Paul Good Den Strömen folgen 1. Den Strömen folgen, nicht Formen reproduzieren 171 2. Den Strömen folgen in der Architektur 2.1 Zwei Erzählungen über die Entstehung der Gotik 2.2 Die königswissenschaftliche Begründung der Gotik 2.3 Die nomadische Erzählung vom gotischen Bauen 2.4 Träger, Ornament und glatter Raum in der Gotik 2.5 Eine neogotische Reminiszenz: Perrets „Notre Dame du Raincy" 1922/23 2.6 Weltmonument der Ingenieurkunst: Maillarts „Salginatobelbrücke" 1929/30 3. Den Strömen folgen in der Malerei 3.1 Rembrandts „ruwe manier" 3.2 Das „dekorative Bild" bei Matisse 3.3 Wie die Malerin Pia Fries heute Farbströmen folgt 1. Den Strömen folgen, nicht Formen reproduzieren Den Strömen folgen, nicht Formen reproduzieren, lautet der vollständige Titel meiner philosophischen Überlegungen zum Thema „Was heisst ,Form' in einer postmodernen Kunst?" Mich interessiert weniger, wie jemand durch Formen ein Territorium absteckt, besetzt, ordnet. Mein Interesse gilt den Fluchtli- 172 nien, die jemand über ein bestehendes Territorium hinaus zu ziehen imstande ist. Er verlässt Formen, er zerbricht Gesetzestafeln, wie Friedrich Nietzsche in Also sprach Zarathustra vom Schaffenden schreibt. Formen sind Normen, sind Gebote und Verbote. Was ermutigt, was berechtigt dazu, sie hinter sich zu lassen? Welchen Strömen oder Kräften überlässt man sich dabei? Welche Kunst geht daraus hervor? Ich vertrete eine Betrachtung der Künste vom Gesichtspunkt des Materials und seiner Kräfte und nicht vom Vorrat intelligibler Formen aus, die man einem Material aufzwingt. Man verstehe das nicht falsch, ich etabliere keinen Gegensatz zwischen Kräften und Formen. Ich verlege nur den Schwerpunkt auf jenes Schaffen von Kunst, das nicht im Reproduzieren von Formen besteht. Am Ende besitzt aber alles, was Kunst heisst, auch irgendeine Form. Ich möchte bei dieser Frage betreffend Strömen folgen oder Formen reproduzieren, zudem den Blick auf alle Kunst öffnen, wodurch die Episode „Postmoderne" (ich habe diesen Ausdruck in kunstphilosophischen Erörterungen nie verwendet, weil die damit allenfalls bezeichnete unkonventionelle Materialwahl und allgemeine „Entformtheit" in jeder Kunst auftreten können) aus grösserer Distanz gar nicht dramatisch erscheint. Die Problem-Beschreibung bei der Einladung zum Symposium war in meinen Augen eine traditionell kunstwissenschaftliche. Man konstatierte bei den Künsten nach 1970 „geradezu eine methodische [!] Auflösung der festen Werkform" und vermutete gleichzeitig, dass keine definitive Elimination der Form vorliege.1 Man billigte insbesondere den „Neuen Medien" Formkonzepte zu, die nicht auf „Zeichnung, Gestalt oder Umriss" beruhten. Das Symposium sollte im Blick auf aktuelle künstlerische Praktiken den neuen Begriff von Form herausarbeiten und das Formproblem in den Diskurs der gegenwärtigen Kunsttheorie zurückholen. Ich möchte nun gerade keinen Formbegriff mehr auszeichnen, sondern die Analyse grundsätzlich drehen, nämlich den Blick auf die Ströme und Kräfte eines Materials lenken, daraus sich ein anderes Kriterium als Form für Kunst ergibt. Ich vermute, die genannte Zielerwartung des Symposiums liebäugelte noch immer mit dem metaphysischen Fossil des hylemorphen Modells, wonach eine formlose Materie (hyle) durch ideale geistige Formen erst Gestalt (morphe) gewinnt. Nach dem Schema: Geist regiert Materie. Aber es gibt nirgends formlose Materie. Wir haben es überall nur mit Material zu tun, das, wenn auch meist unerkannt, Kräfte unter Kräften in einem gewissen Gleichgewicht hält. 1 Ich zitiere aus dem