder in losen Jacken und kurzen Hoschen umhertollen. Am liebsten hielt ich mich auf dem Markt auf. Da standen die schlanken einheimischen Manner in ihren priesterlich wir- kenden, weiBen Gewandern stolz und wortkarg hinter den llachen, runden Korben, die mit Bohnen, Kastanien, Passania- niissen, Satokartoffeln und anderen Landeserzeugnissen ge- fiillt waren Oder mit hellgelbem, grellrotem Oder schwarzem Zuckerwerk, das wie zerstampfte Kohle in Wurstform aussah und von dem ich, bei allem Wissensdurst, nicht kostete. Nie- mals priesen die Handler ihre Waren an, doch kaufte man, so lachelten sie plotzlich und waren sehr hoflich. Von den Haken der Fischhandler hingen zu Kranzen ge- bundene Fischlein, trockene Bonito, faserige Teufelsfische und Korbe voll Haifischflossen; es gab auch Geschafte, in denen man Riistungen aus Bambus erstehen konnte — Armstiitzen, Brust- panzer, Kragenersatz und Beinhiillen, doch war das ohne kriegerische Bedeutung, sondern diente lediglich dazu, die steilen Gewander vom schweiBnassen Korper abzuhalten, um sie langer weiB und frisch zu erhalten. Das Waschen dieser Gewander mit Hilfe von flachen Brettchen, mit denen sie am FluBrand bearbeitet werden, und das gleichmaBige Anschlagen der glatten Hdlzer, mit denen sie gestrichen werden miissen, um glatt und steif zu sein, — was tagliche Frauenarbeit ist — gibt den Takt, das Hohelied konnte man behaupten, von Seoul an. Ueberall ertonte das einformige Klapp, Klapp, Klapp der Holzer. Das Jugendherstellmittel. Korea hat eine Pflanze, die nirgends sonst auf der Welt erfolgreich gebaut werden kann, noch wild gefunden wird — Ginseng. Es ist ein Wiirzlein, das — mit Zuhilfenahme einer starken Einbildungskraft — tatsachlich wie ein Mannchen mit Kopf, Armen und Beinen aussieht, und das, zu Tee verkocht, an- geblich die Gabe besitzt, von alien Uebeln zu heilen und einen 220 alten Mann wieder jung zu machen. Das schatzen vorwiegend die Chinesen hoch ein, fur die das Leben nur Wert hat, wenn die drei Hauptdinge — Geld, Frauen und dadurch Sohne, ge- paart mit hohem Alter — in ihren Besitz gelangen. Man findet Ginseng zuzeiten wild in den unwirtlichen Bergen, wo noch der Tiger uraschleicht (der indessen nie einen Betrunkenen angreift, weil ihm, wie man behauptet, vor so einem graust), und wenn ein Mann das Gluck hat, Ginseng zu entdecken, so baut er sich eine Hiitte daneben, denn fur eine echte Ginsengwurzel, iiber die alle Krauterbache der Berge ge- laufen sind und die zwanzig Jahre die Strome der Erde in sich aufsaugt, zahlen die Japaner tausend Yen (2000 Mark!). Man pflanzt aber Ginseng auch an, sieht, daB er genug Schatten findet, und wartet vier bis fiinf Jahre, ehe man die Wurzeln herausnimmt, sorgfaltig reinigt, trocknet, zahlt und in Schach- teln packt. Jede Wurzel hat eine rote Papierkrawatte wie bei uns die Zigarren und darf auch nur in Apotheken verkauft werden; denn Ginseng ist Staatsmonopol und tragt der japani- schen Regierung mehrere Millionen Yen ein. Ginseng wird von Chinesen in Massen erstanden und auch nach Ansiedlungen verschickt, die, wie Nordborneo, vorwiegend von Chinesen be- wohnt werden. Die Vereinigten Staaten versuchten, mit sehr mittelmaBigem Erfolg, Ginseng anzupflanzen. Nun wollte ich auch gern Ginseng trinken, denn wenn ich gleich keiner Verjiingung bedurfte, wiirde mir eine Kraftigung nur wohl getan haben, und am folgenden Morgen brachte mir mein liebenswiirdiger Gastgeber in der Tat eine Schale Gin¬ seng. Der Tee roch wie Fleischsuppe, in der Mohrriiben einge- kocht wurden, und ich glaube mich zu entsinnen, daB Ginseng tatsachlich in die Klasse der weitesten Verwandtschaft mit diesen mir nicht iibermaBig angenehmen Wurzeln gehort. Sonst war das hellgelbe Getrank leieht zu nehmen, und im Augenblick verspiirte ich keinerlei Wirkung, doch da ich an diesem Tage in heiBer Sommersonne der Subtropen sieben Stunden ohne An- strengung lief, schreibe ich dies doch dem GenuB des Altmanner- wiirzelchens zu. Wer indessen diesem Verjiingungsmittel zu haufig zuspricht, der soil dem Wahnsinn verfallen. Bei einem Edelmann. Herrn Y., dem es gelungen war, einen hohergestellten Be- amten dafiir zu interessieren, verdankte ich den Besuch bei einem alten koreanischen Edelmann, wodurch ich die Innen- einrichtung in einem vornehmen Hause dieser zuriickhaltenden Rasse kennenlernen konnte. 221 Die Gebaude waren von einer hohen, ieindlich wirkenden, etwas gesenkten Mauer umgeben. Wir traten durch das alte Tor in einen sonnentrunkenen Hof und durch ihn weiter in einen zweiten, ebenso stillen, ebenso schimmernd weiBen und von da aus, von einem Diener geleitet, in das eigentliche Herren- haus mit seinem polierten FuBboden, der schon an und fur sich eine Sehenswiirdigkeit war, und iiber ihn hinweg zum er- hobenen lagerahnlichen Sitz des Hausherrn, der ein dreieckiges Polster als Riicken- und ein Holzgestell als Armstiitze hatte. Er begriiBte uns sehr hoflich, seine lange Pfeife zur Seite legend, und fiihrte uns personlich durch die hohen Gemacher, um uns die kostbaren alten Schranke mit ihrer verschlungenen Einlegearbeit aus Edelsteinen und Perlmutter zu zeigen. Bald war der Grand ebenholzschwarz, bald scharlachrot, und Kra- niche und Schildkroten jagten sich da in unglaublichen Stel- lungen durch iippige Blumenranken und verworrenes Blatt- gewirr. Der Kranich ist das Sinnbild langen Lebens, die Schildkrote — wenigstens in Japan — des weiblichen Gehor- sams, denn so wie die Schildkrote bei der leisesten Beriihrung einer Hand Pfoten und Kops einzieht, so sollte jede Frau de- miitig Kopf und Pfoten einziehen, wenn ihr Herr und Gebieter sie beriihrte. Herrliche Kakemono beriihmter koreanischer Meister, meist Tiere in sinnbildlichem Zusammenhang mit der Natur dar- stellend, zierten die Nischen, und runde oder trommelartige Porzellansitze luden zur Ruhe ein. Der Edelmann mit seinem langen, schiitteren Barte und der langeren, diinneren Pfeife, geleitete uns als besondere Gunst- erweisung durch einen langen, kalt wirkenden Gang zu dem Eingang der Frauenraume, wies mit der Hand auf einen Hof, der voll groBer Eisentopfe war, zeigte dunkle Spalten dahinter (aus denen es hervorkicherte) und erklarte dies fiir die Kiiche. Dann lieB er uns Kehrt machen; denn Frauen sind nichts fiir neugierige Augen. Heute erfreuen sie sich ohnedies einer groBeren Freiheit als einst. Sie gehen unverhiillt, obschon ganz Wohlerzogene noch begehren, daB die Frauen bei ihrem Erscheinen den breiten Aermel vor das Gesicht schlagen. Sie nehmen auch an Unter- haltungen teil. In alter Zeit muBten sie tagsiiber fleiBig ar- beiten, abends jedoch von neun bis Mitternacht durften sie sich gegenseitig besuchen, und das war die „hora regalis“ fiir die Manner. Es ertonte der Gong, und wer nach der neunten Stunde auf der StraBe war, der wurde vom Schutzmann tiich- tig verpriigelt; denn es war „Damenstunde“. Zum Abschied schenkte mir der Herr zwei schone korefepi- sche Facher, das Lebensgrundgesetz darstellend, „In Yo“ o|ter Licht und Schatten, Ruhe und Bewegung, das Schaffende und das Erschaffene. Ich dankte auf Englisch, verbeugte mich tief und hielt mich am Seil an, wahrend ich wieder in meine Schuhe schliipfte, doch dann muBte ich mich nach westlicher Art hinhocken, um sie zuzukndpfen. Wir konnen unsere Schuhe fiiglich nicht nur mit der groBen Zehe zum Gehorsam bringen. In H e i j o. Heijo liegt eine weitere Tagereise mit dem Schnellzug gegen Norden. Es war einst die Hauptstadt und ist geschichtlich viel wertvoller als Seoul. Wohl stieg angeblich zur Zeit des Kaisers Yao in China, also um 2332 vor Christi, Whanung, der Sohn des Schopfers, vom Himmel herab, begleitet von 5000 Geistern, und griindete, unter einem Paktalbaum, das Reich der Erde, seine Minister Wind, Regenbeherrscher und Wolken- lehrer an ihre Stellen schickend. Doch erst im Jahre 1766 vor Christi wird die Geschichte etwas glaubwiirdiger, als der Nero Chinas, der furchtbare Kaiser Chu, alles beherrschte, was da- mals von der ostlichen Welt bekannt war. Er liebte seine jiingste Nebenfrau, die wunderschone Tal-geui und schlug ihr nie einen Wunsch ab, wie blutgierig er auch sein mochte, daher planten die Mandarine (Minister) ihren Untergang, doch fand sie den Schuidigen immer heraus und lieB ihn kurzerhand um einen Kopf kiirzer machen. Da folgte ihr der weise Ki-dscha von feme, als sie ihren monatlichen Spaziergang in vollkommener Einsamkeit antrat, und da sah er sie in einem Fuchsbau ver- schwinden. Er totete, nachdem sie in den Palast zuriickgekehrt war, samtliche weiBen Fiichse darin und warf ihre Felle um. Als er so bekleidet vor Tal-geui und dem hohen Rate erschien, erkannte sie ihre Verwandten, fuhr zusammen, verwandelte sich blitzschnell und sprang als neunschwanziger Fuchs zum Fenster hinaus, um nie wieder aufzutauchen. Chu jedoch, der Ki-dscha weder dafiir enthaupten lassen konnte, noch ihn belohnen wollte, sandte ihn nach dem heutigen Korea und befahl ihm, es sich zu unterwerfen und urbar zu machen. So wurde der Weise der Grunder von Heijo. Einst war die Stadt sehr groB und erfuhr wechselnde Ge- schicke; heute ist sie klein, sonderbar verschlafen und tot. Sie liegt zwischen niederen Hiigeln und malerischen, von kleinen braunen Dorfern unterbrochenen Feldern, und die Leute sind gar nicht gewohnt, eine Europaerin zu sehen. Sie starren aus aller Kraft, und die Kinder verschwinden beinahe furchtsam vor der Fremden. So still ilieBt das Leben, daB man sich in einem Bild glaubt. Die Sonlie liegt miide auf dem grauweiBen Staub, und 223 die Weiden lispeln schlafrig vor alten grauen Mauern. Kra- niche erheben sich aus den feuchten Reisieldern, und die Frauen am FluBrand schlagen eintonig ihre zerstreuten Waschestiicke. Hinter einem Baum steht ein Ochse mit dem Ring durch die Nase und auf den Hiiften der Frauen sitzen nackte Kinder und suchen nach der Brust unter dem losen Jackchen, das den Schatz ohnehin nie verbirgt. In Pyengyang (Heijo) ziehen die Brotjungen mit ihren Korben dahin und rufen: „Yamayo pan!“ (Brot gibt es). Auf einem Hiigel ist ein hiibscher Park mit Sitzen, und dahin kommen morgens die Studenten und wiederholen ihre Aufgabe. Vielleicht erzahlen sie sich von den drei Weisen, die auf Quelpart, der Insel, landeten, und alles mit sich brachten, was zum irdischen Gliicke gehort: ein Pferdchen, ein Kalb, ein Schwein, einen Hund und eine-Frau! All das steht in der Geschichte Koreas geschrieben. Oder sie erzahlen sich vom Maulwurfsvater, der fur seine Tochter einen Gatten gesucht, Sonne, Mond, Himmel, Wolken, Sterne und den groBen Berg angesprochen hatte, und zum SchluB zur Ueberzeugung gelangt war, daB ein Maulwurf doch das groBte Ding auf Erden sei. Oder vom Tokgabi, dem Hauskobold, der gern den Deckel in den siedenden Reistopf fallen laBt und alles Glanzende, sogar Silber, haBt? Wer weiB es! Ich verlieB Heijo tief durchdrungen von dem stillen Zauber dieses unbekannten Landes. Wieder erwartete ein DampfroB mich und meine getreue Erika, und wieder fuhren wir einer neuen Grenze, neuen Erfahrungen entgegen. Durch die Mandschurei. Ich nahm Abschied von japanischer Hoflichkeit und stand unter groben Flegeln in Mukden. Man gewohnt sich vielleicht an die Chinesen. Das mag sein. Sechs Monate China waren fiir mich jedenfalls nicht genug. Ich ehre vieles, was ich bei ihnen antraf, und ihre geheimnisvollen Tempel, der Schatten des Mystischen, Diister-Grauenhaften, der zauberhafte Aber- glaube, der in fremde Welten versetzt, zogen mich wie nur noch in der Siidsee an; aber nichts wird mich abhalten zu sagen, daB sie als Volk gegen Auslander grob sind, abscheulich herum- spucken (so daB Europaer auch mit der Zeit dieses Laster an- nehmen) und daB man von der Reinlichkeit des Nachbars keinen Begriff hat. Mukden scheint stark europaisch. Die schmucklosen Stein- bauten, die von Winterkalte sprechen, die breiten StraBen mit 224 Baumgangen an jeder Seite, in denen nichtsdestoweniger der FuB bald im Staub, bald im Schlamm versinkt, die kleinen Karren, die Trager mit ihren Schulterstangen, die schicksals- verschlagenen Russen, die kleinen Madchen in chinesischen, enganschlieBenden Hosen. Ich sah mir Mukden von oben bis unten an, trieb am alten Tempel voriiber, der wie eine wissende alte Steinunke am Wegrand sitzt, und erwischte durch eine Fugung des Geschicks gerade noch den einzigen Zug, der einmal taglich Peking zu- steuert. Niemand diirfte „zurollen“ sagen, denn er laBt sich Zeit. Die Gegend war ode bis zur Mundverstauchung durch Gahnen. Nichts als Kaoliang, die chinesische Hirse, die billiger als Reis ist und im Norden gut gedeiht; spater einige ausge- dehnte Maisfelder und erst vor Tientsin Garten und Abwechs- lung, aber dazwischen doch wieder ode, graue Erdstriche, Lehm- bauten, zerlumpte Menschen und langsam dahinwandernde Ka- mele. Man fahrt fast vierundzwanzig St.unden, dann halt der Zug in einer Halle und man liest Ch’ien Men. Das ist Pe-King, die Hauptstadt. Durch die Gunst der Gotter. So etwas muB man mitgemacht haben. Erst die Zollbe- horde, dann die Hotelschreier, die Kulis, die um das Gepack kampfen, und endlich vor dem Riesentor, auf dem Riesenplatz die Rikschas!! Ein Mann wollte dem Kuli den Weg zeigen, ein anderer mein Gepack iiberwachen, ein dritter... kurz, fiinf Manner wollten mit, und dazu drangte sich noch eine kratze- bedeckte, triefaugige Alte heran und wollte mir facheln. Facheln, wahrend aus ihrem zahnlosen Mund die Geriiche stiegen, die man sonst nur im innersten Raum des Zwischen- decks findet. Ich danke! Sie waren nicht zu beherrschen, und mein Chinesich be- schrankte sich auf die unniitze Frage „Sind Sie Chinese?" und die iiberfliissige Antwort, noch vor dem Weltkrieg einstudiert, „ Ich bin Oesterreicherin!", was gar nicht mehr richtig stimmte. So sprang ich in der Rikscha auf, erklarte auf Englisch, lieber zu FuB gehen zu wollen, und machte Miene, mein Gepack herab- zuziehen. Die Grobheit wirkte; ich hatte die richtige Art ge- funden, und wir trafen nach zwanzig Minuten in dem mir empfohlenen Hotel ein. Die menschlichen Aasgeier wollten zwei Dollars fur die Fahrt, die fiinfzig Kupferstiicke wert war. Der Wirt riet mir, fiinfzig Goldcents zu geben, und jagte sie dann mit dem Stock hinaus ... Am lautesten klaffte die kratzige Alte, die mich ange- stankert hatte. 15 225 Das Hotel war voll. In ein mir empfohlenes Haus, wo Russen billig wohnten und das mir jemand im Zuge geraten hatte, verspiirte ich keine Lust zu gehen, und fur eine englische Pension hatte ich mich beinahe schon entschieden, als der Herr sagte: „Wissen Sie was, versuchen Sie Foo-Lai. Das ist ganz nahe in der Chuan Pan Hutung und wird von einer netten deut- schen Dame, die mit einem Chinesen vermahlt ist, geleitet.“ Eigentlich dachte ich mehr an die englische Pension, aber ansehen konnte ich mir die Sache ja. Der Diener zeigte mir das Tor, ich glitt hindurch, traf eine zarte Deutsche und wurde nach oben gefiihrt, um das Zimmer in Augenschein zu nehmen. Es bildete die Dachwohnung des Hauses und hatte drei Fenster, jedes von anderer Lage und anderem Bau; aber es war so fried- voll still oben, dafi ich sofort begeistert war und den hohen Preis (ich glaube fiinfzig Dollar monatlich) bei all meiner son- stigen und notwendigen Sparsamkeit erlegte. Das war nur Zimmermiete und schloB keinerlei Kost ein, doch mich ent- ziickte die winzige Veranda vor dem Fenster, der Umstand, daB ich keinen Nachbarn hatte, und die Mauer, die das Grundstiick wie ein Kloster umzog und alien chinesischen Hausern eigen ist, so daB man in der Tat wie ein Konig in seinem eigenen Reich lebte. Ich wartete unten im Salon, bis das Zimmer instand war, — eine kleine, sehr schmutzige Gestalt, denn seit Heijo hatte ich mich nirgends mehr zu waschen vermocht — im Zug trotz der ersten Klasse aus Furcht vor Ansteckung nicht, denn in China gibt es so viele Hautkrankheiten (Aussatz, Beulen, Kratze, den sogenannten roten Hund, allerdings mehr im Siiden, und den schrecklichen Ringwurm, der eine kahle Stelle hinterlaBt, wo immer er den Haarboden angreift) — und meine erste Handlung war denn auch, eine Treppe hinab ins Bad zu pilgern. Ein so unbedeutender Schritt — das Zogern zwischen zwei Pensionen, ein fliichtiges Fragen, und das entscheidet oft iiber eine Zukunft, ein Menschenleben. Diese winzig kleinen Vor- falle haben mich oft beim Riickblick schwermiitig gemacht. Es kann nicht reiner Zufall sein, der so einschneidend fiir ein Leben wird. Anderseits: Ist jede unserer Handlungen schon ein Fruchtkeim im SchoB der Zukunft, der nur aufzugehen braucht? Foo-Lai wurde mir zum Paradies der Reise. Es blieben noch genug Schatten und Einsamkeiten des Herzens, genug Leid, das keine Sonne zu verscheuchen vermochte, aber ich hatte ein ruhiges Zimmer — ein heiBersehntes und seltenes Ding! — und Menschen, die mich lieb hatten (von denen ich es mir jedenfalls 226 einbildete). Dazu eine geheimnisvolle Umgebung, genug erspar- tes Geld, um fiir den Augenblick ganz meinen Studien leben zu konnen, und gute Nachrichten aus der Heimat. Ich schrieb fiir 23 Zeitungen und Zeitschriften, teils in Deutschland selbst, teils in Oepterreich und arbeitete wahrend meines Pekinger Aufenthaltes an einer Novellensammlung, die mein ganzes Denken erfiillte. Das aber bedeutete schon Ferien vom wahren Ich. Oder ist der Mensch in mir nur Schatten und das wahre Ich der Kiinstler, der in seinem Schaffen aufgeht? Heute glaube ich es . . . Die Pfirsiche. Was ich da schreibe, ist ein Blick in die Zukunft. Die erste Woche in Peking verriet nichts von all dem Gliick. In jedem Geschaft wurde ich iibers Ohr gehauen, immer muBte ich fiir die gleiche Sache verschiedene Preise zahlen, und immer stiirzten sich die Rikschakulis auf mich, wenn ich aus dem scharlachroten Tor trat, denn zu gehen ist unfein fiir WeiBe. Ich aber danke Gott zu herzlich fiir meine Gehmaschinen und traume zu gern wandernd vor mich hin, spinne zu oft meine Werke so aus,. als daB ich mich einem laus- Oder ringwurm- gesegneten Kuli anvertraut hatte, auBer wenn Unkenntnis eher als Entfernung diesen Entschlufl zur Notwendigkeit machten. Indessen habe ich durch bestandige Entbehrungen und durch das unfreiwillige Achselreiben mit den niedersten Volks- schichten einen Kennerblick fiir billige Geschafte oder Kauf- leute entwickelt und schon am zweiten Tage hatte ich einen Chinesen ermittelt, der mir fiir zehn Cents, die ich ihm wortlos hinhielt, (sagte ich nicht, daB ich Anlage zum Trappisten habe?), das rosa Sackchen mit Pfirsichen fiillte. Wohl waren es nicht die besten ihrer Art, wohl stand die Bude mitten auf der Ha- tamenstraBe nur wenige Schritte vom „erhabenen Tor des Wissens“, das grau und drohend von der Pekinger Mauer em- porragte, wohl rasierte ein Wanderbarbier neben meinem Obst- handler seine Opfer und sammelte die abrasierten Haare auf einem vom Opfer selbst gehaltenen Federfacher, wohl zerschnitt nebenan der Wanderkoch kleine Fleischstiickchen (moglicher- weise von Hund oder Ratte stammend, aber als Schweinefleisch verkauft) fiir seine seltsamen Gerichte, die nach Sesam- oder Saubohnenol rochen, wohl fingen sich zwei alte Weiber in einer Hausecke Lause und spuckten alle Kinder der Himmlischen Mitte nach alien Richtungen hin, wahrend die schwerfalligen Kamele aus der Gobiwiiste dicht an uns vorbeizogen, ein Tier immer mit der Nase an den Schwanz des Vordermannes ge- bunden, — aber Pfirsiche um zehn Cents ohne Aerger waren es . . . . 15 * 227 Mit dieser Piirsichlast ging ich dreimal taglich an den Dienern vor fiber — am dicken Torhiiter, der sich nie aus der Eingangswolbung riihrte und verantwortlich war, kein Gesindel und niemand Verdachtigen durchzulassen, und an den beiden Boys oder Kellnern, die in ihren lichtblauen Ischangs (talar- artigen Uebergewandern) sehr gut aussahen und sich immer tief verbeugten. Nicht immer konnte ich unbemerkt an Frau L. vorbeigleiten, und jedesmal sagte sie, daB man in Peking Obst nur mit Vorsicht und nur mit siedendem Wasser abgespiilt essen solle, was ich andachtig anhorte. Da mir aber im Zim¬ mer das Kochen auf einem Spirituskocher gewiB verboten ge- wesen ware, da ich kein Wasser trinken durfte, (weil es ab- gekocht sein muBte) und daher nichts essen wollte, was Durst erzeugte, so aB ich dreimal taglich Pfirsiche. Zum SchluB schien mir mein Bauch wie der des Wolfes, dem die Steine an Stelle der GeiBlein eingenaht worden waren. Frau L. wurden gleichzeitig die Pfirsiche, die als wandelnde Cholera in mir und mit mir herumzulaufen schienen, zu bunt, und sie schlug mir vor, morgens mit dem Boy eine Kanne heiBen Wassers zur Teebereitung heraufsenden zu wollen. Beider Gesandtschaft. Wie versprochen, hatte mir der deutsche Botschafter in To- kio in liebenswiirdigster Weise ein Empfehlungsschreiben an den Gesandten in Peking mitgegeben, der indessen gerade im be- riihmten Seebad Pei-tai-ho weilte und mich ziemlich kalt wie einen unliebsamen Akt erledigte. Auch sonst war man — bis auf eine Dame — bei der Gesandtschaft kalt wie die oft ge- nannte Hundeschnauze, und nachdem ich einige Male an den Steinlowen vorbei hinein- und wieder herausgegangen war, ge- dachte ich des Rates, der mir geworden (nicht ohne innere Freude und zu meinem dauernden Gliick, so daB ich dem Ge¬ sandten fur seine Kalte noch heute dankbar bin), und wandte mich dem Gegenlager zu, was mir verboten gewesen war, so lange ich noch — durch irgend ein Band — mit der Behorde zusammenhing. Ich hatte namlich ein Empfehlungsschreiben an Herrn Erich von Salzmann, den bekannten Korrespondenten der Berliner Morgenpost, der Kolnischen Zeitung und vieler anderer deut- scher Blatter, der seit zwanzig Jahren in China ansassig und eine im Osten sehr bedeutende Personlichkeit war. So oft ich seinen Namen auf der Messingplatte las, gab es mir einen Ruck, hineinzugehen, aber die deutschen Steinlowen, wie ich sie nennen muB, warnten mich. Nun man mich aber wie eine heiBe Kartoffel fallen gelassen hatte, brauchte ich keinerlei Riicksicht zu viben, und eines Nachmittags, nach — wie mir wohl scheint 228 — vorheriger Anfrage, zog ich die Gloeke des beriihmten Jour- nalisten. Sprich: vom Fegefeuer ins Himmelreich kommen! Wenn man bedenkt, was im Osten dazu gehort, sich politisch auf dem Laufenden zu erhalten, wieviel Scharfsinn, wie unzahlige Ge- sprache, entweder personlich oder iiber den Draht, ein wie un- aufhorliches Ueberwinden von Tiicke und absichtlichem Irre- fiihren, und iiberdies erfahrt, daB Herr von Salzmann so schwer augenleidend ist, daB er einer Sekretarin bedarf, so wird man begreifen, wie entziickt ich war, daB er nicht nur alle Arbeit zur Seite schob und mich noch an jenem Abend in die Seiten- gafichen Pekings fiihrte, um mir alles zu erklaren, sondern daB sein Empfang so herzlich war, wie man ihn ganz selten einer Fremden entgegenbringt. Er hatte sogar mein jiingstes Werk in Handen gehabt und sprach dariiber, kurz, ich wandelte wie auf Wolken von ihm heim. Er tat — was keine Behorde so schnell fur mich getan hatte — er gab mir Empfehlungen an die drei englischen Blatter, und obschon zwei Schriftleitungen zu arm waren, um Beitrage zu entlohnen, so nahm die Far Eastern Times sechs Aufsatze iiber Siidslawien an und bezahlte hundert Dollar. Dies machte mich iiberdies in Peking einigermaBen bekannt und fiihrte zu weiteren Vorteilen, und am folgenden Tage machte mir der liebenswiirdige Korrespondent, der mich kaum kannte, den Vorschlag, ich moge auf eine Woche zu seiner Frau nach Peitaiho fahren . . . In Pekings HintergaBchen. Die auserwahlten Reichsdeutschen, die irgendwie mit der Politik zusammenhangen, wohnen im Gesandtschaftsviertel, und zwar jeder auf dem seiner Behorde angewiesenen Fleck. Auf dem Lazarettgrund wohnte Herr von Salzmann, und die Ge- sandtschaft lag etwa fiinfzig Schritte weiter an der Gesandt- schaftsstraBe. Viele politische Vertretungen, besonders Ameri- kaner und Japaner, hatten sehr viel Militar mit und regel- rechte Kasernen an die Amtsgebaude anschlieBend. Deutsch¬ land hatte nach dem FriedensschluB viele Vorteile verloren. So muBten sich die Deutschen vor den chinesischen Gerichten ver- antworten, wenn sie etwas verbrochen hatten, nicht vor denen der eigenen Behorde, und das fiihrte zu allerlei Qual und MiB- brauch. Es schadete aber nicht nur den Deutschen — es setzte alle Europaer in den Augen der Asiaten herab — und mag der erste schwere AnstoB zu der heutigen Auflehnung gegen fremda Vorrechte in China gewesen sein. Hinter dem Gesandtschaftsviertel liegt das Ch’ien Men, das zur echten Chinesenstadt fiihrt, die so ist, wie man sich das 229 daheim vorstellt. Peking war der einzige Ort, der mich nicht enttauschte. Da hingen die roten, mit goldenen Buchstaben ver- zierten Streifen tatsachlich aus den Fenstern, da waren die ge- schnitzten alten Tore griin und goldig im Ton, da schoben phan- tastische Tiergebilde, die nie gelebt haben konnten, ihre Stein- haupter aus Mauervorspr ungen, und da war das StraBenbild so, wie man es sich getraumt hatte und wie es vor tausend Jahren schon gewesen sein mag: langsam dahinschreitende, sich wiegende Kamele, die meisten dunkelbraun mit Haarfetzen, die herabhingen wie Wolle von einem sich schabenden Teppich; manche Tiere waren weiB. Eilende Diener mit spitzen Hiiten, die einer Privatkutsche mit geschlossenen griinen Jalousien voranliefen; Rikschakulis, die gebeugt dahinklapperten mit irgend einem steingesichtigen dicken Chinesen im zweiradrigen Gefahrt; ein Vater, der stolz sein nacktes Sohnchen fiihrte, das nichts als eine viereckige Haarfranse vorn auf dem glattrasier- ten Kopf hatte; Lamamonche in brauner oder gelber Kutte, die man schon von weitem roch, und Frauen, „die offentlich lachen“, in weiteren Hosen, als es sonst Sitte, und mit schwerduftenden Blumen im Haar. Vor allem Bettler, die sich mit widriger Zu- dringlichkeit heranschoben, einen am Arm zupften, sich vor einem in den Staub warfen, einen „Vater“ und „Mutter“ nann- ten, und die greulich verstiimmelt waren, so daB man sich am liebsten losgekauft hatte, wenn nicht eben das Verteilen von Almosen sie erst recht angelockt hatte. Ueber all dem lag der „Duft des Ostens“, das heiBt, jenes zauberhafte Gemisch von Geriichen und Gestanken, das man nicht vergessen kann: Weih- rauch, Sandelholz, Harze, Honigkuchen, fremde Gewiirze, aller- lei Oele, der SchweiB halbnackter Menschheit, Unrat in den Ecken, die Ausdiinstungen eines Kranken, das nasse Fell rau- diger Hunde, und dann wieder der Duft feinen Tees, frischer Seide, alter Rosenkranze, trockener Fische und neuerdings hin- ab zu dem Odem von Leichen und Faulnis. Die Geriiche greifen ineinander und sind iiberdies durchwoben von dem feinen Rassengeruch, der einem sofort verrat, daB man sich unter Menschen befindet, die doch irgendwie chemisch anders zu- sammengesetzt sind. In den HintergaBchen flaut all dies ab, und man sieht nur die abweisenden grauen Mauern, die etwas Geheimnisvolles an sich haben. In diese festen Wande eingelassen findet man auf einmal schwere Messingplatten, von Blumen umgeben und von Schleifen umflattert. Daneben grinst ein scharlachrotes Tor, und in dem breiten Torweg sitzen mehrere Diener. Ein Tisch zeigt sich, auf den ein eben Eintretender einen Silberdollar legt. Hier hausen die Freudenmadchen, eher wie Koniginnen, die Gunst verteilen als wie arme Sklavinnen, die sich ver- 230 kaufen miissen. Wer hier eintritt und seinen Dollar zahlt, ist noch lange nicht am Ziel seiner Wiinsche. Er wird einfach vor- gelassen, erhalt im allgemeinen Salon, zusammen mit vielen anderen Herren, sein TaBchen Narzissen-, hier Wasserlilientee oder vielleicht ein Schalchen Reiswein mit einem unertraglich siiBen, breiigen Kuchen. Er wird von der schonen Wirtin unter- halten, geistreiche Reden fliegen hin und her, und wen s i e am meisten liebt, der darf zum SchluB bleiben. Die anderen sind um eine schone Stunde reicher und einen Dollar armer, aber ihr Liebesdrang bleibt ungekiihlt. All das erinnert mehr an das griechische Hetarenwesen. Solche Frauen miissen ebenso sehr durch ihr Wissen, ihren Geist und Witz, wie durch ihr AeuBeres wirken. Wie in Japan, so auch in China erklart sich die Maeht solcher Frauen durch den Umstand, daB Ehen be- stimmt werden, in der Freiheit indessen das Herz sprechen darf. In Peitaiho. Die kleine Chinesin in Seidenjacke und Hose stand am offenen Wagenfenster und machte Spritzbewegungen, — die Art des chinesischen Winkens, die mehr an der Luft gegebene Nasenstiiber erinnert. Zwei altere Frauen, ziemlich aus dem Leim gegangen, saBen mir gegeniiber, und die eine versuchte, mich in ein Gesprach zu verwickeln, das bei meinen Sprach- kenntnissen bald in den Furchen der Unkenntnis endete; aber wir unterhielten uns nach Art der einstigen Neandertaler weiter, indem wir allerlei Handbewegungen nach oben und nach unten machten und Grimassen wie Kinoschauspielerinnen schnitten. Als wir in einem groBeren Orte hielten und man Pfirsiche brachte, kaufte mein Gegeniiber einige goldgelbe, wunderbar saftige, verlockend wie die Siinde aussehende und bazillen- gespickte, und reichte mir eine Frucht. Immer wieder hatte ich Gelegenheit, zu erkennen, daB die Frauen der ganzen Welt mit nur geringen Ausnahmen herzens- gut sind, und zwar ie niederer in gesellschaftlicher Stellung, desto gutherziger. Entweder konnen die Armen leichter aus ihrer Schale heraus, oder sind sie so gut, weil sie den Mangel am eigenen Leibe kennen gelernt haben? Als ich schon alle Hoffnung aufgegeben hatte und mit Gott und der Welt zerf alien war, hat mich immer wieder solch ein Beispiel der Nachsten- liebe vor volligem Seelenverfall gerettet. Es war stets, als ob ich auf dem trostlosen Weg einer unbegrenzten Wiiste auf ein- mal eine Oase mit B lumen gefunden hatte. Ich aB die Pfirsich ohne Riicksicht auf ihre Choleramog- lichkeiten, in der wohltuenden Erinnerung, daB mein Magen schon Iguanaeier, Schlangen, Okalehau und japanischen Mochi 231 verdaut hatte, und tatsachlich waren die Folgen nur ein „Tutsehe buhau“ (Unruhen unter dem Giirtel) Dicht neben den Dorfern sieht man runde Hiigel von hal- bem Hausumfang, die ungeschmiickten Graber der Toten, schwarze Schweine, trabende Kamele, zahllose Maultiere und Esel und komische, blauiiberdachte zweiradrige Wagen, deren sehwere unformige Rader in den Furchen versinken, und in denen die Reisenden nur gebiickt und mit untergeschlagenen Beinen sitzen konnen. Auf einer Handkarre fiihrte ein Mann seine zwei Frauen samt Koffer in ein Nachbardorf, und die beiden besseren Halften (machen zwei Halften in d e m Fall e i n Ganzes?) hockten sehr geschickt iiber dem einzigen breiten Rad. Erst abends, wenn die Knochen schon die neunstiindige- Fahrt spiiren, und die Berge iiber die weite Ebene wie wan- dernde Monche langsam und vomehm heranriicken, halt der Zug in einer baumbeschatteten Station, und jemand ruft: „Peitaiho!“ Das ist das beriihmteste Seebad des Nordens. Es wird von alien Europaern mit Begeisterung aufgesucht, aber man darf dabei ja nicht an Ostende oder Abbazia denken. Die kleine Zweibahn, der ich mich anvertrauen muBte, lud mich im ersten Abendschatten vor einem Ort ab, der aus sehr gewohnlichen, zerstreuten Bauten bestand und in keiner Weise groBartiger als die iiblichen Landdorfer schien. Ich nahm die beiden mir anvertrauten Erdbeersaftflaschen und trat ins Freie . . . Meine Last diente drauBen als Erkennungszeichen. Auch am folgenden Morgen, bei hellem Licht betrachtet, war Peitaiho kein Kurort. Zwischen Mais- und Kaoliang- feldern lagen ebenerdige Hauschen mit auffallend breiter Ter- rasse und herabrollbaren Strohmatten, die bestimmt waren, die schier unertragliche Hitze einer- und die stromenden Regen- massen anderseits abzuhalten. Wohl gab es an einer StraBen- biegung eine Art Markt, den ich mit Freuden besuchte; (denn schon das zwecklose Wiihlen in all der chinesichen Pracht war angenehm), doch fehlten Kurpark und Kursalon und selbst ein allgemeiner Sammelplatz. Der Strand zog sich iiber drei Meilen dahin, und ebenso zerstreut waren die kleinen Land- hauschen, die die Europaer bewohnten. Die StraBe selbst war furchenreich und staubig und der weichsandige Teil gehorte ausschlieBlich den Eseln. Man fahrt in Rikschas oder reitet in Peitaiho, und nur der ganz Gewiegte geht auf des lieben Herr- gotts Gaben — den eigenen Gehmaschinen. Schlecht genahrte und iibermiidete Esel driicken ihre Weltverachtung gern damit aus, daB sie plotzlich den Kopf tief senken und dem ungeiibten Reiter zum Purzelbaum verhelfen, und die Rikschakulis riechen nach dem SchweiB Adams bis auf den heutigen Tag herab. 