Einladungsschreiben für dieses Symposium „Was heisst ,Form' in einer postmodernen Kunst?" von Stefan Majetschak. Diesen empirischen Verhältnissen durch allerlei Schnitte, Brüche, Zerteilung, Isolierung auf den Sprung zu kommen, sodass es seine Kräfte freigibt, kann schon Kunst genug sein. Es wird immer Künste geben, die sich so begründen, dass sie ewige Formen reproduzieren. Die so genannte „Moderne" (ich werde auch hier einem anderen, am Material orientierten Begriff von „Moderne" folgen) hat sich sehr stark auf reine, rationale, abstrakte Formen berufen. Es sind imperiale Künste und „Königswissenschaften", in diesem Falle die Kunstwissenschaft, welche am hylemorphen Modell für die Entstehung der Kunst naturgemäss festhalten. Philosophisch interessieren mich die Erzählungen der nomadischen Wissenschaften heute mehr. Was sagen sie über die Entstehung von Kunst? Darin taucht Form nicht mehr als das geistig Vorausgesetzte der Kunst auf. Der Nomade folgt stattdessen den Strömen und Rhythmen der Natur, der Materie, des Materials als seinem einzigen Vorausgesetzten. Form ist für nomadische Künstler ein Ergebnis, der Beweis dafür, dass jemand gefunden hat. Eine Wasserstelle, einen Weideplatz genauso wie ein Bild, eine Komposition. Man kann den Unterschied auch als den zwischen einem gekerbten und einem glatten Raum bezeichnen. Eine imperiale, königswissenschaftliche Vorgehensweise etabliert vorrangig harte Linien und Formen, die reproduzierbar sind, die, mit Zahl und Mass, mit Symmetrie und Form operierend, ein festes Territorium abstecken, einen gekerbten Raum erschaffen. Solches Vorgehen gibt es in allen Bereichen des Wissens und der Künste. Und dies auch zu allen Zeiten. Man bringt es seit den Alten Griechen mit dem „Logos" in Verbindung. Logik und Geometrie sind seine bevorzugten Werkzeuge. Ein nomadisches Denken folgt hingegen eher geschmeidigen Spuren, Zeichen, Linien, die von Kräften oder Strömen eines Materials zeugen, die nur im Durchlaufen derselben gewusst werden können, die viel mit Rhythmus (etwa der Jahreszeiten, von Trocken- und Regenperioden) und mit Variation (mit „Wiederholung als Kraft" und nicht mit „Symmetrie als Form") zu tun haben. Das ergibt den „Nomos" (das Gesetz) der Nomaden, die einen glatten Raum bewohnen. „Glatt" bedeutet hier keineswegs „eben" oder „homogen". Der Raum wird nicht durch harte Formen und fixe Codierungen definiert, sondern durch geschmeidige Kraftlinien und Ströme bestimmt. Nichts weniger als der Wechsel von einem zu einem anderen Weltbild drückt sich in diesem Begriffspaar aus. Mit den Ausdrücken „Territorium", „harte und geschmeidige Linie", „Fluchtlinie", „gekerbter und glatter Raum", „imperiale Wissenschaft", „nomadische Erzählung" habe ich nun schon das neue Vokabular eingeführt, das meines Erachtens am ehesten geeignet ist, die rasanten Entwicklungen der Künste in 173 174 Bezug auf Materialwahl, Materialbehandlung und „Entformtheit" seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kunstphilosophisch adäquat zu beschreiben und positiv zu würdigen. Es wird sich im Folgenden erweitern und präzisieren müssen. Dieses Vokabular gibt es aber dank Gilles Deleuze und Félix Guattari in der französischen Philosophie seit bald 30 Jahren. Die Kunstwissenschaften werden es sich nur aneignen, wenn sie vom hylemorphen Modell, vom Ideal der Form endlich abrücken. Die Richtung meiner Analysen möchte ich mit folgendem Satz dieser Autoren aus Tausend Plateaus umreissen: „Es geht nicht mehr darum, der Materie eine Form aufzuzwingen, sondern ein immer reichhaltigeres und konsistenteres Material zu entwickeln, das immer intensivere Kräfte einfangen kann." (TP 449)2 Das wird im Blick auf einen anderen Begriff der Moderne gesagt. Ein reichhaltiges und konsistentes Material entwickeln, das intensivere Kräfte freisetzt, das trifft auf die progressiven Verfahren in allen Künsten heute zu. Bei Musik, Dichtung, Malerei, bei Installation, Performance, Tanz, bei den neuen Medien Video- und Computerkunst setzt man mit Vorliebe Mikroströme des Materials frei, die bisher ungeahnte Kräfte entdecken und erfahren lassen. Mannigfaltigkeit, Heterogenität, Intensität, Konsistenz des Materials lösen überall die Einheit der Form ab. Molekularisierung des Materials scheint der direkte Weg zu reinen Kräften zu sein, die noch durch keine Signifikanz codiert und noch von keiner Subjektivität unterworfen worden sind, die man am ehesten als kosmische bezeichnen könnte. „Reine" bedeutet hier soviel wie „neue", „unbekannte", „uncodierte" Kräfte, die aber zweifellos zum Kosmos gehören. Stets sind die wirklich grossen Dichter, Künstler, Philosophen aufgebrochen, haben das vorgegebene Territorium verlassen, Verrat am eigenen Land, am eigenen Stamm geübt, gesellschaftliche, politische, künstlerische Formen aufgegeben.3 Sie erschufen mit ihrem Werk eine neue Sehweise, ein „Perzept", eine andere Empfindungsweise, einen „Affekt", von der Welt. Arbeit an der Empfindung heisst denn auch die eigentlich ästhetische Komposition, die jemand mit einem Material selber, viel grösser als jede subjektiv erlebte Empfindung, zu realisieren unternimmt. Dabei muss er den Materialströmen folgen, wenn er eine intensive Gestalt erschaffen will. Wie aber das Material aufsteigt zur starken Empfindung oder die Empfindung herabsteigt in ein Material, diese 2 Ich zitiere unter der Sigle „TP" das Buch Tausend Plateaus von Gilles Deleuze und Félix Guattari, dieses Standardwerk eines nomadischen Denkens, das 1980 in Paris, 1992 in Berlin erschienen ist. 3 Vgl. von G. Deleuze und Claire Parnet, Dialoge. Frankfurt a. M. 1980, Kap. II „Von der Überlegenheit der angloamerikanischen Literatur", 43ff. Arbeit am Material gehört zur eigentlich technischen Komposition. Diese wenigen Begriffe umreissen eine kleine Kunstphilosophie und müssen hier als Vorbemerkung genügen.4 Ich möchte nun erstens aus der Architektur und zweitens aus der Malerei Beispiele erörtern, welche diese Verlagerung des Interesses der Schaffenden vom Reproduzieren von Formen auf das Freisetzen von Kräften deutlich zeigen. Beispiele aus Musik und Dichtung werde ich bei anderer Gelegenheit in ein erweitertes Projekt einbeziehen. 2. Den Strömen folgen in der Architektur 2.1 Zwei Erzählungen über die Entstehung der Gotik Es klingt zumindest ganz ungewöhnlich, vielleicht sogar verwegen, am Beispiel des total durchgeformten und extrem konstruierten gotischen Stils zeigen zu wollen, dass es weniger um das Reproduzieren von Formen als um die Gewinnung von äussersten Kräften geht. Ich spreche bewusst nur von der 175 Entstehung der Gotik in der Umgebung von Paris in der Mitte des 12. Jahrhunderts, also von der neuen Bauempfindung und Bauidee der Leichtigkeit im Stein, welche sich so vehement vom romanischen Baugedanken von Masse und Schwere des Materials absetzt. Die Gotik gilt als erste Architektur im Abendland, die sich nicht mehr direkt von den Architekturidealen der Griechen und der Römer herleiten lässt. Die meisten gotischen Formen treten bereits am Ende der Romanik auf. Was mit ihrer Hilfe mit dem Stein gemacht worden ist, erklärt aber erst die unglaubliche Wirkung, welche