232 Was man braueht, das kommt ins Haus — vielleicht mehr, als man es wiinschen wiirde. Der Wasserkuli fiillt das groBe HolzfaB im Hofe, die Gemiisekramerin legt das Gemiise vor der Verandastufe auf die Waage und betriigt, wenn es nur irgend geht, der Holztrager bringt seine Biirde, der Spitzen- mann — o Versuchung! — zeigt sich, wenn man im Ver- dauungsdosen gerade geneigt ist, alles was er auf dem Boden ausbreitet, zu betrachten — und man kauft, ob man will oder nicht .... Verwirrend ist das Geld. Ein Silberdollar hat hundert Silbercents, aber schwankend hundertachtzig bis hundertneun- zig Kupfertungsel. Das nur in Shanghai im Umlauf befind- liche Drachengeld hat hoheren Kurs. Ein Tungsel kann groB (2), klein (1) Oder ein Postkupfergeld mit einem Loch sein und kann im letzten Fall auch nur wieder beim Postamt angebracht werden. Das Drachen-Zehncentstiick hat 20, das gewohnliche Zehncentstiick nur 13 bis 19 Tungsel. Die Obsthandler rechnen nach vier, andere nach fiinf Tungseleinheiten, und immer gibt es Geschrei, wenn man sich irrt. In China kochen nie Frauen, und man hat daher aus- schlieBlieh mannliche Dienstboten — ein wundes Kapitel. Sie stehlen, sie sind ungehorsam, und wenn man den Koch entlaBt, verschwinden meist alle seine Gesellen. Auch hat man fur ver- schiedene Arbeiten verschiedene Diener, und kein Chinese tut mehr, als in sein Fach schlagt. Der Waschmann wascht die Wasche und zerreiBt sie mit viel Geschick, der Wassermann bringt das notige Wasch- und Trinkwasser, der Pfortner ruft die Rikschakulis, bewacht den Eingang, zahlt kommende Boten, nimmt Briefe entgegen, der Hausjunge tragt aus, springt zu und lernt. Der Hauskuli tragt Kohle, wischt die FuBbdden auf, tut Botengange, begieBt die Blumen, der Diener serviert bei Tisch, halt die Herrenwasche in Ordnung, offnet die Tiiren, bringt den Tee. Die Amah besorgt die Kinder, halt die Damen- wasche in Ordnung und verrichtet leichte Dienstleistungen, wenn sie von den Kindern abkommen kann. Sie haBt das Bad und tragt im Winter wattierte Gewander, die selten gewechseit werden. Jeder Dienstbote erhalt 12 bis 15 Dollars monatlich, verkostigt sich indessen selbst. Der Koch ist ein Kapitel fur sich. Von jedem Handler, der etwas absetzt, fordert der Boy Prozente, und was man kauft, wird immer urn einige Cents hoher berechnet. Nirgends, hochstens noch in Indien, wird der Europaer so unglaublich ausgebeutet, und dennoch lebt man selten irgendwo so koniglich behaglich wie in China. Oder 1 eb t e, denn heute ist der Auslander die Null vor der Ziffer ... Endlich hat man noch unter den Krankheiten der Diener zu leiden. Schmutzbeulen im Nacken sind wohl das mildeste 233 Unding. Sie beginnen, Eiter auszuscheiden, eine Fliege setzt sich daran fest, vergiftet die Beulen noch weiter, und der Chinese stirbt an Schmutz. Dann kann Colera ausbrechen, allerlei Wiirmer treten auf, Oder der Boy ist Opiumraucher, hat ein gelbes, eingefallenes Gesicht, sein Verstand bleibt auf Stun- den verwirrt, er ist miide, arbeitsunlustig und oft boswillig. Niemand ist so heimtiickisch, rachedurstig wie ein Chinese; aber er kann lange zu einer Beleidigung ein ruhiges Gesicht machen. Die Behandlung seitens der WeiCen hat iibrigens sehr viel zu wiinschen iibrig gelassen und erklart den heutigen HaB. Der Sturm. Ich habe selten mit jemandem zusammengelebt, der so grundverschieden von mir in alien Lebensansichten gewesen ware wie Frau von S. Dennoch kamen wir sehr gut aus; denn ihre betont materialistische Weltauffassung machte mich auf das Praktische des Alltags aufmerksamer, als ich es sonst war, und riittelte mich ein wenig aus meiner idealistischen Vertraumtheit und meiner damaligen Sehnsucht, alles alien zu schenken, auf und sie fand Unterhaltung an meinem Wesen, das fur sie wahr- scheinlich einem modernen Don Quijote glich. Am Abend, bei Windlichtern, wenn der Mond wie ein gerafftes Segel iiber das Schwarz der zitternden Weiden emporschwamm, sprachen wir iiber das Sein, sie es im Sichtbaren, ich, mit dem durch den Aufenthalt unter Dunkelfarbigen vertieften Hang zum Mysti- schen, im Unsichtbaren verankernd. Eines Nachmittags, wahrend ich auf der Terrasse schrieb oder malte, Frau von S. aber schlief, klatschten die Stroh- matten so drohend, daB ich mich bei dem wachsenden Dunkel ins Zimmer zuriickzog. Bald zischte, surrte, schnarrte und kochte es da drauBen, als ob der Himmel zur Hexenkiiche ge- worden ware. In den Schniiren der befestigten Matten wim- merte und krachte es, Blitz folgte auf Blitz, Donner auf Donner, und der bleischwarze Himmel, der auf unser Hauschen zu fallen drohte, spie einen Strom warmen Wassers aus, der wie ein dammbrechender See herniedertoste. In einer Viertelstunde war es indessen so klar, daB wir es wagten, durch die Pfiitzen und unter treibenden Wolken dahin, nach dem Hauptteil des Ortes zu gehen. Je naher wir kamen, desto mehr staunten wir, denn iiberall waren die Dacher weggefegt oder zersplittert, die Fenster aus den Angeln gehoben und die Tiirmchen der Villen in die Garten verschleppt. Riesige Baume lagen ent- wurzelt, und wir erfuhren zu unserem Erstaunen, daB nicht eine Meile von uns das Schwanzende eines Taifuns gewiitet, Himmel und Erde auf zehn Minuten verbunden und all diese 234 Verheerung durch die Windhose angerichtet hatte. Viele Buden- besitzer fanden nur noch Schutt vor, und eine groBe Menge Menschen war obdachlos. Viele Europaer packten und fuhren sofort nach Peking oder Tientsin zuriick. Wir bewiesen, daB uns der Journalismus im Blut steckte, denn Frau von S. stiirzte sich aufs Briefpapier, um ihren Gatten zu verstandigen, und ich flog atemlos zu meiner Erika, die ich natiirlich nach Peitaiho mitgenommen hatte und die nachts auf dem Stuhl neben meinem Bett stand. Unter Tempeln. Wenn ich nur ein Land zu beschreiben hatte, so wiirde ich iiber alles gern bei den Tempeln verweilen; denn jeder Tempel ist ein Gedicht von Stein, das in vergangene Jahr- hunderte reicht und das einen Teil der Volksgeschichte in sich schlieBt, eine Seite des Volksdenkens offenbart — so aber sind meine Hande gebunden. Der Himmelstempel allein verschlange mit Leichtigkeit Bande. So still und vornehm liegt er inmitten der weiten sonnetrunkenen Ebene hinter der beriichtigten Diebs- briicke, wo die „Funde der Nacht“ vor dem Morgengrauen oft um einen Spottpreis feilgeboten werden. Das kobaltblaue Dach, das ins Violette sticht, hebt sich aus griiner Mauer, denn Blau ist das Sinnbild des Himmels, Grim das der fruchtenden Erde. Rund ist alles, was den Gottern, viereckig oder fest begrenzt alles, was dem Menschenreiche angehort. Daran reiht sich die wundersame chinesische Zahlensymbolik, die fast so groBartig ist, wie die der Hebraer und ebenfalls 3X3, also in neun die heiligste aller Zahlen sieht. Daher fiihren je drei und drei Stufen zum Himmelsaltar mit den Sinnbildern der Erde — Wind, Wolken, — der hoheren Luftschichten — Phonixen — und denen des Himmels — dem Drachen — auf der breiten marmornen Mittelflache, iiber die der Kaiser, der zu vornehm war, um Stufen steigen zu diirfen, gehen muBte. Auf diesem Altar, gegen Siiden gewandt, well die Sonne wohl im Osten aufgeht, aber ihre Hochstkraft im Siiden erreicht, brachte der Kaiser in der Neujahrsnacht ein tadelloses schwarzes Tier, meist eine Ziege, zum Opfer dar. Der Mittelstein ist von neun Reihen von Marmorfliesen umgeben, die zusammen 36 Steine bilden. An den Himmelstempel grenzt der Erntetempel, eben¬ falls durch und durch sinnbildlich, in seinen auBeren roten Lack- saulen die zwolf Monate, in seinen vier inneren, prachtvoll ver- zierten die vier Jahreszeiten, im eingebauten Viereck, das in der Kuppel liegt, den Segen des Himmels auf die Erde, ohne den nichts gelingen kann, darstellend. Das ist vielleicht der vornehmste Tempel, eben weil der Glaube, der so viele Anklange an den der Inkas hat, erloschen 235 ist, wenn man nicht den Fiinfeckentempel vor dem Tor und auf dem Weg nach der Edelsteinpagode nennen will. Im Lama- tempel herrscht zu viel Geldsucht — immer wieder Monche, die eine schmutzige, langnagelige Klaue vorstrecken, und trotz der vielen Sehenswiirdigkeiten (dem lachenden Riesenbuddha in der Vorhalle, den seltsamen Buddhas unter Glas in dunkeln- den Kapellen, dem Sor oder den Opferpyramiden aus Butter - teig und den Monchen, die unaufmerksamen Jiingern mit dem Fliegenwedel aus Yakschwanzen eins libers Ohr geben) nicht so mystisch reizvoll wie zum Beispiel der Mahakala Miao (Shiva in seiner Eigenschaft als Zerstorer alles Sinnlichen), in dem iiberlebensgroBe Gebilde, allerlei Geister verkorpernd, und Vogel-, Tier- oder Menschgestalt tragend, aus dem unheim- lichen Dammern riesiger Tempelhallen brachen. Ein Weib kniete da vor einem unerbittlichen Manne und hielt ihm stumm die Opferschale hin. Es war das Weibliche, das alles dem Mannlichen opfert, das auf die Gabe der Zeugung wartet, die allein die Welt erhalt . . . Der Ta Chung S’su, wo man das Geheimnis des Lebens kennen soil, hat die groBte hangende Glocke der Welt. Ihr An- schlag sagt: Schie, Schie (mein Schuh, mein Schuh!), weil sich eine liebende Tochter in ihren GuB gestiirzt hat, um dadurch das Gelingen der Glocke herbeizufiihren, was nur durch das Blut einer Jungfrau erreicht werden konnte. Die herbeigeeilte Dienerin erhaschte nichts als den einen Schuh. Darum klagt die Jungfrau, wenn die Glocke lautet, um ihr verlorenes Pan- toffelchen. Im Tung Yu Miao, gegeniiber dem Tempel der aufgehen- den Sonne, knien die ungliicklichen Frauen vor der Prinzessin der farbigen Wolken, und die Gottin, die einmal in der endlosen Reihe der Wiedergeburten auch Weib gewesen ist, erinnert sich mit dem begreiflichsten Gruseln an diese eine Erfahrung und kann keinem Weibe eine Bitte abschlagen. Eine Nische ist dem Yiih Hsia Lao Erh — dem Mann vom Monde — geweiht, der die FiiBe der kiinftigen Eheleute mit einem roten Faden zu- sammenbindet, und bei dem man sich fur den Knoten bedanken soli. Da er meine FiiBe vergessen hat, ging ich gruBlos an ihm voriiber. Neben dem Eingangstor hangt eine ungeheure Rechenmaschine, und wenn Glaubiger und Schuldner sich gar nicht einigen konnen, so schlafen sie nachts vor der Rechen¬ maschine, und am friihen Morgen steht die richtige Zahl oben. Da fiigen sie sich schweigend dem Richterspruch. In den Nischen des Innenganges sieht man die Richter der Unterwelt und deren Entscheidungen, aber das Schreck- lichste dieser Art ist der angrenzende Shi Pa Yii oder die acht- zehn Hollen des Buddhismus, in denen in hochlebenswahrer 236 Art Leiber auseinandergeschnitten, Kopfe gebraten, Augen her- ausgerissen und Zungen gespalten werden. Die dreizehnte Holle zeigt, wie Kinder vor den Augen der Eltern auseinander¬ geschnitten, erwiirgt oder getreten werden und scheint mir der furchtbarste der achtzehn Marterorte zu sein. Im Po Yiin Kuan, einem taoistischen Tempel, zeigt man — ohne ein Trinkgeld zu fordern — die schonen alten Stein- inschriften, die Tempelhallen, die Garten mit ihren Felsanlagen, und hier verteilt der dritte der acht Genien am Tage der Hun- dertgottfeier Geld an die, die er schatzt. Und hier muB ich au! meinen Gotzen aus Peru zuriickkommen. Dr. Lessing, der be- kannte deutsche Archaologe, der damals in China weilte und in Foolai wohnte, erkannte in meiner Specksteinfigur Li Tie Guai, eben den dritten der acht Genien, iiber den ich seither viel geschrieben habe und der iiberdies der Held meines Romans „Der Gotze“ ist. Als ich durch die friedlichen Hofe des alten Klosters ging, muBte ich unwillkiirlich denken, daB es die Pflicht Li Tie Guais (Li mit der eisernen Kriicke) ware, mir fiir all meine Anhanglichkeit Geld zu schenken, aber er schwieg. Schriftsteller gehoren einmal zu den Wesen, denen niemand gern Geld gibt (geschweige denn schenkt). Den tiefsten Eindruck machte mir der gelbe Tempel „Huang Ssu“ jenseits eines der machtigen Pekingtore, die immer aus zwei Teilen bestehen und ganz krumm gebaut sind (das heiBt, schragliegende Hofe haben), damit die Geister den Weg nicht hindurch finden. Die weite Ebene dehnt sich als gelber Sandteppich davor, und die Westberge schimmern wie Saphire durch den leichten Schleier eines Frauengewandes. Die Tempelkuppel sticht in die klare Herbstluft, und die Trauerweiden werfen ihre gelben Blattchen wie verstreutes Gold auf die stillen, griinlichen Wasser des Kanals, iiber die mit leichten Bewegungen, die weiche Halbkreise werfen, Man- darinenten schwimmen. Ein Lamamonch mit schwarzen Klauen — Nageln, die wie bei dem Weisen auf dem sagenhaften Augenbrauenberg schon fast rund um ihn wachsen — offnete die Pforte. Wir glitten hindurch. Ueberall Verfall, das Schwinden der GroBe ver- gangener Tage. In den Tempelhallen hingen noch modernd die seidenen Tiicher, die Anbeter aus dem fernen Tibet brachten, und die Gotter in ihren Glassargen schienen mitzutrauern um das tote Einst. Tor auf Tor offnete sich, und endlich waren wir im innersten Hof, der schneeweiBen, mit Reliefbildern ver- zierten Pagode gegeniiber, unter der in einem goldenen Kast- chen die abgestreiften Gewander des heiligen Lamas ruhen, der an den schwarzen Blattern gestorben und dessen Leichnam in einem goldenen Sarg nach Tibet zuriickgeschickt worden war. 237 Ein ruhender Lowe aus Stein wischt sich die Augen, und eine vergoldete Kuppel krbnt die dreizehnstockige Pagode. Schlimmer als das Eintreten war der Ausgang; denn nun stand der klauenreiche Monch in seiner iibelriechenden Kutte mitten auf der Schwelle und versperrte den Weg, um ein reich- liches Trinkgeld zu erpressen. Einmal sperrte jemand von drauBen das Tor zu, aber da kam er gut an. Frau von S. nimmt das Leben vom Menschen-, nicht vom Geisterstand- punkt, und wenig hatte gefehlt, so wiirde der Lamamonch auf seinen heiligen Fingern und vielleicht auf seinem noch heilige- ren Haupte den harten Stock aus gutem deutschen Holz ver- spiirt haben. Er offnete also Tor auf Tor und erst vor dem letzten Tor gaben wir ihm zwanzig Cents. Wir hatten mit we- niger Erpressung mehr gegeben. Ich trug Verlangen nach dem Tsan-tsan — das Geheim- nisliisterne in mir jedenfalls — und obschon meine Gefahrtin sonst mehr fiir das rein Korperliche war, lieB sie sich bewegen, den Tsan-tsan mit mir zu besuchen. Wir durchschritten die sanddurchwehten, krummen Gassen, die nur aus gewundenen Mauern bestanden, bis wir endlich ein Tor erreichten, das — von einem noch schmutzigeren Monch geoffnet, dessen Nagel ganze Spiralen bildeten — in einen Hof fiihrte, der nur ein Kohlenlager schien. Jenseits dieses Haufens kleiner Kohlen- balle (die Staubkohle wird befeuchtet, zu Ballen geknetet, an der Sonne getrocknet und so verkauft) fanden wir wieder einen diisteren Holztempel. Als der Schliissel im SchloB knirschte und das Tor aufflog, kam uns ein starker Ver- wesungsgeruch entgegen. Im diisteren Raum, den selbst die goldene Herbstsonne kaum zu erreichen vermochte, stand Kiste an Kiste. Sie hatten samtlich gelbe Deckel und erinnerten an breite Nachtkasten, doch waren sie etwas niedriger. In jeder Kiste saB ein verwesender Monch. Wenn namlich ein Monch vom Hoang Ssu den Tod herannahen fiihlt, nimmt er, noch lebend in den Sarg steigend, sofort die Stellung ein, die er in der anderen Welt auf der Lotosbliite einzunehmen wiinscht. Sobald er tot ist, schlagt der Monch, der den Rundgang macht, den Deckel zu, und die Verwesung schreitet vor, bis der Ge- stank nicht mehr zu ertragen ist und man Kiste und Inhalt auf dem Hofe verbrennt. Dazu ist ja die Nahe des Kohlen- handlers, dessen Nerven und Nase ganz besonders beschaffen sein miissen, sehr vorteilhaft. Der Monch sagte mir etwas, und Frau von S. iibersetzte, daB er bereit ware, um einige Kupfer- miinzen einen Deckel zu heben. Da sprang ich aus dem Tsan- tsan ins Freie, sehr zur Belustigung meiner Begleiterin, die schon angenommen hatte, ich wollte die Seele des Lamamonchs noch in der faulenden Masse suchen. 238 Meine Chinesin. Vater und Mutter hatten iange in Deutschland studiert und waren westlich angehaucht. Sie kamen oft zu Foo-lai und er- suchten mich endlich, ihr Unterricht im Englischen zu geben. Sie war ein zartes junges Madchen von etwa zwanzig Jahren und hiibsch, selbst fiir europaische Begriffe. Das lange, schwarze Haar war gut geolt und im Nacken zu einem Knoten geschlagen. Sie trug eine enge, seitlich gekniipfte Seidenjacke, die bis zu den Hiiften reichte, enge schwarze Seidenhosen und ofter auch ein kurzes enges Seidenrockchen — das Modernste, bunte Seidenstriimpfe und reizende Pantoffelchen, in denen sie gewiB nicht zwanzig Schritte auf staubiger StraBe gehen konnte, aber sie ging ja nicht. Sie kam in der eigenen Rikscha und fuhr in ihr zuriick. Wenn sie manchmal schlimm war, sagte ihre Mutter: „Warte nur, ich werde dich schon verheiraten!“ Das schlieBt das Schlimmste ein, was man einem Wesen weiblichen Geschlechts androhen kann, denn da ist man unter einem Manne, den man nie gesehen, einer Schwiegermutter, gegen die man viele Pflichten und keine Rechte hat, und auf immer von den Seinen getrennt. Selbst wenn die junge Frau spater ihre eigene Mutter besucht, was nur einmal monatlich geschehen darf, muB sie eine Handarbeit mitnehmen und daran sticheln zum Zeichen, daB sie nun nicht mehr nach Hause ge- hort, sondern die Arbeitskraft, der Besitz, kurz, die Ware eines anderen Hauses ist. Deshalb tragt man daheim Weifl, die Trauerfarbe, und fegt nach ihr das Haus wie nach einer Toten, sobald man die junge Braut in ihr neues Heim getragen hat. Wenn ich mich zum dritten meiner Fenster, das hoch oben in der Wand war, aufschwang, so konnte ich drei Hofe iiber- sehen, und einmal war im Nachbarhaus zur Rechten eine Hoch- zeit. Vor dem Eingang stand der Baldachin, die Musikanten trommelten, floteten, pfiffen, schrillten und fiedelten flott drauf los, und endlich erschien vor der scharlachroten, goldgestickten Sanfte die verhiillte Braut mit einer prachtigen Krone und dem roten Seidentuch vor dem Gesicht. Hier durfte sie allein ein steigen, aber im neuen Heim wiirden die Diener sie iiber die Schwelle tragen und vor dem Hausaltar niedersetzen, und sie wiirde das Antlitz ihres kiinftigen Herm und Gebieters erst sehen, nachdem sie zusammen die drei Tassen Sake, die mit einem roten Faden verbunden waren, geleert hatten. Nichts ist so traurig wie eine sohnlose Familie. Fehlt der Edelstein, so fehlt auch das hausliche Gluck, und ich fragte mich oft, wieviel heimlicher Kummer im Herzen der Mutter meiner kleinen Schiilerin verborgen sein mochte; denn sie hatte 239 nur drei Tochter, und wegen dieses Mangels nannte man die jiingste Tochter immer „k.leiner Bruder“. Dadurch tauschte man sich iiber das Unvermeidliche hinweg. Ihre Wohnung — ich besuchte sie einmal — lag im Erd- gescboB, und die Tiiren und Fenster gingen aui den schon ge- pflegten Garten zu, so da!3 niemand mit der StraBe kokettie- ren konnte. Im Garten gab es Zwergpagoden und Nach- ahmungen von Felsen, Tempelchen, Reisfeldern — alles sehr schon und sehr fremd, und in den Raumen standen die schwar- zen Mobel (alle aus geschnitztem Ebenholz) feierlich steif an den Wanden. Das Auffallendste waren die roten Spuckschalen. Auf den Seidenjacken der Madchen sah man haufig das Tier des Geburtsjahres eingestickt. Die FiiBe waren nicht ver- kriippelt, aber angeboren klein, und obschon sie gut gebaut waren, hatten sie keine Freude am Gehen. Das ist in China auch bei den Europaern der Fall. Die Rikschas sind die wahren Unheilstifter, denn sie stiirzen sich einem entgegen, und man muB in der Tat geheifrig sein, wenn man sich dazu entschlieBt, die gewundenen staubigen StraBen auf des Apostels Rappen zu durchreiten. So viel iiber Chinesenfamilien. Nun noch ein Wort iiber die Mischehen. Die einzig gliick- liche Ehe war die, die ich in Foo-lai kennen lernte und die mog- licherweise dem Umstand entsprang, daB dieser Chinese zwan- zig Jahre in Europa gelebt hatte und von den Ansichten der WeiBen durchdrungen war. Selbst da kamen in seiner Eigen- schaft als Vater Dinge zutage, die fur westliche Begriffe un- denkbar schienen. Alle anderen Ehen — es gab sechzehn in Peking allein — waren durchweg ungliicklich. Dennoch waren einzelne dieser Chinesen an und fur sich sehr liebenswerte, hochst angenehme Bekannte (nicht Gatten!). Ich hebe zwei Falle — ohne Nennung der Namen — hervor. Die eine Dame war Oesterreicherin und hatte ihren Gatten bei der Gesandt- schaft in Wien kennen gelernt. Sie lebte sechzehn Jahre an seiner Seite, ohne sich ganz bewuBt zu werden, warum sie immer starker voneinanderglitten. Da erfuhr sie allmahlich, daB er nicht nur eine Nebenfrau, sondern drei verschiedene Fa- milien in drei verschiedenen Stadtteilen Pekings hatte. Sie verlieB ihn; denn mit der Scheidung geht es in China unendlich schwer, wird die Europaerin doch durch die Ehe selbst Chinesin. Bei der heutigen Unsittlichkeit in Europa scheint das kein krasser Fall; aber man muB in China gelebt haben, um zu ver- stehen, daB eine weiBe Frau unmoglich die Herz- und Bett- teilerin eines Mannes bleiben kann, der sich mit ungewasche- nen, vielleicht angesteckten, in jeder Hinsicht auf einer viel tieferen Stufe befindlichen Frauen in engste Gemeinschaft be- 240 gi'bt und spater von der weiBen Gattin fordert, was eine Sklavin allein zu tun bereit sein mag . . . Der zweite Fall war der einer sehr hiibschen Franzosin. Sie wurde schwanger, und bei der Geburt eines toten Kindes wurde dem Gatten und auch ihr selbst gesagt, daB sie keine Kinder haben durfte, wenn sie nicht in dauernder geistiger Um- nachtung sterben solle. Der Gatte wolite einen Sohn, unbe- kiimmert um das Wohl der Frau, und um ihn zufrieden zu stellen, willigte sie ein. Das Kind — ein Madchen — wurde geboren, und am neunten Tage nach der Geburt ging die Mutter mit einem Besen durch das Lazarett: rettungslos wahnsinnig. Sie verbringt den Rest ihrer bliihenden Jugend im Irrenhaus. Ich erwahne all das, um junge Europaerinnen, die in Europa der Zauber der ostlichen Welt lockt, zu warnen. Nicht nur passen die Charaktere nicht zusammen — die Europaerin, die einen Asiaten heiratet, verliert auch bei den eigenen Rassen- angehorigen ihre Kaste und lebt als gesellschaftlicher Paria. Das ist viel bitterer, als man es sich daheim vergegenwartigt. Sie ist auch schutzlos dem HaB der fremden Rasse ausgesetzt und wenn sie sich hilfesuchend an die Behorden der WeiBen wendet, heiBt es unwillkiirlich: „Um Himmels willen, w i e konnten Sie auch ...!“ Spaziergange. Am liebsten ging ich gegen Abend oben auf der Pekinger Mauer spazieren. Zwischen dem Hata Men einerseits und dem Chien Men anderseits durfen Chinesen diesen, von belgi- schem Militar bewachten Teil der Mauer, der das Gesandt- schaftsviertel iiberschaut, nicht betreten, denn von hier aus wurde auf die Fliichtlinge in den Garten der Europaer ge- schossen. Nur einige Amahs in weiBer Tracht mit der kleinen weiBen Schutzbefohlenen wandern da auf und ab, sonst hat man den breiten, sonnenbeschienenen Weg fur sich allein Oder teilt ihn hochstens mit den Pekinger Raben, die iiberall zu finden und noch unverschamter als Raben gewohnlich sind. Nirgends auf Erden — so kam es mir vor — scheint die Sonne wie im Herbst in Peking. Der Himmel ist wolkenlos blau, die Westberge schimmern ins neblige Violett, die Wiiste dehnt sich bis zu den Minggrabern mit ihrer Reihe von unge- heuren Steintieren gelblich glitzernd aus, und dicht zu FiiBen liegt die Stadt selbst mit dem Tartarenviertel, in dem Europaer und andere Fremdrassige wohnen durfen, und die Chinesenstadt, die nur fur die Sohne der Himmlischen Mitte bestimmt ist. Man sieht die Kuppel des Ahnentempels neben dem schimmern- den Himmelsaltar, die Tore, die sich drauend erheben und deren 16 241 offene Fensterbogen dazu bestimmt sind, die Geister hindernis- los durchzulassen, die StraBen mit all ihrem unbeschreiblichen Hasten und Treiben, mit ihren Ausdiinstungen und ihrem Zauber des Seltsamen. Eines Abends fand ich das Tor geschlossen und wuBte nicht, wie ich von der Mauer herunter sollte. Da riet mir ein boser, dicker Geist in Gestalt einer Frau, mich durch die Eisen- stabe durchzuquetschen, da ich so schlank sei, und als ich meinen Kopf versuchsweise durchgesteckt hatte, war ich auch sicher, mit dem Rest des Korpers durchzugleiten. In dem Augenblick, in dem ich mein Schwergewicht gliicklich durchgeschoben hatte, kam die belgische Wache und verhaftete mich. Nach langen, hoflichen Erklarungen auf Franzosisch, und einem Versprechen, das Stelldichein am folgenden Tage bestimmt einzuhalten, wurde ich freigegeben, und lange Zeit hindurch sah mich die Pekingmauer mit den hiibschen Tsao, den chinesischen Dattel- strauchern, nicht mehr . . . Ich hatte nicht die Halfte meiner Novellen geschrieben, wenn ich nicht so viel durch all die HintergaBchen, in denen es von Verborgenem wogte, geirrt ware. Da lag ein Toter in einer engen Stube, und man verscheuchte eben die Tiere (Hund und Katze) angstlich aus dem Raum; hier saB ein Chinese auf der staubigen Erde und verklebte gewohnliche Weidenkorbchen mit einer diinnen Masse, die — wenn getrocknet — das Korb- chen wasserdicht machte; driiben schnitten zwei Manner Holz, der eine hoch oben in der Luft, der andere unten auf dem Boden. Sie zogen an einer langen Sage, der eine nach oben, der andere nach unten. Ich spahte in eine Cloisonnefabrik, sah die blendenden Farben, merkte, wie sorgfaltig die kleinen Stiickchen eingefiigt und wie schnell dariiber glattend gewischt wurde; ich beobachtete den kleinen Zuckerkramer mit seinen Honigwaren, auf denen mehr Fliegen waren, als Honig, und blieb vor dem Reisladen stehen, dessen Zeichen ein weiBer Haarwedel war, um zu schauen, wie der Reis geschiittet, ge- wogen, aus Mattensacken gerollt wurde. Ich durchwanderte auch die beriihmte Passage, in der man alles kaufen konnte, was es in China iiberhaupt gab: die reizendsten Figiirchen von NagelgroBe, groBere Darstellungen von Bettlern aus Lehm, Facher, Gotter aus Seide, Seidenlaternen, Schmuck, Lack- waren (nicht so einfach vornehm wie in Japan, sondern eher iiberladen, doch ebenfalls sehr schon in ihrer Art) und vor allem die wunderschonen, schweren chinesischen Gold- und Silberbrokate. Zur Zeit des Herbstmondes feierte man die Mondprinzessin. Man sah daher kleine Figuren der Sagenhaften zu Dutzenden 242 auf dem Boden zum Verkauf ausgestellt, und in scharlachroten Tonbecken iibersandte man weibe Kuchen in Vollmondform. In alter Zeit war einem alten und grausamen Ehegatten von einem Weisen ein Lebenselixir gegeben worden, das er seiner Frau zur Aulbewahrung iibergab, ehe er sich zum Schlafe nie- derlegte, doch sie — von Neugierde erfabt — kostete die teuren Tropfen, die sie so eigentiimlich froh und leicht machten, und ehe sie es wubte, war das Flaschchen leer. Der erziirnte Gatte verfolgte sie mit dem gehobenen Pantoffel von Raum zu Raum. Im letzten Zimmer stand das Fenster often, und sie flog hin- aus, — flog und flog und horte in ihrer Angst nicht zu fliegen auf, als bis sie den nahen Mond erkannte und auf der weiben Scheibe landete, wo der Mondhase sie freundlich empfing und die Mondfeen sie zu ihrer Prinzessin erwahlten. Zur Herbst- zeit aber erinnert sie sich noch an die Erde und segnet die Friichte, und wenn der Mond rot geworden ist, danken ihr die Chinesen . . . Einmal erlebten wir auch einen Sandsturm. Erst wurde der Himmel fahlgelb, so dab er die Augen blendete und das Herz mit sonderbarer Furcht erfiillte, hierauf tauchten hinter den Westbergen ungeheure schwefelfarbige Wolken auf, ballten sich zu drauenden Massen zusammen und wurden in Peking selbst zu einem feinen Sandregen. Man mubte alle Fensterritzen ver- stopfen und alles zudecken, dennoch kroch dieser Sand, der Hauch der Gobiwiiste, durch die feinsten Oeffnungen und er- schwerte selbst das Atmen. Drauben aber heulte der Sturm und wirbelte wie ein Wahnsinniger in seinem Sterbetanz. Es war so finster, dab man Licht brennen mubte, und gegen die Fenster schlug die knisternde Wolke in unheimlichem Takt. Nach wenigen Stunden war die Gefahr voriiber und alles, alles gelb. Ein anderes Mai stand ich auf der Strabe und bemerkte, wie alle Voriibergehenden eine Wolke am Himmel beobachteten -oder einen Schwarm von Schwalben, wie ich zuerst dachte. Da kam die Wolke naher und lichtete sich-es waren Heuschrecken, und sie fielen wie ein Regen in alle Hofe hinab. Mushi, der kleine Pekingneserhund, sammelte sie und frab sie auf, doch die Kinder sammelten sie eifrigst und lachend in Korbchen und Sacke. Daheim wurden ihnen dann die stacheligen Beine und der Kopf abgerissen und der finger- lange, dicke grime Korper gerostet. Er soil sehr gut schmecken. Ich beteiligte mich weder am Fang, noch am Genub. Am Morgen fraben die Raben vom auberen Drahtgitter meines Fensters, an das sich die Heuschrecken geklammert hatten, diesen griinen Braten mit Begeisterung weg. \ 6 * 243 Der Sterbefall. Es ware zu grausam, es ein Gluck zu nennen; aber es war fur mich ein guter Zufall, daB der Vater meines Hausherrn (wenn er schon sterben wollte) eben gerade starb, wahrend ich in Peking war; denn auf diese Weise konnte ich Einbliek in die tausend Sitten und Gebrauche gewinnen, die dabei ans Tages- licht treten und die man nie erfahren, die man eben, vom Zufall begiinstigt, sehen muB. Der Osten ist eigentiimlich. In unserem klaren, niichter- nen, sehr materialistischen Westen passen gewisse Ansichten nicht, bleiben einzelne Vorkommnisse unerklarlich; aber der Osten mit seiner Mystik sagt dem tieferen Ich etwas, das fur mich in jedem Fall liber all dem steht, was der abgeklarte Westen (oder ist es nur der unaufgeklarte?) auf diesem Ge- biete eingesteht. Der Vater Herrn L.s, ein alter Diplomat, der die Schleich- wege der Volksfiihrer in vielen Landern studiert hatte, war ein hoher Siebziger, sehr riistig, sehr gutherzig und noch immer lebenslustig. Eines Morgens ging er wie iiblich nach der Ver- teilung von Almosen an die Blinden seines Viertels in der Chinesenstadt spazieren und kam zufallig an einem alten Tempel vorbei, der in einer der winkeligen Hintergassen liegt und in dem man erfahren kann, welche Stelle ein Verstorbener in der Schattenwelt einnimmt. Gerade als er an dem grofien Tor vorbeischritt, fiihlte er einen iahen Schiittelfrost das Riick- grat entlang und sagte, als er heimkehrte, zu seinem Diener: „Klingle meinen Sohn an und bitte ihn, hierher zu kommen, denn ich werde diese Welt bald verlassen." „Fiihlt sich mein Herr nicht wohl?“ „Ich befinde mich nicht schlecht, aber mir ist bekannt ge- worden, daB der Ruf ergangen und meine Stelle fiir mich be- stimmt ist.“ Er legte sich nieder, und der Boy klingelte erst am folgen- den Morgen um sieben, einer plotzlichen Unruhe gehorchend, an. Herr L. begab sich gegen acht nach der Chinesenstadt, fand seinen Vater scheinbar ganz wohl an und lachte iiber die Ge- schichte. Um zehn war der alte Herr einem Herzschlag erlegen. Nun kamen die Trauerfeierlichkeiten. Die Gattin mufite von Shanghai berufen werden, und hier ging es an die Ver- fertigung der Trauergewander. Pelze und Seiden wurden ver- packt, auch alle Schmucksachen, die drei Jahre lang nicht ge- tragen werden durften. Wahrend dieser Zeit wiirde auch keins der beiden Madchen heiraten diirfen. Die ersten Trauerkleider waren fiir alle aus grobstem Grasleinen, das nicht eingesaumt wurde, sondern in Fransen (Gleichmut gegen alles Irdische) 244 herabhangen muBte. Niemand sollte sich waschen, kammen Oder die Nagel putzen, und ehe ein Besuch kam, zerraufte sich Herr L. stets das Haar. Essen sollte man nur mit den Fingern und schlafen durfte man gar nicht. Im Trauerhause spielte die Musik ununterbrochen, um alle Geister zu verscheuchen, und der Sohn muBte ohne UnterlaB am Sargende hinter dem lan- gen griinen Vorhang knien. So oft ein Vornehmer den Ehren- knicks vor dem Sarge machte, schlug er in der Regel auch den Vorhang zuriick und hob den Trauernden auf. Und in dem Zimmer, das der breite Vorhang trennte und in dem man als Besucher nur das Kopfende des hohen Sarges sah, wieviel Vorbereitungen! Alle Nagel muBten aus der Wand gerissen oder mit scharlachroter Seide umwickelt werden; denn am Abend kam der Wachter mit der Seele, die von dem Duft der Opferspeisen nahm, und war ein Nagel unbedeckt, so hangte der Geisterwachter die Seele daran und aB von den Speisen lieber selbst. Vor dem Tisch muBte das Becken fur das Papier- geld stehen, denn je mehr Papiergeld gebrannt wurde, desto reicher und vornehmer wurde der Geist in der nachsten Welt, und auf dem Opfertisch standen neben den Speisen auch Raucherstabchen und brannten scharlachrote Kerzen. Die Wahl von Scharlachrot wird durch die Furcht der Geister vor dieser Farbe begriindet. Es folgt die Ueberfiihrung in einen Tempel, m dem der Sarg neun Mai mit Gips bestrichen, neun Mai mit teurem Lack iiberzogen werden muB, ehe man ihn beisetzen darf, und auch das hangt nicht vom eigenen Willen ab, sondern wird vom Zauberer an dem fur den Toten gliicklichsten Tage festgesetzt. Oft muB ein Sarg monatelang stehen, ehe er sein Grab findet, und wenn die Kosten zu sehr anwachsen, bleibt er gar stehen, so daB er endlich, eingesponnen in Spinnengewebe und Staub (eine Schande fur den Toten und noch mehr fiir die Hinter- bliebenen), in einer verborgenen Nische bleibt, wo das Sonnen- licht und die Mondstrahlen den Sarginhalt allmahlich beein- flussen, bis ihm angeblich Fliigel wachsen und er nachts um- herstreifen kann. Leute, die an einem ungliickbringenden Tage sterben, haben den Kopf nicht fertig, tragen ihn unter dem Arm und stiften allerlei Unheil. Der Sarg selbst ist eine Sehenswiirdigkeit. Erstens soli er aus gutem Catalpaholz, geraumig, trocken und bequem sein. Ein aufmerksamer Sohn schenkt seinen Eltern schon recht- zeitig einen Sarg, der im Hause wie irgend ein Mobel aufbe- wahrt wird und in den sich der Besitzer von Zeit zu Zeit zur Probe legt. Auch kauft man sich gern schon zu Lebzeiten das seidene Totenhemd und iiberwacht die Anfertigung der zehn Decken, die alle Seideniiberziige haben miissen und in den Sarg 245 gehoren — fiinf unter den Toten, mit der roten Decke obenauf, fiinf dariiber, mit einem Ausschnitt fiirs Gesicht. Schmuck, Erinnerungsstiicke, Gewander werden oft mitgegeben, und da- mit die Leiche sich nicht bewegen kann, legt man mit Seide um- wickelte Gipsrollen zu jeder Seite mit hinein. Mit feinstem Leim, keinem Nagel, wird der Sarg geschlossen. Ein Silber- knopf, der durch das Schlagen zum Stern wird, muB von den Verwandten mit je drei Schlagen in den Sarg getrieben werden. An bestimmten Tagen finden Empfange statt — man ver- beugt sich vor dem Toten und wird dafiir von den Lebenden bewirtet; Ehrenschleifen aus Seide werden geschickt, bei jedem neuen Besuch spielt die Musik, und immer kniet der trauernde Sohn neben dem Sarge. Es wird auch Geld iibergeben, um die Leichenkosten, die auBerordentlich hoch sind, zu vermindern. AuBer all dem schon Genannten miissen bei der feierlichen Bei- setzung alle Gegenstande, die man ins nachste Land schickt, aus Papier dargestellt und verbrannt werden: ein Haus mit voller Einrichtung, ein Pferd, ein Kraftwagen, Frauen, Obst, Lieblingsspeisen, Diener und Dienerinnen, und das Ver- brennen dieser schonen Gegenstande, die nur aus Papier und Bambus, aber auBerst geschmackvoll hergestellt sind, ist etwas sehr Feierliches. Es erfolgt in der Regel am Vorabend des Be- grabnisses. Die Fahnen-, Laternen-, Lampiontrager und so weiter sind alles Bettler in geborgter griiner Uniform mit einer roten Feder im spitzen Hut. Der Leichenwagen ist aus herrlicher roter Seide, reich mit Gold bestickt, und unter einem Baldachin geht der von zwei Mannern gestiitzte Sohn, weil er vor Gram allein weder den Weg noch die Kraft fande. Lamapriester in WeiB gehen voran, die Musik pfeift ihr Schrillstes, und die Tone sind wirklich angetan, den Geisterglauben zu erwecken, sie haben etwas unheimlich Nervenaufreizendes. Die Trommeln wirbeln, der Staub kreist in feinen Wolken um den Zug... Mary. Alle waren gut gegen mich bei Foo-lai, selbst die Gaste, die dahin kamen, und nirgends auf der ganzen Reise waren die Reichsdeutschen netter. Wenn sie namlich nett sind, dann sind sie es in ungewohnlichem Grade . . . Aber die liebste Gestalt in Foo-lai, obschon ich Charlotte, die ich unterrichtete, und meine giitige Hausfrau, die mich ganz als zur Familie gehorig betrachtete, sehr gern hatte, ist Mary. Sie leuchtete still, wie nur echte Sachen leuchten, bescheiden, aber selbst im Dunkel erkennbar. Sie trat immer zuriick, um andere vorzulassen, sie war das Gewissen des Hauses, sie 246 rechnete abends mit dem dicken betriigerischen Koch ab (es gab ihrer viele, aber sie waren alle dick und sie betrogen alle, wes- halb sie dem Kiichengott Tsao Wang yi sicher Honig um die Lippen schmieren muBten, wenn er zur jahrlichen Gotterver- sammlung in den Himmel fuhr), und allmahlich wurde es mir zur Gewohnheit, dabei zu sitzen und zuzuhoren. Es war gui iiir meinen Einblick in chinesisches Tun und Handeln, und in die Sprache, und es gab mir ein Gefiihl der Wichtigkeit, wenn Marys Augen die meinen trafen. Seit ich Charlotte unterrichtete, speiste ich abends unten. Das nahm mir nicht allein das brennende Gefiihl der Einsam- keit, das mich nur spat am Abend uberkommt, sondern war auch gut fiir meinen Korper, der sich mit Brot, Tee und Pfir- sichen wohl geniigen lieB, dabei aber nicht an Kraft Oder Rund- lichkeit zunahm. Zuzeiten schickte man mir tagsiiber einen Leckerbissen hinauf, doch was ich am meisten schatzte, war die mir gezeigte Liebe. Ich bliihte darin auf. Die Mystik Pekings und das Leben in Foo-lai iibten eine so starke Anziehungskraft auf mich aus, daB ich halb entschlossen war, den Winter dort zu verbringen. Das Erdbeben in Japan, das den schwer er- sparten Yen fallen machte, und der Umstand, daB ich genotigt gewesen ware, mich ganz auszuriisten, da der Pekinger Winter auBerordentlich kalt sein sollte, bewogen mich, — aber mehr als alles das BewuBtsein, etwas unternommen zu haben, was durchgefiihrt werden muBte — dennoch, Anfang November ab- zureisen. Gegen Mitternacht fuhren Herr, Frau und Fraulein L. nach Hause; Mary, die alteste Tochter, Tsinling, das Goldglocklein, ein echter brauner Pekingneser mit einer entziickenden Stumpf- nase und meine Wenigkeit blieben zuriick und kletterten auf den Zehen an den Tiiren der Gaste vorbei in unser Dachboden- bereich. Tsinling und ich erhielten noch einen Kuchen Oder ein Festiiberbleibsel, Mary legte sich ihrer Magenkrampfe halber ins Bett, und beim Licht einer Kerze plauderten wir, wie nur zwei junge Madchen iiber das Leben plaudern konnen, ich etwas aus der Bitterkeit meiner Reiseerfahrungen heraus. Tsinling lag uns andachtig zu FiiBen und tat von Zeit zu Zeit, als beiBe ihn ein Floh, eine plebejische Gebarde, die wir sofort entmutigten. Am Nachmittag fuhren wir wohl auch zusammen aus, jede in einer Rikscha sitzend, einen warmen FuBteppich umge- worfen, denn es war kalt. Mary spielte Klavier bei Freunden, wahrend ich ein Schnapslein trank (man schnapselt gar arg im fernen Osten!) und mich dem KunstgenuB hingab. Oder wir besuchten zusammen den Markt und waren froh, wenn wir ohne Schmutzflecken wieder heraustraten. Wir besuchten 247 Theatervorstellungen, und Mary lieB sich mir zu Liebe die Ohren mit chinesischer Musik vollklirren, und einmal nahm uns Herr L. in ein chinesisches Restaurant mit, wo wir alle um einen runden Tisch saBen und mit den Stabchen etwas aus alien Schiisseln tisehten, um es in unseren eigenen Napf zu werfen. Knochen flogen unter, Saft auf den Tisch. Als ich mein Befremden iiber diese EBart bescheiden ausdriickte, wurde mir erklart, daB in alten Zeiten der Gastgeber von alien Ge- richten zuerst kosten muBte, um die Gaste zu iiberzeugen, daB nichts vergiftet war, und daher hatte sich die Sitte bis auf den heutigen Tag erhalten. Bei groBen chinesischen Gastmahlern verlangt die Sitte auch, daB man aufstoBt, um zu beweisen, daB man genug gegessen hat. Man beginnt mit Kuchen und hort mit der Suppe auf. Eigentlich ist alles sehr gut gewiirzt und schmackhaft, und was man iBt, soil Ente sein. Man tut am besten, zu essen und nicht viel zu fragen, denn „wer viel fragt, der bekommt viel Antwort", sagt das englische Sprich- wort .... Was mochte ich alles noch erzahlen — von den heiBen Tiichern im Theater, die man um fiinf Kupfermiinzen bestellen kann, die einem aus der Orchesterrichtung iiber alle Kopfe zu- geworfen werden und mit denen man sich Gesicht und Hande waschen soil (sie sind aus heiBem Wasser gezogen); von den gezuckerten Lotosscheiben, die feilgeboten werden, den schweren Duftblumen im Haar der Chinesinnen, dem eigentiimlichen Haarschmuck, der Symbolik auf der Biihne und vielen anderen Merkwiirdigkeiten. Oder soli ich von der groBen Mauer be- richten, die sich von der Meereskiiste von Shanhaikuan bis zur Grenze von Tibet erstreckt und ihre herrlichste Gestalt beim NankonpaB, nicht allzuweit von Peking, erreicht, wo der Zug bei Ching Lung Ch’iao stehen bleibt (der hellen Drachen- briicke) und von wo aus man die Ebene von Chihli und in der Feme die schneebedeckten Berge erblickt. Zwei Jahrhunderte vor Christi lieB ein Herrscher diese Mauer bauen, um dem ver- wilderten Heer, das sonst in Rauberbanden umhergeirrt ware, wieder Arbeit und Zucht zu geben. Siebenhunderttausend Mann arbeiteten daran, und heute, nach zweitausend Jahren, merkt man kaum eine Veranderung. Oder soil ich vom Sommerpalast schwarmen, dem riesigen Steinboot, den prachtvollen Saulengangen, den kunstvollen Bronzen vor dem Eingang? Oder vom Zauber der Edelstein- pagode und der Stille der Dorfer, durch die man geht? Oder von der verbotenen Stadt, deren einen Teil man einmal jahrlich mit besonderer Erlaubnis betreten darf und in dem ich die schone Buddhapagode sah? Von der Chrysanthemenschau,. zwar lange nicht so schon wie in Dai Nippon, meinem gelieb 248 ten Japan, oder den Wundern der Kung Fu Tse-Halle, wo der groBe Philosoph verehrt wird? Viel lieber mochte ich vom Aberglauben erzahlen, von den Schritten der Fuchsfee, dem Gu, der das Leben ungeborener Kinder nimmt, der Geistermauer_doch das Schonste davon ist ohnedies in meinen Pekinger Novellen festgehalten. Ich er- ziihle indessen nur von dem, was — auf dieser endlosen Stu- dienreise — mein Herz stark beriihrt hat und wie sich das Leben der Menschen gerade mir gegeniiber entrollte. A b s c h i e d. Es war Mitte November, und der blaue Herbsthimmel trug einen feinen Nebelschein, der sonst selten sichtbar wird, als ich zur Bahn geleitet wurde und, nachdem ich von alien Abschied genommen, nochmals in Marys gute Augen sah. Dann fuhr der Zug an den elenden braunen Lehmhiitten der Dorfer voriiber und erreichte zum SchluB Tientsin, die Stadt, in der „mein kleiner Chinese", der Held meines Erstlingswerkes, leben sollte. Aber da ich nicht sicher war, mit welcher Art Messer er mir bei einer Begegnung den Hals durchschneiden wurde, gab ich mich damit zufrieden, nur das Europaerviertel zu durchstreifen, ein fragliches Vergniigen, mit dem scharfen Wind aus Sibirien um die Ohren, das noch weit fraglicher wurde, als es zu schneien begann. Der Maru (irgend ein Maru, denn jedes japanische Boot gehort zu dieser Maruvereinigung) fuhr erst am folgenden Tage ab, und mein MiBmut iiber diesen Umstand, als ich frierend im Bett lag, wurde nur durch das Wettern gemildert, mit dem ein Amerikaner, der einzige andere Mitreisende, um zehn Uhr abends in Horweite seinen Gefiihlen Luft machte. Das ersparte mir, ebenfalls Larm im Weltall zu schlagen. Tientsin ist eine so typisch ostliche Hafenstadt wie Yoko¬ hama oder Shanghai, nicht recht europaisch, nicht recht chine- sich, aber beides von der unvorteilhaftesten Seite. Ich schweige mich dariiber aus. Mein Mitreisender erzahlte mir am ersten Abend alle seine Liebesabenteuer (jedenfalls so viele davon, daB sie gut fur ein Menschenleben geniigen konnten), und ich horte ihm andachtig (schriftstellerische Fundgrube) aber kalt mit Fischaugen, wie die der Japaner in der Elektrischen, zu, bis er davon gewissermaBen hypnotisiert war und gewiB in sein Kopfkissen schwor, daB ich entweder im Astralkorper neben ihm gesessen, der gefiihllose Geist einer Ertrunkenen, oder daB ich zum kommenden Geschlecht gehorte — das sach- lich sein wiirde und also streng genommen geschlechtlich nicht zahlte. 