diese neue Architektur entfaltet hat. Es gibt heute durchaus Entwicklungen in der Baukunst, welche vergleichbare Aufbrüche im Material zur Ausreizung der Schwerkraft nutzen, um geschmeidige, fliessende, fliegende Formungen zu erzielen. Ich erinnere nur an das jüngste Projekt von Zaha Hadid für das Stadtcasino Basel, welches das Material zu fliegenden, flüssigen Formen und Räumen aufbrechen lässt, ihm das Äusserste an Geschmeidigkeit abverlangt.5 Ich werfe keineswegs Neue Architektur mit Gotik stilistisch in einen Topf, ich benenne nur ähnliche Tendenzen, mit dem Material umzugehen. Was die 4 Vgl. Kapitel 7 „Perzept, Affekt und Begriff" in Gilles Deleuze und Félix Guattari, Was ist Philosophie? Frankfurt a. M. 1996 (franz. Paris 1991). 5 Vgl. „Ich gegen die Schwerkraft", Text von Reto Hunziker im Gespräch mit Zaha Hadid, in Das Magazin Nr. 37, Tamedia Zürich 2006, 38-46 (ihm sind auch die beiden Bild-Zitate von Zaha Hadid Architects mit Dank entnommen). 176 Abb. 1 und Abb. 2 Zaha Hadid, Modell Casino Basel 1 Aufsicht, 2 Seitenansicht Gotik betrifft, haben Gilles Deleuze und Félix Guattari es in folgenden Sätzen auf den Punkt gebracht: „die statische Beziehung von Form und Materie tritt tendenziell zugunsten der dynamischen Beziehung von Material und Kräften in den Hintergrund... Das Gewölbe ist keine Form mehr, sondern eine aus Stein gebaute Linie kontinuierlicher Variation. Die Gotik erobert einen glatten Raum. Anstatt absolut richtige Formen zu sein, die die Materie organisieren, werden sie durch eine qualitative Berechnung des Optimums ,generiert' und sozusagen vom Material hervorgebracht." (TP 500 u. 501) Was heisst, Form tritt zugunsten von Material und Kräften zurück, was ist eine aus Stein gebaute Linie kontinuierlicher Variation, was eine qualitative Berechnung des Optimums, worin besteht der spezifisch gotische glatte Raum? Um darauf eine Antwort zu erarbeiten, muss ich zwei Erzählungen über die Entstehung der Gotik berichten: 1. die königswissenschaftliche, 2. die nomadische. 2.2 Die königswissenschaftliche Begründung der Gotik Die erste Erzählung kommt also von Seiten der Königswissenschaft. Dazu zählten damals Theologie (Augustinus, Suger von Saint-Denis, Bernhard von Clairvaux), Lichtmetaphysik des Pseudo-Dionysius Areopagita, Euklidische Geometrie, Pythagoräische Proportionen- und Zahlenmystik in der Musik. Die Kunstwissenschaft folgt mehrheitlich bis auf den heutigen Tag dieser Erzählung. Otto von Simsons Klassiker Die gotische Kathedrale. Beiträge zu ihrer Entstehung und Bedeutung6 vertritt sie sehr überzeugend. Aber auch Georges Duby Die Zeit der Kathedralen. Kunst und Gesellschaft 980-14207 argumentiert ganz in diesem Sinne. Günther Bindings Was ist Gotik?8 vom Jahr 2000 legt das Gewicht endlich ebenfalls auf die konstruktiven Probleme und die technischen Mittel jener Zeit. Das mittelalterliche Weltbild, aus dem heraus die gotische Sakralarchitektur entstanden ist, sah die übernatürliche Wirklichkeit ganz im neuplatonischen Sinn als die einzig wahre an, von der die Architektur ein Bild, ein Sinnbild (oder ein Symbol) auf Erden erschafft. Am Anfang, so schreibt Abt Suger von Saint-Denis in seinem Traktat über die neuen Elemente der Architektur, steht die mystische Vision von der übernatürlichen Wirklichkeit. Die Form der gotischen Kathedrale ist das deutlichste architektonische Zeichen dieser Vision, welche jene Harmonie schaut, mit der die göttliche Vorsehung den Kosmos durchwaltet. Schon bei Platon war die Sonne der Repräsentant der höchsten Idee des Guten, also des Göttlichen selbst. In der Lichtmetaphysik jenes Pseudo-Dionysius, eines Syrers um 500 n. Chr., der eine Reihe Bücher über himmlische und kirchliche Hierarchie, über die Namen Gottes und über mystische Theologie geschrieben hat, verkörpert das Sonnenlicht die göttliche Harmonie auf Erden. Ohne diese religiöse Erfahrung und Vision hätte es sicher keine gotische Bewegung gegeben. Es bedarf zuerst der grossen Idee, die sich in diesem Fall mit der christlichen Lebenswirklichkeit jener Zeit deckte. 177 6 New York 1956, deutsch in 5. Auflage Darmstadt 1992. 7 Paris 1976, dt. Übersetzung Frankfurt a. M. 1992. 8 Darmstadt 2000. Der Bauherr Abt Suger von Saint-Denis in Paris, der 1144 den ersten gotischen Chor einer Abteikirche einweihen konnte, war natürlich beseelt von der Lichtmetaphysik, wonach das kosmische Licht die reale Gegenwart Gottes in der Welt darstellt, das die Finsternis überwindet. Es artikulierte sich darin ein völlig neues Weltverhältnis im Unterschied zur Romanik, welche die Welt, auch das profane Licht, weitgehend aus der Feier der göttlichen Mysterien ausschloss. Die Gotik hat das Licht als architektonisches Element eingesetzt. Fenster übernehmen eine bestimmende Rolle im gotischen Raumverständnis. In der Romanik waren Fenster Raumöffnungen, in der Gotik werden sie selber Wand. Das erlaubt, Licht als gestaltendes Element des Raumes zu begreifen. Das sich überall ausbreitende Licht eröffnet schon so etwas wie einen glatten Raum. Es Sii Mi * »2 2t 41 ■ Sfg *u 178 Abb. 3 und Abb. 4 Abteikirche Saint-Denis, Paris 3 Chor 1144, 4 Grundriss erzwang höhere, offenere, leichtere Bauformen. Aber von der blossen Idee war man noch lange nicht bei den wie immer fragilen, riskanten Baulösungen. Wenig später liefert der Philosoph Robert Grosseteste (1168-1253) in einem Kommentar die neuplatonische Begründung für die neue Bedeutung des Lichts in der Architektur: das Licht ist Schönheit und Schmuck jeder Kreatur, es ist durch sich selbst schön, weil einfach, und für sich selbst alles. „Die Natur des Lichts ist solcherart, dass nicht in der Zahl, nicht im Mass, nicht im Gewicht, wie es für anderes gilt, sondern im Anblick all seine Wohlgefälligkeit entsteht. Es bewirkt, dass auch die übrigen Glieder der Welt lobenswert sind." Nicht erst durch Zahl, Mass, Gewicht, wie bei der Erkenntnis der Körper, sondern schon im puren Anschauen entfaltet das Licht alle Schönheit. Es gilt als unmittelbare, reale Präsenz Gottes auf Erden. Der Chorgrundriss zeigt die entscheidende Veränderung: die Säulen des Chorumgangs werden im Strahlenkranz radial gradlinig gestaffelt, sodass alles Licht von den Fenstern unbehindert bis zum Altarmittelpunkt eindringen und den ganzen Kirchenraum durchfluten kann. Im Vergleich dazu scheint etwa der romanische Chorumgang von Saint-Martin-des-Champs in Paris wenig früher bloss additiv zusammengestückt worden zu sein. Auch sind Su-gers Säulen schlank gehalten. Bei den Säulen wie bei der Aussenwand wird erstmals Masse und Oberfläche des Steins zugunsten der Lichtfülle verringert. Ganz im Sinne des Pseudo-Dionysius schwelgt Georges Duby über die Einheit des Universums, „dass sich die leuchtenden Strahlen vom Chor bis zur Pforte ohne Hindernis im gesamten Innenraum der Kirche ausbreiten konnten und auf diese Weise das ganze Gebäude zum Symbol der mystischen Schöpfung machten" (Duby 177). Vom Chor Abt Sugers behauptet Otto von Simson (und viele andere), er sei „eine der epochalen Schöpfungen der Architekturgeschichte, das erste gotische Bauwerk" (von Simson 144). Der Chor von Saint-Denis war erst die Eröffnung