249 Ganz wie erwartet folgte auf so viel erotische Poesie die Alltagsprosa und wahrend ich die Poesie vergessen habe, ist mir die Prosa, vielleicht der haufigen Wiederholung wegen, gut in Erinnerung geblieben, denn sie bestand aus Stoflseufzern, die sich kaum anderten und die lauteten: „Ob der Riemen, den ich um den groBen Koffer geschnallt habe, halten oder reiBen wird?“ Da der beweinte Koffer in Schiffstiefen ruhte und an der Sache nichts zu andern war, schien mir die Jeremiade iiber- fliissig. Sie wiirzte unsere Mahlzeiten, und ich kann zur Be- ruhigung der Leser mitteilen, daB der Riemen, meinem Trost- spruch gemaB, wirklich gehalten hat .... Durch das gelbe Meer. Ein Sprichwort sagt: „Man heult, wenn man nach Peking kommt, und man schluchzt, wenn man scheidet," und das hatte sich bewahrheitet. Wahrend der ganzen kalten Fahrt sah ich nur Foo-lai und fiihlte zum erstenmal Erbitterung dariiber, daB mich etwas immer weitertrieb, gerade wenn ich Freunde, dieses hochste irdische Gut, gefunden hatte. Gegen Mittag kroch der Maru an Takoo, der Landspitze mit ihren Schnepfen und Wildenten, den zahllosen Seemoven und den Krabben auf dem schlammigen Grund vorbei. Der Wind blies rauh aus dem schon schneeigen Norden, Segelboote bilde- ten feme weiBe Punkte, die Kiiste blieb zuriick, und wir steuerten nordostlich auf die Mandschurei zu . . . Nach langer, langer Zeit fuhr ich wieder einmal in der Ersten, die als solche indessen leider einer schlechten Zweiten glich. Vierundzwanzig Stunden spater lag das vielumfochtene Port Arthur mit seinen Kriegergrabern und den grauen Felsen vor uns, iiber die sich die breitkronigen, japanischen Fohren ausbreiteten, und von da an rollten die Hiigel ebenmaBig land- warts bis Dairen, dem Haupthafen der Mandschurei, die wohl China gehort, das aber Dairen und Port Arthur an Japan ab- treten muBte. Auch die mandschurische Eisenbahn ist in japa¬ nischen Handen. Und wieder erfuhr ich, gleich nach der Landung, wie be- griindet meine Japanschwarmerei war. Ich hatte in einem Laden eine Kleinigkeit gekauft und mein Geldtaschchen liegen lassen, das mir ein wildfremder Junge eine ganze StraBen- lange hinterher trug. Ich hatte ein Empfehlungsschreiben an einen Bankbeamten, und dieser bestand in liebenswiirdiger Weise darauf, mich ans Land zu nehmen, da der „Kohoku Maru“ drei Tage lang Bohnenkuchen — diese niitzliche, aber 250 arg stinkende Diingermasse — verschiffte. Friih morgens fiihrte er mich, als Sprachkundiger, bis zur Tiir des Badezimmers, lieB mich niederknien und zeigte mir sodann, die P forte offnend, Schwamm, Zahnpulver, heiBes Wasser und so weiter und be- fahl „Waschen!“ Noch kostlicher war es, wenn er am Abend, ehe seine Frau die weichen seidenen Futon fur mich entrollte, ebenso gebieterisch „Abort gehen!“ sagte. Ich ging und fand die Strohsandalen im ersten, dem Herrenraum, zog sie des Steinbodens halber an und betrat das hoher gelegene eigentliche Heiligtum und entdeckte neben der Tiir wie immer das Becken zum Handewaschen und das blauweiBe Handtuch. Vor der Tiir standen wie immer die Schuhe, mit dem Feuer im Hibachi spielte ich, und alles, woriiber ich einmal kindisch gelacht hatte, war mir nun lieb und vertraut. Am dritten Tage verlieBen wir diesen Hafen der Oele (Bohnen, Erdniisse usw.), der sehr schon und ganz modern an- gelegt ist und von sehr vielen Dampfern besucht wird. Schone, weite StraBen fiihren zum kreisformigen Mittelpunkt, und trotz der japanischen Geschafte und der chinesischen Rikschas macht die Stadt einen vornehmen, europaischen Eindruck. Sie ent- behrt allerdings jedweden Zaubers des Ostens, auBer in kleinen NebengaBchen. 0, dieses Gelbe Meer! Nie war mein arggepriifter Magen daseinsmiider als vor Chifu, dem beriihmten Spitzenort, wo man in jedem Hause Filet herstellt, vor Weihawei, wo eine aus- gezeichnete Schule fur Europaerkinder ist, und vor dem einst reichsdeutschen Tsingtau, dessen Hafenanlagen noch von deut- scher Tiichtigkeit zeugen. Ich lag in alle erreichbaren Decken gehiillt auf dem Bett und verwiinschte die erdschaffenden Gotter, die zu viele leidige Pfutzen gelassen . . . Nach drei Tagen (zum Gluck hat alles ein Ende auf dieser gebogenen Welt) wurde das Meer schlammig und beruhigte sich. Segelboote und Dampfer umgaben uns, Ufer riickten naher; wir waren in der Yangtsebucht und passierten den Wassung. Ringsumher Schiffe aller Lander, an den Ufem niedrige Lehmhiitten, zerzupfte Weiden: das ist Shanghai. Man riet mir, keine Rikscha zu nehmen und auf die Rich- tung zu achten. Wer sich in Shanghai nicht gut auskannte, konnte von irgend einem Kuli leicht in ein falscbes Viertel ge- rollt werden, und den Auskiinften Fremder war keinerlei Glauben zu schenken. Ich dankte den Ratenden fur die War¬ ming, dem lieben Herrgott fiir meine FiiBe und machte mich zu FuB auf den Weg — eine gute halbe Stunde festen Laufens. Der „Bund“, die HauptstraBe dicht am Meer, hat hohe euro- paische Bauten und wirkt einladend vom Wasser her. Die auslaufenden StraBen sind im Anfang ebenfalls sehr hoch- 251 bautig, voll schbner Geschafte im ErdgeschoB, gehen indessen allmahlich in kleine Chinesenhiitten iiber. Was mich an Shanghai so sehr enttauschte, war, daB der europaische wie der chinesische Teil wie der Aufbau einer Biihne ist, den Eindruck des Gesuchten macht und weder von unserer noch von der asiatischen Seite beiriedigt. Touristen bewundern vielleicht die Geschafte oder die Pa- gode jenseits des Flusses; ich finde die franzosische Mission bemerkenswert, die so herrliche Mefigewander und andere Sachen stickt, daB aus der ganzen Welt die Auftrage einlaufen. Die Waisen, die da im Kloster Aufnahme finden, wachsen in dieses Sticken, das den Chinesen liegt, hinein. Sie sticken als Kinder, als heranwachsende Leute, als Gatten und Gattinnen (denn es sticken auch Manner), und sie horen erst mit dem Sticken auf, wenn ihre Augen matt geworden sind wie regen- blinde Laternen. Manche Jungen schnitzen auch die beriihmten chinesischen Schranke aus wertvollen Holzern und nach ur- alten Mustern. Die Kinder der Begiiterten gehen ebenfalls in dieses Kloster, um die iiblichen Schulgegenstande zu erlernen. Ausgesetzte Madchen findet man gar oft in der Nahe des Klosters, besonders zur Zeit einer Hungersnot. Es bedarf kaum der Erwahnung, daB Shanghai wie andere groBe Seestadte der Welt seine Opiumhollen, unterirdischen Tingeltangels und Lasterorte hat, wo die Seeleute der vier Weltenden sich gegenseitig ihre Erfahrungen mitteilen, aber was heute betrubt, ist die Zahl der Russinnen — achtzig- tausend, wenn ich nicht irre —, die vollig nach Art der niedrig- sten Chinesinnen leben, in den schrecklichsten Lochern bei Chinesen hausen, und — obschon WeiBe — fiir jeden gelben Mann zu haben sind. Viel ist die Armut schuld, aber auch wo solchen Frauen ein anderer Erwerb geboten wird, stoBt man auf Absage. Die Anwesenheit dieser Russinnen ist aber nicht nur vom sittlichen Standpunkt eine Gefahr, sondern auch vom politischen. Sie dringen mit ihren Ansichten in die niedersten, daher groBten Volksschichten aufwiegelnd ein; sie setzen aber — und das ist der groBte Krebsschaden — die Achtung des Asiaten fiir den WeiBen als WeiBen herab und gefahrden dadurch die Zukunft der weiBen Rasse im Osten, vielleicht in der Welt iiberhaupt. In dergliicklichenGegend. In Shanghai kamen Missionare an Bord (English Presby¬ terian Church) und ein amerikanisches Globetrotterpaar, das sich sehr ernst nahm und die Welt mit Hilfe von Cook und Son ordentlich abschnupperte. Sie fuhren nach Siam und Birma weiter und grasten alles vorschriftsmaBig ab — sahen vom 252 Lande genau so viel wie jemand bei einer Kinovorstellung: nichts als Bilder ohne Seele darunter. Wir hielten uns zwei Tage lang dicht an dei Kiiste, dann steuerte der Kapitan geradeaus auf einen Berg zu, drohte ihm den Bauch zu spalten und glitt — nicht wie der Rattenfanger von Hameln in eine Bergoffnung — nein, nur in einen breiten FluB ein. Das war der MingfluB. Braune Segel von merkwiirdig breiter Form, hundertmal geflickt, malerisch gebunden, kreuzten unsere Bahn. Viel- segelige, breite Dschunks, die groBen Segelschiffe Chinas, riickten naher, und wir sahen die gemalten Augen vorn am Bug. Kein Schiff fahrt ohne Augen in die See hinaus, und meist ist das Schiff als irgend ein Ungeheuer — Drache, Gespenst, Schlange, Skorpion oder Meerweib — dargestellt, hat das grause Haupt vorn und den stacheligen Schwanz hinten und floBt daher den Seemachten und Winden die gebiihrende Ehr- furcht ein. Die Berge sind hoch, die Dorfer zu FiiBen lang- gestreckt, von Reisfeldern umgeben, auf denen der dreiviertel nackte Bauer mit seinem Schlammbiiffel arbeitet. Graber von Hufeisenform schimmern weiB aus dem Goldbraun und dem saftigen Grim. Ein langer Brautzug bewegt sich die FeldstraBe entlang. Breit wie ein See windet sich der Ming von Vorgebirge zu Vorgebirge, verschwindet, um breiter aufzutauchen, und tragt die unendliche Zahl der Segel mit warmem, vaterlichen Stolz. Falken fliegen iiber die breitkronigen Fohren, Biiffel walzen sich im Schlamm — es ist schon der Siiden, der da ruft . . . . Nach mehrstiindiger, groBartig schoner Fahrt in eine neue Welt sieht man, um eine Ecke biegend, die breite Ansicht des Sharp Peak, der wie ein Zuckerhut endet und auf dem die Foochower im Sommer Schutz vor der Hitze suchen. Foochow (Futschau) bedeutet „gliickliche Gegend". Es liegt auf einer schwer erreichbaren Landzunge. Hier kann der groBe Dampfer nicht mehr weiter, und Dampfbarkassen und Sampans kampfen um Fahrgaste. Diese Sampans sind kleine Boote mit Bambusdachern und dem Anfang eines Zimmers darunter. Hiibsche Gotterbilder hangen an den Wanden, irgend ein drachengemustertes Tuch bedeckt manchmal sogar eine Bank. Das 1st das Wohnzimmer der Schiffer. Da essen, leben, schlafen und sterben sie. Die Kiiche ist hinten, mit einem Holz- kohlenherd und einigen Kisten und Schusseln. Der Bund und das jiingste Kind sind mit einer Leine versehen, damit man sie schnell aus dem Wasser ziehen kann, falls sie ins Wasser fallen. Meist rudern Manner, doch hier nahten ausschlieBlich Frauen. Und wie sie sich gegenseitig anschrieen, ja, sich in die Haare fuhren, wenn die eine der anderen einen Fahrgast weg- 253 schnappen wollte! Wie sie sich der Glieder der Reisenden be- machtigten und sie wie ein Stiick Tuch hin- und herzerrten! Die Missionare forderten mich auf, mitzugehen, und mit Freu- den sprang ich mit ihnen in die flinkere Dampfbarkasse. Eine Stunde spater landeten wir auf der Nantaiinsel und von da fiihrt die „Briicke der Zehntausend Jahre“, die zwar etwas zer- lempert scheint, aber den Riesenverkehr dennoch gut aushalt, nach Foochow selbst. Wir besuchten zuerst das Hospital (der Mann mit dem fragwiirdigen Riemen blieb draufien, weil er sich vor An- steckung fiirchtete) und sahen die Kranken auf einfachen Holz- banken, auf denen eine Strohmatte lag. Das ist nicht aus Ar- mut so. Die Chinesen wollen nun einmal nicht auf weichen Betten ruhen. Es ist unglaublich, was sie an Schmerzen er- tragen und wie unendlich ruhig sie Operationen aushalten. Ihre Nerven sind nicht wie die unseren, oder liegt es am Ende am starken GenuB von Opium? Ich sah Lichtbilder (also nicht Zeichnungen!) von Mannern, denen die Brust aus dem Leibe gerissen wurde (Strafe fur Vatermorder), und die dabei so ge- lassen ausschauten, als ob man ihnen einfach eine Warze ent- femte. Langwieriges Siechtum empfinden sie scheinbar am tief- sten. Durch die korperliche Hilfe gewinnt der Auslander auch die groBte Macht iiber sie. Dann erst fragen sie, w a r u m er ihnen eigentlich hilft .... Spater, nach sehr guter Jause, begaben wir uns auf den Rundgang, besichtigten die dusteren Tempel, auf deren Toren langnagelige Gotter im Zwiegesprach standen, schliipften durch eigenartig runde Tore, die einen Vollkreis aus Stein bildeten, lasen verwischte Inschriften aus chinesischen Weisheits- biichern und bewunderten die verborgenen Gartchen mit blut- roten Poincettastrauchern und Kamelhufbaumen (Eugenia). Foochow selbst ist der Traum eines Dichters des Grotesken. So enge StraBen, daB man mit ausgestreckten Armen fast die gegenseitigen Mauern beriihrt; Kulis mit Hiiten wie ein Stroh- zuckerhut und dunkelfarbiger als die Nordchinesen; aus dem verdunkelnden Oberbau der Hauser spahen Madchen mit Blu- men im Haar herab; auf der StraBe, miihselig humpelnd, alte Frauen auf FuBstumpfen in hiibschen Pantoffelchen, vielleicht noch ein Mannerherz mit diesen goldenen Lilien entziickend; Sanftentrager mit ihrer Last, Rikschas mit lautem Geklingel, rund herum der Duft des Ostens, die anziehenden Laden, die herabhangenden Anzeigeschilder, die EBstellen mit Kochtopfen, Napfen und Schiisseln und der auf dem Boden kauernden Menschheit, die da mit Stabchen die fragwiirdigsten Speisen in den Mund wirft. Alles ist siidlicher, nackter, fremder, farben- 254 bunter als in Peking, starker von Sandelduft und Weihrauch durchzogen, noch unberiihrter, noch altmodischer. Da sitzen Manner und reiben Lack auf kleinen Hockern, machen Schalen und Vasen; driiben feilen Silberarbeiter an entziickenden Fili- grandingen; da macht man Mobel aus unbekannten, fremd- riechenden Holzern und schnitzt Gotter mit unheimlichen Fratzen. Der Arzneiladen mit seinen Hunde- und Tigerknochen, Ginseng, Gelbwurz, Seegras und anderen unfehlbaren Mitteln ist voll von Menschen; in dammeriger Bude erzahlt ein Berufs- erzahler seine wundersamen Geistergeschichten, wahrend quer iiber den Weg ein alter Mann mit einem Bartansatz (daher furchtbar ehrwiirdig) jemandem die Wahrsagestabchen wirft. Wohin man auch schaut, goldene Zeichen auf rotem Grunde, goldglitzernde Schauspielerpuppen in seidenstrotzenden Schau- fenstern, Wiirste aus Katzenfleisch, breitgedriickte, geraucherte Enten, grellrotes Zuckerwerk in Stangenform und dariiber all das Schreien! In Foochow sieht man auch die siidlichen Feldarbeite- rinnen, die iiber die Achsel angesehen werden, weil sie korper- lich so schwer arbeiten miissen, die aber eine Sonderstellung einnehmen, weil sie freier sind und zu dem Manne nicht so sehr wie zu einem heiligen Wesen aufschauen. Sie tragen das Haar nicht ganz so tief im Nacken geknotet und haben iiber- dies sehr schone lange Silbernadeln darin, wodurch der Knoten zur Spinne in einem breiten silbernen Netz wird. Ein vorziigliches Abendbrot (nicht zu verachten) bei der Mission, hierauf eine stille Fahrt an schweigenden Dschunks voriiber iiber den breiten Ming, in dem der Mond seine Schleppe wusch, — und wieder der „Kohoku Maru“. Die Insel der Traume. „Formosa“ — die Wunderschone — nannten die Portu- giesen die Insel, die von den Japanern heute Taiwan genannt wird. Der Sturm, der uns auf sie zutrieb, war entsetzlich. Selten habe ich Aehnliches erlebt. Der gute Maru hatte das Deck bis hoch hinauf mit schweren Baumstammen beladen, und dennoch sah ich, da mein Fenster hinaus aufs Deck ging, wie die Meereswellen nicht nur iiber diesen Wall sprangen und zischend niederstiirzten in die kleinsten Vertiefungen der Stamme Oder des Decks, sondern wie sie auch diese vierzig Meter langen Massen zu bewegen versuchten. Mehr als ein- mal befiirchtete ich, dafi sie iiberhaupt durch meine Luke ins Innere stechen wiirden. Die Chinesen, die Nacht auf Nacht riicksichtslos Grammophone losgelassen und ihr larmendes Mahjong gespielt hatten, lagen (alle Asiaten sind schlechte See- 255 fahrer) regungslos in ihrer Kabine, und die Freude dariiber, meine larmmachenden Feinde so niedergefallt zu wissen, lieB mich die Seekrankheit iiberwinden. Immer wieder stand ich am Fensterchen und schaute in die vom Mond erhellte, perl- graue Nacht, in der die Wolkenkamme als Silberbogen hinter den Holzmassen auftauchten. Der „Kohoku Maru“ stohnte und achzte und keuchte wie toll vor dem Winde daher . . . Doch als es tagte, zeigten sich viele zackige, dicht bewaldete Berge, und ein nie gefiihltes Gliicksempfinden durchzitterte mich. Hier muBte ich etwas Schones erleben! Froh lief ich auf Deck. Die Missionare landeten ebenfalls hier, um mit dem Zug weiter nach Tainan, der siidlichen Hauptstadt zu fahren. Ich aber sollte nach Taihoku, dem Regierungssitz und eigentlichen Mittelpunkt, zum Freunde Herrn A.s, meines Schulers, der jetzt schon nach Europa gondelte. Alles was ich von dem Unbekann- ten wuBte, war, daB er eine „Art Christ*' war, wie ich es mir also auslegte, einem religiosen Wahnsinn irgend welcher Gat- tung unterlag. Das kiimmerte mich wenig, mich, die ich der Ansicht bin, man solle alle Menschen nach ihrem eigenen Glauben selig werden lassen. Das Seligwerden war ohnedies in dieser oder einer anderen Welt eine verteufelt schwere Sache . . . Auf dem Bahnsteig, der den Hafendamm entlanglief, sprach mich jemand an und sagte kurz: „ Ich bin Herr I.“ Er war so lieb gewesen und hatte mich sogar abgeholt. Das Gepack war schnell herbeigeschafft, aber ich kam nicht so schnell aus den Handen einer Polizei. die alles wissen wollte: „Woher? Wohin? Weshalb? Wie lange? Aus welchem Grunde? Fiir welche Blatter? Und warum Gast Herrn I.’s?" Wie kannte ich ihn? Was wuBte ich iiber ihn? Nichts?!!" Erst spater erfuhr ich, daB Herr I., der die Geishas be- freite, sich der Formosaner annahm, Weltbegliickungsplane braute und an StraBenecken Reden hielt, die mehr weltliebend als vaterlandisch kraftig waren, in den Augen der Polizei als nicht einwandfrei angesehen wurde. In gliicklicher Unwissen- heit gab ich die richtigen Antworten und zeigte das Empfeh- lungsschreiben an die Behorden in Taihoku, das mir der Ge sandte Japans in Peking auf Bitten Herrn von Salzmanns gegeben hatte und das mir sehr zustatten kam. Wir verlieBen Keelung gegen zehn Uhr friih und waren gegen Mittag in Taihoku. In einer Rikscha fuhr ich dem neuen Heim zu. 256 # Im Reich der farbigen Hennen_ Das Haus war aus Stein und stand an einer StraBen- kreuzung. Um den ersten Stock lief eine breite Veranda, und der Vorderteil des Baues war in europaischem Stil mit be- scheidener europaischer Einrichtung, das Hinterhaus dagegen japanisch. Ich wohnte im Vorderhause, und meine Futon ruhten nachts auf einer Holzbank. Unter mir waren die Schul- raume, in denen ein Lehrer „Lang, lang ist’s her“ zu spielen versuchte. Hundertfiinfzig arme Formosanerkinder, die sonst nirgends eine Bildung erhalten konnen, erhielten hier unent- geltlich Unterricht, und wer litt, der durfte kommen und in diesem Hause Rat, Hilfe und auch Zuflucht suchen. Geishas, die ihr schreckliches Leben, das sich unter einer so lachelnden, gleiBenden AuBenseite verbarg, aufzugeben wiinschten, wurden nicht selten da versteckt, und Hausdurchsuchungen gehorten mit zur Tagesordnung. In diesem Kreis drehte ich mich, sprachlich abgeschnitten, in der eigenen Aura und erfuhr erst nach und nach, was sich um mich regte. Blickte ich aus dem Fenster, so sah ich in chinesische Wohnungen und lernte mehr iiber den Osten, als wenn ich drei Jahre lang in einem erstklassigen Hotel gelebt hatte. Alles eignet sich nicht zur Wiedergabe, aber alles war menschlich und komisch und tragisch zugleich, auch die kleinen, oft kaum elf- jahrigen Madchen, die schon die StraBen durchwanderten, und die schon „ausgeliehen“ wurden. Nur ganz jung hatten sie Wert .... Die Saulengange schrag gegeniiber waren ebenfalls eine Quelle der Weisheit fur mich. Dort ruhte sich, die FuBganger verdrangend, ofter eine braunweiBe Kuh aus; da wurde in groBen Kesseln Reis Oder Kaoliang gekocht, da flickte der Schuster Schuhe, die aus lauter Flicken bestanden, da wurden Kinder gewaschen und Manner von Riickenschmerzen geheilt, indem ihnen jemand auf dem Riicken herumsprang oder indem sie ein groBes schwarzes Pflaster aufgeklebt erhielten, das von der Sonne beschienen werden muBte, bis es seine Pflicht tat. Es krochen Entchen aus den Eiern und wurden in flache Korbe geworfen, um unter einem Netz gefuttert zu werden, und es ging abends der Nachtwachter mit seinen „harmonischen Holzern" durch die StraBen und verscheuchte die Diebe — an- geblich. Was ich weiB, ist, daB er einem jede Stunde piinktlich den Schlaf verscheuchte. Eins konnte ich mir nicht erklaren: warum die Hiihner, die bei mis daheim bescheidene Farben trugen, in Taihoku blau, violett und fleischrot waren. Endlich fragte ich Herra I. \7 - 257 „Damit die Besitzer sie auseinanderkennen!" Und ich hatte rair eingebildet, eine neue zoologische Abart entdeckt zu haben .... Vor hoheren Mach ten. Am Abend hatte sich Herr I. mir gegeniibergesetzt und wir hatten besprochen, was alles zu sehen war. Ich interessierte mich vorwiegend fur die Kopfjager in Kapansan und fiir die Marchen der Wilden. AuBerdem fiir Textilwaren, die Teeindu- strie und sonst fiir das Leben, Treiben und Denken des Volkes. Um die Tier- und Pflanzenwelt wollte ich mich nach Kraften selbst kiimmern. Am folgenden Tage, einem Sonntag, besuchten wir das Museum, und der Direktor zeigte mir in freundlichster Weise alle Schatze der Insel, erklarte an Hand von Karten die ver- schiedenen Volksstamme, besprach ihre Waffen, erlauterte ihre Sitten und empiahl mir all die Bucher, die ich in der offent- lichen Biicherei studieren sollte. Auch gab er mir ein Stiick eines Textilmusters, das noch in altmodischer Art ausgefiihrt und mit menschlichen Gliedern gemustert war. Wieder war ich aufgelost vor Riihrung liber die Japaner. Als wir indessen am darauffolgenden Tage im Ministerium vorsprachen und ich auf Grund meiner Empfehlung um das Vorrecht bat, die Kampferfabrik, die Staatsmonopol ist, be- suchen zu diirfen, war diese Riihrung nahe daran, zu erfrieren, denn wir gingen von Pontius zu Pilatus, und immer waren die Leute von geradezu herzbrechender Hoflichkeit (wie ein Panzer) und von einer noch herz- und geduldbrechenderen Fragelust. Zum SchluB kam ich vor den Allmachtigsten von Formosa in seinem Allerheiligsten und blieb sogar mit ihm allein. Ich hatte schon an die dreiBig Fragen beantwortet und sogar den Taufnamen meiner UrgroBmutter genannt und fiihlte meine Geduld wie ein altes Miederband krachen, als der Machtige, dem ich gern eine Unhoflichkeit gesagt hatte, sich feierlichst erhob und bemerkte: „Wiirden Sie mir die Freude machen, unten im Gebaude einen kleinen ImbiB mit mir einzunehmen?" Da wufite ich, wie weise es ist, auf Reisen den Mund zu halten, selbst wenn die Geduld schon im Krachen der Auf- losung ist. Herr H„ der sehr viele Europaer kannte und der durch- blicken lieB, daB wir eine sehr unterhaltende, weil vollig un- berechenbare Rasse waren, zeigte sich von da ab als mein rettender Engel. Er fand Gefallen an dem besonderen Wahn- sinn, der bei mir durchbrach, und schlug mir vor, ihn im Fran- zosischen und Deutschen weiter zu unterrichten, ein Vorschlag, 258 den ich umso lieber annahm, als dureh den Sturz des Yens mein erspartes Kapital nicht so lange auszuhalten versprach, wie ich es erhofft hatte. Auch empfahl er mir einen weiteren Schuler aus dem chemischen Laboratorium, der ebenfalls — wie alle Japaner — ein hochst angenehmer, fleiBiger Schuler war. Ich sah mich also unvermittelt von neuen Freunden, von Ehren und Geld umgeben. Sogar eine Stellung in Staatsdiensten ware nicht unmoglich gewesen, wenn ich mich zum Bleiben entschlieben wiirde, wozu mir Herr I., der behauptete, es ware doch alles eins, ob jemand in meinem Zimmer schliefe oder ob es leer stiinde, sehr zuredete. Der Formosahimmel hatte keine Wolke, und anstatt der gedachten vierzehn Tage (der Dampfer lief nur alle zwei Wochen von der Siidspitze nach China ab) entschloB ich mich, bei so giinstigen Angeboten einige Monate zu bleiben, obschon mich ein innerer Drang zum Weiterfahren anspomte. Es war sehr schon, und ich frohlockte, aber in unschuldiger Art. Der „geschwollene Kopi“ war eine iiberwundene Krank- heit. Blind lebte ich in den Tag hinein. Wen die Gotter ver- derben wollen, den schlagen sie ja bekanntlich zuerst mit Blindheit. In der Kampferfabrik. Jeden Vormittag besichtigten wir etwas anderes, Herr I. und ich. Jeden Nachmittag schrieb oder malte ich im kleinen Zimmerchen mit dem Blick auf den geheimnisvollen Saulen- gang. Heifier Tee stand immer auf meinem Tisch, und daB wir Europaer im Geruche der Fleischfresser standen, ersah ich aus dem Umstand, daB ich oft schon zum Friihstiick ein Schnitzel mit Krautsalat (oder das diesem Gericht japanisch Ent- sprechende) erhielt. Zu jener Zeit konnte ich indessen alles verdauen und ausgehungert, wie ich in der Regel war, immer essen. Eine kleine Fliege fiel in das Freudenol meines Taihoku- seins, als mir berichtet wurde, daB man mich im weitesten Um- kreis „die rote Frau“ nannte. Mich mit meinem echt kastanien- braunen Wuschelkopf! Aber fur die Japaner sind alle lichten Frauen rot, und rot blieb ich. Zudem trug ich ein rostbraunes Samtkleid, in Peking von einem chinesischen Schneider ge- macht, von Frau L. und Mary gut geheiBen und beinahe noch neu. Mein einziges warmes Kleid. Aber Rot gilt den Japanern als Kinderfarbe und ist nicht beliebt. Dennoch waren meine Gefiihle wie Kienholz zersplittert, als mich Herr I., der doch ein erdferner Weltbegliicker war, Schuhe wie Boote trug und seine Kimonogiirtel unter dem Kasten suchte, also gegen Frauen- \ 7 * 259 reize, insbesondere bei WeiBen, teilnahmslos bis zum Stumpf- siim sein sollte, eines Morgens fragte: „Haben Sie nichts_nichts Schoneres zum Anziehen?!'" Auf Honolulu war ich halbtot gequalt, bei der deutschen Botschaft sanft geneckt, in Peking liebevoll ermahnt und auch mit neuen Kleidem versorgt worden, aber der echte AnstoB zu ewiger Besserung in Kleidersachen wurde mir durch den Welt- begliicker. Wenn selbst ein Apostel fragte: „Haben Sie nichts Schoneres ?“ Ich tauchte also in die Tiefen meines Koffers und schwamm mit einem blauen Waschkleid mit Knopferln an die Oberflache. Personlich gefiel mir das rostbraune Samtkleid besser, und was Warme anbetrifft, war es das Richtige fur einen selbst auf Formosa kalten Dezembertag, aber der Weltbegliicker fand mich „wie eine Fee“ aussehend, und fur dieses Feentum be- zahlte ich spater mit einem Schnupfen wie ein Taifun und mit 38 Grad Fieber durch mehr als eine Woche . . . Apostel mogen Schonheitsgefiihl haben, praktischen Ver- stand haben sie so wenig wie Schriftsteller. In diesem blauen Kleid ging ich zuerst einmal in die Kampferfabrik. Formosa ist der Herd, die Heimat, das Land des Kampfers. Japan liefert der Welt jahrlich 2 000 000 Pfund, Formosa 9 000 000, China 1 000 000 (und zwar zusammen mit dem synthetischen Kampfer), so daB Formosa die fiihrende Kampfermacht ist. Ein Flachenraum von 60 000 Morgen Landes ist mit Kampferbaumen bewachsen. Ein einziger groBer Kampferbaum von 25 FuB Umfang kann eine Destillerie jahre- lang beschaftigen und gibt eine Einnahme von iiber 8000 Yen (16 000 Mark). Wahrscheinlich waren es die Kampferbaume, die Japan so sehr geneigt gemacht hatten, gerade Formosa den Chinesen um jeden Preis wegzunehmen. Aber auch auf der Insel selbst hat die Gewinnung schon eine Menge Blut gekostet, dauerte es doch sehr lange, ehe sich die wilden Tayalen damit abfanden. die Fremden in ihren Waldem die Baume schlagen zu lassen. Viele, viele Kopfe wurden genommen, ehe die Japaner durch zahlreiche Kleinkriege, klug eingefiihrte Tauschgeschafte und endlich durch die Anlage des elektrischen Zauns um das gefahr- lichste Kopf jagergebiet so weit gekommen waren, sich wenigstens am Rande dieser Gebiete niederzulassen. Das Innere der Insel ist an diesem (dem Nord-) Ende noch nicht ganz erforscht. Die Kampferfabrik, die einzige auf Formosa, liegt in Tai- hoku selbst, unweit des riesigen und prachtvoll erbauten Re- gierungsgebaudes, das ebenso gut in London oder Paris steher konnte, und verbreitet an manchen Tagen einen weithin fiihl- baren, doch mir nicht unangenehmen Geruch. 260 Der Direktor fiihrte uns selbsi. Die Formosaner erhalten einen Yen zwanzig taglich, die leitenden Japaner natiiiiich weit mehr. Hier sei hinzugefiigt, daB unter Formosanern Chi- nesen zu verstehen sind, die schon Jahrhunderte lang auf For¬ mosa ansassig und die sich — in vereinzelten Fallen — mit den sanfteren der Eingeborenen verehelicht haben. Sie sind Siidchinesen und von dunklerer Gesichtsfarbe als die Leute des Nordens, auch nicht ganz so wasserscheu und ebenso arbeits- freudig und entbehrungsgewohnt. Wunderschon ist es, in den groBen Eisenkammern den auf- gestapelten Staubkampfer zu sehen. Er schneit von der Decke herab, er liegt in sich tiirmenden Haufen auf dem Boden, und der Geruch ist so stark, daB er betaubt und Kopfschmerzen er- zeugt. Frauen werden nicht angestellt, weil die Kampferher- stellung Frauen unfruchtbar machen soil, und die Manner miissen sich erst eine Weile lang einarbeiten, ehe sie ohne Kopf¬ schmerzen ihren Pflichten nachzugehen vermogen. Wenn man das bedenkt, ist die Bezahlung allerdings sehr gering. Das Gel wird in den iiblichen Blechbiichsen, der Kampier in mit Blech ausgeschlagenen Kisten verschifft. Der Direktor schenkte mir ein Packchen echten Formosakampfers in Wiirfeln und ein Flaschchen Kampferparfiim. Der Rundgang hatte iiber eine Stunde gedauert. Bei den Kopfjagern. Ein Herr des Ministeriums und Herr I. begleiteten mich in das vielbesprochene Kopfjagergebiet. Es gibt auf der Insel neun verschiedene Stamme, von denen die Tayalen, die achtzig- tausend Seelen umfassen sollen, die gefahrlichsten sind. In friiheren Jahren nahmen sie iiber tausend Formosanerkopfe jahrlich, doch die Japaner schafften das ab — Kopfe sind dort wertvoller — und heute sind die Ausfalle selten. Auch darf das Kopfjagergebiet nur mit polizeilicher Bewachung betreten werden, und diese zu erhalten, ist nicht leicht. Im Wagen mir gegeniiber saB ein buddhistischer Priester, ein goldgesticktes Seidenviereck auf der Brust, er selbst dick und selbstzufrieden. Die iibrigen Reisenden waren echte For¬ mosaner mit Palmenstrohhiiten und Korben. DrauBen zog die Ebene hinter Taihoku voriiber mit den Strauchern der Tee- duftbliiten — Jasmin, Ylangylang — und auch einzelne Tee- stauden. In Toyen verlieBen wir den Zug und bestiegen den Schiebwagen, ein breites viereckiges Brett auf Radern, mit einer Kiste oder zwei als Sitzen, und in manchen Fallen selbst mit einem Segel. Unser Wagen hatte kein helfendes Segel. Der Formosaner mit seinem zuckerhutartigen Dach und seinem Anflug von Hose sprang riickwarts auf, nachdem er den Wagen 261 durch schnelles Laufen und Schieben erst gut ins Rollen ge- bracht hatte. Die Felder lagen schon brach, und vereinzelte Krahen flogen dariiber hin. Die Hiigel schoben sich neugierig heran, verschlangen uns allmahlich, zogen uns hinauf auf die Kamme. Hier standen Liebesbaume, so genannt, weil die Blatter in Paaren an den Zweigen saBen. Es waren eine Art Weiden mit krummem Stamm. Spater, in den warmen Einschnitten, trafen wir Teesammlerinnen mit weiBem Tuch in Hutform und mit flaschenartigen Korben am Arm, und endlich kreuzten wir eine Briicke, deren Pfeiler aus Bambus, viereckig aufgestellt, und mit Kieselsteinen gefiillt waren. Wir speisten zu Mittag im Klubhaus von Taikoi, wo wir sehr gut bewirtet wurden und von wo aus wir das Gebiet des Tamsinflusses mit den Bewasserungskanalen der Reisfelder, die darauf befindlichen Wasserbiiffel und die halbnackten Bauern iiberschauten. Bald nach Taikoi aber verschlang uns der Busch mit seinen Kampferbaumen, wilden Bananen, unbe- kannten Blumen und, an Ireien Stellen, dem Suzukigras, dessen lange Halme sich eigentiimlich bewegten und dessen lange, weifiliche, fedrige Samenhiilse an einen Geisterwedel erinnerte. Hinter solchem Gras verborgen, oft drei Tage lang regungslos ausgestreckt, lauern die Tayalen, bis ein Opfer voriibergeht. Dann schieBen sie erst einen Pfeil darauf ab, stiirzen dann auf den Getroffenen zu und schneiden das Haupt ab, den Korper zuriicklassend. Es kann namlich kein Jiingling heiraten, der nicht wenigstens einen Kopf heimgebracht hat, denn das ist das Zeichen seiner Reife, ebenso gut wie kein Madehen Gattin wird, bevor sie nicht das selfsame Tatowierungszeichen er- halten hat. Es reicht vom Ohr zum Mund und wieder zuriick in zwei groBen, breiten, blauschwarzen Streifen. Es gibt mehr als zweihundert Arten von Giftschlangen auf Formosa, und so oft der Wagen eine groBe Heuschrecke, einen der groBen blauen Falter Oder sonst etwas Lebendes auf- schreckte, glaubte ich schon, eine Schlange zu treffen. Der Wagen selbst gab zu denken; denn er sauste in tollster Fahrt die Zickzackwege hinab, um noch etwas Schwung zur Hinauf- fahrt zu behalten, und jede Wegkriimmung zeigte ein neues Bild, denn wir fuhren hinter den Hiigeln in immer weitere Hiigelketten hinein und stiegen allmahlich zu den echten Bergen auf. Sentanstraucher mit gelben Beeren begrenzten den Pfad, von machtigen Urwaldbaumen Oder von den lang- blattrigen Bananen unterbrochen. So erreichten wir die War- nungstafel: „Gefahr!