eines möglichen gotischen Raumes. Chartres wird die perfekte logisch-mathematische Ausführung und Durchstilisierung des ganzen Kirchenraumes aus dem Geiste der dortigen Platoniker-Schule sein. In einem viel stärkeren Ausmass trifft die königswissenschaftliche Erzählung, weil durch Zahl und göttliche Logik ideal proportioniert, also durch und durch geometrisch gekerbt, auf die Kathedrale von Chartres zu: „Das Universum besteht nicht mehr aus Zeichen, in denen sich das Imaginäre verliert, es deckt eine logische Figur ab; und die Kathedrale hat den Auftrag, alle sichtbaren Kreaturen an ihren Platz zu stellen, um eben diese logische Figur zu rekonstruieren. In Zukunft ist es Sache der Mathematiker, das himmlische Jerusalem, dessen Bild die Glasfenster von Saint-Denis noch 179 Abb. 6 Romanische Kirche Rhuis Langhaus und Chor, Mitte 11. Jh. durch lichtvolle Ausstrahlungen heraufbeschworen, mittels der deduktiven Wissenschaft der Mathematik ins Konkrete zu übertragen, das Luftgespinst im Stein zu verkörpern." (Duby 203) Als Raumkontrast zeige ich Langhaus und Chor der romanischen Kirche von Rhuis, die im 11. Jahrhundert entstanden ist, sich rund 15 km nordöstlich von Senlis befindet, wo man 1155 ebenfalls eine frühgotische Kirche zu banen begann. Rhuis ist eine der besterhaltenen romanischen Bauten der Ile-de-France: Ein vierjochiges Schiff mit zweizonigem Aufriss und Flachdecke. Rundbogenarkaden aus schmucklosen Keilsteinen ruhen auf viereckigen Pfeilern. Ein ehemals rechteckiger Chor wurde im 12. Jh. durch die Apsis ersetzt, die zur Achse des Langhauses leicht verschoben ist. Die nüchterne Schönheit des kargen Raumes wird bei dieser Aufnahme von geheimnisvollem Licht durchtränkt. Dieses eine Beispiel genügt, um den epochalen Wandel im Verständnis von Material und Form, von Raum und Mass, aber auch von Innen und Aussen, von Gott und Welt sofort anschaulich zu erfassen. Romanische Sakralarchitektur schafft eine sichere Burg in einer feindlichen Welt für die Feier eines transzendenten Gottes. Die Welt bleibt draussen. Die noch weitgehend romanische Fassade von Saint-Denis war schon als Tor des Himmels konzipiert worden. Sie ist mit den drei Portalen dem römischen Stadttor nachempfunden und hier erstmals von Abt Suger mit einer Fensterrose über dem Hauptportal versehen worden. Aber viel wichtiger als dieses ältere „Westwerk" wurde eben die lichttrunkene Gestaltung des Suger'schen Chores. Die Grundriss- und Aufriss-Proportionen, wie Längen zu Breiten zu Höhen sich in der Hochgotik verhalten, richten sich unter dem Einfluss von Augustinus, für den Schönheit sich musikalisch ausdrückte, nach vollkommenen Akkorden wie Oktave (1:2) oder Quinte (2:3) oder Quarte (3:4), weil diese Zahlenverhältnisse eben als Echo der metaphysischen Vollkommenheit verstanden wurden. Faszinierend daran bleibt, wie in streng durchgeformten gotischen Bauwerken aufgrund eines einzigen Grundmasses alle anderen Grössen im Grund- und Aufriss geometrisch entwickelt werden konnten. So ist die königswissenschaftliche Erzählung seitens der christlichen Theologie, der neoplatonischen Lichtmetaphysik, der euklidischen Geometrie und der pythagoräischen und augustinischen Zahlenmystik und Klangproportionen für den prinzipiellen Stilwandel und für den gewaltigen Aufbruch der Gotik unbestritten im Recht. Aber diese metaphysischen Ideen des Bauherrn erklären überhaupt nicht, wie es de facto zu dieser schlanken, leichten, hohen, lichtvollen Gestaltung des Materials kommen konnte. 181 Auch wenn die Theologen von ewigen göttlichen Formen ausgingen, sie benötigten Baumeister mit viel Erfahrung, auch neues Material und neue Techniken, ihre grosse Idee in tausend kleine Ideen und in tausend kleine Taten umzuwandeln, einem Material mitzuteilen oder einem Material zu entlocken. Ich empfinde es zumindest als einseitig, wenn Otto von Simson schreibt, „die technischen Errungenschaften, die die Frühgotik von der Romanik unterscheiden, scheinen Sugers symbolischen Anforderungen an die Architektur eher gehorcht zu haben als ihnen vorausgegangen zu sein. Er war von dem Wunsch und dem Willen erfüllt, den Stil des Kirchengebäudes mit jener überirdischen Vision in Einklang zu bringen, die für die Umwandlung der Romanik in die Gotik im Grunde verantwortlich ist" (von Simson 193). Nein, die technischen Errungenschaften mussten erst noch von Baumeistern und Handwerkern entdeckt werden. Sie folgten oder gehorchten nicht einfach den symbolischen Anforderungen an die neue Architektur. Den Erfolg dieses Stils in Frankreich also mit von Simson „nur durch dessen 1g2 Symbolkraft zu erklären", halte ich für völlig verfehlt. Von Simson wird nicht müde, das metaphysische System für die Findung der Bauformen zu beschwören. Er lehnte auch Sedlmayrs Versuch ab (in „Die Entstehung der Kathedrale"), die gotische Kathedrale als Illusions-Architektur, als illusionistisches Abbild des Himmels zu deuten, weil eine bloss illusionistische Deutung einen „naturalistischen Abkürzungsweg" von der sichtbaren Form zu ihrer symbolischen Bedeutung einschlage, wo es sich doch gerade umgekehrt verhalte, die sichtbare Form das Symbol für die unsichtbare göttliche Realität darstellt. Der gotischen Architektur liegt eine realontologische „Gründung" inne, welche ein modernes, illusionistisches, nominalistisches Kunstverständnis nicht mehr nachvollziehen kann. Binding greift im Blick auf den gotischen Stil insgesamt den Gedanken der Illusionsarchitektur wieder anders auf. Er begreift das Verbergen der lastenden, schweren Elemente der Konstruktion als Mittel, illusionistische Kraftlinien (also auch so etwas wie glatten Raum) zu erzeugen. „Die optische Negation der konstruktiven Gegebenheiten mit ihren lastenden Kräften führt zum Eindruck des Schwebens und Aufwärtsstrebens. Im Verhältnis zu der technischen Konstruktion ist die sichtbare Architektur der Kathedrale eine Illusionsarchitektur. Dienste und Rippen werden zu illusionistischen Kraftlinien. Geometrie und Farblicht geben einen Hinweis auf die vollkommene göttliche Ordnung des Kosmos. Das Gotische der neuen Kathedrale ist ein meisterlicher Zusammenklang von Konstruktion und Illusion sowie Rationalität und theologischen Ideen." (Binding 293) Binding scheint mir den nomadischen Umgang mit dem Material dann doch selbst zu minimieren, wenn er der neuplatonischen Euphorie bezüglich des Lichts als vollkommener Form der Körper selber wortstark verfällt, wie folgendes Fazit zur gotischen Wand belegt: „So sind die Glaswände der gotischen Kathedralen als Verbindung zwischen der Summe neuer Bauerfahrungen und neuplatonisch-scholastischer Lichtmetaphysik zu verstehen. In der scholastischen Wissenschaft vom Sein steht das Licht als ,erste und allgemeine Form' (forma prima et communis) auch für die ,Form des vollkommenen Körpers' (forma perfectionis corporis), und da das vom Licht Geformte als das eigentlich Schöne gilt, in dem sich auch das Gute oder im theologischen Sinne Göttliche offenbart, gibt das Licht der Materie und damit auch der Architektur der Kirche erst aus seiner Kraft Schönheit und Weihe." (Binding 52) Das klingt ganz nach Begründung durch