“ Wir fuhren nun im Kopfjagergebiet, und mir war’s, als ver- stummten meine Gefahrten mehr und mehr .... 262 In der Ferae brannten Teile der Abhange. Der Rauch walzte sich als Lindwurm der StraBe entgegen. So bearbeiten die Wilden ihre Felder. Einige Frauen, klein, braun, mit runden Augen, standen in einem Hanffeld. Wir erreichten eine Kampferdestillerie einfachster Art und stiegen aus. In einem Ofen wie bei unseren Kohlern wurde das klein zerschnittene Kampferholz ausgekocht. Der heiBe Saft floB durch Rohre, die im Wasser lagen, um schnell auszukiihlen, und das Oel tropfte in die Behalter, die zum Verschicken gewahlt waren. Der rohe Kampfer sank auf den Boden der Rohre und wurde ebenfalls herausgenommen und in Behalter getan. In Taihoku wurde erst alles verarbeitet. Hoher und hoher, weiter und weiter, von Bild zu Bild. Friih am Nachmittag erreichten wir das Polizeidorf von Ka- pansan. Es gibt dort keine Frauen. Auch keinerlei Zivilper- sonen. In den dreiBig Hauschen, zu denen die geraumige Schule gehort, in der ebenfalls ein Schutzmann jene Tayal- kinder unterrichtet, die zu kommen und bei ihm zu wohnen wiinschen, leben nur Japaner, die als Wache hier an der schlimmsten Grenze der Kopfjagergebiete stehen. Sie kochen, waschen, flicken, putzen selbst, und wir schliefen alle auf den Matten im Hause des Polizeiinspektors, die Herren im ersten, ich, hinter Schiebetiiren, im zweiten Raum. Nie iiberkam mich aber das leiseste Gefiihl der Unsicherheit. Ein sehr unan- genehmes Abenteuer, das ich mir nicht in alien Landern wiin- schen wiirde, hatte ich vor dem Schlafengehen. Wie immer pilgerten wir alle der Reihe nach ins Bad. Das Badezimmer hatte Licht und war sehr sauber, die Wanne, weil fiir so viel Gerechtigkeit bestimmt, auffallend groB. Ich entkleidete mich, legte die Sachen auf ein Bankchen, kletterte die paar Stufen empor und verschwand nach mehreren „Aii“ und „Auuu“ im heiBen Wasser. War es die Erschiitterung durch einen Vor- iibergehenden oder war die Schiebetiir nicht richtig eingefiigt gewesen — kurz, kaum saB ich in der Wanne, als die Tiir mit einem Krach umfiel. So oft ich indessen herausspringen wollte, um sie zuriickzustellen, vernahm ich Schritte und hiipfte ins Wasser zuriick. Was sollte ich tun? Ich muBte um Hilfe rufen und — den Kopf in einer Dampfwolke — hoflich ersuchen, die Tiir wieder einzuschieben. Niemand fand etwas dabei, und ich trachtete auszusehen, als ob ich taglich ohne Kleider solch einem Vorgang beiwohnte. Von da ab unterzog ich indessen die Schiebetiiren immer einer Untersuchung, ehe ich ins Bad stieg. Auf meine Bitte stiegen wir den ganzen hohen Berg in das Tal hinab, bis wir eine jener unheimlichen Hangebriicken aus Rattanranken erreichten, die wie eine Schaukel den FluB iiber- 263 spannten. Zwei schmale Bretter bildeten alles, worauf man festen FuB faCte, und zum Anhalten gab es in hochster Finger- hohe ein Seil, das natiirlich nachgab. Man schaukelte wie eine Seiltanzerin liber die Briicke, und je mehr Leute gingen, desto verzweifelter schaukelte die Briicke. Urn mich zu entmutigen, verbeugte sich der Inspektor und lieB mich vorangehen, in der Erwartung, mich heulend Kehrt machen zu sehen, doch ich dachte mir damals nichts dabei oder hochstens, daB man eben da gehen miisse und ich folglich gehen wiirde. Nie in meinem Leben hat mich das Gefiihl bemeistert, irgendwo ganz fern von der Welt zu sein, wie hier in diesem Ort, dem „Zusammenlauf der Fliisse“. Die runddachigen Haus- chen, die grellgriinen Bananen, der griine, rauschende FluB, die hohen, hohen Berge, die alle Aussicht verhinderten, die Sonne auf den fernsten Abhangen, die goldene Stille.... da sehnte ich mich, bei den Kopfjagern zu bleiben und die Welt, die voll Tiicke und Schriftleitungen war, ganz zu vergessen. Ohne Ehrgeiz zu leben, ohne Zweck, nur in sich und die allernachste Welt ver- sunken. Aber die Japaner, die ihren Kopf behalten wollten und sich nach der unruhigen Welt zuriicksehnten, trieben mich bald aus dem Paradies wieder fort, so gern ich die Tayalfrauen mit ihrem schwarzen Gesicht, dem stechenden Blick und den steifen Hanf- gewandern noch betrachtet hatte. Der Berg vor mir schien zu wachsen, und je langer wir kletterten, je eifriger die Schutz- 1 eute im Anspornen wurden, desto hoher erschien er mir. Unter den FiiBen wuchs er ins Stahlblau des Abendhimmels. „Wenn es dunkel wird, ehe wir die Hohe erreichen, konnen die Kopfjager kommen! Bei Tage wagen sie nichts, doch nachts . . . “ So biB ich wieder ins Knie, und endlich standen wir auf der kleinen Hochebene und blickten auf das Schwarz der Walder zuriick, durch das sich tief unten, wie ein mattes Silberband, der FluB schlangelte .... Die Freuden der Wilden. Friih. friih kroch ich aus den weichen warmen Futons und ging ins Freie. Der Platz war sonnegefegt, und zwei Manner naherten sich mir. Sie waren in ein Tuch wie in einen Poncho gehiillt und hatten das lange Haar zu einem Zopf geflochten. Mitten auf dem Kopf saB ein Geflecht, das, wie ich spater merkte, alien Zwecken diente: als Hut, als Trinkbecher, als Speisenbehalter, als GetreidemaB und als Lausenest. Die Augen waren sanft und schwermiitig. Nie hatte man darin die Lust nach Kopfen geahnt. 264 Unten, in dem kieinen Tauschladen, saBen lhrer vieie, alle bezopft, sanft und still. Sie brackten Tsuso, die schone Staude, aus der man das bei uns als Reispapier bekannte Material mit krummem, runden Messer schnitt, ein herrliches, seidig schim- merndes Papier, das die Chinesen mit kieinen Figuren bemal- ten. Die Staude erreicht eine Hohe von fiinf Metern und einen Armumfang an Dicke im besten Fall (Aralia payrifera). Sie brachten auch das ungewohnlich zahe Hanftuch und einige Friichte der Hohen und verlangten dafiir Tabak, Reis, Ziind- holzchen. Deere Flaschen schienen ihnen so wertvoll wie Gold. Ihre Hiitten sind sehr einfach, last ohne Einrichtung, mit dem Herd in der Mitte und einigen Brettern als Lagerstatte. Die Toten werden in den vier Ecken des Hauses begraben, und wenn alle Ecken voll sind, gilt das Haus als ungliick- bringend, und man baut ein neues. Junge Leute, die ihre Flitterwochen ungesehen verbringen wollen, ziehen sich in die Luft zuriick, das heiBt, sie wohnen in einem Bau zwanzig FuB liber dem Erdboden. Sehr feierlich wird ein Kopf aufgenommen. Die schonsten Jiinglinge halten die Ehrenwache um das Geisterhauschen und singen und tanzen zur Ehre des hohen Gastes. Nach einer Woche wird ein Fest abgehalten, Gaste kommen von weit und breit, man giefit dem Kopf Hirsebier zwischen die Lippen, man bedankt sich fur die Ehre, man bittet den Geist, doch auch die Freunde heranzulocken, und man bewahrt den Kopf spater in dem Geisterhauschen auf Oder mauert ihn, wie bei den Bunum, in das Gestein des Hauses, aber immer dem Nahenden erkennt lich. Ich hatte schon Lust, meinen Kopf dazulassen, denn wer wiirde sonst irgendwo solche Geschichten mit ihm machen? Aber der Gesanate Polens, der eben am Morgen nach Kapansan gekommen war, wollte seinen Kopf lieber hinabtragen, und die Japaner, die sich fiir den meinen verantwortlich hielten, waren ebenfalls dieser prosaischen Meinung, und so wurde ich nach dem Mittagsmahl samt Kopf auf die Kiste des Schiebwagerls gehoben und schschsch! ging es talwarts durch die unvergeB- lichen Kampferhaine. Ein Hauch von Herbst und von Sterben, wehmiitig schon in dem goldenen Dezemberlicht, lag selbst iiber dieser Tropenlandschaft, und im hohen Suzukigras raunte warnend der Wind ... . In den Teehausern. Die groBte Teefirma ist die Mitsui Company. Handler kommen aus alien Weltteilen, vorwiegend jedoch aus den Ver- einigten Staaten, angefahren, um die jahrliche Teeprobe zu nehmen und bedeutende Bestellungen zu machen. Ein groBer Teil von Daito-tei, dem echten Formosanerviertel, in dem auch 265 ich lebte, gehort den Teegesellschaften, und eines Morgens fiihrte Herr I. mich ebenfalls durch diese Hallen, in denen viele Frauen und Kinder mit dem Durchduften des Tees und mit dem Packen beschaftigt waren. Sie arbeiteten da etwa zwolf Stunden taglich und erhielten dafiir zwanzig Sen. Die beste Teeart ist der Oclong-Tee. Man erzahlt sich, daB ein Farmer aus Fukhien in Siidchina eines Morgens auf den Berg Bui stieg und eine schwarze Schlange um eine Teestaude gewunden fand. Er nahm einige dieser Blatter mit nach Hause und fand den Geschmack vortrefflich. Oclong bedeutet „Drache“ Oder „ Schlange, so schwarz wie eine Krahe“. Mit dem Ceylon- tee halt er den amerikanischen Markt. Der beste Oelongtee kostet in Formosa 2 Yen das Pfund. Die Chinesen ziehen je- doch die durchdufteten Teearten vor, und daher nimmt man die frischen Bliiten des Tropenjasmins und einer anderen gelb- weiBen Blume, die wie Tuberose riecht, und mischt sie unter den fertigen Tee, trocknet alles vorsichtig iiber dem Hibachi, dem Warmebecken, und packt es als „Wrapper Tea" das Pfund von 80 Sen bis zu einem Yen. Der beste Bliitentee heiflt Hoshi cha oder Po shien cha. Es war wunderschon, unter den dammerigen Saulenbogen zu gehen und den Duft all dieser Raume einzuatmen; ich sah nicht nur all das Teetreiben, sondern tausend Sachen, die mich begeisterten: ein Opferschwein vor einem kleinen Altar, die Eingeweide und das Herz in verschiedenen GefaBen, und in der Schnauze eine goldgelbe Orange! Ich ertappte einen Mann da- bei, wie er einen falschen Zahn mit der groBen Zehe aufklaubte und sich in die Hand fallen lieB; in einem Seitentempelchen, vom fahlen Licht der roten Kerzen beleuchtet, warfen Chi- nesinnen das Orakelhorn, zwei Holzhornchen mit einer ge- bauchten und einer flachen Seite. Fielen die Hornchen beide richtig, so war der Wunsch erhort; lag eins richtig, das andere nicht, so schwankte der Gott, und im breiten, gahnenden Opfer- ofen muBte mehr Papiergeld gebrannt werden. Wenn beide Hornchen unrichtig lagen, waren und blieben die Gotter stumm. Auf einem nahen Felde (die Hauserreihen teilten sich unver- mittelt zu Feldern und schlossen sich wieder) sah ich einen kleinen Wasserbiiffel, noch ganz rosa und unbeholfen, und hinter einem Strohvorhang aB ein kleines Madchen Bohnen- nudeln mit so viel Geschick und Anmut wie ein Neapolitaner seine Maccaroni. Der Abgrund. Am liebsten durchwanderte ich vor den Stunden bei Herrn H., dem Allmachtigen der Insel, die stets sehr angenehm waren, den botanischen Garten und skizzierte die reiche einheimische 266 Pflanzenwelt; oder ich besah mir die Textilsachen im Museum, Oder ich durchbummelte, nach dem Morgenstudiengang, die StraBen der Stadt, weil man da immer wieder etwas sah, wo- von man lernte. In den Geschaften sah man das Leben der Leute, die darin aBen, nahten, sprachen, lasen, sangen und selbst starben; unter den Bogen opferte man den Gottern, er- zeugte man allerlei schone und niitzliche Sachen, lagen Kuchen und andere Dinge zur Schau. Einmal gab es eine Anbetung vor dem Schweinegottaltar — eigentlich der Gottin, die so gern Schweine in Empiang nimmt — einmal ging ein Trauerzug voriiber, und einmal hatte der Lieblingsgott Ausgang. Fahnen mit Bildern und Stickereien kostbarster Art wurden ihm vor- ausgetragen. Drachen, Phonixe, Gotter, Damonen mit flattern- den Barten und mit Seidenleibern zogen an mir voriiber. Die Musikanten riihrten die Trommeln, wimmerten in Floten, schlugen Schellen gegeneinander, und Manner, in Gotter- gewandern und mit schauriger Maske tanzten voraus, wahrend ihr Haar, aus gelben Papierstreifen bestehend, wie ein Drache durch die Luft wirbelte. Nach Tisch schrieb und malte ich, von vier bis sechs unter- richtete ich, morgens machte ich Entdeckungsreisen mit Herrn I. und abends allein. Friiher hatte ich bis zehn Uhr nachts durchgearbeitet, doch in letzter Zeit kam Herr I. und erzahlte mi r von dem Aberglauben der Tayalen, unter denen er jahre- lang gelebt hatte, von ihren Marchen und Sagen, und ich schrieb nieder, was er erzahlte. Manchmal verbesserte ich sein Englisch. Mit seiner greisen Mutter, vor der mir ein wenig graute, und seiner kalten, fcrmlichen Schwester konnte ich nur die mir eingeleierten Hoflichkeitsreden wechseln. Bei ihnen fiihlte ich, trotz sehr aufmerksamer Bedienung, ein entschiede- nes Rassenvorurteil gegen mich. Ich bin eine Gans. Es tut mir leid, das sagen zu miissen und mehr leid, es nicht wenigstens in der Mitvergangenheit ausdriicken zu diirfen, aber ich wage es nicht. Man kann in manchen Sachen nicht nur eine Gans sein, sondern sie leider auch bleiben. Aber ich bilde mir ein, psychisch zu sein, also Seelen- wellen zu verspiiren. Als ich wieder einmal am machtigen roten Tor vorbei aus dem japanischen ins formosanische Viertel ein- bog, das voll Romantik und voll Gefahren war, iiberkam mich das Gefiihl einer nahenden Qual so sehr, daB ich zu den Gottern aufwinselte und ein echter Kummer mich befiel, daB ich das letzte Schiff, das an dem Tage gefahren war, nicht genommen hatte. Und dennoch war alles so unbedingt sonnig: Ich ver- diente, ich hatte allerlei ehrende Aussichten, ich lernte, und Formosa war ein Marchenland. 267 Aber ach — in Marchenlandern laufen bekanntlich die Hexen urn, und man stofit auf Marchenprinzen . . . Ich bin eine Gans, und natiirlich stolperte ich iiber den Marchenprinzen in einem Lande, in dem es nur Schiebetiiren gibt. Die Flucht. Das war noch einmal Peru, aber irgendwie aus dem BaB ins hohe Moll iibertragen. Immerhin so nervenaufreizend, daB ich nach achtundvierzig Stunden Wachen zur Ueberzeugung ge- langte, daB meine Gefiihlsstrange nicht mitkonnten und auch nicht dagegen, wenn es so weiterginge. Ich bat eine Deutsche, die mit einem Japaner verheiratet war, zu ihr kommen zu diirfen. Was ich bei ihr gelitten habe, spottet jeder Beschrei- bung. Ins Hotel konnte ich nicht, weil ein Hotel in diesem Fall, unter solchen Umstanden, keine Gewahr des Schutzes vor anderen oder mir selbst geboten hatte. Ich erinnerte mich an den Missionar in Tainan. Er lud mich ein, zu ihm zu kommen. Dies ist nicht die Geschichte meiner Herzensangelegen- heiten, aber wenn man damit dem Gouverneur einer tremden Rasse au! fremder Insel lastig fallen muB, ist die Geschichte eine Tragikomodie. In der Erinnerung jedenfalls. Damals weinte ich Eimer voll Tranen, eben weil die Japaner selbst in der hochsten Leidenschaft Selbstbeherrschung bewahren und gerade diese Eigenschaft mir die groBte Bewunderung ab- zwingt. Wir weiBen Frauen aber diirfen nicht die Rasse ver- raten. Es geht nicht! Es ist ein Verbrechen an uns und an anderen. Es fiihrt auch nie, nie zum Gluck. Ich muBte alles lassen und fliehen. Samtliche Schuler schenkten mir, der wandelnden Niobe, Taschentiicher zum Abschied, groBe leinene! Herr I. erkrankte. Trotzdem brachte er mich zum Zug. Ich muBte — was immer die Zukunft barg — Fernsicht ge- winnen. Unter Europaern leben und hierauf endlich die Ent- seheidung fallen. Und er auch. In sieben Monaten vergaB ein Mann zehn Frauen, nicht nur eine. Das war mein Trost. Und wieder fuhr ich weiter in die unbekannte Welt hinein — einsam, mit abnehmenden Mitteln, vom Fluch meines Ge- schlechts begleitet. Wie unendlich leicht reist dagegen ein Mann! Im Schatten der Tempel. Die Waggons waren lang, mit Doppelsitzen wie in den Vereinigten Staaten. Man brachte den Reisenden Pantoffel, damit sie imstande waren, die westlichen Lederschuhe auszu- ziehen und die FiiBe nach Belieben unter die Schinken zu stecken. DrauBen sah man nichts als Reisfelder, Zucker- 268 pflanzungen, spater Bambus und Tee mit zuriickweichenden Bergen. Ein junges Madchen safi auf einem Handwarmebecken. Auf einsamer LandstraBe plotzlich eine Sanfte. Fremde Gras- arten, wohl zur Tatamiherstellung, bedeckten lange Strecken. Dann wieder ein Tempel unweit einer Ortschaft. Dumpf besah icb mir all das. Es hatte mir mehr behagt, in mich selbst zu schauen, wo das Leben als solches seine unerwartcten Furchen zog, aber meine Pflicht hielt mein Auge an das rollende Bild gefesselt. D a z u war ich gefahren; deshalb lilt ich. Das, was ich an klarer Weisheit dazu erwerben muBte, war die traurige Draufgabe der Gotter, der sich auch jene nicht inimer entzogen, die daheim bleiben und Strudel baeken durften. In Augenblicken groBer seelischer Erschiitterungen babe ich immer diejenigen meiner Landsleute beneidet, die in weib- lichen Tugenden leuchteten und nur die Geheimnisse der Koch- kunst, nicht jene des Weltalls zu ergriinden trachteten. In Tainan waren die Missionare riihrend nett gegen mich. Ich speiste bei den Damen und wohnte im allgemeinen Missions- haus, das die Leute des Ortes das „Haus des Morgenniesens“ nannten, wahrscheinlich, weil die vom Garten herkommende, kaltnasse Lult dem, der zu friih auf die offene Veranda trat, das Niesen gab. Die Tempel von Tainan sind alter als die von Taihoku, denn Tainan war iriiher die Landeshauptstadt; ihr Geprage ist rein chinesisch, und es fehlt nicht an Steindrachen, Wolken- und Windsinnbildern und kleinen, nur von brennenden Weih- rauchstabchen erhellten Schreinen, in denen einer Gottin, die gut im Fruchtbarwerdenlassen ist, Opfer gebracht werden. Was wimseht eine Chinesin mehr als Edelsteine, um sie ihrem Gatten demiitig zu FiiBen legen zu konnen? Das gibt ihr Macht iiber alle Nebenfrauen Oder — wenn sie fruchtbarer als die Hauptfrau ist — Macht selbst iiber die. Von hier geht es hinauf in die Berge zu den Ami, die auf den Klippen hausen, die, ungemein steil und hoch, jah ins Meer abfallen, zu den Bunum, deren Hauser alle Schieferdacher tragen und den Tsuou. Doch weiB ich nicht genau, welcher dieser drei Stamme es gewesen ist, der einmal zur Mission herabkam (in der guten alten Zeit, ehe die Japaner sich an- siedelten und gegen Menschenfresserei und Kopfjagertum etwas einzuwenden hatten) und vom Missionar, der die armen Heiden gern gewonnen hatte, bewirtet wurde. Von allem war das fette Schwein der Glanzpunkt des Anfreundungsfestes und der begeisterte Hauptling lud den Missionar mit einigen eng- lischen Herren ein, auch bei ihm oben in den Bergen ein Frie- densmahl einzunehmen. Die Herren gingen, und der ganze Stamm war versammelt. Der Duft bratender Bananen erfiillte 269 die Luft, und die Blatter, die als Teller dienen sollten, bildeten einladende und vielversprechende Haufen. Der Hauptling lobte das unvergeBliche Schwein, und der Missionar sah zum Hiitten- ienster hinaus, wo der Sohn des Hauptlings, ein dicker, etwa zwolfjahriger Junge, herumlief. So stramm waren die jungen Beine und so gelenk die Bewegungen, daB der Missionar sich umwandte und zum Hauptling sagte: „Was fiir ein schones, kraftiges Kind!" Der Hauptling sagte etwas zu einem der Anwesenden, der die Hiitte verlieB, und der entsetzte Missionar wurde eine Mi¬ nute spater Zeuge eines Mordes. Der groBe Krieger schwang seine Keule, und der Kleine brach mitten im Spiel rochelnd zu- sammen. „Himmel-man mordet-!“ „LaB nur," bemerkte der Hauptling kaltbliitig, „du sollst nicht sagen konnen, daB wir Bunum zuriickstehen in unserer Gastlichkeit. In kurzer Zeit wird er gebraten sein und nicht weniger knusprig schmecken als dein Schwein!" Man sagt, daB die fiinf Herren, der Missionar voran, den Berg hinuntersausten und nicht innehielten, als bis sie wieder in Tainan waren. Lange Zeit hindurch aber feierte man keine Friedensfeste mehr, weder mit, noch ohne Schwein . . . Nur bei den Yami auf Botel Tobago, der letzten Insel hinter Formosa, die schon mit den Philippines Verwandtschaft verraten, hat es nie Menschenfresser gegeben. Sie wohnen in Hausern, die sie unter der Erdbodenhohe anlegen und in denen sie sich verkriechen. Auf Seerauberwassern . . . . In Takoe schiffte ich mich ein. Der „Soshiu Maru", ein alter Seeklepper, der schon langst den Stall verdient hatte, fuhr nachmittags aus und kam abends zuriick, denn es pfiff drauBen auf dem Meere, und der Klepper hatte keine Seebeine. So hatte ich eine sechsstiindige Gratisfahrt. Um sechs Uhr friih machte er sich nochmals auf den Weg und legte nach einigem Keuchen die hundertachtzig Seemeilen bis Amoy zuriick. Das ist das allergefiirchtetste Piratenloch der ganzen Kiiste. Man merkt das auch den dort verkehrenden Schiffen an. Die Kabinen (hier fuhr ich immer Erster, denn eine andere Klasse kommt fiir Europaer nicht in Frage) haben alle sehr vergitterte Fenster, und der Boy brachte mir vor Amoy einen Schliissel, den ich zuerst fiir den Sankt Peters vom Himmelstor hielt, der sich indessen nur als mein Kabinenschliissel entpuppte, und sagte: „Kann tun!" Diese kryptische Bemerkung wollte indessen nur bedeuten, daB ich besser daran tate, mich mit diesem Schliissel in die 270 Kabine einzusperren. Was wuBte der Arme von dem traurigen Los reisender Joumalisten! Ich „kann tun“ von draufien und besah mir von Deck aus das Seerauberloch. Es lag iiber niedere Hiigel ausgestreckt recht malerisch da, und man konnte gut begreifen, daB die Hohlen in den Klippen, die Verzweigungen der Bucht und die Steile der anklimmenden Stadt eine gute Schule sein wiirden. Als sich ein Kuli mit einem Boot zeigte und wir eine Viertelstunde lang iiber den Preis verhandelt hatten — das starkt das gegenseitige Vertrauen — kletterte ich in sein Sampan hinab und lieB mich ans Land rudern. Was lernt man denn iiber Amoy vom Wasser aus? Sehr viel lernt man leider auch am Lande nicht. Ich bin so klein, und meine Feinde behaupten, ich hatte etwas so Asiati- sches im Aussehen (unbestimmbare HaBlichkeit wollen sie wohl ausdriicken), daB ich eigentlich nie wie die meisten Euro- paer auffalle. Ich gehe auch immer durch die StraBen, als ob ich in ihnen groB geworden sei und daher war ich nie einem Anfall ausgesetzt, noch wurde ich iibermaBig angestarrt. Mit zusammengekniffenen Augen eile ich durch das enge Winkel- werk und sehe doch alles. In Amoy sah ich vorwiegend Hunde: viele, hungrige, riiudige. Die Hunde schienen mir noch schmutziger als die Menschen, und das war wirklich schwer zu erkennen. Die ganze Stadt stank nach einer Prachtauflage von Cholera, aber der Zauber war nicht ganz abzuleugnen. Diese engen StraBen, die ohne Plan da hinauf-, dort hinab- klettern, die roten Sanften, die Seidenladen, die Wachs- geschafte, die trockenen Fische, die Wurstladen, die Frauen mit ihren unergriindlichen Ziigen, weder Kummer noch Freude aus- driickend, und nur in den kreischenden Stimmen eine schein- bar argerliche Erregung verratend; die Kunstblumen, die Ca- talpasarge, die schon wartend auf der StraBe stehen .... Die Hauptindustrie (auBer nicht gestatteter Seerauberei) ist die Entenzucht. Die Entlein werden in groBen Mengen in Brutofen angebriitet, am 26. Tage getotet, ausgestopft und nach Osaka geschickt, von wo aus sie als japanisches Spielzeug auf den amerikanischen Markt gelangen. Nach einer Weile konnte ich den Anblick der raudigen Hunde, an denen das Blut an den hautlosen Gliedern nieder- rann und die jeder Handler mit Stockhieben verscheuchte, nicht mehr ertragen und begab mich iiber das schliipfrig nasse Pflaster hafenwarts. In einem Fleischergeschafte hingen neben geraucherten, flachgeschlagenen Enten auch geraucherte Frosche, poetisch umschrieben „Erdhasen“ genannt, und Litschiniisse, Drachenaugen, Dattelpflaumen und Pomelos deckten die Tische der Obstbuden. 271 Die wenigen Europaer, die ein unfreundiiches Geschick nach Amoy verbannt hat, leben auf einer anderen Insel in ganz netten Hauschen. Da man fiirchtete, es konnten uns die Seerauber angreifen, und da man nie weiB, ob die harmlos scheinenden Fahrgaste der Dritten nicht plotzlich in Seerauber verwandelt auf das Oberdeck stiirzen konnten, wird ein regelrecht starkes Gitter- tor vor dem Auigang in die Erste geschlossen, die Wache steht vor diesem Tor, und der Kapitan halt scharf Ausschau. Alle Japaner sind bewaffnet, die Kabinenfenster miissen geschlossen bleiben, und so schloB und schraubte auch ich mich in mein kleines Reich ein und schlief den Schlaf des Gerechten . . . Aber gar so ruhig war er nicht. Mein Formosaaufenthalt hatte zuletzt allzu sehr einem Hurdenlaufen geglichen. Ich wischte mir also Augen und Nase in die schonen Taschen- tiicher, die mir meine japanischen Schuler in freundlicher An- erkennung geschenkt hatten. Und der Gouverneur war um ein Beispiel westlichen Irrsinns reicher geworden, was gar nicht in meiner Absicht gelegen hatte. Dennoch sage ich: Zwischen Siidamerika und Japan liegt die ganze ungeheure Tonleiter einer aufsteigenden Kultur. So war es also einem Japaner gegeben, mir den Glauben an das Beste im Manne zuriickzugeben. Ich dachte an das Sprichwort in meinem Kinderlesebuch: „Sich selbst bekriegen ist der schwerste Krieg, Sich selbst besiegen ist der schonste Sieg.“ MuB ein Mann wirklich erst Apostel sein, bevor er dieses Kunststiick zusammenbringt?! In Swatow kaufte ich mir ein Paar Niederschuhe. An und fur sich ware das nicht etwas, das nur auf Reisen geschehen kann, doch erwahne ich es, weil es auf Formosa so gut wie un- moglich gewesen ware. Schon in Tokio war es ein Kunststiick, in Taihoku aber, wo alle, alle, die europaische Schuhe trugen, der Ansicht waren, daB man aus den Schuhen, ohne sie aufzu- schniiren, auch herausfahren muB, ware es unausfiihrbar ge¬ wesen, Schuhnummer vierunddreiBig zu entdecken. In China, wo chinesische KriippelfiiBe Leute zu einer Schuhverkiirzung gezwungen hatten, fand ich das Gesuchte. Leider waren sie auch hinten kiirzer als wir das gewohnt sind, und daher trug ich sie nur dort, wo ich mit absatzlosen Gummischuhen nicht gehen konnte: in kaltnassen Gegenden. Sie hielten daher drei Jahre lang. Andere Schuhe vemichtete ich in drei Monaten. Viel SpaB hatte ich auch mit dem Begraben meiner alten Schuhe, deren ich mich schamte. Ich warf sie weg, und sie fanden sich wieder; ich wollte sie liber Bord werfen, selbst um 2 Uhr nachts, und immer stand iemand an der Reeling; ich stopfte sie zuletzt in ein Schiffsloch, in dem sie hoffentlich liegen blieben, bis nichts an ihnen mehr an einen EuropaerfuB erinnerte, aber die Sucht, mich ihrer zu entledigen, war die eines Verbrechers, der sein corpus delicti verbirgt. Swatow hat wunderschone alte Tempel, iiber deren stark geschwungene Dacher (angeblich die Form des urspriinglichen Nomadenzeltes) griine Drachen mit grausen Windungen laufen. Sonst ist das StraBenbild wie in jeder siidchinesischen Stadt — raudige Hunde, halbnackte, schmutzige Manner, Frauen mit langen Silbernadeln im Haar oder bescheiden mit pomadisier- tem Kopf und hellseidenen Pantoffelchen in einer Rikscha fahrend, alte ehrwiirdige Manner in einer Sanfte und das ar- beitende Volk bei seinen tausend Beschaftigungen. Zwei Dinge besonderer Art erzeugt Swatow: die schonen Durchzugsarbeiten, ahnlich dem norwegischen Hardanger, und Ansichtskarten, die aus beschnittenen Marken zusammenge- stellt sind. Allerlei Handwerker Chinas sind sehr geschickt aus allerlei Marken verschiedener Art und Farbung dargestellt, und jede Karte kostet zwanzig Cents. Die hiibsch bemalten Vierecke aus Tsuso (Aralia papyriiera) bekommt man iiberall im Siiden. Im wohlriechenden Hafen. „Ort der Gestanksverminderung“ ware ein moglichenfalls verzeihlicher Name gewesen; die obige Uebersetzung, obschon richtig, ist zu hochtrabend. Die Bucht ist groBartig — daher war sie den Englandern ja so willkommen! — und leicht zu verteidigen, weil sie in weitem Bogen von Hiigeln umgeben ist, und mit dem Peak, auf den die Stadt hinaufklettert, ihren Ab- schluB findet. Die Nachtansicht ist noch schoner als bei Tage, weil da tausend unerwartete Lichter einen Wasserfall vom Gipfel des ansehnlichen Berges herab bilden, wahrend tags- iiber ein feiner, grauer Dunst zu oft das Bild in einen Schleier hiillt. Der „Soshiu Maru“ blieb zwei Tage lang liegen, und ich hatte Gelegenheit, mir die Stadt genau zu betrachten. Die Gassen sind — mit Ausnahme der europaischen HafenstraBe mit modernen Geschaften und freien Platzen — sehr eng und ganz chinesisch. Die StraBe auf den Peak sehr breit und schon, doch lassen sich die meisten Europaer hinauftragen. Mein erster Gang war zu Cook and Son, wo ich die Karte nach Australien, mit Unterbrechungsmoglichkeiten in Manila und in Nord-Borneo loste, um einigermaBen zu wissen, wieviel mir bleiben wiirde, denn zum zweitenmal traumte ich vom Ein- dringen in das schwer erreichbare Siidseeinselreich. Hatte ich einmal die Menschenfresser hinter mir, so war das Schwerste 18 273 iiberwunden — das ging mir wie eine Vorhersagung durch den Sinn. Eine Hoffnung, durch mehrere Jahre gehegt, zerrann in Hongkong. Das Biindel Briefe in Handen — o der Zauber eines Postamtes! — durchtrollte ich langsam die Gassen. Hier hackten Jungen das Holz fiir den kleinen Haushalt, dort nahten Frauen, driiben suchten Bettler nach den lastigen Einwohnern ihrer Lumpen, und wo man auch ging, fachelten einem die her- abhangenden, an eine Bambusstange gebundenen Waschestiicke Luft und_Duft zu. In den Fieischerbuden sieht man die iiblichen luftgeselchten Enten, Hunde, Frosche, Vogel und Wiirste aus unbekannten Massen, immer flach wie ein schlech- tes Rattanrohr und zu endlosen Schniiren gereiht, in denen die Fliegen ihr Abendlager aufschlagen und dadurch den Fleisch- vorhang noch verdichten. Unheimlich ist Hongkong fiir den Einsamen. Ich war frob und traurig zugleich, daB mein Maru am Damm selbst ver- ankert war, denn wer sich ein Sampan nahm, um allein zu einem fernliegenden Dampfer zuriickzufahren, der kehrte oft nicht mehr zuriick. Wer wufite, welches von all den kleinen Booten er genommen hatte? Wann? Von welcher Stelle? Sein Leichnam taucht selten auf, denn ihn behalten die Fische; was er besessen, behalten die Rauber .... Schon aber ist Hongkong friih am Morgen, wenn man die PeakstraBe hinaufgeht und in all die Pracht der Bougainvillia, der Poircettas, der zittemden Baumfarne blickt, an Facher- palmen vorbei die Hohen erreicht und die Bucht mit ihren tausend Schiffen vor sich sieht. In keinem anderen Hafen ganz Asiens konnen sich so viele groBe Schiffe gleichzeitig ver- sammeln. Eine ganze Kriegsflotte fande darin Platz. Kampfe um Kanton verhinderten ein Weiterfahren mit der Bahn, und so wartete ich geduldig drei Tage, bis der gute Maru leer geworden war und gegen Abend weiterfuhr. Man irrt sich, wenn man annimmt, die Hauptstadt Siidchinas liege sofort hinter Hongkong. Man fahrt auf dem breiten „Perlenstrom“ eine ganze Nacht, ehe man sich Kanton nahert. Es war acht Uhr friih, als wir Anker warfen. Das Schiff bleibt mitten im Strom. Fa Fong Hsiih — das duftende Dorf. Ich hatte — wieder durch Herrn von Salzmann — ein Empfehlungsschreiben an Herrn Wohlgemuth, den Leiter der Berliner Mission in Kanton, und es war mir die Erlaubnis ge¬ worden, im Missionshaus die Abfahrt meines Maniladampfers zu erwarten. Nun spahte ich auf den FluB hinaus und wuBte nicht, wo ich Fa Fong Hsiih zu suchen hatte. 274 Der Polizeiinspektor aber wuBte es. Er zeigte es mir jenseits des Flusses, wo zwei spitze Tiirme hervorragten und ein griiner Landungssteg sichtbar wurde, und bald saB ich im Sampan und ruderte darauf zu. Ich traf Herrn Wohlgemuth beim Friihstiick und verschwand bald selbst in Kaffee und Butterbrot. So herzlich war die Aufnahme, daB ich dariiber ganz vergaB, wie sehr man gerade um Kanton kampfte und wie furchtbar die schwarzen Blattern wiiteten. Spater starrte ich aus dem Fenster meiner augenblicklichen Behausung hinaus auf den Dschu Kiang, den Perlenstrom, auf dem nicht nur viele der dreitausend darauf standig schwimmenden Sampans vor- beitrieben, sondern man auch Dinge sah, die einem den Appetit am Tee, auch wenn er dreifach filtriert war, wie man mich trostete, vereitelten. Leichen erschossener Soldaten, Esel- und anderes Tieraas, kleine, weggeworfene Kinderkorperchen, Un¬ rat und Abfall jeder Art schwamm hier dem Meere zu. Gegen Mittag nahmen mich die Herren der Mission unter ihre Fittiche und fiihrten mich liber den Perlenstrom nach Shameen, wortlich „auf dem Sande“, der merkwiirdigen Frem- denkolonie, die ganz auf einer Insel angelegt und von einem schmutzigen, mit Sampans iibersaten Wallgraben umrandet ist. Nach dem Boxeraufstand wollten die Chinesen diesen Graben verschutten, doch der britische Konsul soil den Revolver ge- zogen und das Bleiben des Grabens befohlen haben, worauf auch einer der Chinesen nach seiner Waffe griff. So erbittert aber die Gelbgesichtigen dariiber noch immer sind, ich kann dem britischen Konsul gut nachfiihlen. Der Graben trennt Shameen vom Festland, trennt Asien von Europa, Schmutz von Rein- lichkeit .... Alle Menschen sind Briider. Zugegeben: Aber es ist doch schon, wenn jeder Bruder sein eigenes Schlafzimmer hat, und ich habe schon als Kind auf die Frage „Mochtest du eine Schwester?" in tiefer Welterkenntnis geantwortet: „Ja, aber in einem anderen Haus!“ Peking ist mir personlich lieber. Die hohe Mauer, der gelbe Sand, die scharlachroten Tore, die sacht trabenden Kamele und die Lamapriester, denen — wie den Kamelen — der Duft der Mongolei anhaftet, dies alles versetzt in eine eigene Gemiits- stimmung. Indessen hat auch Kanton seinen vollig urspriing- lichen Reiz, und ware ich geblieben, so wiirden in mir so viele Geschichten wie im Norden entstanden sein. Schon das Fahren auf den Hausbooten war ein Vergniigen fiir mich, denn im Bootszimmerchen, in dem man auch bei der Ueberfahrt saB, war irgend ein schauriger Gott an die Wand ge- malt oder brannte ein Licht unter einem dickbauchigen Gliicks- gott in der finstersten Ecke; drauBen wurde gekocht und an 18 * 275 einer gespannten Leine trockneten — genau wie Enten flach- gedriickt und enthautet — dicke Ratten. Das war die billigste Luftselcherei. Die Sonne trocknete, und vom Kohlenherd stieg oft otwas Rauch auf. Diese engen, oft leicht iiberdachten StraBen hiiitor dem Shameen, die man nach Ueberschreiten einer Kamel- riickenbriicke erreichte, diese Geschafte hinter uralten geschnitz- ten Torbogen, bleiben unbeschreiblich. In Elfenbeingeschaften zum Beispiel vielerlei Kugeln, immer die eine in der anderen, ohne daB man sagen konnte, wie sie hineingekommen waren; oder im Laden nebenan Facher aus herrlich blauen Konigs- fischerfedern, Broschen aus Nephrit, Gehange aus Bernstein, Ochsenblutporzellan, Cloisonne, Ketten und Kamme aus Perl- mutter, Seiden mit Kranich- und Blumenmuster, goldgestickte Pantoffel und so weiter. Manche StraBen beginnen und enden mit einem einzigen Handwerk, so die Ebenholz- und die Mobel- straBen iiberhaupt, wo man die schonsten Waren dieser Art billig erstehen kann (billig vom Wertstandpunkt aus). Das ist das Innere der Geschafte, doch der Zauber ist eben- so stark drauBen wie drinnen. Manner mit Strohhiiten wie der Fujiyama, mit breiten Schulterstangen und breiteren Kisten bahnen sich Weg, Sanften wollen durch die engen schliipfrigen Gafichen hindurch, Kinder zwangen sich an den Beinen entlang, in einem Hause ist Hochzeit, in einem anderen liegt eine Leiche so nahe der Tiir, daB ich beinahe iiber die toten FiiBe gestolpert ware, und bei all dem GestoBe, Gestinke, Geschrei erinnert man sich plotzlich an die lauernde Pest und Cholera, die gefiirchtete Tropendysenterie, an die gerade wiitenden schwarzen Blattern, an Malaria und andere Tropenfieberarten, doch ich gehe unbe- kiimmert durch das enge, iibelriechende Hausergewirr, denn ich fiirchte auf meinen Reisen nur zwei himmelverschiedene Dinge: ein Mannszweibein mit leidenschaftsroten Augenrandern und -den Ringwurm. In derTotenstadt. Es gibt in Kanton eine eigene Stadt fur die Toten. Die Le- benden wohnen jahrein, jahraus auf Sampans oder in elenden Lehmhiitten, schlechter als unsere Stalle, und selbst die Hauser der reichen Chinesen sind, jedenfalls fiir unsere Begriffe, hochst ungemiitlich. Die Totenstadt dagegen, die man durch ein weiBes Tor betritt, ist sehr hiibsch und gleicht mit ihren vielen niederen Bauten und den zahllosen Zellen eher einem weitverzweigten Kloster. In jeder Zelle steht ein Sarg und vor dem Sarg der Opfertisch mit den Lieblingsspeisen des Verstorbenen, hier meist aus Zuckerteig oder Wachs nachgeahmt; Nebenfrauen flankieren das Kopfende des groBen Sarges (das immer dem Besucher zugekehrt ist) und an den Wanden hangen die Schleifen 276 aus Seide, auf denen die Vorziige des Toten, sein Name und so weiter geschrieben stehen. Raucherkerzen in Stabchen- und in Schlangenform hangen von der Decke und brennen in weiten Becken, und da und dort wird auch noch Papiergeld verbrannt. Die Zellen samt Bedienung sind so teuer wie ein gutes chinesi- sches Hotel — drei bis vier Dollars taglich. Es gilt als hohe Schande, die Toten nicht vornehm zu ,,verkostigen“. Der Priester aber verschiebt und verschiebt die Beerdigung und sucht monatelang nach dem giinstigen Tage. Manch ein Ange- horiger verarmt, ehe er den Vater begraben hat, und manche Leute sparen ihr ganzes Leben, um mit viel Prank begraben zu werden. Im Leben ist alles gut genug; das ist typisch fiir Asien. Ein Pfundfiirs Herz. Am folgenden Tage besuchten wir — Herr Schwarm und ich — einige der Tempel, die leider schon recht verfalien sind. Alles Geld geht in Pulver auf (auch unweit der Totenstadt hatten wir bei unserem Gang fiber etwas freieres Gebiet Scharfschiisse in geringer Entfernung vernommen), und zur Erhaltung kostbarer Alter turner wurde nichts getan. Im Tempel der fiinfhundert Lohan sieht man sie alle in Holz geschnitzt dasitzen — Gotter mit so ernsten, gelangweil- ten Gesichtern, daB es einem schwer wird, Glucks- und Schutz- geister darin zu erblicken — und ganz im Anfang einer Reihe, noch recht erkenntlich im Dammern der riesigen Halle, steht -Mungo Park, der Forscher und Reisende, ebenfalls unter den Gottern. Ob ich auch einmal irgendwo als Schutzgeist auf- gestellt werde? Hm, nicht einmal bei den Menschenfressern, die in mir nur das Gespenst der Hungersnot sehen wiirden.. Indessen verdankte Mungo Park diese Ehre weniger seinem Geist als seinem Barte. Der Fiinfgenientempel ist beinahe zerstort. Er tragt seinen Namen nach den fiinf Genien, die angeblich eines Tages fiber das Wasser hergeschwommen kamen, auf Widdern reitend in Kanton einzogen und den Leuten fiinf kostbare Graser — Reis, Kaoliang, Kaffee und am Ende gar Opium — schenkten. Nach ihnen heiBt die Stadt die „Stadt der Widder". Als die Berliner Mission die beiden spitzen Tiirme der Kirche aufsetzen wollte, weigerten sich die Chinesen, indem sie behaupteten, daB dies ein Unheil bringen konnte, doch der Missionar sagte schnell, „ei was, das sind ja nur die Horner des Widders!" und sofort war aller Widerstand beseitigt. Ueberhaupt bewegt sich das Denken der Asiaten (nicht wie voreingenommene Menschen glauben in niedrigeren) in a n d e - 277 ren Kreisen als das unsrige. Das laBt eine Kluft, die sich immer wieder vor einem offnet und vor der man erschrocken zuriickweicht. Ein Missionar sollte ins Innere abreisen, aber die chinesische Behorde wollte (weil der Krieg erklart worden war), nicht die erbetene Erlaubnis geben. Alles Betteln, alles Schmieren half auf einmal nichts. Hier mangelten die Lebens- mittel, im Innern war alles leichter. Da sagte Herr S. ernst- haft zum Chinesen: „Ich muB weg — ich k a n n hier nicht langer bleiben, und wenn mein Wunsch unerfiillt bleibt, so muB ich eben hier, auf ihrer Torschwelle Selbstmord veriiben." Friih am nachsten Morgen kam die erbetene Erlaubnis. Nichts fiirchtet der Chinese mehr, als einen „Geist“ vor der Tiire zu haben. Bei uns verwandeln die Verbrecher umgekehrt die Menschen in Geister, um sie nicht mehr fiirchten zu miissen. Sehr interessant ist der Rest des einstigen Stadttores un- weit der Totenstadt, von wo aus man die WeiBenwolkenberge bewundern und die fiinfstockige Pagode beschauen kann, die einst das Stelldichein aller Dichter und Denker des Siidens gewesen und die nun, wie alles in Kanton, dem Verfall ent- gegengeht. In der allein gut erhaltenen Blumenpagode, inmitten reizen- der kleiner Gartchen, nahmen wir Din Sam — ein Pfund furs Herz — das heiBt einen ImbiB ohne Reis zur Starkung ein. Niedliche Zwergbaumchen umgaben uns, und vor der Glas- veranda bliihten schon die Kamelien. Es war Januar. Was ich aB? Gefiilltes chinesisches Brot, das weich und warm ist und an Nudelteig erinnert, siiBen Eierkuchen und mit Schweinefleisch gefiillten Teig (auf gut Gluck hingenommen), ein Pastetchen, Inhalt nicht ergriindet, doch schmackhaft, und dazu Wassergenientee. Im Seegeschmacksladen. Am liebsten war ich in der Chinesenstadt. Einmal gingen wir in den Hoyme oder Seegeschmackladen, wo man alles kaufen konnte, was aus dem Meer kam — Haifischflossen (zwei bis acht Dollars das Kan), getrocknete Austern, in der Suppe gekocht, Bohnennudeln und Lotossamen, Melonenkerne und Hong tse (eine Art Hagebutten), Krabben, Tintenfische, Schwamme (Baumohren, wie die Chinesen sie nennen), Fut tsey, ein seltsames Gras, das sich wie gehacktes RoBhaar an- fiihlte, Bao yii (Muschel in zahe Scheiben geschnitten), Bambus- schoBlinge, Erdhiihner (Frosche) und Matai (Pferdehufe). In einem Porzellangeschaft kaufte ich die winzigen Figiir- chen, die in Shekwan gemacht werden und 40 000 Arbeiter be- schaftigen, und lernte allerlei Gotter kennen. In einem Teeladen 278 schenkte man mir Drachenbrunnentee und zeigte mir (auch ge- ruchlich) den Wassergenien-, den Ahorn-, den Jasminbliiten-, den Ziegeltee aus Honan, der so gut zum Haarwaschen sein soil, und andere Teearten, an denen die Namen das Allerschonste waren. Im Laden „zu den fiinf Gliickseligkeiten" sah ich sehr schone Torschnitzereien und Schilder. Die schwarzen Blattern. Fiinf Tage weilte ich in Kanton, und die Blattern nahmen bestandig zu. Europaer erkrankten und starben nach wenigen Tagen. Ehe ich abreisen durfte, muBte ich zum achten Male ge- impft werden. Nichts half! Ich mochte meine Schrammen her- zeigen, wie ich wollte. Der deutsche Arzt behauptete, mir ohne wirkliche Impfung kein Zeugnis geben zu konnen. Zum SchluB sagte er: „Wenn Ihnen der Arm leid tut, kann ich Sie ja auf dem Oberschenkel impfen!" Ich aber wollte mir nicht noch einen bis dahin verschonten, wenn auch sehr verborgenen Teil meines Ichs verunstalten lassen. Ich wurde am Arm geimpft und verbunden, und wah- rend an mir geschnitzelt wurde, sprachen wir iiber China. Die Impfung machte mich um einen Dollar armer und sonst nicht reicher, doch die mir dabei erteilte Ansicht iiber das chinesische Eheleben war den Dollar wert, und ich bringe sie hier ohne jedwede Randbemerkung (da ich Gott sei Dank nur in meinem Roman mit einem Chinesen verheiratet war) zu Papier. „Der Chinese," meinte der Arzt und rieb Karbol in meinen Arm, „mag viele Frauen haben, aber eins weiB ich aus person- lichem Erfahren: Er hat mehr Zeit fur seine siebente Frau und behandell sie besser als der Durchschnittseuropaer seine erste und einzige." Trotz dieser Versicherung war und bin ich der Ansicht, dafi ich weit lieber die erste und einzige Frau eines Europaers als die siebente (oder selbst die erste!) eines Asiaten bin. Unsere weiBen Manner (besonders wenn sie die Tiir fur uns auf- machen, die Jacke tragen Oder die Tasche aus dem Waggonnetz heben) haben Vorziige, die mir wenigstens angenehm ins Auge stechen. Auch vergaB ich die Frage, ob der Chinese diese Zeit am Ende nur fiir die siebente (als letzte und neueste und ver- mutlich jiingste seiner Frauen) iibrig habe. Ein offengelassener Punkt. Ich erkrankte nicht an den Blattern (begreiflich) und nicht an Malaria, die im duftenden Dorf auch leicht zu haben war. 279 Eine Sanfte und ein boser Konsul. Die Missionare waren alle sehr gut gegen mich gewesen, und ich schied mit den warmsten Dankesgefiihlen von Herrn Wohlgemuth und mit wachsender Dankbarkeit fiir Erich von Salzmann, der so ohne jede Verpflichtung auch aus der Feme noch mein Schutzengel blieb. In Hongkong begab ich mich zum amerikanischen Konsul. Warum sind alle Behorden, mit Ausnahme der britischen, in der Regel so borstig, wenn man zu ihnen kommt? Sind die Be¬ horden zur Luftveranderung fiir ihre Angehorigen im Ausland oder fiir das reisende Publikum? Der Konsul war ein Flegel — Gott hab’ ihn selig! Ich hoffe namlich, zum Wohl seines Volkes, daB er in der Nahe von Hongkong schon grime Kleider tragt. Im letzten Augenblick, zwei Stunden vor Dampfer- abfahrt, hetzte er mich zu einem Photographen. In einer Sanfte, da ich den Weg nicht kannte, wurde ich den Berg hinan- getragen, eine interessante Bewegung und Erfahrung, der ich aber das Wandeln auf eigenen Gehwerkzeugen vorziehe, und zu FuB, im Galopp, raste ich wieder talwarts, schneller als alle Rikschakulis. Den Schein, daB ich abgenommen, aufgenommen, weggenommen war und so weiter, lieB ich ihm. Hoffentlich war mein Bild an HaBlichkeit verdoppelt und gab ihm einen Magen- krampf nach Erhalt. Unten, den PaB, der mich zwanzig Dollars (!) gekostet hatte, in der Hand, dachte ich bis zum Atemholen dariiber nach, w i e ich ihn am besten dauernd und wirksam verfluchen konnte. Auf einmal sagte ich: „Mogest du als Weib wiedergeboren werden, du Mensch- borste aus dem Sternen- und Streifenland, und mogest du als Journalistin die Welt umsegeln miissen!“ Das geniigte mir. Ich lachelte, wie es nur der tun kann, der weiB, daB der andere in diesem Falle „versorgt“ ist. Abfahrt aus dem Fernosten. Ein langsamer Kuli, ein langsameres Sampan brachten Ge- pack und mich ans Schiff. Der erste Offizier packte die Erika bei einem Ohr und mich bei dem anderen, zog uns hoch und er- klarte, nur auf unb gewartet zu haben. Der Dampfer pfiff drei- mal „Leb’ wohl“, und wir verlieBen die Bucht. 280 Durch Australien. Auf den Philippinen. Gntdeckt wurde diese Inselgruppe, die eigentlich nach Mikronesien gehort, im Jahre 1521 von Magelhan, der auf einer der Inseln getotet wurde, und richtig Besitz davon ergriff Miguel Lopez de Legaspi im Jahre 1570, griindete das Jahr dar- auf Manila und machte die Gruppe (aus anderthalb tausend Inseln und Inselchen bestehend) der spanischen Krone unter- tan, doch die allzu strenge Priesterherrschaft emporte endlich das Volk, und ein Auf stand begann unter Rizal. Er miBgliickte indessen, der ungliickliche Arzt wurde aus Singapore zuriick- geschleppt und hingerichtet, eine Stunde nach seiner Vermahlung mit einem Madchen, dessen Augenlicht er gerettet hatte. Heute sind die Inseln Besitz der Vereinigten Staaten und die Filipi¬ nos sind so, wie ein Volk unter fremder Herrschaft (wie weise diese auch sein mag) unfehlbar ist. Aus dem Kraftgefiihl — dem korperlichen wie dem seelischen der weiBen Rasse her- aus — sieht der Nordlander unbewuBt auf den sinnlichen, tragen, schnell iiberwundenen Mischfarbigen herab und zieht auch unwillkiirlich zwischen ihm und sich eine Grenze, die der andere fiihlt und die ihn mit HaB erfiillt. In der Ersten des „Suisangs“, der eigentlich Frachtdampfer war, waren auBer mir nur zwei Fahrgaste — eine sehr hiibsche Amerikanerin deutscher Abkunft und ein echter Amerikaner, der in Geschaften nach Amerika reiste. Bald waren wir be- kannt geworden, und ich erfuhr, daB die junge Studentin sich nach Manila begab, um einen Filipino, den sie daheim kennen und lieben gelernt hatte, und mit dem sie viel in Briefwechsel gewesen war, zu iiberraschen und zu heiraten. Er lebte bei seinen Verwandten, und wir besprachen oft den Fall. Ich durfte ihr als Fremde nicht sagen, w a s ich ganz genau von der Sache hielt, aber der Amerikaner sagte es und war sehr streng in seinem Urteil. Beide baten wir das Madchen, uns zu schreiben, weil wir eine gewisse Verantwortlichkeit und groBes Mitgefiihl mit ihm verspiirten, doch wie vermutet war das Ergebnis ein so trauriges, daB es nur mit Schweigen iibergangen wurde. 281 Das Landen in amerikanischem Gebiet ist immer unange- nehm, und als wir nach stiirmischer, dreitagiger Fahrt hohe, bewaldete Berge weit vorspringen sahen und an ihnen vorbei in die ganze, hundert Meilen lange Manilabucht eintuhren, konnten wir uns nicht dem Anblick der ausgedehnten Stadt ge- nieBend hingeben, sondern wurden durch die Landungsfolter ge- zogen. Der Arzt riB die Lider hoch, urn nach agyptischer Augen- krankheit zu suchen, er lieB mich die Zunge vorstrecken und Kreisbewegungen mit den Armen machen, worauf er mich dem Polizeiinspektor iibergab, der seinerseits Fragen nach dem vierten Madchennamen der weiblichen UrgroBmutter anstellte, und wenn man frei zu sein glaubte, kam der Zollbeamte und forderte Geld. Ich lieB Ginseng, auf den eine hohe Steuer be- steht, und etwas Seide beim Zollamt zuriick, und allein dieses Ruhen der Sachen bei der Behorde kostete mich einen Dollar bei der Abreise. Und dann begann neuerdings die Qual der Wohnungssuche. Ich fuhr mit einem der Haifische in die Stadt, wo man — wie es hieB — beim Roten Kreuz wohnen konne. Man bot mir, nach langem Bitten, ein Bett in einem Raum von vier farbigen Madchen an. In Verzweiflung lieB ich mein Gepack zuriick und begab mich auf Wohnungssuche. Fur jemand, der sich ohne weiteres in ein erstklassiges Hotel fiihren laBt (und fur eine alleinreisende Frau ist nicht einmal das so gefahrlos, wie man daheim wohl denkt), ist die Sache verhaltnismaBig leicht, denn man erspart sich wenigstens alien Aerger. Ich fiihlte mich nicht wohl, litt unter der jahen Hitze nach der Kiihle des winterlichen Siidchinas und merkte mit Schrecken den friihen Anbruch der Tropennacht. Hier hatte man kein Zimmer, dort war mir der Aufgang zu raubergrubenhaft. Zum SchluB traf ich auf der Avenida ein ganz nettes chinesisches Unterkunftshaus und nahm ein Zimmer in Ermangelung von etwas Besserem. Es wurde mir das letzte der Zimmer mit hiibscher Gassenaussicht zur Verfiigung gestellt, und ich zog ein. Im unabhangigen Mietshaus. Allen irdischen Raumgesetzen zum Trotz hatte mein Zim¬ mer acht oder neun Ecken. Es hatte im Grunde lauter Ecken und nur eine gerade Wand, an der mein Bett stand. Dieses Bett hatte nur ein Leinentuch, so daB ich, wenn ich mich zu- decken wollte, was bei der Hitze allerdings nur gegen den Morgen geschah, den Plaid iiber mich werfen muBte. Dafiir hatte es zwei Polster, das eine davon ungewohnlich eng und lang. Als ich schlafen ging, hatte ich eine eigentumliche Sehn- sucht, dieses eine mir unverst»ndliche Kissen gegen die Brust 282 zu driicken. Ich tat es Nacht auf Nacht, bis ich las, daB dies „die hollandische Frau" war, das Kissen, iiber das man einen Arm und ein Bein wirft, um nickt so sehr durch die Hitze zu leiden. Man merkt, wie beeinflussend Gedankenwellen und Landesgewohnheiten sogar fur den Uneingeweihten sind. Die Wande reichten, wie in alien Tropenbauten, nicht ganz bis zur Decke, und auch der FuBboden vorn bei der Tiir war ganz durch eine Spalte von iiber einem halben Meter Breite bis auf die Veranda hinaus zu verfolgen. Durchkriechen konnte nie- mand, aber die FiiBe beobachtete ich, auf dem Boden liegend, in mancher schlafgestorten Nacht. Standen die Zehen gegen meine Tiir, so war Gefahr im Verzug. Waren die Fersen zimmerwarts gerichtet, so legte ich mich vorderhand ins Bett zuriick. Auch die Fenster waren unchristliche Einrichtungen. Erstens hatte man nicht befestigte Fliigel, sondern verschiebbare, so daB ich sie die ganze Front entlang bewegen konnte. Das konnte aber auch jemand anders, sei es mit einem Stock von der Ve- randaseite aus, sei es vom Nebenzimmer mit der bloBen Hand. Die Scheiben waren aus Muscheln zusammengesetzt und daher triibe, um die gelben Sonnenstrahlen nicht durchzulassen. Sie ersetzten tagsiiber einen Vorhang; nachts stieB ich sie zuriick, bis die helle StraBenbeleuchtung voll in mein Zimmer fiel. An jedem anderen Ort hatte mich der Larm mehr erbittert als in diesem Unterkunftshaus. Da aber lag fiir mich eine ge- wisse Beruhigung in dem Wissen, daB noch jemand wachte. Zum Schlafen kam ich, nach meinen Erfahrungen, hochstens ganz gegen Morgen .... Der Ansichtskartenmann. Wie immer machte ich schon am ersten Tage weite Ent- deckungswanderungen. Die Strafien von Manila erinnern an die Siidamerikas, und die Aehnlichkeit wird durch die spanischen Aufschriften, die spanische Sprache im armeren Viertel, die spanische Art des wiegenden Ganges der Frauen, die glutenden Blicke der Manner noch sehr erhoht. Die Filipinos sind klein, zartgebaut, von nicht zu tiefem Braun und mit groBen leuchten- den Augen. Die Frauen haben zarte Knochel und auf den nackten FiiBen einzig die Chinelas. Das sind Holzschuhe mit einem Holzabsatz, doch in Pantoffelform, also vorn mit Zehen- deckung, hinten frei. Bei jedem Schritt fallt der freie Teil des Schuhs hart auf, und daher klappert es bestandig beim Gehen. Ueber einem schon gestickten Unterleibchen und einem ebenso schon gestarkten weiBen Unterrock tragen die Manilafrauen ein vollig durchsichtiges Gewebe, das sich nicht anlegt, sondern von den Schultem und der Brust breit absteht und erst gegen 283 die Knochel zu in dichten Falten anschmiegender wirkt und als Rock phantastisch hochgerafft wird. Die Manner tragen Hemd und Hose und dariiber lose durchsichtige Jackchen aus Pina (Ananaslasern) oder Jusi (Manilahanf mit Ananas gemischt), die haufig sehr schon bestickt sind. Hiite werden entweder gar nicht getragen oder nur die ungeheuren, radformigen aus ge- flochtenem Bambus oder dem Stroh der Nipopalme. Fur Aus- landerinnen aber fertigt man die zweifarbigen Hiite aus Manila¬ hanf (der Musa textilis) an, die sehr hiibsch und sehr angenehm sind. Schmuck ist sehr beliebt und immer aus schwerem Gold. Wie in vielen Tropenorten springt der Oberbau der meisten Hauser so vor, daB er den Gehenden gegen Sonne und Regen einigen Schutz gewahrt. Die Muschelfenster wirken schmutzig wie so viele alte Putzscheiben, die Tore sind breit und schon geschnitzt, die Geschafte alle weit of fen. Wer fahren will, nimmt eine Calesa mit weifiem Pony. Ueber das Rad legt der Kutscher beim Einsteigen immer einen Strohschutz, weil das Aufschwin- gen ins hohe Gefahrt recht umstandlich ist. Schwerfallige Holz- wagen, von echten Karabaos oder breithornigen braungrauen Wasserbiiffeln gezogen, rollen ebenfalls durch die Stadt, unbe- kiimmert um die sausenden Kraftwagen der Amerikaner und die vielen Radfahrer und selbst die Elektrische. Das ist die moderne Stadt, die sich am sehr reichen Museum vorbei vom Bahnhof hinein ausbreitet. Da sind die wichtigsten Geschafte und das Viertel der Fremden. Es gibt aber noch andere Stadtteile, die ich spater beschreiben werde. In dieser Geschaftsstadt kaufte ich fur meine Beitrage und zu meiner Sammlung viele Ansichtskarten. Ein untersetzter Europaer (in Wahrheit Amerikaner) verkaufte sie mir. Wir wechselten so gut wie keine Worte, da es nicht meine Art ist, in einem kinderreichen Laden jemand aufzuhalten. Ich kaufte, be- zahlte und entfernte mich in gliicklicher Unwissenheit des Um- standes, daB man sich der Miihe unterzog, jemand so wenig Reiz- vollen wie meine ausgehungerte braungebratene Wenigkeit ins- geheim bewachen zu lassen. An dem Tage studierte ich drauBen in der offentliehen Biicherei, die eine halbe Stunde von meiner Wohnung lag, und kehrte erst gegen oder nach zehn Uhr nach Hause zuriick. Denn- noch hatte ich schon mein Nachtkleid iibergeworfen (das auf Reisen indessen immer ein abgetragenes Tagkleid war, so daB ich aus dem Bett springend auch vor jemand erscheinen konnte), als jemand klopfte. Zuerst nahm ich vom Larm keine Notiz, hierauf legte ich mich auf den Boden und machte FuBstudien. In der Tat, die Zehen standen dicht vor meiner Tiir. 284 „Was gibt es?!“ fragte ich, ohne aufzuriegeln. „ Ich habe einen wichtigen Brief fiir Sie!“ „Nicht moglich. Ich kenne niemand in Manila." „Ja, ja, er ist fiir Sie! Man schickt mich der Eile halber! Sie miissen ihn nehmen." Es war elf Uhr nachts, und durch die Tiir zu schreien, miC- fiel mir. Es weckte ja das Haus auf. Verargert schob ich den Riegel zuriick, um personlich das Schreiben abzuweisen. Ein kleiner nuBbrauner Filipino in netter europaischer Kleidung und einer strahlenden Krawatte schob sich an mir vorbei in das Zimmer und sank auf den ersten Stuhl. Das war nicht, was ich erwartet Oder gewollt hatte. Es stellte sich heraus, daB der Besitzer des Ladens, ein gewisser Dr. St., mich augenblicklich zu sprechen wiinschte. Ich erklarte, daB ich ihn am folgenden Tage um zehn Uhr, wenn die Sache wichtig war, empfangen wiirde, daB ich aber um elf Uhr nachts zu niemand, geschweige denn zu einem fremden Manne ginge. Daraufhin gliihende Liebeserklarung und sofortiger Hei- ratsantrag des Jungen. Das Biirschlein war hochstens einund- zwanzig und verdiente 90 Pesos monatlich als Maschinen- schreiber. Er wollte eine weiBe Frau, und weiB (unter der braunen Sonnentiinche) war ich ja. In meinen Augen war das wohl auch das Einzige, was an mir war. Vom Korperstand- punkt aus in jedem Fall. Seine Aeuglein blinzelten mich fast feindselig an. Ob ich etwa an seinem Braun etwas auszusetzen fande? Aber nicht die Spur! Ich triige nur iiberhaupt kein Verlangen nach der Menschabart „Mann“. Jedenfalls nicht in besitzanzeigender Weise. Es lebte sich schoner ohne; je langer ich ihn ansah, desto schoner. Er erhob sich, vielleicht um mich an sein jugendlich warmes Herz zu driicken. Bei 30 Grad Celsius hat das fiir mich nicht einmal reinen Warmewert, wie vielleicht oben in Lappland bei 30 Grad unter Null. Er war klein. Das ermutigte mich. Ich ergriff ihn bei der strahlenden Krawatte und bei der Binde um die Magengegend. Ein Ruck, und er stand vor der Tiir. Ich schob den Riegel vor. Er fluchte eine halbe Stunde, aber die Tiir blieb zu. Dann ging er. Der Chinese sah mich am nachsten Tage ganz betroffen an. Vermutlich fliegen Abendbesucher mehr herein als hinaus. Ich bin fiir niitzliche Neuerungen. In einer englischen Kolonie hatte ich den Photographen an- gezeigt. Auf den Philippinen war das zwecklos. Ich begniigte mich damit, meinen panamenischen Dolch auszupacken. Es schien mir das richtige Land fiir ihn. Auch verdoppelte ich das Zehenstudium. 285 Intramuros. Als Legaspi Manila griindete, baute er rund um den Ort eine hohe, jetzt griiniibersponnene Mauer, Zugbriicken und acht Tore, doch heute ist um diese urspriingliche Stadt eine Anzahl Ortschaften emporgewachsen — Binondo, das lebhafte, schon beschriebene Geschaftsviertel, Tondo — in dem man die echten Filipino-Pfahlbauten aus Holz, mit einer Leiter bis zur Tiir und dem Dach aus Nipapalmenstroh, sieht (im Strohdach haben Eidechsen, und auf dem Lande Hausschlangen, ihren Wohnsitz, klettern nachts aus dem Stroh und vernichten das Ungeziefer), San Jose — wo man viele Priester in langen weifien Gewan- dern umhergehen sieht, die einen Rosenkranz aus KokosnuB- kugeln in den Handen drehen, Santa Cruz, Paco, Dinapa und endlich La Eremita, wo man die schonen Hausarbeiten der Ein- geborenen kaufen kann — das gestickte Pinatuch, das feine Jusi, das steife Sinamay, Flechtarbeiten aus Manilahanf und Tischdeckchen aus Buripalmenstroh und von wo aus man das „ Settlement" erreicht, in dem die Amerikaner ihre Villen in sehr wohlgepflegten Anlagen haben. In der Feme sieht man die Marivelesberge. In Intramuros (innerhalb der Mauern) kann man die Ar- beiten der Schulkinder nicht nur bewundern, sondern auch kaufen. Sie sind sehr sorgfaltig ausgefiihrt und streifen alle Gebiete: Korbflechterei (bis zu winzigen Korbchen aus feinsten Grasern), Stickerei, Weberei, Flechtarbeiten, Schnitzereien und so weiter. Das Hauptgewicht wird bei den Kindern eben auf Tiichtigkeit in Hausindustrie, nicht auf Wissen gelegt, was sehr verniinftig ist, doch wird den Filipinos auch Gelegenheit ge- geben, sich in jeder Wissenschaft gehorig auszubilden. Es gibt eine Universitat in Manila selbst, und das Studium ist lange nicht so kostspielig wie irgendwo bei uns daheim. Da die Filipinos selbst eine Mischrasse aus Spaniern und Einge- borenen sind (mit Ausnahme der reinen Eingeborenen auf fer- neren Inseln und im Innern von Luzon), fiihren sie auch ein halb westliches, halb ostliches Leben. So ist denn auch das Studium in Manila viel gesunder (vom sittlichen Standpunkt) als an einer westlichen Universitat. Deshalb lassen Eltern und Missionare nicht reinrassige Kinder und reine Filipinos lieber in Manila die Studien vollenden. Sie kommen nicht mit ver- drehten Ansichten zuriick und sie fiihlen sich nicht als Euro- paer, etwas, was sie im Grunde ja doch nie sein konnen. Es erspart viel Leid. Um gerecht zu sein, muB man auch hinzu- fiigen, daB es den jungen Filipino vor den dummen, unwissen- den weiBen Ganschen bewahrt, die in ihrer Begeisterung fiir alles Fremdlandische solchen Mannern nachlaufen, sie oft finan- 286 ziell zu Grunde richten, uniiberlegte, ungliickbringende Ehen ein- gehen und sich — wie auch die Sache endet — rassisch auf immer verstiimmeln. Ich spreche zur Warnung so of fen iiber diesen bei uns viel zu sehr vernachlassigten Punkt: Eine Frau, die Vertraulichkeiten Farbiger zulaBt, schenkt oft, mehrere Jahre spater, einem weifien Manne ein dunkles Kind. Was fur ein Ungliick fiir sie selbst, schlimmer noch fiir den betroge- nen Mann und am argsten fiir das unschuldige Wesen, das der Priigelbalg zweier Rassen bleibt! Durch das Schiebefenster. Einige Nachte nach meinem Besuch von Intramuros ver- nahm ich gegen ein Uhr nachts ein Klopfen, das andauerte. Ich sah mich in meinem, Gott sei Dank taghellen Achteckzimmer um und erspahte nicht einen Schatten. Ich stieg aus dem Bett und machte die Zehenprobe: vergeblich. So kroch ich ins Bett zuriick. Nach einigen Augenblicken bewegte sich mein auBer- stes Schiebefenster, und ein brauner Kopf wie eine Schoko- ladenanzeige zeigte sich im Rahmen. „Ich hoffe, ich store doch nicht?!" Das um ein Uhr nachts und vom Fenster aus! Solch ein Schuppenpanzer! Ich erwiderte den Umstanden gemaB, und der Kopf verschwand. Ich aber hatte genug siidamerikanische Er- innerungen, um zu wissen, daB dies nichts als das Instrumen- tenstimmen vor dem Orchester war, deshalb holte ich meinen Dolch, zog die absatzlosen Gummischuhe an und legte mich aufs Bett zuriick. Auch ich konnte warten. Langsam verrannen die Viertelstunden. Um zwei Uhr nachts, ganz leise, flog das Fenster wieder in die Rinne. Die Schokoladenanzeige steckte Kopf und Brust und ein Bein vor- warts. Mit einem Satz wie ein Andenpuma schnellte ich empor. Der geziickte Dolch fuhr in drei Zoll Nahe an seiner Nasenwand entlang. Himmel, die Ueberraschung! Die Schokoladenanzeige blies zu so wildem Riickzug, daB sie das Uebergewicht erhielt und Kopf voran in der eigenen Bude landete, aber nicht auf dem Boden, sondern mitten in der Waschschiissel auf dem schwachen dreibeinigen Gasthofswaschtisch. Im nachsten Augenblick war der Mann, der Waschtisch und ein Stuhl auf dem Boden. Das Wasser lief durch drei Raume. Durch einen Spalt in der Wand beobachtete ich den Werdegang. Mein Nachbar machte ein den Umstanden entsprechendes Gesicht, entkleidete sich und kroch unters Miickennetz. Sein Herz war gekiihlt. Ich wartete, bis er schnarchte, und gab mich dann auch der verdienten Ruhe bin. Von da ab schlief ich mit dem Dolch in der rechten Hand. 287 Als ich am folgenden Morgen am Chinesen vorbeiging, der bei einem Tischchen unweit der Eintrittshalle Wache Melt, sagte ich ohne betonten Nachdruck: „Ich mochte Sie in Ihrem Interesse ersuchen, mir nur ruhige Nachbarn zu geben. Ich schlafe mit einem vergifteten Dolch in der Hand, und wer in der Nacht — aus was immer fur einem Grunde — mein Zimmer betritt, lauft Gefahr, ermordet zu werden. Das ware uns wohl beiden unangenehm. Guten Morgen!" Von da ab gab es nur noch Zehen im Korridor. Ein Wort dem Weisen .... Der Kellner vom nachbarlichen Kaffeehaus, der mir jeden Morgen Brotchen und etwas brachte, was er wenigstens als Kaffee gehen lieB, betrachtete mich von da ab wie die „eiserne Jungfrau", die aus lauter Dolchen besteht. Ich versuchte, ein Gesicht zu machen, das seine furchtbare Annahme zu bestatigen bestimmt war. Ob mit sonderlichem Erfolg, ist schwer zu sagen. Nach dem beriihmten Antipolo. Hundert Dinge waren von Manila zu sagen — weilte ich doch iiber drei Wochen auf den Philippinen — aber der Stoff ist zu groB. Ich mochte mich nur auf meine Wallfahrt. nach Anti¬ polo beschranken. Es ist das nicht nur der beriihmteste katholi- sche Pilgerort des ganzen Ostens, wo alle Wiinsche (und wer hat keine?) erfiillt werden sollen, sondern es gab da iiber dem Hauptaltar eine aus Holz geschnitzte Mutter Gottes aus dem siebenzehnten Jahrhundert, die aus Spanien stammte, nach Acapulco in Mexiko geschickt wurde und die viermal die Segel- fahrt iiber den Stillen Ozean mitmachte, eben um das Schiff zu schiitzen, weshalb man sie „Nuestra Senora de Buen Viaje v de Paz" nannte, und war eine Schutzpatronin der Reisenden nicht eben das, was ich am notigsten brauchte? Ich zogerte mit Riicksicht auf den Dolch. War es christlich, eine Wallfahrt mit einer Mordwaffe anzutreten? War es weise, ohne sie sechs Kilometer allein zu laufen? Zum SchluB ver- packte ich den giftgetriinkten Dolch in meinem Reisekoffer, be- waffnete mich mit dem Schwert des Glaubens, lauschte be- friedigt dem tiefen Schnarchen meiner Feinde und begab mich die breite AzcarragastraBe hinab zum Bahnhof, wo mein Er- scheinen das gebiihrende Aufsehen erregte. Fiinf Reisende war- teten auf den Beamten, der verzweifelt herumstob. Die Karten- kiste war geschlossen und der Schliissel verloren. Man muBte also erst mit einem Besenstiel eine Sprengung vornehmen, die an einen Kartenverkauf gedacht werden konnte, und als auch dies geschehen war (Zeit ist ganz belanglos), setzte ich mich 288 in den einzigen Personenwagen eines endlosen Lastenzuges und wartete. Nach und nach kamen die anderen Mitreisenden — eine altere Filipinofrau mit glockenartig gebauschten Aermeln und um die Mitte den Sarong, ein Stuck steifen Stoffes, das um den Leib gewunden wird, einige Manner in Hose, Hemd und Seidenpantoffeln, und zum SchluB der Schaffner, der uns feier- lichst die Karten abnahm. Erst dann setzte sich die vorge- schichtliche Kaffeemiihle in langsame Bewegung. Die Fahrt nach dem fernen Antipolo ist so lohnend, weil sich ganz Siidluzon vor den Blicken entrollt. Nach wenigen Meilen sieht man schon die echten Hiitten der Eingeborenen mit vorspringendem Oberbau, Nipastrohdach und kafigartigen Fen- stern, die wie Mausefallen zuklappen Der ganze Bau gleicht einem Riesenvogelnest auf zu diinnen Grundpfeilern. Unter der Iiiitte ist der Kampfhahn angebunden, und wenn es brennt, rettet der Mann zuerst das Federvieh und dann seine Frau und Kinder. Eine Frau findet man iiberall, einen guten Hahn da- gegen-! In den schmutzigen griinen Tiimpeln wiihlen dunkle Schweine .... Der Zug gleitet durch San Lazaro traurigen Andenkens; denn als die spanischen Monche dem Mikado von Japan mit ihrer ewigen Zudringlichkeit lastig gefallen waren, sandte er ihnen eine Schiffsladung Aussatziger mit dem Bemerken, daB er von ihrer Vorliebe fiir derlei Menschen erfahren habe. Erst sollte der ganze Dschunk mit Mann und Maus ins Meer ver- senkt werden, dann gestattete man doch ein Landen, aber da keinerlei VorsichtsmaBregeln gegen Ansteckung ergriffen wur- den, verbreitete sich das Uebel mit rasender Schnelligkeit und verpestete die ganze Gruppe. Heute, wo die Nordamerikaner eine Musteransiedlung von Aussatzigen in Culion haben, findet man noch achtzehntausend Kranke, die mit Chaulmoograol, der einzigen, etwas niitzenden Arznei, behandelt werden. In Santa Mesa wurde es lustig. Da kamen iiber zwanzig Filipinos angerast und sprangen in den Wagen; jeder von ihnen hielt unter dem Arm seinen geliebten Kampfhahn, und zwar mit einer Zartlichkeit, die man sonst hochstens bei meinem armen Geschlecht SchoBhunden gegeniiber findet. Mein Gegen- iiber putzte seinen Hahn unterwegs all die kleinen Harchen vom Kamm ab und leckte ihm, da das Bein nicht ganz rein war, dieses Glied fiirsorglich mit der Zunge ab. Alle Besitzer unter- suchten die Krallen ihrer Lieblinge. Es ging zum Sonntags- wettkampf ins benachbarte Dorf. Mancher Hahnreisende sang, die meisten aber hiillten sich in ein vornehm erwartungsvolles Schweigen. Bei San Pedro Mogati flieBt der PasigfluB, die Donau der Philippinen, vorbei und man sah hochgetiirmte FloBe mit Kokos- 19 289 niissen und andere mit Bananen; in kleinen Seelenverkaufern fuhren halbnackte Kinder, und das grelle Tropenlicht glitt wie ein Goldschwanz breit iiber die griinlichen Wasser. In Kontan bildete ein umgestiilpter Eisenbahnwagen das Bahnhofsgebaude, und da stieg ich aus. Man geht sechs Kilometer nach Antipolo. Der Weg dehnt sich erst in leichter Steigung durch das Dorf Taytay aus, wo man die iiblichen Hauschen mit den komischen Fensterklappen und dem Hahn an der Kette sieht, wo mich magere Koter ver- wundert anheulen und Kinder „Sehorita“ hinter mir herschreien und man iiberall nur klingende Tagalegworte vernimmt, dann geht die LandstraBe immer bewuBter landein- und hiigelwarts, und von da ab winselt der Wind gar unheimlich in den hohen, dichten Bambusgruppen und laBt einen glauben, dafl dort je- mand verborgen sei. Weite Felder, iiber die eine weiBschwarze Krahe fliegt; totes Laub, das im Dickicht raschelt, seltsam ge- drehte, weiBe Bliiten und zartrosa Dolden an niederen Strau- chern; ein Karabao oder Wasserbiiffel in bedeutender Entfer- nung und in der Nahe nur rollende Hiigel, die allmahlich zu Bergen werden. Alles einsam — einsam wie mein Leben. Zuckerrohr, Bananen, das steife Blattwerk des Sisals an trockeneren Stellen und mit dem ersten Mann auch, dem Him- mel sei Dank, schon die erste Hiitte von Antipolo, wo die Leute stiller und hoflicher sind und ich bald die grausteinige Kirche erreiche. „Wohin willst du?“ fragt ein kleines Madchen mit Augen (vie Holunderbeeren, und ein altes Weiblein bietet mir eine gelbe Frucht an, die ich ablehne, bis ich vernehme, daB es fiir die Kirche und in Wahrheit eine daheimgemachte Kerze ist, der man die Hausindustrie wirklich ansieht. Die Spanier sollen — so heiBt eine andere Sage — das Marienbild (eine einlache Holzstatue, vom Alter stark ge- braunt) in Acapulco gefunden haben, doch da wollte die Ma¬ donna nach den Inseln kommen und wurde mitgenommen. Da dieses Schiff nach vier Monaten so gliicklich einlief, wogegen andere unterwegs verschollen waren, nahm man die Madonna viermal zur Ueberfahrt mit. Nuestra Sefiora de Viajo y de Paz stand zuerst in Manila, blieb bei einem Kirchenbrande allein unversehrt, und als die Aufstandischen sie auf den HolzstoB warfen, verbrannte sie ebenfalls nicht; nur die Wange zeigt den Schnitt einer Waffe . . . Um sie geschiitzter zu wissen, brachte man sie rasch nach Siidluzon, und im Mai und Juni machen die Leute groBe Pilger- fahrten hierher, doch nie in auslandischer, immer in streng ein- heimischer, altspanischer Kleidung. 290 In Antipolo aB ich eine der billigsten Mahlzeiten meines Lebens. Ich erhielt nach einiger Nachfrage zwei Tassen Tee, die erste durch ein Tuch (hoffentlich keine Windel) durchgeseiht; ferner drei Stuck Zwieback, die einen westlichen Anstrich, wenn auch ostliches Aroma hatten, und drei Kuchen, die chinesischen Ursprung verrieten. Fiir dieses internationale Mahl bezahlte ich neun Centavos! Die Riickfahrt war ereignislos, bis auf den Umstand, daB wir (das will sagen, die vorzeitliche Dampfmiihle des Zuges) Damp! ausstoBen muBten, um eine Horde Wasserbiiffel vom Geleise zu verscheuchen, von dem sie kein Zureden und kein Anschreien und Pfeifen verjagte. Die Hahnbesitzer fuhren iiber- hitzt und gliicklich nach La Mesa zuriick. Daheim bemerkte ich, daB mir auf den zwolf Kilometern meines Dauerlaufs die Haut vom Nacken gebrannt war — etwas viel zu Alltagliches, um mir weitere Gedanken aufzu- biirden. Miide wie ich war, setzte ich mich hin und malte die mitgebrachten Blumen. So geht es eben auf Weltreisen zu Studienzwecken. Durch die Philippinen. Nach dreiwochigem Aufenthalt in Manila, der mich magerer gemacht hatte, fuhr ich durch das Inselgewirr, das sich vom 4. bis zum 20. Breitengrad unter dem Aequator erstreckt, allmahlich nach Nord-Borneo weiter. Ueberall sind die Hiitten anders. Auf den Batanes, den nordlichsten Inseln, in deren Nahe, wie man vermutet, die furchtbaren Wirbelwinde oder Taifune entstehen, baut man die Hauser aus Stein mit sehr tiefen Fensterausschnitten, die ein Holzgitter eingesetzt haben und das Dach aus Elefantengras mit einem festen Netz iiber- spannt, das in der Hohe des ersten Stocks noch mit Hilfe von Eisenhaken niedergehalten wird, denn nicht selten besteht Ge- fahr, nicht allein das Dach, sondern das ganze Haus davon- fliegen zu sehen. Die Volker der siidlicheren und stilleren In¬ seln bauen ihr Haus dagegen sechzig bis siebzig FuB iiber dem feuchten Tropenboden, teils um der Ueberschwemmungsgefahr, teils um den Angriffen der Feinde leichter zu entgehen. Zur Zeit der Stiirme binden sie diese luftige Wohnung, meist in der Gabel eines Baumes gelegen, mit Rattangewinden an andere starke Urwaldbaume. Am Ufer stehen immer Pfahlbauten, die haufig mit zwei Beinen (zwei festen Pfeilern) im Meer oder im FluB stehen und es den Bewohnern ermoglichen, alien Unrat einfach ins Meer zu werfen, ohne weiter putzen zu miissen. Es gedeiht alles auf den Philippinen, denn einzelne Hohen- ziige haben sehr kiihle Abhange, andere das starke Tropen- geprage, so daB Mais und Hirse, Nadelwalder und Berglilien in 19* 291 nicht sehr groBer Entfernung von Zuckerrohr und Bananen an- zutreffen sind. Ganz der Gruppe eigentiimlich ist die Musa textilis, jene Bananenart, aus der man die beriihmten Filipino- hiite und den sogenannten Manilahanf macht. AuBer den Mischlingen und WeiBen findet man viele Stamme der Malayen, die rotlichbraun, rundaugig, zart gebaut, straffhaarig, dem AeuBeren nach wild, unbeherrscht, sinnlich und dem Raube ergeben innerlich sind. Ganz besonders auf Mindanao, der groBen siidlichen, noch wenig erlorsehten Insel, sind sie Mohammedaner, die in ewigem Kampf mit den schwar- zen Zwergvolkern, den Negritos, liegen. Diese Negritos sollen in vorgeschichtlicher Zeit aus Indien iiber Borneo, Celebes und so weiter teils nach den Philippinen, teils nach Neu-Guinea ge- kommen sein . Sie stehen auf einer sehr niedrigen Stufe, bauen keine Hiitten, sondern suchen Schutz unter fliichtig zusammen- geworfenem Reisig oder in Baumkronen, verschachern ihre Kinder fiir Reis Oder andere Bedarfsgegenstande, begraben aber dennoch ihre Toten schon mit Speisen und Waffen und fiihlen, daB solch ein Platz unberiihrt bleiben soli. Sie nahren sich von Friichten, wildem Honig und Wurzeln und tauschen Wachs gegen Reis. Das BogenschieBen lernen sie von ihren Miittern, nicht von ihren Vatern, und das scheint auch alles zu sein, was sie lernen. Die Malaien dagegen sind schon hochentwickelt, machen herrliche Einlegearbeiten (arabische Muster), schnitzen Waffen, haben Vorliebe fiir personlichen Schmuck und fluchen mit wundersamer Gewandtheit. Der argste Fluch ist „Mogest du im Schlafe sterben!", vielleicht, weil ihrer Ansicht nach dann die Seele den Weg nicht zum Paradies findet. Britisch-Nord-Borneo. Der Teer schmilzt in den Fugen der Schiffsplanken, der Boden in der kleinen Kajiite, die sich allzu nahe den Maschinen befindet, gliiht, so daB man barfuB nicht darauf zu stehen ver- mag. Die Betten sind zu eng, um ein Wenden zu gestatten, und vor den Luken, wie Riesennasen, hangen die Windfanger. Der Korper wird nachts eine Gelatinemasse, von der es tropft wie Schnee von sonnebeschienenen Marzdachern. Morgens, wenn oben das Deck gewaschen wird, fangt der Windfang etwas da- von und wirft es dem Schlafer ins Gesicht. Dann meldet der Boy hinter dem Vorhang „Bad“, und man ist froh, von einer Hitze in die andere zu kommen. Es schwinden die Inseln in der jahen Nacht der Tropen; man zahlt nicht mehr die Tage, man sitzt dosend im Deckstuhl, merkt das Vorbeischnellen der fliegenden Fische, den Zug der 292 Mowen, sieht eines Morgens Treibholz, rafft sich auf, murmelt „Land!“ Auf winzigen Inselchen stehen krumme, wackelige nipa- gedeckte Hiitten, schwanken oft trunken ins Meer hinaus wie gehetzte Verfolgte, deren Kopfe in Gefahr sind. Und das ist wohl auch der Grund dieser vorgeriickten Bauart, denn Kopfe haben Wert in Borneo, obschon die britische Regierung dieser Neigung keinerlei Verstandnis entgegenbringt und die Sammler- freude nach Kraften unterdriickt. Manch ein Auge, schwarz wie die Nacht und unheimlich wie der Abgrund, wog meinen Kopf mit sichtlichem Wohlgefalien, doch muB ich gestehen, dafi die Moroaugen, die raich als mogliche Nebenfrau betrachteten, noch weit unverhohlenere Besitzersucht kundtaten und mir un- angenehmer waren. Den Kopf zu geben, ware ich unter Um- standen bereit gewesen, aber Korper und Kopf zu gleicher Zeit, und an die gleiche Firma sozusagen, nicht. Geschmacks- sache! Borneo ist eine sehr groBe Insel zwischen dem siebenten und vierten Grad nordlicher Breite und in direkter Linie unter Hongkong. Ein Teil der Insel gehort der British North Borneo Trading Company, der groBere Teil aber den Hollandern, die einen erbitterten Kampf nit den chinesischen Sippen zu kamp- fen hatten, ehe sie die voile Herrschaft liber dieses Tropen- gebiet gewannen, das die Chinesen schon als ihr Eigentum an- gesehen hatten. Zwanzig Meilen siidwestlich von der Labukbucht liegt an der Miindung eines breiten Flusses der prachtvolle, vollig ge- schiitzte Hafen von Sandakan. Die Stadt, die nicht sehr groB, doch sehr hiibsch angelegt und auf die Abhange der vordersten Hiigel gebaut ist, macht einen wundersam stillen Eindruck. Als ob das Leben hier ungehort verrausche inmitten von friedvollem Schaffen und Sonnenschein. Es dauerte nicht lange, so war ich an Land und durch- wanderte die breiten StraBen, die rein waren, sonst aber gut auch zu China gerechnet werden konnten, denn alle Geschafte, alle Aufschriften und die meisten Leute, die man sah, waren Chinesen. Wohl fiel mir auf, daB die Chinesinnen hier einen eigenartigen Hut trugen — ein wagenradartiges breites Ding von Riesenkrempe, doch ohne Kopf. Man sah dort das Haar in einem Knoten vorschauen, und manchmal war iiber all das ein schwarzes Tuch gebreitet. Wahrscheinlich hatte der Kopf da- durch mehr Luft und dennoch den richtigen Schutz, denn San¬ dakan ist heiB. Nach einer Weile begegnete ich indessen schon einigen Moros, den Uferbewohnern, deren Glutaugen mich an- bohrten. Die hochaufgeschossenen, sehr mageren Manner trugen den Sarong, ein langes Tuch malerisch um die Mitte geschlun- 293 gen, das mit dem Giirtel festgehalten wird und fast bis zu den Knocheln fallt. Bei Frauen begann der Sarong oft schon unter den Achselhohlen und lieB darunter die schon gewolbte Brust der iippigen Frauen ahnen. In der Nahe von Sandakan, an den Felsen vorbei, hinter denen sich die Irrenanstalt befindet, liegen die ausgedehnten Kautschukpflanzungen. Hier kann man an den zarten Baum- chen nicht nur die zahlreichen Querschnitte, sondern auch die kleinen Porzellantopfchen sehen, die unter den Schnitten hangen und in denen sich der Saft allmahlich sammelt. Kokospflan- zungen liegen vereinzelt dazwischen, und jenseits von all dem beginnt der Urwald, der zu den interessantesten der Welt ge- hort. Schon hinter Sandakan, das ja wie am Ende der Welt scheint, stoBt man zuzeiten auf ein Nashorn, und wenn die Ele- fanten auch schon ausgestorben sind, so findet man noch den Tiger, das sumpffarbige Krokodil, den Borneobaren und — Vor- recht der Insel — den gefiirchteten Orang-utang (Wald- menschen), der nicht ganz so groB wie ein Mensch ist, dafiir jedoch langere Arme von ungeheurer Zahigkeit und Kraft hat. Gegen die allgemeine Anschauung greift er den Menschen nur an, wenn er sich bedroht fiihlt. Alle wilden Tiere versuchen zu- erst zu entkommen, und erst wenn sie sich verletzt Oder bedroht fiihlen, gehen sie zum Angriff iiber. Tut der Orang-utang das, so kann ihm ein Eingeborener kaum widerstehen. Er bricht bei der ersten Umarmung nicht selten die Rippen seines Opfers. Dagegen kann er, wenn er — was nicht ausgeschlossen ist — braune Frauen verschleppt, mannlich zartlich gegen sie sein. Erst wenn sie seinen furchtbaren Liebkosungen Widerstand entgegensetzen, totet er sie im UebermaB der Leidenschaft. Das bestatigt fur mich die Darwinsche Annahme. Die Menschen- mannchen tun das auch zuzeiten .... Wunderbar ist die Vogelwelt, die man leichter beobachten kann. In den Waldern voll Seidenwollbaumen, Myrtenarten, Schlinggewachsen der sonderbarsten Art sieht man den Nas- hornvogel mit seinem Riesenschnabel, bunte Zwergpapageien, blutbriistige Tauben, Goldkehlchen, und abends, wenn die kurze Dammerung iiber die Pflanzung huscht und die Stamme der Kokospalmen zu verdoppeln scheint, sieht man die fliegenden Fiichse, die an Fledermause erinnern, aber einen felligen Korper haben und das Obst so kiihn angreifen, daB sie sogar die Ve¬ randa eines Pflanzers besuchen. In Sandakan selbst sieht man die Wandererpalme, den wandernden Juden (griin- und rotgestreifte Blatter), die „Dame im Boot" mit ihren weiBen Bliiten auf bootartigem, innen pur- purnem Blatt, die Sie-Eiche, den Alimander und die nirgends 294 fehlende violette Bougainvillia. Die Hauser sind rotdachig und luftig. Oben, auf dem Hiigel, findet man eine Biicherei. Am folgenden Tage durchwanderte ich sorgsamer, lang- samer die Gassen. Es war kurz nach dem chinesischen Neu- jahr, das iiber einen Monat nach dem europaischen fallt, und man feuerte iiberall blinde Schiisse ab, hatte Knallbonbons und warf mit Feuerkrachern um sich. Nicht einmal ein Boot darf zu jener Zeit ohne solche VorsichtsmaBregeln landen, da die Geister sehr zu fiirchten sind. Auf dem Pfiaster aber waren Karten ausgebreitet, die den Krebs, die Schildkrote, den Wiirfel und andere Bilder zeigten und auf denen Miinzen lagen, um die flott gewiirfelt wurde. Selbst kleine Kinder standen ganz im Bann der Sache. Ein Australier, der mein Schutzbegleiter war, warf eine Miinze auf die Schildkrote, gewann und schenkte den Preis einem Kinde. In Sandakan spielt alles, vom altesten Chinesen bis herab zum kleinsten Kinde; das Gliicksspiel ist das Hauptlaster des Volkes. Ganze Vermogen wechseln in einer einzigen Nacht den Besitzer. Ich kaufte ein Paar der hiibschen Sandakansandalen, die oben aus gekerbtem Leder, unten aus Holz mit kleinen Ab- satzen sind, und auch einen Tabaksbeutel aus einer polierten KokosnuB. Die Chinesen haben sich in den vielen Jahrzehnten der Ansiedlung schon sehr verandert; sie tragen oft schon den Sarong wie die Einheimischen (die bunten Stoffe werden zum groBen Teil aus Deutschland eingefiihrt), ihre Frauen tragen Knochelbander, kiinstliche Blumen im Haar und die schon er- wahnten Hiite mit schwarzem Vorhang rundherum, und um den Hals der Kinder sieht man Amulette — Tigerknochen, Eisen- stiicke, Dreiecke aus Silber und um die Arme breite Silber- spangen. Die Polizei besteht ganz aus Hindus, die als Unbeteiligte der britischen Regierung in alien Ansiedlungen groBe Dienste leisten. Sie sprechen sehr gebrochen Englisch und wenig von der Landessprache. Weil sie wenig verstehen, konnen sie nie in einen Fall verwickelt werden. GroB, schon, stark in ihrer stattlichen Uniform und dem Turban fallen sie angenehm auf. Von den Dayaken sieht man so gut wie nichts in Sandakan selbst. Fahrt man indessen tiefer in das Land (sehr tief geht es nur zu FuB, doch eine Weile lang fahren zweiradrige Wagel- chen), so kann man vereinzelt diese Manner sehen, die noch auf Kopfe ausgehen (aber in hiibscher Entfernung von der Regie- rung), den breiten Federhaarschmuck wie eine Krone tragen und die im Bau kleiner und dunkelfarbiger als die Kiisten- malaien sind. Die Frauen tragen Rattanstreifen, oft mit Miin- zen behangt, in unzahligen Mengen um den Leib und um die Arme geschlungen. In den Augen des Volkes liegt etwas 295 Schwermiitiges, nichts Wildes. Die Dunsun, die auch mit den Dayaken verwandt sind und die schon chinesisches Mischblut haben, werden von Zeit zu Zeit in Sandakan angetroffen. Ihre Augen flammen wie poliertes Ebenholz im Zeltfeuersehein, und um den dunkelbraunen sehnigen Korper haben sie ein buntes Tuch, einen Sarong, aber hochgerafft und faltiger geschlungen, In vergangenen Tagen (und jetzt in aller Urwaldstille) feiern sie ein unheimliches Fest, das Surmungup. Es ist das ein Boten- fest in die nachste Welt, denn die Dayaken aller Stamme glauben, daB die einberufenen Seelen Kinabalu, den hochsten Berg der Insel, emporklettern, die Guten ohne Schwierigkeit, die Bosen dagegen vergebens. Um nun den Geistern eine Bot- schaft zu senden, werden Streifziige unternommen und ein Feind erobert oder auch ein Sklave gekaui't. Die Opfer werden gebunden und in ein Tuch gehiillt. Nach Tanz und Gesang gibt jeder Anwesende dem Liegenden einen Speerstich, doch vor- sichtig, damit der Stich nicht totet, und sagt seine Botschaft. Kinder und Weiber nehmen auch teil, und das jubelnde Geschrei iibertont das Gejammer des langsam Sterbenden. Die Insel hieB urspriinglich nicht Borneo (eine Verstiim- melung von Bruni, der ersten von WeiBen angetroffenen Stadt), sondern Pulo Kalamantan, nach einer einheimischen, sehr sauren Frucht. Bruni soli von „brani“, was „tapfer“ bedeutet, herstammen. Sehr viele Stamme verwenden noch heute den Sumpitan oder die Blaspfeife, ein Instrument, aus dem ein vergifteter Pfeil dem Feinde zugeblasen wird. Tag auf Tag durchwanderte ich die StraBen der Stadt, den Markt mit seinen Tropenfriichten (wo ich zum erstenmal den riesigen stinkenden Durian sah), die Fischhalle mit Polypen, Tinten-, Schwert-, Sage- und bunten Fischen und Tag auf Tag durchstreifte ich die Gegend hinter dem Felsen oder den FluB entlang dem Urwaldgebiet zu; ich wurde von Inselden ange- griffen, von Ameisen gebissen, von Kafern verfolgt; ich ver- nahm das Rascheln springender Affen im Lianengewirr zu Haupten und fiihlte den heiBnassen Urwaldschlamm klebrig um die Zehen (er durchdringt leichtes Schuhwerk), und dennoch er- krankte ich nicht. Die Malaria von Sandakan ist besonders heimtiickisch, doch gibt es auch Beri-beri, das „trockene“ (das mit Schmerzen in der Wirbelsaule beginnt und mit Lahmung der Arme und Beine endet und das „nasse“, das mit dem An- schwellen der Beine einsetzt und unfehlbar todlich ist), Tropen- ruhr und das sogenannte Sandakanfieber, das einen nach sehr groBen Gliederschmerzen arg geschwacht zuriicklaBt — eine Art Dengue, wie ich heute zu glauben geneigt bin. 296 Mein letzter Eindruck von Sandakan ist folgender: Agar- agar (eine Seegrasart und genieBbar) zum Trocknen ausge- breitet; Dacher, auf denen das letzte Sonnenlicht das Rot ver- tieft, Wandererpalmen, in denen der Abendwind ein diisteres Rauschen erzeugt und endlich hinter Balhalla und Duyong, den beiden winzigen Meerdayakendorfern, ein unbeschreiblich groB- artiges Meerleuchten, das erst die ganze FluBflache und dann das Meer erhellte und erst lange hinter der Miindung im Dunkel der Nacht erstarb. Perleninseln. Die See rund urn Celebes ist so voll von Inseln, daB man fortwahrend an kleineren und an groBeren voriiberfahrt und der Kapitan ununterbrochen auf der Hut sein muB. Ich glaube, es war am dritten Tage solcher Fahrt — jedenfalls stand das Kreuz des Siidens schon wieder drohend am Nachthimmel und zeigte sich der Mond verkehrt (fiir uns mit umgedrehter Scheibe), als wir eines Spatnachmittags an der Vogelinsel vorbeifuhren. Wenige Dampfer kommen hier vorbei, und wenn einer doch die Inset streift, die ziemlich hiigelig und gar nicht so klein ist, so laBt er plotzlich einen sehr tauten Pfiff er- tonen, der die Vogel derart erschreckt, daB sie alle auffliegen. Das ist ein wunderbares Bild, denn der Himmel wird grau von all dem Federvieh, das in weiten Kreisen um die Insel zieht und sich klar zu werden sucht, welcher Art die gewitterte Ge- fahr sein mag. Weiter, weiter durch die Sundasee und dann, eines Nach- mittags, sind wir auf der Donnerstagsinsel, dem Mittelpunkt der Perlenfischerei, wo ich aussteigen mochte, um in das Sud- seeinselreich zu fahren. Ich durcheilte indessen vergeblich den Ort. RegelmaBige Verbindung mit dem Festland von Neu- Guinea, obschon so nahe, daB man es wie einen dunstigen Streifen in weiter Feme erblicken konnte, gab es nicht. In drei Wochen kame ein Kapitan und fiihre bis zum Fly River (FliegenfluB), aber selbst dort wiirde ich in einem Zelt im Ur- wald wohnen und auf eine andere Fahrtmoglichkeit bis nach Port Moresty warten miissen. Als Mann — noch, noch- aber als Frau! Das meinte der Geistliche, den ich ratholend besucht hatte. Lieber von Australien oder Neuseeland aus. Von hier war es zu schwer. So begab ich mich an Bord zu- riick und erklarte, bis Sydney nachzahlen und weiterfahren zu wollen. Die Donnerstagsinsel ist ein Teil der Prince of Wales- Gruppe, nicht schoner und nicht schlechter als die iibrigen Inselchen, hiigelig, bewaldet, nicht sonderlich fruchtbar. Eins aber hat sie den iibrigen Inseln voraus: sie liegt genau 297 zwischen der Nordspitze Australiens und der Zunge von Neu- Guinea und verbindet die Sundasee, reich an den Schatzen des Indischen Ozeans, mit dem machtigen Stillen Ozean, dessen Wellen beinahe ungebrochen von Arica und Mollendo in Siid- amerika bis hierher rollten und die ganz andere Schatze auf ihrem Grunde aufwiihlten. Vielleicht findet man deshalb bei der Donnerstagsinsel so viele Perlausterbanke, Korallen, groBe Perlenmuscheln und Fische der verschiedensten Arten. Diese werden wenig gefischt, doch die Austernbanke locken die Leute aus Slid und Nord nach der Insel, und manchmal kreisen drei- tausend Schifflein durch die Gewasser. Wo der kleine Ort mit seinen schon australischen Geschaften sich um die Bucht schmiegt, geht es noch, aber wer um die Hauptfischzeit um die Insel geht, der erhalt den vollen Geruch der faulenden Austern in die Nase. Viele werden frisch geoffnet, doch eine Riesen- menge wird einfach geschichtet und, an der Tropensonne er- hitzt, zum Faulen gebracht. Dann findet man in den sich offnen- den Muscheln viel schneller und leichter die Perlen. Jeder Be- sitzer iiberwacht seine schwarze Mannschaft selbst, und ganze Berge ergeben manchmal nichts Wertvolles. Es wiirde sich der Perlenfang an und fur sich auch nicht lohnen, wenn man die perlmutterschimmemden groBen Muscheln nicht gut verkaufen konnte. Aus diesen Muscheln aber macht man Loffel, Messer- chen, Schalen, Broschen und Kamme — eine wichtige Haus- industrie auf dieser Insel. Viele Ladungen Muscheln gehen nach Europa und einiges nach Asien, wo die Chinesen reizende Dinge daraus schnitzen. Die Perlenfischer selbst haben den schrecklichen Geruch wochenlang so arg in der Nase, daB sie nichts essen konnen, und die Einheimischen geben ihnen dann etwas ins Essen, das den Geruchssinn vollig totet. Dann essen sie sehr gepfefferte Speisen und erholen sich. Nach mehreren Wochen, wenn sie wieder losziehen konnen, vergeht dieser Mangel an Riechkraft. Durch Queensland. Australien ist noch gar nicht so lange entdeckt. Wohl sahen vereinzelte Segler das Land schon im sechzehnten Jahr- hundert und nannten es Neuholland, doch erst 1770 nahm Ka- pitan Cook davon fur die britische Krone Besitz, und im Jahre 1787 schiffte England die ersten Straflinge in sieben Schiffen ein und brachte sie in die Nahe des heutigen Sydney, wo sie ein sehr elendes Leben fiihrten, von den schwarzen Einge- borenen angefallen und getotet wurden und wo sie, spater, Buschrauber wurden, die das Leben der Schwarzen wie der WeiBen auf grausame Weise gefahrdeten. Heute ist es eine 298 bliihende Ansiedlung, aber noch immer nicht von einer so hohen Klasse von Englandern bewohnt, wie zum Beispiel Indien oder Neuseeland. Zweite Sohne aus adeligem Hause, die keinen Anspruch auf Geld Oder Krone hatten (nur der Majoratsherr erbt) wanderten oft aus, um in Australien groBe Farmen zu erwerben und reich zu werden. Der Erfolg hangt nicht nur vom FleiB, sondern zuerst vom Wetter ab, denn regnet es jahrelang nicht, so gehen die schonsten Herden jammervoll zu Grunde. Die Tiere sind auch nach einer gewohnlichen Diirre so wasserdurstig, daB sie sich in ihrer Gier tottrinken oder — besonders Schafe — so schnell an den FiuS herandrangen, daB sie ertrinken. Einen Begriff von dem eigenartigen Klima Australiens Kiiste erreicht hat und das charakteristische niedere Buschwerk, Kiiste erreicht hat und das charakterische niedere Buschwerk, „Serub“ genannt", sieht. Die Abhange sind nicht dicht damit bewaldet, sie sehen aus wie mit unzahligen Biischelchen ge- spickt. Dazwischen erspaht man eine andere merkwiirdige Er- scheinung — die hohen, roterdigen Ameisenhiigel, deren unge- fahr pyramidenartige Form man sich zuerst nicht zu erklaren vermag. Wahrend man so mit den Augen die nahe Kiiste streift, bleibt man an das Barriereriff gebunden, das die Nord- kiiste 2000 km weit begleitet und seinesgleichen nicht auf Erden hat. Eine vom Meeresgrund bis zur Oberflache an- steigende dicke Mauer — alles die Arbeit der Korallentier- chen — halt die Wucht des Ozeans von der Kiiste ab. Ganz im Norden liegt Port Darwin. Die wichtigsten Hafen an der Ostkiiste sind oben Cairns und spater Townsville, zwei Stadte, die hiibsch angelegt, im englischen Stil erbaut und fabelhaft langweilig scheinen. Eine Kleinstadt hinter einem Korallenriff mit der Aussicht auf die unbegrenzte Breite des groBten Ozeans der Erde, und dabei so gut wie kein Hinter¬ land! Klatsch, Nebel, der sich oft zu leichten Giissen verdichtet, Hitze, Einsamkeit. Brrrr! Queensland ist schon fast tropisch. Hier gedeiht die Kokos- palme, das Zuckerrohr, die Banane. Aus Riicksicht auf die weiBen Pflanzer in Queensland, die um jeden Preis bevorzugt werden miissen, sind den Australiern die neuerworbenen In- seln und das einst reichsdeutsche Kaiser Wilhelmsland auf Neu-Guinea mehr Plage als Nutzen, darf doch nichts von dort eingefiihrt werden. Viele Landstrecken sind vom Stachel- kaktus auch so iiberwuchert, daB ein Urbarmachen sehr schwer ist. Farbige Arbeiter diirfen nicht eingefiihrt werden und fur Europaer ist das Klima zu heiB, um auf freiem Felde arbeiten zu konnen. 299 Australien verfolgt — and wie ich sagen mochte, mit Recht — die sogenannte „weiBe Politik", die wir schwer ver- stehen und der Asiaten begreiflicherweise sehr viel HaB ent- gegenbringen. Die Australier verweigern alien Farbigen, ob schwarz, gelb Oder braun, die Einreise, und jeder Japaner oder Chinese, der auf ein Jahr einreist, erlegt hundert Pfund Ster¬ ling Kaution, die dem Staate verfallt, wenn er nicht nach Jahresfrist wieder verschwunden ist. Australien fur die WeiBen! Ungeheure Strecken konnten bevolkert werden und warum nicht von Asiaten? Warum weist Amerika die Japaner aus? Weil sie auch in den Vereinigten Staaten unter west- lichem EinfluB vollig Asiaten bleiben. Warum iibersieht man die Chinesen? Weil sie sich still verhalten, nur ihr Sippen- wesen, doch nicht Vaterlandsliebe kennen und sich dem Euro- paer auBerlich nicht gleichstellen. Wenn ihr Rassengefiihl ge- hoben sein wird, werden sie so unbequem wie die Japaner werden. Aber all das ist schlieBlich gleichgiiltig. Was Austra¬ lien — vieUeicht. durch lange Beriihrung mit Farbigen — ganz richtig einschatzt, ist folgendes: LaB’ einmal Farbige festen FuB fassen, und es sinken die Lohne, es sinken die Lebensansichten und der Ton (Standard of life) der Gesellschaft. Nicht der Chinese wird bei schon ge- deckter Tafel mit gutem Besteck wie ein WeiBer essen, — nein, der Europaer wird mit der Zeit in einer Hiittenecke kauern und mit einem Blechloffel, wenn nicht mit den Stabchen, Reis und etwas starkriechenden Fisch in den Mund schaufeln. Es sinkt aber auch die Rasse, denn wo Asiaten, WeiBe und vielleicht noch Schwarze als „Briider“ miteinander arbeiten und kamp- fen, da heiraten auch diese Briider untereinander. Was ist das Ergebnis? Ein schwaches, haBliches, zuriickgehendes Volk, ein Potpourri, das dem ersten reinrassigen Eroberer zum Opfer fallt. Was ist Mittelamerika, Siidamerika trotz ungeheurer innerer Reich turner heute? Chile und Argentinien, durch den bestandigen ZufluB WeiBer ziemlich weiB erhalten, sind besser, reicher, fortschrittlicher. Was war Peru unter den Kindern der Sonne? Der groBartigste Staat, den man, was kommuni- stische Verwaltung anbelangt, jemals gekannt hat. Ein Land, in dem niemand darbte, alie gleich arbeiten muBten und in denen Prinz und Bauer es verstanden, sich allein zu geniigen. Jeder Rittersohn muBte nicht nur in der Waffenkunde hervor- ragend tiichtig sein, er muBte. sich seine Schuhe, Pfeile, Ge- wander, seinen Schmuck, seine Nahrung, sein Bett, wenn notig, selbst her stellen, und die Reichtiimer an Gold waren so groB, daB man in Frankreich, zum Beispiel, noch heute sagt: „Das ist nicht Peru!", um auszudriicken, daB es sich nicht um fabelhafte Reichtiimer handle. Das war vor vierhundert Jahren 300 unter Reinrassigen. Was ist heute Peru anders als ein grau- sam verarmtes Land, der Schandfleck auf der Karte der neuen Welt? Warum? Mischheiracen .... Welchem Schicksal geht — selbst von den Franzosen mit Schrecken erkannt — das heutige Annam voll Mischlingen ent- gigen? Was wird in kaum fiinfzig Jahren aus Frankreichs einst herrlicher Kultur und fiihrenden Rolle werden, wenn Franzosinnen weiter Neger heiraten werden? Die niederste Rasse des europaischen. Festlandes, die verschwinden muB. Und in der grauenhaften, blinden Sucht nach neuen Reizen sind die groBten Fiihrer wie die kleinsten Grisetten blind gegen die nahende Gefahr. Nach meiner groBen Liebe fiir Japaner kann bei mir niemand von ,,RassenhaB“ sprechen. MuB man aber, wenn man einmal Rheinwein trinkt, unbedingt Marsala hineingieBen? So etwas nennt man in meiner Vaterstadt, ein „G’schladder“ draus machen. Und damit verdirbt man schlieB- lich nur einen Magen, nicht ein hochstehendes Volk. Das, mehr als alles andere, ware „Untergang des Abendlandes“. Ebenso ware Mischung mit uns das Schlimmste, was z. B. Japan zustoBen konnte. Jeder fiir sich und Gott allein fiir A11 e ! Und das haben mit seltener Volksweisheit die Australier erkannt. Nach Brisbane fahrt man vierzig Meilen den Strom hin- auf. Die Stadt konnte mitten aus England gehoben worden sein — Bauart, Geschafte, StraBen, Elektrische, wie in Eng¬ land selbst, nur die warme Subtropensonne vergoldet alles, und die seltsamen Bergkegel, die wie Glas glitzern und vul- kanischen Ursprungs sind, sind in England nicht zu finden. In Brisbane besuchte ich auf dringende Bitte eines Mit- reisenden eine Music-hall, in der eine gemischte Vorstellung stattfand. Wahrend ich versunken dasaB, erwischten mich die Brisbanemoskitos, wahre Lowen, und stachen mich so fiirchter- lich, daB sich bei mir schwere Beulen entwickelten, die ich mir zuerst nicht zu erklaren vermochte, und die mich glauben lieBen, ich hatte eine Hautkrankheit schlimmster Art. Zum Gluck ver- g in gen sie, ehe wir furs Landen untersucht wurden. Zwei Ameiikanerinnen, die ihr Impfzeichen auf dem Oberschenkel trugen, erschienen im Badeanzug zur Untersuchung, und wir alle muBten die Beine verrenken (irgend eine Gliederkrankheit wird durch beginnende Steife gekennzeichnet), die Zunge her- vor- und die Augen herausstrecken, kurz, es war die iibliche Folter noch erhoht und verlangert. Hierauf kam die Geld- frage, und zuletzt nahm man mir den PaB mit dem Bemerken ab, man werde ihn mir erst beim Verlassen des Landes zuriick- 301 geben. Das hatte ein Gutes: Ich konnte ihn wenigstens nicht verlieren. Dann waren wir in dem weltberiihmten Hafen von Syd¬ ney und erlitten die Frage, die jeder Einreisende zur Zufrieden- heit der Bewohner beantworten muJ3: „W a s sagen Sie zu unserem Hafen?!" Er ist buchtenreich, die Stadt schon umrandend, und still. Ich tat also dem Fragenden gebiihrende Genugtuung. Ich stieg in der Hauptstadt von Neu-Siidwales ans Land. Als Klippenforscher. Seit Jahren stand ich durch eine gemeinsame Bekannte in regem Briefwechsel mit jemandem unten in Adelaide, und an die Sydneybekannte dieses Jemands wandte ich mich. Es traf sich so gliicklich, daB die Mutter Fraulein Elsies ein Zimmer frei hatte, und in dieses Gemach, das samt Gasring zwolfeinhalb Schilling wochentlich kostete, zog ich sofort mit allem Pack. Es war ein dunkles Zimmer, das kein Fenster und nur eine Tiir auf einen winzigen Hintergang (Ballon be- titelt) hatte, der aber, wenn es regnete, unbewohnbar blieb. Undenklich, im Zimmer selbst zu schreiben oder zu malen, doch da es selten regnete, arbeitete ich auf dem Ganglein, dessen Tisch gleichzeitig Herd, Malplatz und Thron meiner Erika war. Nachts lag ich unter der elektrischen Lampe, las und aB Pfirsiche — mein spates Abendbrot. Noch am Tage meiner Ankunft sagte die junge Dame, die zu meinem Entziicken Entomologin war, wir sollten zu den Klippen gehen und da die seltenen australischen Muscheltieru von den Felsen losen und einsammeln, wozu ich mich bereit erklarte. Da ich von den Tropen kam und das Sydneymeer- wasser kalt war, erkaltete ich mich, obgleich ich nur watete, sehr griindlich, so daB ich sechs Monate ununterbrochen hustete, aber jedenfalls fanden wir die flachen Tierchen, losten sie mit dem Messer ab und trockneten sie daheim. Ich habe viele Kafer und Muscheln von da aus heimge- schickt und die meisten an Schulen verteilt. Kampfesmiide. Nach wie vor besuchte ich Museen, verbrachte die Abende in der offentlichen, sehr guten Biicherei, suchte Leute auf, die mir Auskunft zu erteilen vermoehten, und ging zu den Vor- tragen der Naturfreunde, denn gerade in der Tier- und Pflan- zenwelt ist Australien uniibertrefflich. Zuzeiten fuhren wir eine Stunde weit zum riesigen Nationalpark und verschwanden im freien Busch dahinter, wo wir allerlei Pflanzen, Niisse, 302 Schnecken und Kafer sammeln durften und von wo wir spat am Abend miide, doch mit groBer Beute heimkehrten. Wahrend wir im Freien ein sehr bescheidenes Mahl kochten (das ist in Australien so Sitte), beobachteten wir das Tierleben um uns her. Ich setzte mich immer so, daB ich gleich bei Seite riicken konnte, denn in einem Lande, wo es so viele Schlangen gibt, fiirchtete ich unaufhorlich, so ein Vieh um Arm oder Bein zu haben. Das Geiiihl des Umwundenwerdens war mir ein unan- genehmerer Gedanke als der BiB selbst. Aber es kamen gliicklicherweise keine Schlangen, und wir brachten nur die stachelige Frucht des Flaschenbiirstenbaumes, die Bliiten und Samen der verschiedenen Eucalypten, die Gold- akazien, die Boroniablumen und andere botanische Errungen- schaften heim. Was wii an Tieren sahen, beschrankte sich auf ein vereinzeltes Kanguruh. Nur im Tiergarten durfte ich mir endlich den Koali, den einheimischen Baren, der ein so liebes, scheues Gesicht zieht und sich so kostlich aufrecht halt, sehen. Vogel trafen wir oft — den lachenden Kookaburra oder JackaB, der zur Familie der Konigsfischer gehort, ein dem Lachen tauschend ahnliches Gerausch bei Sonnenauf- und -untergang ausstoBt und der so tapfer mit Giftschlangen ringt; schonfiedrige Kakadus waren in Queensland vorherrschender, aber den zahmen Caraduck (den „Gefahrten des Eingeborenen“) trafen wir manchmal, und einige Stunden von Sydney, oben in den beriihmten Blauen Bergen, in denen man Wasserfalle, Tropfsteingrotten, Felsabschiirfungen und so weiter findet, auch den Lyravogel, der sich einen Tanzplatz macht und alle Vogel im Ton nachahmt, sowie den seltenen Laubenvogel, der aus gebogenen Zweigen eine „Vereinslaube“ herstellt, und andere Vogel. Leider kann ich gar nicht eingehend dariiber be- richten, nur von den todbringenden Bulldoggen oder Soldaten- ameisen muB ich noch sprechen. Sie greifen den ahnungslos ruhenden Wanderer nicht selten an und vergiften ihn so schnell, daB er den Bissen erliegt. Auch hier trifft man zuweilen schon die eigenartige Mordwespe, die ihre Larven in eine vergiftete, doch nicht tote Spinne legt, die der jungen Brut beim Aus- kriechen zur Nahrung dient. Das Wunder des Festlandes, das Tierformen aus maso- zoischen Tagen aufweist, ist das Schnabeltier (Ornitherhyn- chus anatinus), ein Tier, das gleich dem seltsamen australi- schen Ameisenbaren nur einen Kanal fur Speiseentleerung und Fortpflanzungen, aber keine auBeren Ohren, Beutel oder selbst Beutelknochen hat, so daB das Schnabeltier (von BibergroBe) die Eier wie eine Ente legt und — ausbriitet, bis die Jungen in dem Grasnest aus den zahen ledrigen Eiern kriechen. Diese eigenartigen Geschopfe sind ebenso Beuteltiere wie das Kangu- 303 ruh, konnen indessen ihre Jungen nicht im Beutel tragen, son- dern diese hangen sich an das Bauchfell an, lecken davon die Milch ab, die durch ein Zusaramenziehen der Bauchmuskeln ausgestoBen wird, und wachsen so wie keine anderen Jungen heran. Das Tierchen selbst ist weder Fisch, noch Vogel, noch Saugetier, noch Schlange, sondern alles in einem. Es hat einen Biberkorper und ein herrlich schones braunes Fell, einen Entenschnabel und winzigen Kopf daran, EntenfiiBe mit Schwimmhauten und so gut wie keinen Schwanz. Es ist sehr scheu und lebt halb im Wasser, halb zu Lande. So sehr mich all das interessierte, so viel Neues ich tag- lich lernte, so ungeheuer angestrengt ich durch einen Auftrag war (der zum SchluB durch Betrug fehlging), so begann ich zum erstenmal — im vollen vierten Iahre meiner Weltum- seglung — einen Widerwillen gegen die Machte iiber mir zu hegen. Wohin ich kam, begann immer der alte Kampf, die alten Entbehrungen, und daheim schien es zu einem ewigen Stocken zu werden. In Peking hatte ich fur dreiundzwanzig ver- schiedene Blatter geschrieben, darunter fur Deutschlands groBte Zeitschriften, war Textilkorrespondentin und hatte seit iiber zwei Jahren den Schriftleiter der Knittelfelder Zeitung zu meinem literarischen Vertreter, aber mit dem Vertrieb meiner Romane ging es irgendwie nicht, und die drei Lander, fur die ich arbeitete, steckten in der furchtbaren Not der Nachkriegs- zeit. Ich mit ihnen. Es war ein herzzerbrechendes Neuaufbauen von Land zu Land und schlimmer von Tag zu Tag . . . Mein literarischer Vertreter, mit dem sich eine treue Freundschaft entwickelt hatte, schrieb indessen nicht langer „Lieber Herr Karlin!", denn eines Tages war jemand aus der Untersteiermark nach Knittelfeld gekommen, und hatte iiber den Forschungsreisenden viel gehort. Zum SchluB der Rede aber hatte er gesagt: „Alles, was Sie sagen, stimmt, aber Frau Karlin hat nur e i n Kind, und das ist keines Menschen Sohn." Ein TaBchen Kaffee. Sechs Wochen arbeitete und lernte ich in Sydney. An ein Verdienen war nicht zu denken, jedenfalls auf geistigem Ge- biet nicht, denn „Australien fur die Australier" ist ein sehr be- tontes Wort. Auf einer Farm als Kochin oder als Erzieherin (der gesellschaftliche Grad ist ziemlich gleichwertig da drauBen) hatte ich wohl Aufnahme finden konnen, aber Sprachen brauchte man hier nicht und in einem gewohnlichen Biiro war mir der fremde PaB ein Hindernis. Ich muB auch gestehen, daB ich mir keinerlei Miihe gab, denn ich begann zu verstehen, daB man nicht alles Wichtige erlernen, alle Pflichten gegen 304 die Heimat als Joumalistin und alle Pflichten der Studierenden auf dem Gebiete der Botanik erfiillen konnte, wenn man neben- bei auch noch stumpfsinnige Geldarbeit zu leisten hatte. Auf diese Weise wiirde ich einmal nach tausend Erdenjahren heim- kehren .... Jemand hatte mir geraten, „the Southern Cross", das Missionsschiff, das einmal jahrlich Auckland im April verlieB, um die Neu-Hebriden entlang den beriichtigten Salomonen zu- zusteuern, zu erreichen, und obschon keine Antwort vom Bischof eingelaufen war, hoffte ich ihn doch zu iiberreden, wenn es mir gelange, das Schiff zu erreichen. Ich verlieB Syd¬ ney aus diesem Grande Mitte Marz, bereit, vierzehn Tage in Siidaustralien zu verleben und dann direkt nach Neuseeland zu fahren. Ich fuhr in der Dritten. Neben mir safien zwei dicke Frauen und besprachen die Emte. Wiirde es regnen oder nicht? Wie stand der Weizen? Wie die groBen Obstgarten im Siiden? Ah, es gab nur einen richtigen Staat — Neu-Siidwales. An ortlicher Vaterlandsliebe kranken die Australier in so hohem MaBe, daB man — um ihr gerecht zu werden — heute eine Hauptstadt fiir alle Teile dort anlegt, wo sie weder hinpaBt, noch sich bewahren wird und wo man bis heute nur Grund- steine findet .... Es war Mondschein, und drauBen rollte die endloseEbene vorbei. Herden, Eucalypten, ein Kanguruh, irgendwo ein Kra- nich — vermutlich der Caraduck — und wieder Herden. Es war zu kiihl und zu hart, um schlafen zu konnen. Die anderen tranken Kaffee. Ich rollte mich fester in die Ecke, um nicht begehrliche Augen zu machen, doch der alte Herr in der anderen Fensterecke weckte mich und bot mir eine Tasse an. In Mel¬ bourne muBte ich auf den Zug warten. Der alte Herr ging an mir voriiber. Ich stand zitternd vor Kalte im grauen M'orgen- licht neben Koffer und Erika. Er half mir, mein Gepack in die Garderobe zu schleppen. Dann schob er mich vors Buffet, zahlte ein TaBchen Kaffee und verschwand im Gedrange. So gut sind im Grande die Menschen. Manchmal, in Sydney, wenn ich heimging und mir nie etwas leisten konnte, wonach Magen und Gaumen schrien, wenn mich die Einsamkeit (meine junge Bekannte reiste bald nach meiner Ankunft ins Innere) zu sehr niederbeugte und es mir war, als konnte ich dieses Dasein nicht langer er- tragen, sagte ich mir: „Versuche noch ein halbes Jahr, ein kurzes halbes Jahr, und wenn es dann im Herzen der Siidsee nicht besser ist, so.. “ Aber die Fahrt, an die ich dachte, hatte mit der Heimreise nichts zu tun. 20 305 Unerhoffte Ruhmeshallen. Melbourne ist wie Manchester, nur sonniger. Sydney er- innert durch den Putz, die geschminkten Frauen, das Hasten, das Europafeindliche, an die Vereinigten Staaten, aber Mel¬ bourne war britisch durch und durch, und da fiihlte ich mich daheim. Die Kirchen waren im gotischen Stil der Kathedrale von Canterbury und die Gasthofe zum „WeiBen Hirschen", zum „Griinen Tor“ und so weiter heimelten mich an. Es war alles etwas kiihl, etwas gelassen, etwas vornehm zuriickhaltend, und auf den offenen Wagen der Elektrischen wandte man sich gegenseitig den Riicken zu. Es ist eine sehr schone englische Sitte, daB man Fremde nicht anreden darf. Vertraulichkeit wird dadurch hintangehalten. In Melbourne halt man strenger auf diese Sitte. Wieder eine Nacht im Zuge, und dann rollte ich, um acht Uhr friih, in die Halle des Bahnhofs von Adelaide, meine Erika in der Hand und die beiden aufgegebenen Koffer bei der Bahn- verwaltung. Darauf aufzupassen, war Bahnangelegenheit. Das Haus Fraulein W.s lag drauBen am Fullerton Estate und war sehr hiibsch mitten in einem Vorstadtgarten gelegen. Ueberhaupt nennt man Adelaide berechtigterweise die Garten- stadt. Die BegriiBung war stiirmisch, obschon wir uns noch nie zuvor gesehen hatten, und Bruder und Schwagerin meiner Briefbekannten fanden, daB nun zwei Narren gliicklich zu- sammengetroffen seien. Annie war kein Durchschnittsmensch, eine leidenschaftliche Tierfreundin und so erfiillt von Liebe zu allem, was da lebte, daB sie mit Vorliebe oben in der Baum- gabel saB und dem Werden der Blattchen, dem Treiben der Vogel zusah, was in einem so vogelreichen Land sehr lohnend sein muBte. Ich stieg nicht in die Gabel, weil ich das meinem rotbraunen Samtkleid, das noch viele Dienstjahre vor sich hatte, nicht zutrauen mochte. Was es ausmacht, Freunde zu haben! Ich war gewiB in Adelaide nicht dummer und nicht geistreicher als in Sydney, aber hier wurde ich zum erstenmal aus den Tiefen meiner Verschlossenheit aufgeriittelt und gezwungen, offentlich zu sprechen. Erst besuchten wir den „Register“, das groBte Blatt Adelaides, und ich wurde „interviewt“, ein Verfahren, an das ich nun schon gewohnt war, und kaum war mein Bild er- schienen, so wurde ich in einen Wirbel von Einladungen hin- eingerissen, der mir weder Zeit zum Denken, noch zum Schlafen lieB. Ich iiberwand meine Angst auf sehr einfache Weise. Kurz vor dem offentlichen Vortrag erzahlte ich in einem groBen Salon beim Tee von meinen Fahrten, und auf einmal 306 tuhr es mir durch den Sinn: Hier sprichst du doch auch zu mehreren Menschen und wiirdest zur doppelten Zahl ebenso furchtlos sprechen. Auf dem Podium sprichst du einfach zu alien! Dennoch iiihlte ich ein Krabbeln an der Wirbelsaule, als ich oben stand. Dann begann ich zu sprechen, und seitdem geht es immer. Ein so geringer AnstoB geniigt manchmal, um ein neues Konnen an den Tag zu bringen. Zehn Tage! Ich schrieb (geldverdienend) fur den Re¬ gister", ich hielt Vortrage, ich machte Besuche, ich sammelte. Ein ahnliches Bewegungsfieber habe ich selten mitgemacht. Einmal im Busch, dann auf der Plattform, nun bei den Wilden, eine Stunde spater unter den groBen Frauenrechtlerinnen des Staates. Diese freudige Aufregung riittelte mich aus dem Kummersumpf, in den ich in letzter Zeit gesunken war. Ich hatte eine Zukunft vor mir (wie gern man das glaubt!), und ich war weiB. Ein Kind meiner Rasse. Die Kinder der schwarzen Rasse waren indessen, wenn auch nicht iibermaBig rein und etwas schwach von Begriffen, doch aufierst fesselnd in ihrer Art. Es sollen die tiefststehen- den aller Rassen sein, aber sie besitzen z. B. allerlei Tanze, die ein langes Nachdenken und eine feste Ueberlieferung ver- raten. Alle Schwarzen sind in sogenannte Totems eingeteilt — in Stamme, die unter einem gewissen Zeichen stehen, und das Tier oder Ding, das dadurch angedeutet wird, ist heilig. Leute vom Kanguruhtotem diirfen kein Kanguruhfleisch essen, die vom Schlangentotem keine Schlangen toten, und beim Corroberee, dem Volkstanz des Stammes, wirken nur die Manner mit, die dann das Tier nachahmen. Sie sind mit Kalk- streifen weiB bemalt und tragen Fedem- und Pflanzenschmuck. Ihr Gott haust in der Churinga, einem flachen, etwas zuge- spitzten Holz, das an einer langen Schnur hangt und geradezu schaurig surrt. Sehen diirfen die Frauen es nie, denn wichtige Gottersachen gehoren nur den Mannem an, und iiberhaupt ist die Frau ein ganz zuriickgesetztes Ding. Der Mann fischt Oder jagt, sie aber muB mit einem Stabchen von Baumwurzel zu Baumwurzel gehen und nach fetten Wiirmern graben, von denen sie sich nahrt. Ist er unzufrieden, so verpriigelt er sie, und wenn er sie wirklich liebt (so weit das ein Mann und be- sonders ein Schwarzer kann), so reibt er sie gut mit Kokosol ein, damit sie dick wird und glanzt. GroB sind sie an Zauberwissen, groB an Aberglauben, und ihre Marchen haben einen Zauber, dem man sich nur schwer entzieht. Leider erfordert dies ein eigenes Werk. 20 * 307 Der verlorene Koffer. Obschon ich meine beiden Strohkorbchen der Bahnver- waltung iiberlassen hatte, tauchte eins nicht auf und wurde erst nach langem Nachforschen entdeckt und nachbefordert. Der Beamte, der mir den AusreiBer samt Li Tie Guai (dem Gotzen) iibergab, zeigte nur lachelnd auf den Korb, auf dem mein Name in japanischen Buchstaben geschrieben stand. „Und Sie erwarten, daB wir das verstehen?" Sie lachten mich alle aus — von der theosophischen Loge bis zum „Register“ und bis daheim bei MiB W., und die Kol- legen vom „Register“ schenkten mir zur allgemeinen Belusti- gung und zu meiner Freude einen Koffer, auf dem mein Name in groBen schwarzen Buchstaben zu lesen war, damit wenig- stens — wie sie behaupteten, — in Zukunft der Koffer nach mir, wenn nicht ich nach ihm riefe. Oh, Adelaide, warum vergeht alles Schone so schnell!? V erspatung, Qualund Schrecken. Fur Melbourne hatte ich viele Empfehlungen und darum lief ich von Schriftleiter zu Schriftleiter. Das ist aber ein im besten Falle langsamer, im allgemeinen ein recht dorniger Pfad, und als es Mittag war, hatte ich erst zwei Blatter abge- grast. Da fiel ich der richtigen Reporterin in die Hande. Das ist wie einen guten Zahnarzt nach durchwachter Nacht finden. Auch schmeichle ich mir, daB ich da schon eine gewisse Uebung im „Interviewtwerden“ hatte; kurz, wir setzten uns in einem Kaffeehaus zusammen, und ich spie Erfahrungen und Betrachtungen wie ein in Tatigkeit begriffener Vulkan aus; sie schrieb wie ein Gerichtsschreiber in voller Fahrt. Beide gingen wir in der Begeisterung des Augenblicks und in Kaffee so sehr unter, daB es halbvier Uhr war, ehe ich auf der Elektri- schen, mein Gepack zum Gluck schon auf dem Schiff, dem Hafen zurollte, ungliicklicherweise aber dem unrichtigen Quai. Vier Minuten vor der Abfahrtszeit sauste ich noch hundert Schritt von der Halle dahin, und gerade als man die Briicke loste, pustete ich heran, sprang auf die schwebende Verbindung und warf mich dem ersten Offizier (unfreiwillig) an die Brust. Gleichzeitig loste sich das Schiff vom Landungsplatz. „Immer hiibsch langsam, Sie kleine MiB!“ meinte er und hob mich von der Brust und dem Briickenende auf den Boden. Auf dem Moeraki. Kalte und Seefahrt zusammen wirken entsittlichend auf mich. Ich sitze menschenfeindlich in einer Ecke und starre duster in den Raum hinein. So unbeweglich an einem Fleck zu 308 verharren, vermag in der Regel nur noch ein indischer Sadhu oder ein Steinbuddha; dem einem ist dabei aber heiB und der andere spurt nichts vom Klimawechsel. Die StewardeB war „magenleidend“, doch schien es mir, daB sie viel starkenden Whisky zu sich nahm, den eine dicke Mitreisende groBmiitig mit ihr teilte. Die Mahlzeiten (ich fuhr schon wieder in der Dritten, denn die langen Fahrten hatten samt dem Kurssturz viel von meinen Japanersparnissen ver- schlungen) waren geschmacklos und schlecht — ungesalzenes Gemiise, hartes, geschmacksarmes Rindfleisch und dazu diese Gesellschaft! Fehlerhaftes Englisch, lautes Gebahren, leeres Gerede und alles Hausfrauen, die abwechselnd iiber Kinder- wasche und Haushaltssorgen klagten. Fiinf lange Tage iiber ein kaltes grimes, ganz winterliches Meer (April ist der November der Antipoden) und dann end- lich, vom Wind gefegt, Felsen, eine Bucht, Land. In der letz- ten Nacht hatte ich einen seltsamen Nervenzustand. Ich konnte nicht mit dem Gesicht nach oben auf dem Bett liegen. Es war mir, als senke sich die Decke. Ich wuBte, daB dies Unsinn war, und litt dennoch darunter. Wie wiirde ich heimreisen, wenn ich nie wieder fahren konnte? Neuseeland war der entfernteste Punkt meiner ganzen Fahrt; selbst Japan war der Heimat naher gewesen .... Landungsgreuel. Es war Sonntagnachmittag und die Mitreisenden, plotz- lich in Seidenkleidem, die iiberfliissig gewahlt schienen, drangten sich dem PaBbeamten zu, hinter dem Wellington mit seinen schonen, ansteigenden Bauten sichtbar wurde. Der Be- amte fragte nach meiner Volkszugehorigkeit. Ich antwortete und iibergab meinen PaB. „In der Schiffsliste steht ,britisch’!“ Ich erklarte, der Gesellschaft meinen PaB gezeigt zu haben, erinnerte mich indessen, daB der betreffende Beamte sich mehr mit der unschuldigen AuBen- als mit der schuldigen Innenseite befaBt hatte, und beruhigte damit den Gestrengen. Er wurde hoflich, aber bedauernd. Einen Fremden durfte man nicht von Bord lassen, und am Sonntag war niemand vom PaBwesen fiir den schweren Fall vorhanden. Einem Ameri- kaner — dem Abkommling der groBen Nation — ging es nicht besser und so fiigte ich mich ruhiger in mein Geschick. Am Abend ertrankten wir unseren Landungsschmerz vereint, er in Whiskysoda und ich in Ingwerbier. Wenn Sorgen graue Haare erzeugen wiirden (die meinen sind noch blond geblieben, weshalb ich die Annahme bezweifle), 309 so wiirden die PaBuntersuchungen allein zur Verfarbung ge- niigt haben. Oh, ihr grundgiitigen Gotter! Am auBersten Ende der Welt so ein Getue um etwas so Kleines und politisch noch dazu Ungefahrliches wie ein Kind des dort unbekannten S H S! Ich muBte ein Lichtbild hinterlassen („es kann so haBlich sein, wie Sie wollen!“ trostete mich die Beamtin, und ich suchte das fiirchterlichste Liebhaberbildchen aus dem Koffer heraus), einen langen Bogen ausfiillen, mein Geld mit Verlust aus australischem in neuseelandisches Geld umwechseln und end- lich zehn Pfund hinterlegen, damit man mich — im Notfall — wieder loswerden konnte. Da ich den Kreditbrief mit restlichen 300 Yen in der Tasche hatte, gab ich ruhig mein gewechseltes Bargeld und trabte, mein Gepack versetzend, sehr vergniigt durch die Stadt. Als ich aber zu einer Bank ging, um den Kreditbrief einzutauschen, wurde mir gesagt, daB man mit Japan keinerlei Verbindungen unterhalte und daher auch nichts in Yen ausbezahle. Da stand ich im fremden Lande mitten auf der StraBe und hatte nur drei Schillinge als einziges Betriebskapital! Das Kreuz des Siidens. Fiinf Tage hatte das Schiff Verspatung gehabt, und nun, in Wellington angekommen, vernahm ich, daB ein groBer Bahn- streik die Verbindung zwischen der Stadt des Siidens und der des Nordens unterbunden hatte. Nun war all mein Hasten ver- geblich gewesen. Zum SchluB begab ich mich zu den beiden Damen von Dominion Paper und von der Evening Post, die mir sehr lie- benswiirdig mit Rat und Tat beistanden und durch deren Ver- mittlung ich, nach einigen Tagen, auch die Ausbezahlung meines Kreditbriefes erhielt. Schwerer war es, eine Wohnung zu finden, denn infolge des Streiks war Wellington iibervolkert, aber endlich erklarte sich MiB Chamasa, die Leiterin des Quaker Home, bereit, mich eine Woche lang zu behalten. Die Quaker sind eine amerikanische Sekte, die sich immer in Grau kleidet, sich gegenseitig du sagt, allem Vergniigen ab- hold und eine starke Gegnerin des Krieges ist. Das Heim aber war reizend geleitet, die Kost gut, das Zimmer behaglich und die Dame machte mir iiberdies einen Extrapreis. Das Haus lag inmitten eines Rasens ganz oben auf einem der Hiigel um Wellington. Man fuhr mit einer Zahnradbahn bis nach Kel- burn, der letzten Haltestelle, aber einmal oben war die Aus- sicht iiber das Meer, die unzahligen Hiigel und die ansteigenden Hauschen wunderschon. Was den Ausblick damals noch ver- schonte, war der Umstand, daB der Ginster in vollster Bliite 310 stand und die Hiigel dadurch in ein goldiges Gelb getaucht wurden, das zum tiefen diisteren Griin der langnadeligen Araucaria und dem Hellgriin der Baumfarne in starkem Gegen- satz stand, der durch das Blau des Himmels und dem Grau- blau des Meeres noch betont wurde. Beriichtigt ist der Wind von Wellington, und mehr als einmal muBte ich meine Erika (die ich selbstredend abholte), mitten auf der StraBe niederstellen, um meinen sonst sehr fest sitzenden Hut mit beiden Handen zu halten. Dabei flogen beinahe Erika, Hut und ich dennoch ins nahe Meer. Die Leute, die nach Neuseeland ausgewandert sind, ge- horen einer hoheren gesellschaftlichen Stuie als die Einwan- derer Australiens an, daher sind Sprache, Auftreten, Lebens- anschauung, Hauseinrichtung vornehmer und jedermann von ausgesuchter Hoflichkeit. Neuseeland ist Englands Wickel- kind, fern von der Mutterbrust gelegen und daher etwas ver- zartelt, und die Neuseelander hangen am Mutterland mit einer blinden Liebe, die riihrend und manchmal auch ein wenig unangenehm ist. Der Australier wiinscht immer — und spricht es offen aus — als Kolonie ganz unabhangig zu sein, macht sich lustig iiber die ausgewanderten Briten, spottet iiber den Oxfordtonfall und fiihlt sich, insbesondere korperlich, iiber die Kinder des kalten Nordens erhaben. Die Neuseelander aber bestellen alles aus England, ahmen alles nach, leben mit jedem Mitglied des koniglichen Hauses mit und sind weit britischer als die Briten. Aus diesem Grunde waren sie damals — aus Ueberlieferung — sehr deutschfeindlich, und das erschwerte mir den Weg. Mit Englandern, mit denen ich in China Oder Japan zusammengekommen war, hatte ich nie Unannehmlieh- keiten gehabt. Einer sagte mir einmal auf dem Postamt: „Wenn wir kampfen, so tun wir es aus Leibeskraften, aber wenn wir ausgefochten haben, geben wir dem Mitkampfer die Hand, und die Sache ist vergessen. Wir haben’s ja aus- getragen.“ Die Neuseelander aber hegten noch bitteren Groll, der indessen nie personlich wurde. Gegen mich waren alle ganz reizend, und nach einer Woche schied ich mit sehr groBem Leid von Wellington, in dem ich mich unglaublich wohlgefiihlt hatte. Es war nicht nur das liebenswiirdige Entgegenkommen schuld daran: es gibt Orte, die einem zulacheln und das Herz schon mit ihrer Luft, ihrem Gestein erfreuen. Durch Maoriland. Die Siidinsel, die sehr kalt ist, hat schon den Charakter unserer Alpenwelt und die schneegekronten Haupter, so nahe 311 den weiten Seen, diisteren Schluchten und seltsamen Wal- dem, erhohen das GroBartige des Eindrucks. Schafherden be- decken die niedrigeren Abhange. Der Kea, der neuseelandische Papagei, der einmal Pflanzenfresser war und nun Fleisch- iresser geworden ist, laBt sich im einsamen Felsgebiet nicht selten auf ein Lamm herab, das er in den Abgrund schreckt oder dem er bei lebendigem Leibe den Riicken aufreiBt, um das Nierenfett herauszufressen. Schon ist — neben den dicknadeligen Araucarien — das sogenannte Lammergras, das aus einiger Entfernung au! dem Felsen genau wie ein schlafendes Lammlein aussieht; aber zu den echten Pflanzenwundern gehort die Pflanzenraupe. Der Same einer Pflanze bohrt sich in den Leib einer ziemlich dicken Raupe ein, ergreift Besitz von der Raupenhaut und fiillt sie mit den eigenen Wurzeln, so daB aus einem Tier langsam eine Pflanze wird. Das Stabcheninsekt dagegen hat Pflanzenform, ist in Wahrheit aber Tier. Man findet zwanzig Zentimeter lange Insekten, so braun und so diinn und genau so knotig da und dort wie ein verdorrter Zweig, und nur die diinnen, langen Beine lassen, wenn sie sich bewegen, erkennen, daB es sich um ein Tier handelt. Die Vogel sind fast alle fliigellos. Sie laufen blitzschnell iiber den Erdboden hin und haben Federn, die eher Haaren gleichen. Vor nicht allzu vielen Jahren (vor Ankunft der WeiBen allerdings) hatte man auf Neuseeland noch die Moa. Das war ein Riesenvogel, von dem noch zahlreiche Skelette vorhanden sind und der weit groBer als der StrauB war. Die Beine allein wirkten wie Baumstamme, und auf dem langen Hals saB ein kleiner, fast gehirnloser Kopf. Heute besteht von dieser Abart nur der braune Kiwi. Das Weibchen legt ein so groBes Ei, daB es oft daran zu Grunde geht; ist es aber gliick- lich zutage gefordert, so ist das Tierchen zu erschopft, um etwas tun zu konnen, daher setzt sich der Herr Kiwi aufs Ei und briitet es aus. Kiwis diirfen nicht geschossen werden, da ihre Zahl erschreckend abgenommen hat. Die Tuotara ist ein Rest der alten Dinosaurier, gliick- licherweise aber nur klein. Die inneren Organe gleichen denen der Schildkrote, das dritte Auge, etwas iiber den beiden anderen, ist in jeder Hinsicht vollendet, aber eine leichte Haut ist dariibergespannt; die Tuotara ist das alteste Lebewesen aus der Urzeit der Welt. Das Tier liegt vierzehn Monate im Ei, ehe es auskriecht, und dann kriecht das zollange Ding zuriick in die Schale und verbringt den Winter darin. Das ausge- wachsene Tier hat eine Lange von zwolf bis vierzehn Zoll, ist etwas faul und blickt auf eine Ahnenreihe von vielen Millionen Jahren zuriick. 312 Diese vollig fremde Tier- und Pflanzenwelt macht deii Hauptzauber der Insel aus, die Gott Maui eines Tages aus dem Meere gefischt haben soil und die daher auch der „Fisch Mauis“ genannt wird. Die ganze Fahrt ist prachtvoll in der Tat, denn die Berg- formen sind ganz merkwiirdig, da spitz wie ein Zuckerhut, dort zerkliiftet, driiben rundgeschliffen wie vom Schleifmesser eines Riesen. Die Ortschaften verschwinden unter Palmen (besonders der sogenannten, kronenbuschigen Kohlpalme) und hinter dem akazienblattrigen, aber feiner gefiederten, dunkleren Miro. Da und dort sieht man die Nikaupalme, die einzige Palmenart, die man bis zum 42. Grad herab findet. Obschon eigentlich der gemaBigten Zone angehorend, hat die Nordinsel subtropische Pflanzenwelt und beinahe subtropisches Klima. Im christlichen Heim. Der Zug erreichte Auckland um sieben Uhr friih an einem Tage des letzten Aprils oder des vorletzten, dennoch war es ungewohnlich kalt, und auch eine Tasse Tee im Heim machte mich nicht warmer. Ich durchwanderte alle StraBen, die bald aufwarts, bald abwarts gehen, wunderte mich iiber die groB- artigen Bauten, argerte mich iiber die krankhafte Sonntags- ruhe und landete frostelnd auf der breiten Briicke, die den Dominiongrund iiberschaut. In der tiefen und breiten Schlucht mitten im Stadtgebiet wuchsen die merkwiirdigsten Straucher, Ranken und Baume, die meine Neugierde erweckten, und aus dem Gewirr brachen, vom Sonnenlicht gekiiBt, die hohen Baumfarne wie hellgriine Feenschirme. Zu Mittag sitzt man nicht an einem gemeinsamen Tisch, sondern man nimmt sich eine Holztasse, legt Teller, Besteck, Butterteller, Schale und ein Wasserglas darauf und macht dem Buffet entlang seine Bestellungen. Dann wahlt man sich ein Tischchen, iBt und zahlt an der Kasse. Praktisch ist es. Sehr behaglich oder billig ist es nicht. Abends fiihrte man mich auf ein Zimmer, in dem schon vier Madchen lagen. Die Fenster blieben offen, und es gab nur drei Wolldecken. Das war fur mich entscheidend. Am nachsten Tage suchte ich acht Stunden lang ein Zimmer und fand es, wenn es auch klein wie eine Mausfalle war und nur Kerzen- beleuchtung hatte. Am folgenden Morgen besuchte ich MiB Jones vom Auck¬ land Star", die Leiterin des Frauenteils der Zeitung, die sehr nett iiber mich berichtete und mich mit einer Dame bekannt machte, durch deren Rat ich zu einem behaglicheren und billigeren Zimmer kam. Ich durfte unten auf dem Gasring kochen, was sehr angenehm war, mich aber nicht zu mehr Leistung als zum Bahen altgewordenen Brotes und zur Tee- zubereitung antrieb. Fur groBere Kocherei besaB ich auch nicht das Geld, nachdem mein Finanzminister sechs bis acht Pence (ungefahr einen halben Schilling) fiir Verkostigung gestattete. Fur das sehr helle Zimmer, das den Hof einer Schule iiber- blickte, zahlte ich zehn Schillinge wochentlich, so daB ein Pfund alles, auch kleine Extraausgaben wie Zwim, Papier und so weiter deckte. Ich wusch mir alles selbst im Badezimmer und raumte auch das Zimmer allein auf. Eine Zeitlang be- wohnte ich das ganze Haus allein, spater zog in zwei weitere Raume eine Mutter mit ihrem dreizehnjahrigen Sohn. Der Junge war nicht ganz vierzehn und verdiente schon ein Pfund wochentlich als Geschaftsjunge, der zeitweilig auch Abschriften anfertigen muBte. Er war nicht wenig stolz darauf und hatte auBer seiner Beschaftigung auch Liebhabereien. Er schnitzte und war Miinzensammler. Ich schenkte ihm einiges Geld. Kinder werden friih selbstandig in den Kolonien. Vor den hochsten Magistratsherren. Ich bin von Natur sehr schiichtern — das glaubt mir der Leser, der meine Abenteuer liest, vielleicht gar nicht — und wenn ich gewuBt hatte, daB der Herr, an den ich so kiihn ge- schrieben, eine fiihrende Rolle in Aucklands Geschicken spielte, wiirde ich eine solche Bitte nie gewagt haben, so aber bat ich ihn — da ich nur von seiner botanischen Tatigkeit gehort hatte — mir die Pflanzen Neuseelands zu erklaren, und er machte wirklich einen langen Rundgang mit mir und ging auf das liebevollste auf die Eigenart jeder Pflanze ein. Ich legte mir daher ein Pflanzenalbum an, das liber achtundachtzig Arten einschlieBt — eine schone Ernte viermonatiger Samm- lung. Nicht genug damit, lud mich Herr P. auch einmal zum Lunch ein, und wir fanden warme Seelenanklange, wo wir sie gegenseitig nicht vermutet hatten: er hatte einen dicken Hund, der seines Herm Stolz und Abgott war und von dessen Seelenleben er mir erzahlte, und da ich auch einmal einen Hund gehabt hatte mit ahnlichen Erscheinungen von Tief- denken, so besprachen wir den Wert der VierfiiBler, verglichen mit dem der Menschen, und gelangten zum Ergebnis, daB die Enttauschungen mit der Mehrzahl der Beine abnahmen. Ich personlich bin uberzeugt, daB mich mein Hund viel selbstloser geliebt hat, als es mir je bei Menschen aufgefallen ist, obschon sehr viele sehr gut gegen mich gewesen sind . . . Aber Giite ist eben nicht Liebe. 314 Dann kehrten wir mit vollem Magen und voller Ueber- zeugung zu den Baumen Neuseelands zuriick, die so eigenartig sind, weil es sich bei ihnen um Reste eines gesunkenen Landes handelt. Vor 3 000 000 Jahren soil Neuseeland der Teil eines riesigen Aequatoriallandes gewesen sein, der sich aus irgend einem Grunde nicht so sehr zerbrockelte und der auch so all- mahlich das gliihende Tropenklima einbiiBte, daB sich die Pflanzen ganz langsam an die Veranderung gewohnten. Palmen ertrugen so das kalte Klima, immergriine Baume widerstehen dem leichten Frost des Neuseelandwinters, und daB auch das Innere einmal groBer und eine Wiiste gewesen sein muB, verrat der Umstand, daB die sogenannte Seller- fichte die ersten echten Blatter nach achtzehn Monaten end- giiltig abwirft und von da ab nur die Blattstengel als Laub- werk tragt. Man findet auf der ganzen Welt nur drei ver- wandte Arten: eine auf Fidschi, eine auf Sumatra und eine auf Neuseeland. Das Holz enthalt einen roten Farbstoff und die Rinde 25 Prozent Gerbstoff. Die verdiinnte rosa Abart soli von Reichsdeutschen in Mengen ausgefiihrt und fiir Damen- handschuhe verwendet worden sein. Die Araucarien, die man nur in Siidamerika und in Australien findet, stammen aus der jurassischen Periode und werden nach dem wilden Volksstamm des heutigen Chile, den Araucariern, so genannt, weil diese den Spaniern so ver- zweifelten Widerstand geleistet und so stachelig und unnahbar wie diese Baume waren. MiB Jones vom Auckland Star besuchte manchmal ein kleines Speisehaus, im ersten Stock eines Baus der Haupt- straBe gelegen, in dem nette Madchen in schwarzen Kleidern und mit weiBen Schiirzen und Haubchen bedienten, und wo man einen ausgezeichneten Rindfleisch- und Nierenpudding er- hielt, dem ein noch besserer Kaffee folgte. Eines Tages bat sie mich, meinen beriihmten Gotzen (nun war er schon be- riihmt geworden!) mitzubringen, da ein Geistlicher der angli- kanischen Kirche sich dafiir interessiere. Ich tat, wie ge- heiBen, und um elf Uhr vormittags trafen wir uns alle im Rindfleisch- und Nierenpuddinghaus. Zu meinem angenehmen Erstaunen war der Pfarrer der Dreifaltigkeitskirche so heiter und liebenswiirdig, daB ich mich sofort zu ihm hingezogen fiihlte, und seine Frau, eine ungewohnlich groBe und stattliche Erscheinung, hatte bei aller Jugend etwas Miitterliches, das wohltat. Der Junge war hiibsch und sonst wie Jungen sind... DaB Kinderseelen engelrein sind, will ich — mit einer ge- wissen Zuriickhaltung — als Wahrheit hinnehmen, aber das ist an ihnen wohl auch alles, was im entfemtesten an einen Engel erinnert. Personlich liebe ich Menschwesen unter acht- 315 zehn mehr auf Ansichtskarten als um mich. Auf Ansichts- karten sind sie namlich bedeutend wohltuender fiir meine laut- empfindlichen Nerven. Ich bin mehr als einmal drei Gassen zu weit gegangen, nur um einem Wesen zu entgehen, das sich einbildete, durch Zuspitzen der Lippen im Weltall einen an- genehmen Larm zu erzeugen. Es ist mir immer aufgefallen, daB Menschen, die geistig hochstehend sind und bei denen der Kopf arbeitet, die iibrigen Auswiichse des Leibes im Ruhe- stand erhalten. Ein gesundheitsstrotzender Mann muB immer trommeln, pfeifen, scharren (wie ein Pferd vor der Krippe, auch bei Konzerten) oder sich sonst irgendwie davon iiber- zeugen, daB er lebendig ist. Ich liebe Menschen, die wie Buddha in der Betrachtungsstellung verbleiben oder wie Dharma, die sieben Jahre vor der Mauer blieb. Ich habe es in der Hinsicht selbst weit gebracht und dabei doch viel ge- sehen .... Nach Bestaunung Li Tie Guais, von dem behauptet wurde, daB ein derartiges Stuck selbst im Britischen Museum fehle (in der Ausfiihrung und gerade aus Speckstein!) und dem Be- kanntwerden mit anderen GroBen Aucklands, verlieBen wir vereint das Puddinghaus und Reverend Coats forderte mich auf, ihn in der Rosengasse zu besuchen, ja, am besten gleich mitzufahren. Nach einigen Tagen erhielt ich die Einladung, aus meiner ungemiitlichen Bude ganz zu ihnen in das Pfarrhaus zu ziehen, und nachdem ich eine Weile iiberlegt hatte, ob ich solch eine Last jemand aufbiirden durfte (Schriftsteller mit ihren Eigenheiten sind immer eine gewisse Last und damals hatte ich die Tugend der Ordnung noch nicht entwickelt), gab ich dem freundlichen Zureden nach und erschien eines Freitags in meinem neuen Heim. Die Herzlichkeit des Ehepaares und der Luftkreis des Friedens taten mir unendlich wohl. Ungliicklich war ich in meinem Zimmer nicht gewesen, denn oft hatte ich schlechtere Raume bewohnen miissen und vor allem — o Qual! — lautere, aber eine tiefe Niederge- schlagenheit bemachtigte sich meiner, so oft ich den sonnigen und abends elektrisch beleuchteten Raum betrat. Ich bin heute noch von dem Gedanken durchdrungen, daB in jenem Zimmer jemand einmal Selbstmord begangen und so die Luft mit un- sichtbaren Kummerwellen vergiftet hatte. Nun wohnte ich oben in der Rosengasse auf dem Kamm der Stadt, im Pfarrhause, und aB einmal so, wie ein Christen- mensch (und selbst ein armer Heide) essen soli, wenn er dar- auf Wert legt, etwas zu leisten. Leben kann man — zur Not — auch von Tee und Brot, aber man merkt den Werken bald die Leere des Tees und die Schwere des Brotes an. Besser ge- fiittert und weniger oft verschreckt und gramgebadet, hatte ich 316 sicher weitaus Besseres geleistet, aber mein erreichbar Bestes zu geben, habe ich nie unterlassen — nicht wenn ich krank, nicht wenn ich ungliicklich, nicht einmal als ich vor dem Selbst- mord war. Darin war ich wie eine Magnetnadel, die ewig nach dem Norden weist. Wieder begann fiir mich in neuer Umgebung ein vollig neues Sein. Morgens kam ein anderer Pfarrer, ebenfalls ein hochgebildeter Mann, und wir eiferten iiber Glaubenssachen. Nie verbittert, immer ergriindend und doch mit einem Hauch von Begeisterung. Manner konnen immer die Ansicht eines anderen Menschen ruhig anhoren, priifen, meinetwegen ver- werfen, aber dariiber weder Aerger noch Enttauschung emp- finden. Ich fiihlte nie Bitterkeit, so verschieden unsere An- schauungen waren. Frau C., als wirklich strengglaubige Christin, konnte sich nie so unpersonlich einstellen. Sie ver- suchte stets ein wenig Bekehrungsversuche anzustellen, aber ein blinder Glaube ohne inneren Beweis der Wahrheit des Ge- glaubten ist mir nie moglich gewesen. Ich bin der ewig Suchende, der priift und forscht und von der Frage des Seins nie hinweg kann und der dennoch keine ganz befriedigende Ant- wort findet, auBer im Glauben an ein unfehlbares Gesetz, das alles lenkt von den Sternen bis zu den Ameisen und das streng an Ursache und Wirkung gebunden ist — keine Bevor- zugung gestattet, wie der christliche Glaube es durch Fur- bitten, ununterbrochene Gebete und so weiter hoffen laBt. Viel- leicht habe ich zu oft nutzlos gefleht, um Vertrauen zu haben. Die Sonntagsjause. Jeden Monat einmal versammelten sich die halbwiichsigen Knaben der Pfarre bei ihrem Pfarrer, aBen eine sehr gute Jause und spielten Spiele. Diesmal wurde ich gebeten, ihnen etwas zu erzahlen, und Herr C., der sich meiner Sprachkennt- nisse freute, hatte eine ganze Menge sehr schmeichelhafter Dinge iiber mich zu sagen, so daB die Jungen scheinbar mit der Ueberzeugung weggingen, jemand AuBergewohnlichen getroffen zu haben. Nach dem Abendgottesdienst horte Herr C., wie die Jungen ihren Eltern vom Nachmittag und vorwiegend von mir erzahlten, die Sprachen nannten, die mir gelaufig waren, meine Mai- und anderen Kenntnisse und meine Reisen. Da sagte eine einfache altere Frau, ihren Schal fester um die Schultern ziehend: „0, du meine Giite, wie unangenehm, eine solche Person kennen zu lernen!" Dariiber lache ich noch heute. Es hilft auch meiner Be- scheidenheit. 317 An einem Dienstagabend, an dem Nahversammlung fiir die Jungfrauen war — einzelne davon wohl schon jenseits des Ver- suchungsalters, wenn es so etwas im wechselvollen Menschen- dasein gibt — erzahlte ich wieder von meinen Reisen und Er- fahrungen und diesmal mit mehr Gliick, denn sie fragten nach- her eingehend nach Einzelheiten, und das ist der beste Beweis echter Befriedigung und Anteilnahme. Im Pfarrhaus zu Takapuna. Es kam eins nach dem anderen: Besprechungen mit Blat- tern und Leuten, Einladungen, Studienausfliige und endlich ein Bekanntwerden mit Quakern und jenen Leuten, die sehr gegen das Kriegffihren waren. Ich bin selbst eine begeisterte Kriegs- feindin. Ich, die ich den Krieg von alien Seiten aus gesehen hatte, alle Stimmen dariiber gehort, alle Laster, die er zeugt und den Krebsschaden, der ihm immer folgt, beobachtet hatte und der es klar geworden war, wie eine von der Massenhypnose zum Werkzeug verwandelte Volksmasse blindlings Vermogen, Ge- sundheit, Sohne, Zukunft hingab, um ein paar Reichen ange- nehm zu mehr Kapital zu verhelfen oder um den Ehrgeiz ein- zelner auf die Beine zu stellen, ich willigte sofort ein fiir den Weltfrieden zu sprechen, obschon mich das mehr aufregte als gewohnliche Vortrage, weil man iiber Ideale sprach, nicht iiber Unterhaltungsstoff, weil man auf Gegner gefaBt sein muBte und weil ich nichts sagen wollte, was das gute Einvemehmen unter den einzelnen Volkern zu storen imstande war. Durch den beabsichtigten Vortrag in der Quakerhalle aber kam ich mit dem anglikanischen Pastor von Takapuna jenseits der Auckland- Bay zusammen. Es war das ein schon gereifter Mann mit sehr abgeklarten Ansichten, der auch selbst Vortrage hielt, schrift- stellerte und fiir den Volkerbund arbeitete. Am Nachmittag hatte ich vor einem Frauenklub gesprocben (das Nervenkitzelndste was es gibt, denn schon die Augen dieser streng richtenden Damen, die im Privatleben oft die Gute selbst sind, sind medusisch), und nun fragte Herr M. schon bei unserem ersten Bekanntwerden, ob ich einen Vor¬ trag in einer Kirche halten konnte. Nein wollte ich nicht sagen,- also sagte ich ja. Ueber diesen Abend muB ich noch in der Erinnerung lachen, denn wahrend der Ueberfahrt sprachen wir fiber Politik im all- gemeinen und fiber den Friedensvertrag im besonderen, und als wir uns Takapuna in dem komischen Zug, der teils Elektrische, teils vorsintflutliche StraBenbahn schien, naherten, wuBte ich noch immer nicht, worfiber ich eigentlich sprechen sollte. Ueber Missionswesen. Gut und schon, aber nach dem, was ich im 318 Osten gesehen hatte, entstand viel iiberfliissiger Streit geradt infolge der Missionen. Auch hatten zum Beispiel die amerika- nischen Missionare stets das beste Haus, das behaglichste Da- sein. Und meine theosophischen Ansichten (oder meine buddhi- stischen) lieBen mich ungem iiber Sachen sprechen, an denen ich innerlich Anteil nahm. Warum sollte ein Glaube nicht so gut wie ein anderer sein, besonders in Landern, wo der unspriing- liche Glaube rein und tief war und dem Volke angepaBt schien? Was war aus den Peruanern geworden, die doch seit vierhun- dert Jahren „bekehrt“ waren und die gewiB als Sonnenanbeter sittlicher gewesen, schon deshalb, weil jeder, der sich an einer Sonnenjungfrau vergriff, lebend begraben, seine Sippe ausge- rottet und sein Dorf dem Erdboden gleichgemacht wurde. Andrerseits .... „Der Vortrag soil vom Leben der Frauen handeln und darf nicht theosophisch sein!“ meinte Herr M. zehn Schritte vor der Kirche. Die Glocke bimmelte schon, und die Organistin legte den FuB aufs Pedal. Mir stiegen die Haare zu Berge. „Soil ich iiber China sprechen?" fragte ich, und der Pastor nickte. Wahrend des ersten Liedes dachte ich krampfhaft iiber die wichtigsten Punkte nach, schied die Schafe von den Bocken (das Erlaubte vom Unerlaubten) und trat, als ich aufgefordert wurde, auf die erste Treppe unter der Kanzel. Alles geht, wenn man will, und die Grundziige aller Reli- gionen gipfeln schlieBlich endlich im Guten, in Selbstverleug- nung, in Bruderliebe und in dem Wunsche, von der Macht der Sinne frei zu werden. Ich erzahlte von den Leiden der Frauen und von den Idealen, die anzustreben waren. Man fand, daB ich einen guten Missionsvortrag gehalten hatte. Der Himmel ist vielfarbig, je nach der Beleuchtung, aber immer ist er das, was iiber uns ist ... . Amen! Die tragische Geschichte vom Huhn. Nach dem Vortrag begaben wir uns ins Pfarrhaus, in dem aber leider die Hausfrau leidend im Bette lag. Ein kleiner, an- genommener Junge und die sechzehnjahrige Tochter richteten den Tisch, und wir setzten uns zum Abendbrot nieder, vor uns — sehr lecker aussehend — ein gebratenes Huhn auf weiBer Schiissel. Wie die meisten Gelehrten war Herr M. den prak- tischen Dingen dieser Welt abhold, und er betrachtete das un- zerlegte Huhn, das zu zerlegen nach englischer Sitte Aufgabe des Hausherrn ist, mit unfreundlichen Blicken, dann schliff er das Messer am Tellerrand, erhob sich feierlich wie zu einer Pre- digt und steckte die Gabel in unseren Braten. Das war aber auch alles, was das Huhn zu gestatten bereit war. 319 Nach einigen Versuchen wandte er sich an mich: „Konnen Sie ein Huhn zerschneiden?“ Nun wuBte ich wohl, zu welcher Abart ein Huhn zoologisch gehort, nicht aber, wie man es anatomisch zerlegen soil, und daher lehnte ich die Aufgabe ab. Die Tochter naherte sich, nach strenger Aufforderung, mit berechtigtem MiBtrauen dem braunen Ding auf dem Tisch, holte indessen das lange Kiichen- messer, begann . . . und landete das Huhn unzerschnitten auf dem Tischtuch. Es endete damit, daB Herr M. das Schwanz- ende hielt und wir mit beiden Handen an Fliigeln und Beinen rissen, und selbst da lief uns der SchweiB herab, ehe wir jeder mit einem Stiick im Besitz blieben. Es ist eine wahre Geschichte, daB von einem Dinge die Teile wie das Ganze sind, und die Henne weigerte sich auf dem Teller so hartnackig gegen Messer und Gabel wie im einstigen Ganzzustand. Der Junge wurde in die Kiiche geschickt, um dort in Einsamkeit nach Art unserer affigen Vorfahren vorzu- gehen, aber auch wir fanden uns bald bemiiBigt, die Zahne zu gebrauchen und den Knochen mit aller Kraft mit den Handen test zu halten. Immer unterdriickte ich tapfer das Lachen, doch als der Pfarrer aufstand und mit bedauerndem Kopfschiitteln erklarte, seinen besseren Satz Zahne aus dem Schrank holen zu miissen, war es vorbei. Da lachte ich bis zu Tranen. Obschon wir hochst wenig aBen, schmeckte mir dieses Huhn wie nur selten eins. Die Fahrt nach Henderson. An eine andere lustige Episode mit Herrn M. erinnere ich mich. Um dreiviertel sieben eines Abends, bald nach dem offentlichen Vortrag fiber Weltfrieden, klingelte er an und fragte, ob ich ihn in zehn Minuten nach Henderson begleiten und dort einen Reisevortrag halten konnte. Ich stand auf dem Stuhl neben dem Fernsprecher (zu klein, den Trichter sonst zu erreichen), die Serviette in der Hand, denn wir waren eben beim Speisen. Ich sagte ja, sprang herunter, kleidete mich schnell in die einzige Vortragshaut, ein braunes Seidenkleid aus Botschaftstagen, und saB eine Viertelstunde spater im Wagen. Nun hatten wir uns immer viel zu erzahlen und allerlei Interessantes zu besprechen, denn Herrn M.’s Kenntnisse waren sehr vielseitig, und in wachsender Begeisterung vergaBen wir immer wieder, daB der Weg nach Henderson iiber eine elende StraBe voll Ruckeln geht und daB ein Kraftwagen uns dariiber hinweg beforderte. Mitten in unserer Begeisterung flogen wir vom Sitz auf und mit einem wahren Mordskrach gegen das 320 harte Dach des Gefahrts. Es wundert mich, daB uns Verstand genug blieb, noch zu sprechen, als wir nach einer Stunde fin- sterer und abenteuerlicher Fahrt in Henderson ankamen. Herr M. sprach zuerst und fuhr sofort zuriick. Ich iibernachtete in Henderson, wo sehr viele Jugoslaven ansassig sind und Damar suchen (das herrliche Harz der Kauripinie). Sie wohnen in- dessen in der Umgebung, und ich suchte sie nicht auf, weil ich nicht wuBte, welche der drei Sprachen sie sprechen wiirden und ob ihr Entziicken iiber mich letzten Endes so groB sein wiirde. Von diesem sonderbaren Umstand, daB man heute in Europa eine PaBheimat und eine andere Sprachheimat haben kann, hat man in Ausland keine Ahnung, und das konnen die guten Neuseelander und viele andere Volker nicht begreifen. Nirgends auf der Welt beinahe (auBer in Sydney) fand ich einen Konsul, aber jede Behorde ist mir aus dem einen oder dem anderen Grunde ein wenig Tante (und wie solche nicht immer zu freundlich), nur die britische nicht, aber wenn ich wirklich in Verzweiflung war, lief ich als Frau zum Lowen, und er beschiitzte mich. Die Maoris. In Auckland oder Wellington selbst sieht man nur verein- zelte Eingeborene. In der Regel sind es Mischlinge, die in- dessen oft eine bessere Kreuzung verraten, als dies in solchen Fallen sonst vorkommt — vielleicht weil die Maoris Polyne- sier sind und diese vor etwa dreitausend Jahren aus Nord- indien eingewandert sein sollen, also doch Arier und eine uns daher seelisch und korperlich verwandte, wenn auch dunkle Rasse sind. Will man die Maoris in ihrer Urspriinglichkeit in ihren Whares oder Hiitten finden, so muB man sich schon dem Busch anvertrauen und unter Baumfamen, dem nadelartigen Rimu und der schonen Kahikatea, dahinwandern, ehe man sie entdeckt. Vieles aber von ihrem Denken ist in die Sprache iibergegangen, und die enge Beriihrung mit den Eingeborenen, zwischen denen nicht wie an anderen Orten, eine so scharfe Farbgrenze gezogen ist, hat einen gewissen mystischen Zug in die dortigen WeiBen gebracht. Geht man durch den Abendwald und singt man zufallig (doch nicht ich, deren Stimme einem von Bronchialkatarrh befallenen sterbenden Hahne gleicht), so heiBt es augenblicklich: „Nicht singen, denn es reizt die Elfen; sie glauben da leicht, man verspottet sie.“ Dm sie abzuschrecken, ruft man auch wohl: „Fliisternde Geister des Westens, wer brachte euch in unser Land? Steht auf, steht auf und entfernt euch, ihr fliisternden Geister des Westens." 2 ( 321 Ebenso wenig kann man an einer Pohutukawa mit ihren stark gesenkten Aesten vorbeigehen, ohne sich zu erinnern, daB an solch einem Baum herab die Geister zum auBersten Rand des nordlichsten Kaps klettern und von dort aus nach Te Reinga springen, das auf dem Meeresgrund gelegen zu sein scheint. Einmal stieg eine Frau, die noch nicht tot war, in Te Reinga hinab und sah drei Wachter um ein Feuer gelagert. Schnell ergriff sie eine Fackel und eilte in das noch feuerlose Land der Lebenden zuriick, verfolgt von den Wachtern, denen sie Kumara (SiiBkartoffeln) zuwarf, um sie abzulenken, doch sie erreichten sie. Da schleuderte sie den Feuerstab hinaul und er blieb am Himmel hangen, von wo er uns noch leuchtet. Lauft die Gansehaut iiber den Riicken eines Bekannten und schiittelt er sich, so sagt man augenblicklich, der Geist seiner Vorvater sei warnend in ihn gefahren. Die Sprache der Maoris ist melodisch, ahnelt der der Hawaiier und hat schone Vergleiche. So sagt man fiir Aequa- tor „ Sonnenkreuzungsplatz", fiir Mars „der Rotgesichtige", fiir einen Kometen „Vogel der Sonne". Sie haben auch weise Sprichworter: „Wenn die Trommel zum Fest schlagt, laB dein Trommelfell nicht dick sein!“ oder „Er bleibt ein Papagei, ob er gebraten oder roh gegessen wird“, oder „die GroBe deines Fisches hat dich abspenstig gemacht" (dein jahes Gliick machte dich iibermiitig), „er ist den Pohutukawabaum hinabgeglitten" (gestorben). Kostlich ist es auch, daB die Maoris „Feensand“ fiir Zucker, „Feenbimstein“ fiir Kuchen sagen. In Rotorua — dem „diinnen Kratersee“. Eines Tages erhielt ich eine Einladung des Pastors von Rotorua, im Herzen des echten Maorilandes, das sich mitten im Geisergebiet befindet, auch dort iiber Weltfrieden, japani- sche Kunst und meine Reise im allgemeinen zu sprechen, und eine Woche sein Gast zu sein. Mein Biindelchen war schnell geschniirt, und um acht Uhr friih saB ich im Zuge, um erst gegen Abend meinem Ziele naherzuriicken. Wir machen uns hier keinen richtigen Begriff von den Entfernungen. Rotorua liegt abzweigend von der HauptstraBe mitten zwischen Auck¬ land und Wellington, und so klein die Insel auf der Karte auch aussieht, in Wirklichkeit fahrt man von einem Ort zum anderen im Eilzuge so lange wie von Wien bis Hamburg und hat noch nicht das Ende der Nordinsel erreicht. Die Fahrt ist herrlich, denn einmal dehnen sich Land- besitzungen mit Aeckem, Wiesen voll Herden, dichter Busch 322 vor dem Beschauer, einmal klettert der Zug die Felsen empor und ist von braunen Steinmassen umgeben, aus denen aber die Tistaude mit ihren weiBen Bliiten, viele Flechten und Moose, zahllose seltsame Schlingpflanzen und viele Wasserchen brechen, die in kleineren und groBeren Fallen das Bild ver- schonen. Das HeiBquellengebiet liegt tausend Meter iiber dem Meeresspiegel. Jetzt, im Juli, also mitten im siidiichen Winter, fand man in den Spriingen glitzernde Reifmassen, und abends war der Boden des Ortes von Rotorua schneeweiB von Frost, obschon es nie schneite. Ich wurde abgeholt und saB gar bald im warmen Pfarrhaus bei der beinahe blinden alten Dame, deren Schwester in Deutschland verheiratet war, weshalb ich hier auf keinerlei Vorurteile stieB. Ins Bett wanderte ich mit einer Warmflasche, aber den Vorschlag, bei offenem Fenster zu schlafen — etwas chronisch Britisches und das einzige, woran ich mich nie gewohnt habe — lehnte ich dankend ab. Mir ist lieber viel weniger Luft und etwas weniger Kalte. Ich bin ja kein Walfisch, der sich auf einmal mit einer groBen Menge Luft anfiillt .... Jeden Abend sprach ich irgendwo anders, am Mittwoch iiber Weltfrieden, und es war trotz des Ofens so kalt im Saale, daB meine Zahne zum SchluB klapperten und die Besucher an Stelle eines Muffs eine Warmflasche in der Hand hielten. Man spricht namlich in den Antipoden wohl nur eine Stunde, aber man hat nachher eine sogenannte „Discussion“ oder Be- sprechung, und die Kraft des Vortragenden zeigt sich erst am SchluB, denn nun muB er nicht nur alle Fragen beantworten, sondern er muB auch den Gegner besiegen. In meiner Familie ist miitterlicherseits ziemlich viel Zungenfertigkeit ein ererbtes Talent, und im Notfall bricht das durch das Schweigen meiner vaterlichen erblichen Bela stung. Ich habe noch immer meine Gegner niedergeredet, selbst die weiblichen, was bedeutend schwerer ist. Da hatte ich zum erstenmal Gelegenheit zu sagen, wie un- gerecht die Pressenachrichten iiber Deutschlands Grausamkeit waren, und erzahlte von dem schwarzen Heer an der Rhein- grenze. Ich bin gegen Rassenmischung, und ich sprach mir dariiber fast die Seele aus dem Leib, aber so, daB auch die an- wesenden Franzosen nichts einwenden und auch nicht verletzt sein konnten. Mit protzenhaftem Vorkehren irgend welcher Tugend erreicht man im Leben nichts, und wahrer Volkssinn ist der, der den Gegner von selbst — durch die Umstande — zum Ausruf zwingt: „Was fur ein groBes, starkes Volk!“ Dann namlich glaubt es der Betreffende .... 2f* 323 Ich bin zum Schrecken kosmopolitisch abgeschliffen, aber oft unterdriickte ich eine bissige Antwort, ein heftiges Vor- gehen, eine vielleicht wenig groBmiitige Handlung, weil ich mir sagte: „Nach dir wird man auf dein Volk schlieBen — dein sprachliches und dein paBpolitisches, und nicht nur du, sondern alle werden dadurch beschamt werden!" Das lieB mich in volki- schen Zankereien immer schweigen, so ungern ich es tat, aber oft horte ich auch, viele Monate spater, von ganz anderer Seite, daB man darauf gekommen war, daB deutschsprechende Wesen wirklich nett, bescheiden und hilfsbereit sein konnten. Sein Volk geistig groB und gut hinzustellen — das ist meiner Ansicht nach die echte und einzig erlaubte Vaterlands- liebe. Vor den entschwundenen Terrassen. Jeden Abend und an manchen Nachmittagen sprach ich, aber immer machten wir weite Ausfliige in die Umgebung; je weiter, desto schoner. Die Leute waren gut und holten mich im Kraftwagen ab, und eines Tages fuhren wir an den beiden Seen voriiber hinaus ins Tal von Rotomahana und iiber Berge und durch Schluchten zu FuB bis zum See Tarawera, zu dem vor kaum vierzig Jahren die wunderbaren weiBen und rosa Terrassen fiihrten, die ganz aus Tropfstein gebildet und wie Becken waren, in denen sich das Wasser fing, ehe es iiber den Rand in diinnen Wasserfalien weiterlief und groBere, tiefere Becken fiillte. Nach Beschreibungen zu urteilen, miissen die Terrassen etwas Wunderbares gewesen sein. Ein furchtbares Erdbeben zerstorte sie Ende der achtziger Jahre. Aber auch der Gang zum See, dessen Uferabhange dampfen und in den viele heiBe Quellen miinden, ist etwas GroBartiges. Man geht durch eine Schlucht und dann, aufsteigend, zuletzt auf einer Berghohe, von wo aus man in den Krater eines Geisers sieht. Man darf sich ihm nie zu sehr nahern, weil er — selbst wenn er lange nicht aufgeschossen war — plotzlich rege werden konnte. Vor Jahren stieg jemand hinab, um etwas am Rande zu suchen, vernahm unerwarteterweise ein Rollen, wich zuriick, sah den riesigen, schneeweiB wirkenden Wasser- strahl hochschieBen und wurde von den sturzenden, kochenden Massen keine zwanzig Schritte von den verzweifelten Ange- horigen in die Erdtiefen gerissen: gekocht! Aber man braucht nicht vor dem groBten der Geiser zu stehen, um vor dem Wirken der Erdgeister Achtung zu be- kommen — die kleineren Springbrunnen der Natur, die quak- senden, glucksenden Schlammlocher, die siedenden Bache tun 324 es auch. Mit einem ganz eigentiimlichen Gefiihl geht man durch die wenig bewachsene, aus den merkwiirdigsten Steinbildun- ^ten zusammengefiigte Schlucht und bemerkt neben sich den hellen FluB, aus dem ein feiner Dampf aufsteigt, der aber so heifi ist, daB man darin nicht baden konnte. Aus dem Gestein dringt, zwischen zwei Pflanzen, ein feiner, geisterhafter Dunst, in einer finsteren Hohle brodelt es, und man merkt starken Schwefelgeruch; in den Bergen selbst scheint es zu drohnen wie fernes Kampfgetose, und ein Wasser kann eiskalt, das nachste siedend sein. Dariiber der blaue Himmel, die fremde Pflanzenwelt, ein brauner Maori, der vielleicht noch Menschen- fresser war, und endlich der machtige See Tarawera . . . Mehrere feuerspeiende Berge umgeben ihn, und einige tragen Schnee, wahrend andere kahl und schwarz aus dem Hellbraun der Umgebung stechen wie ein offenes Maul, das auf Beute lauert. Auf dem Berg Tarawera selbst haust ein bbser Geist, und niemand wagt es, den Gipfel zu ersteigen, denn man meint, das entsetzliche Erdbeben, das die Terrassen zerstort und die Erde vielseitig gespalten hatte, entstand da- durch, daB ein Verwegener zum Gipfel des Berges wollte und der Erdgeist ihn mit all dem Schiitteln in verdiente Tiefen stiirzte. Der See, der heute eine riesige Flache bedeckt, war damals nicht vorhanden. Schrecklicher Gedanke, auf einem Boden zu stehen, der heute noch, wie die Erde in Urzeiten, un gefestigt ist. Ein Kracher, und es versinken Berge, offnen sich Schluchten, bilden sich Seen, wo Land war, und schlieBen Strome siedenden Wassers zischend vierzig FuB hoch in die Luft. Der Wasserfall des Flusses beim noch weit groBeren Tauposee ahnelt dagegen dem Rheinfall bei Schaffhausen. In Whakarewarewa. In einer knappen Stunde ist man von Rotorua in Whaka¬ rewarewa, einem echten Maoridorf, in dem die Leute noch so leben, wie sie es seit altersher gewohnt sind. Einige machen aus dem knisternden Gras die beriihmten, sehr teuren Gras- rocke, die bei Tanzen und friiher im Kriege, von Mannern ge- tragen werden und die so eigentiimlich rascheln wie Wind im Schilf. Andere stellen aus feinem Neuseelandflachs (der fliich- tig an Sisal erinnert, aber weichblattriger ist und hoher wachst und nur auf der Nordinsel vorkommt) die wertvollen Matten- mantel her, die in alter Zeit unsere Gewander ersetzten und die mit schwarzen, haarartigen Fasernbiischeln geschmiick( werden. Wieder andere flechten sehr hiibsche Korbe aus Flachs, dem Harakeke, dessen Bliiten einen honigartigen Saft ent- 325 halten und dessen Blattenden einen Saft ausscheiden, der als Leim und als Siegellack verwendet wird, wahrend die trocke- nen Bliitenstengel so gut und langsam brennen, daB man sie als Fackel benutzt, wenn man nachts weit zu gehen hat. Es gibt in Whakarewarewa so viele Geiser, daB man kaum weiB, wo man beginnen soil; manche spielen taglich, andere nur einmal in Wochen, doch in den verschiedenen Lochern brodelt es immerzu, und man sieht im Schlamm merk- wiirdige Bildungen — einmal wie Lotosbliiten, einmal wie Birnen. Daher fiihren die Quellen verschiedene Namen, die eine nach den darin entstehenden Lauten sehr treffend „das grunzende Schwein" genannt. Wir traten in mehr als eine Hiitte (die dortigen Missionare fiihrten mich), und die Frau eines Hauptlings, die noch blau- tatowierte Lippen hatte (ohne solche Lippen durfte kein Mad- chen heiraten), erzahlte uns freimiitig von alten Zeiten. Sie erklarte ernsthaft, daB das Haar ihres verstorbenen Gatten so heilig gewesen war, daB, wer immer es, wenn auch unabsicht- lich beriihrte, an der Heiligkeit zugrunde gehen muBte, und fiihrte verschiedene Falle an, zeigend, daB der Schuldige ein oder zwei Tage spater einem MiBgeschick sonderbarster Art erlegen war. Die Heiligkeit des Kopfes ist namlich ein polynesischer Glaube, und der Tohunga, der Zauberpriester, der immer ab- seits von alien Leuten leben muBte, war so liber alle Begriffe hinaus heilig, daB er nicht einmal mit den eigenen Handen den Kopf beriihren durfte, weshalb er durch den Zaun gefiittert wurde. Die Kumaras (heiBe Kartoffeln) wurden auf einen Pfahl gesteckt und ihm so in den Mund geschoben. Heute gibt es ganz vereinzelte Tohungas, denn die meisten Maoris sind — dem Namen nach wenigstens — Christen, doch geheime Verzauberungen, von alien geglaubt, sind noch haufig, und wie alle Naturvolker sind die Maoris sehr psychisch. Imkochenden Dorl. Weit mehr Eindruck als Whakarewarewa, das schon ein wenig touristenmaBig zugeschnitten ist, macht mir das kleine Nachbardorf von Rotorua, das wir nachmittags besuchten und das auf so heiBem Boden gelegen war, daB die Ledersohlen schmorten und der Dampf da und dort aus dem Fufiboden kroch. Manchmal hatte man in der Tat das unangenehme Empfinden, auf einer Tortenkruste zu gehen, die jeden Augen- blick einstiirzen konnte. HeiBe Quellen, heiBe Bache, heiBe Tiimpel iiberall. In einem solchen stand nackt ein kleines Kind mit traurigen Augen — eine frostelnde Auszehrende, die 326 den ganzen Tag im heiBen Wasser verbrachte... In anderen Steinbecken jauchzten Kinder, in einem anderen, ebenfalls dampfenden, wuschen Frauen, und in den engeren Lochern hingen an langen Schniiren mit Tiichern urabunden irdene Kochtopfe, in denen das mit Gemiise gemischte Fleisch lang- sam gar diinstete. Keine Art der Zubereitung ist so wohl- schmeckend, und in alten Zeiten wurden in dieser Gegend auch die Menschen so schmackhaft zubereitet. Teekessel stehen bis zur Halfte im Bach, und bald siedet das Wasser. Die Leute sind so rein, weil es eine Freude ist, ins Bad zu springen, das immer schwefelhaltig ist und die Haut weich wie Samt macht. Eine Maoritrau schenkte mir Poiballe — aus Bast ge- machte Kugeln an langer Schnur, mit denen sich die Tanzer beim Poitanz im Takt schlagen, was ein lautes und nicht un- angenehmes Gerausch verursacht. Aber mein Hauptabenteuer hatte ich mit den vier alten Mattenflechterinnen, die sich bei meinem Eintritt erhoben, den alten Willkommenstanz mit dem reichen Gebardenspiel des Mattenauflegens fiir den Gast, des Schalenanbietens und ande- rer Zeremonien tanzten. Dann sprangen sie auf mich zu und gaben mir Te Hongi, den WillkommenskuB, was aber in Maori- land ein sanftes Reiben der Nasenwande bedeutet und bei Schnupfen nicht sonderlich angezeigt ist. Wir baten einige Manner, ein paar Schritte aus der Haka aufzufiihren, dem beriihmtesten Kriegstanz alter Menschen- Iressertage, bei dem die Zungen herausgestreckt werden, um voile Verachtung auszudriicken und wobei ohrenartige Ver- langerungen an einer Stirnbinde den Schmuck bilden. Gri- massen in diesen ganz und gar tatowierten Gesichtern wirken schauerlich. Ebenso unheimlich war es mir, als neben der Kirche, in der man groBartige geschnitzte Kirchenstiihle aus prachtvollem Holz findet, aus einem Grab feiner Rauch wie ein entweichen- der Geist aufstieg. Also wurden selbst die Toten an diesem Ort noch gediinstet. I m Bad. Aber auch in Rotorua selbst, im Pfarrhaus, auf der StraBe, im schon angelegten Park, nachts bei Reiffrost, war es schon. Man sah von mancher Stelle aus direkt auf den weiten See und erblickte die Insel, wohin die schone Hinemoa geschwom- men kam, nachdem die Eltern verboten hatten, daB sie die Gattin Tutanekais werde, der jeden Abend um ihretwillen so riihrend auf einer Flote spielte, die aus dem Armknochen eines Tohungas namens Te Murirangaranga gemacht war und heute im Aucklandmuseum aufbewahrt wird. Sie war, so sagt das 327 Marchen, „schon wie ein wilder weiBer Habicht und scheu wie ein wilder weiBer Reiher". Tutanekai traf sie friih am Morgen zitternd vor Kalte und vollig nackt vor dem kleinen, warmen Pfuhl unweit seiner Whare. Er warf den Federmantel um sie und fiihrte sie in sein Haus, wodurch sie nach Landessitte seine Frau wurde. So schwamm die tapfere Hinemoa nachts von Ohinemutu, dem kochenden Dorf, drei Meilen bis nach Mokoia . . . Abends bat ich immer, zur Belohnung ins Bad gehen zu diirfen. Da um neun Uhr niemand mehr badete, hatten Frau Ch. und meine Wenigkeit das Becken fur uns. Es war immer an die 39 bis 40 Grad, und es dauerte ein wenig, ehe ich unter- tauchte, aber einmal darin, wollte ich nicht wieder heraus. Nach einer Viertelstunde wurde man indessen so schwach, das Herz klopfte so laut und die Knie zitterten, daB man gern wieder herauskroch. Es erwarmte mich fur eine ganze Stunde. Ich weiB nicht, warum, aber Juden sind unterwegs immer so ungewohnlich gut gegen mich gewesen. Bevor ich abreiste, besuchte uns ein reicher Geschaftsmann und wiinschte, mit mir allein zu sprechen. Als ich ihm in der Pfarrschreibstube gegeniibersaB, sagte er mir, daB er sich auch fur Theosophie in- teressiere und daB ich eine lange und anstrengende Reise vor mir hatte, daB ich erfroren ausschaue und gar nicht zu stark und-kurz, er ging, doch nicht, ehe er mich in zartester Weise bewogen hatte, drei Pfund Sterling zu behalten. Er kam urspriinglich aus RuBland. Die Frau Pastor schenkte mir zum Abschied ein neues Paar Schuhe, das fur sie zu klein, fur mich, bei meiner Eitel- keit aber zu groB war, und das ich lange im Koffer verborgen herumschleppte, bis ich in der Siidsee im Busch herumwandern und Lederschuhe haben muBte. Diese erst iiber die Achsel an- gesehenen Schuhe dauerten bis an die Menschenfressergrenze und wurden an der Kiiste von Neu-Guinea feierlich beerdigt. Es ist eine Eigenheit sowohl Neuseelands wie Australiens, daB, wer ein Zimmer mietet, es auch aufraumt, und zwar ganz tadellos. Diese in Sydney erworbene Tugend begann in Auck¬ land ganz leise (aber noch sehr schwach!) zu keimen. Ich wischte, wo ich war, die Teller ab, denn es ist auch bei besser- gestellten Leuten Sitte, selbst zu kochen und selbst abzu- waschen, da die Dienstbotenfrage sehr schwierig ist. In der Rosengasse hatten wir eine — ein freches, hochmiitiges Ding — das zweimal wochentlich von eins bis zehn Uhr abends Aus- gang wollte und auBerdem noch an Dienstagabenden auf zwei Stunden verschwand, das immer mit „Bitte sehr!" zu jeder 328 Handreiehung aufgefordert werden mufite und das selbst den Pfarrer anschnabelte. In anderen Hausern kochte die Dame selbst und fand dabei immer noch Zeit, Vorlesungen zu be- suchen, sich weiter zu bilden, Klavier zu spielen und sogar oft noch einen Beruf auszuiiben. Sobald wir gegessen hatten — nach englischer Sitte war die Hauptmahlzeit meist am Abend, wurde aber „Tee“ genannt und fand meist schon um sechs Uhr statt — begaben wir uns in die Kiiche, die Hausfrau wusch, die Tochter schwemmte, und die mannlichen Mitglieder trockneten das Geschirr ab und raumten es weg. Aufgabe der Briider war es immer, die Hiihner zu fiittern, die Eier zu suchen, die Kiihe zu melken, und sehr oft, wenn die Frau anderweitig in Anspruch genommen war, muBte sich der Mann hinstellen und das Mittagessen kochen. Seine Knopfe nahte er sich selbst an und war iiberhaupt nicht das hilflose Wesen, als das er meist in Europa herumlauft. Ich habe mir seither geschworen, nur einen Neuseelander zu hei- raten. Gleichzeitig aber erfafite ich erst, was es bedeutet, „ab- gerundet“ zu sein, daB heifit, auf geistigem und auf korper- lichem Gebiet seinen Mann zu stellen, und das war der Ursprung meiner heutigen (noch immer bescheidenen) Hausfrauen- tugenden. In Whangaroi. Etwa sieben Stunden Eisenbahnfahrt nach Norden bringt den Reisenden nach Whangaroi, dem „Tor des Nordens", mit seinen herrlichen Kauriwaldern und dem warmeren Klima (je nordlicher, desto warmer!). Ich hielt auch da Vortrage und wohnte bei lieben Freunden. Morgens wollte ich nach meiner erprobten Art das Bett mit zwei kunstlerischen Rucken in Ordnung bringen, was Frau G. aber lachend vereitelte, indem sie alles Bettzeug aufs Fensterbrett warf. Zur Entschadigung erhielt ich abends die Warmflasche ins Bett, umsomehr als ein Teil des Fensters of fen blieb. Am letzten Tag hatten wir einen Unfall im Kraftwagen — wir fuhren ein Kind nieder und brachen ihm das Bein. Wir waren alle derart erschiittert, daB wir den Zug versaumten und ich zwei Tage spater nach Auckland zuriickkehrte. Dort fand ich Frau C., mit der sich eine leichte Spannung ergeben hatte, krank. Schon einmal hatte ich den Fidjidampfer versaumt — nun drangte es mich um jeden Preis, Auckland zu verlassen. Man war sehr gut gegen mich gewesen, aber Schriftsteller und Forschungsreisende sind nicht die angenehmsten Hausgenossen. 329 Ich schwamm immer unter Pflanzen, die an Wanden, unter Tischen und dem Bett trockneten; ich hustete noch immer trotz aller Arzneien aus einer chronischen ererblen Schwache her- aus, die nur der echten Tropenglut wich; ich klapperte auf der Maschine, und ich war ewig in irgend etwas versunken — zu- dem Friedensapostel — — und merkwiirdigerweise verzeihen gerade Frauen viel weniger Eigenart im Denken als Manner. Herr C. blieb bis zum SchluB reizend gegen mich, und meine Aucklandfreunde, die theosophischen, bahaiischen, christlichen und heidnischen halfen mir, gaben mir gute Ratschlage, und eine Dame lieh mir eine bedeutende Summe, damit ich sie in Fidji vorzeigen konne. Man darf namlich nur landen, wenn man auBer den ohnehin bei der Schiffsgesellschaft hinterlegten zwanzig Pfund noch weitere zwanzig Pfund vorzeigen kann. Ich schickte das geborgte Geld mit dem nachsten Schiff zuriick und begann mein abenteuerliches Inselleben, den wichtigsten Teil meiner Weltumseglung. 330 SchluOwort. Nach nahezu vier Jahren einer ungewohnlich gefahrvollen und entbehrungsreichen Forschungsfahrt sollte ich endlich das ersehnte Siidseeinselgebiet betreten und da Erfahrungen ent- gegengehen, wie man sie nur erleben kann, wo Volker auf niedrigster Entwicklungsstufe gewissermaBen ein Urzeitdasein fiihren, wo die seltsamsten Sitten und Gebrauche herrschen, das Menschenfressertum noch nicht erloschen ist und wo man — einzig noch auf diesem abgelaufenen Erdball — ganz abge- schnitten von der AuBenwelt bleibt. Ich betrat dieses hochst eigenartige, gefahrliche und zum groBten Teil auBerordentlich ungesunde Gebiet seelisch und korperlich geschwacht, mit allzu knappen Mitteln und mit einer ungeniigenden Vorkenntnis von den ungeheuren Ver- kehrsschwierigkeiten. Ich wollte nur sechs oder acht Monate in der Siidsee verweilen; ich verlieB sie erst nach mehr als zwei Jahren ungeahnter Erlebnisse, mit einer auf immer ge- brochenen Gesundheit und nach haarstraubenden Schreck- nissen, aber jeder einzelne Tag war eine Schule, ein Weiten meines Gesichtskreises. Die Menschen, die Tiere, die Pflanzen sind so vollig verschieden von alien iibrigen Erdstrichen, und der Aberglauben vieler Jahrhunderte liegt wie eine Weihrauch- wolke auf diesen unzahlbaren Inseln und Inselchen des Stillen Ozeans. Ich mochte mich daher gem dem Hoffen hingeben, daB die Leser, die bis hierher geduldig meinen Schicksalen gefolgt sind, mich nun auch durch den zweiten und fesselndsten Teil meiner Forschungsreise begleiten werden, der im Friihjahr 1930 er- scheinen soil. 331 Neuerscheinung 1930 Eine Kompagnie Soldaien In der Holle von Verdun Von Alfred Hein 336 Seiten Text / 14. Tausend In Ganzleinen gebunden Preis RM 6.— Hier spricht die Front, so wie sic wirklich war! piner, der in vorderster Front, on gefShrdefster Stelle, als Meldelfiufer bei seiner Kompagnie die schlimmsfen KSmpfe um die HOhen 304 und „Toter Mann" mitmachte, ein Dichter, schenkte uns dieses Buch. — Verdun 1916. Die Hfille iui sich auf. In Trommelfeuer und Todesnoi, Sturmangriff, granatenumfobi, die Schicksale und erschfittemden Erlebnisse einer Kompagnie, einer von den vielen tausend Kompagnien, die vorn standen. Unvergesslidie Szenen von erschQtternder Einprfigsamkeit. Grauen und VerwQsfung, das Dfimonische und Unabwendbare des Schicksals. Dazwisdien Ruhetage, fiber denen Frfihling und Leben wie eine letzte Verklfirung liegen. Dann wieder Patrouille, Meldelouf, un- endliche Einsamkeit im weifen TridifergelSnde. — Nicht ein Einzelner ist der Held des Buches. In vielen grundverschiedenen Charakteren, primi- tiven, komplizierfen, in der Seele des einfachen Mannes und des Ffihrers, des ehrgeizigen DraufgSngers und des ffir die ihm anvertrauten Menschen- leben besorgten, menschlichen Offiziers spiegeli sich das gewaltige Er- lebnis des Krieges. Etappe und Heimaf werden mit einbezogen und runden in ihrer Kontrastwirkung das grofee farbige GemSlde ab zu einem so umfassenden Gesamfbild, wie es die ganze bisherlge Kriegs- literatur noch nicht gegeben hat. Ueber allem aber steht der heilige Geist der Kameradsdiaft, ein sillies Heldenfum ohne Pathos, ohne grobe Worfe, das den Leser im Innersten ergreift. Es ist ein sfarkes, mfinn- liches Buch, das in aller Todesnot den Kopf oben behfilt, ein Budi, dessen ehrliche sdifine Frontgesinnung wir heute braudien kfinnen in dem ISrmenden Konjunkturbeirieb, der schon wieder trotz des Krieges die Welt beherrschf. Durch alle Budihandlungen zu beziehen Wilhelm Kohler Verlag, Minden in Westfalen Neuerscheinungen 1930 Von der Verfasserin dieses Buches ersdieini im Frtihjahr 1930: Im Banne der Sudsee Die Tragodie einer Frau Von Alma M. Karlin 336 Seiien Text / Mit einer Karte In gleicher Ausstattung wie „Einsame Weltreise" In Ganzleinen gebunden Preis RM 6.- Die beiden Bande „Einsame Weltreise" und „\m Banne der Sudsee" erscheinen zusammen in Kassette unter dem Tiiel: WeUerlebennrfWeUerlelden Die Tragodie einer Frau Von Alma M. Karlin 2 Bande / 672 Seiten Text In Ganzleinen gebunden Preis RM 11.— Jeder Band ist in sich abgeschlossen In jeder Buchhandlung vorratig Ausfuhrliche Verlagsprospekte kostenfrei Wilhelm Kohler Verlag, Minden in Westfalen Neuerscheinungen 1930 Hermann ions’ Ingendzeif Erzahlt von seinem Bruder Ernst Lons 240 Seiten Text / Mit 4 Bildtafeln / 20 . Tausend In Ganzleinen gebunden Preis RM 6.- Hermann LOns’Mannesiahre Sein LeUen u. Sdiaffcn bis zum fragistiien EnsSe Erzahlt von seinem Bruder Ernst Lons 240 Seiten Text / Mit 4 Bildtafeln / 12 . Tausend In Ganzleinen gebunden Preis RM 6.- Beide Bande zusammen in Kasseite: Hermann 10ns. Eln Dfditcrlebcn Erzahlt von seinem Bruder Ernst Lons In Ganzleinen gebunden Preis RM 11.- Das schonste Geschenk fur alle Gelegenheiten Wie die Presse urteilt: VLfer L 6ns verstehen will, greife vor allem nodi dem Budi, das ihm sein Bruder Ernst LOns widmeie. In didiferisdier Sdiau und Spradie erzfihll der JQngere Bruder von dem Aelteren, zeigt uns, wie er wurde . . . Ostdeulsche Monatshefte Durch alle Budihandlungen zu beziehen Wilhelm Kohler Verlag, Minden in Westfalen Neuerscheinung 1930 Zur See Erlelmisse elnes Seeoiflziers anf Sdiiffen u. fleeren Von Camillo Teltz 320 Seiten Text / Mil 32 Tafelbildern auf Kunstdruckpapier In Ganzleinen gebunden Preis RM 6.- pin Erlebnisbuch, das die bewegie und interessante Laufbahn eines deufschen Seeoffiziers vor und wfihrend des Krieges erzShlt. Es gibi ein Bild des Lebens in der alien kaiserlichen Marine wie, wir es bisher nodi nidit besitzen. Die Friedenszeit ffihrt den Verfasser in die ganze Weli. Bei Kriegsausbruch finden wir ihn in Osfasien auf widitigem Posten. Unier abenfeuerlidien Umsifinden schlSgt er sidi fiber Amerika in die Heimat durdi. Dos spannend und humorvoll gesdiriebene Bucb werden Alt und Jung mit Begeisterung lesen. Auf grofjer Fahrt TageUlliitei einer Kapilansirau aus der groBen Zeit der Segelsdiiffabit Von Eugenie Rosenberger 336 Seiten Text / Mit einem Titelbild auf Kunstdruckpapier In Ganzleinen gebunden Preis RM 6.— Kapitan Paul Konig, der beruhmte Fuhrer des Handels-U-Boots ^Deutschland" im Weltkrieg, schreibt fiber dieses Buch: I ch halie das Budi ffir eins der beslen unserer seemfinnischen Liieraiur. Idh habe sdion mandie Reisebesdireibungen gelesen, keine aber sdiilderf mit soldier Objektivitat und in einer so sdiOnen Spradie wie gerade dieses Budi das Leben an Bord mit seinen Leiden und Freuden. „Auf grower Fahrf" isf gewissermafjen ein Kuliurdokument der Segelschiffahriszeii 1 Durch alle Budihandlungen zu beziehen Wilhelm Kohler Verlag, Minden in Westfalen ....