das hylemorphe Modell der gotischen Bauherren, unterschlägt jedoch den konkreten Beitrag zur Raumlösung durch die nomadischen Bauhütten weitgehend. Nun gibt es beim Bau des ersten gotischen Chores von Saint-Denis den Beruf des Architekten noch gar nicht. Gut hundert Jahre später beginnt Thomas von Aquin 1265 in Paris sein opus magnum, die Summa theologiae, worin er schon vom Architekten (architektor) spricht und ihn wie Aristoteles, auf den er sich neben der Bibel beruft, an die Spitze der Kunstfertigen stellt. Ganz entsprechend dem hylemorphen Modell steht der Architekt in der Hierarchie der Kunstfertigen zuoberst, weil er die Form entwirft. Ab Mitte des 13. Jahrhunderts entsteht die Planzeichnung auf Pergament. Und der Baumeister (artifex) war bestrebt, „das Haus der Form anzugleichen, die er im Geiste erfasst hat". Diejenigen, welche bloss das Material bereiten, das Holz schneiden und die Steine behauen, leisten untere ausführende Dienste. In dieser Einschätzung manifestiert sich das alte Vorurteil von der Überlegenheit desjenigen, der Formen reproduziert, woher auch immer er die Formen gewinnt, ob aus göttlicher Vernunft, aus dem platonischen Himmel der Urideen, aus abstrakter euklidischer Geometrie, aus Zahlen- und Klangproportionen, aus abstrahierender empirischer Anschauung. In jedem Falle wird Form mit einem Ideal in Verbindung gebracht, zu dem nicht der Praktiker gelangt, sondern nur der Theoretiker, der weiser ist als der Kunstfertige, der bloss mit der Hand arbeitet. Wenn es aber diesen theoretischen Architekten bei der Entstehung der Gotik noch längere Zeit nicht gibt, ist es ratsam, darauf zu achten, wie, unter einer unbestritten grossen Bauidee, die Praktiker mit dem Material umgegangen sind. 183 2.3 Die nomadische Erzählung vom gotischen Bauen Was sagt nun die zweite, die nomadische Erzählung darüber, was die herumziehenden Bauhütten, die eigentlichen Baumeister, die Ingenieure, Steinmetze, Handwerker, Künstler zur Entstehung des gotischen Stils beitrugen? Sie konnten nicht einfach ideale Formen in Steinen reproduzieren. Sie haben aus dem Stein ein reichhaltigeres, konsistenteres Material gemacht, das intensivere Kräfte einzufangen imstande war. Sie reizten dieses Material bis zum Äussersten aus. Günther Binding schreibt: „Der die Bauausführung technisch leitende Baumeister oder Werkmeister, ebenfalls magister operis genannt, war ein Maurermeister (magister caementarii) oder Steinmetzmeister (magister lapicidae oder sculptor), der während der Wanderschaft auf zahlreichen grösseren Baustellen Erfahrungen gesammelt hatte." (Binding 56)9 Baupläne gab es, wie gesagt, zu Sugers Zeiten ebenso wenig wie den Beruf des Architekten. Das Werk war vom Abt nur im Geiste konzipiert und mit Worten kommuniziert worden. Alles andere mussten Werkmeister erschaffen. 184 Es gab also noch keine Pläne. Die Grundmasse steckte man ad hoc mit Schnüren ab. Weil die zeichnerische Projektierung des Aufrisses bis Mitte des 13. Jahrhunderts fehlte, muss man für die Formfindung annehmen: „Die architektonische Idee nahm erst in der empirischen Auseinandersetzung mit dem Material im emporwachsenden Bau selbst ihre endgültige Form an." (Binding 71) Man behalf sich zuerst mit Ritzzeichnungen, die man in Originalgrösse 2-3 Millimeter tief direkt in den Boden oder auf verputzten Wandflächen einschnitt. Derjenige von Soissons gilt als der früheste erhaltene Bodenriss. Die Formen, etwa die kontinuierliche Variation der Krümmung eines gotischen Spitzbogenfensters, konnte man damals überhaupt nicht durch abstrakte euklidische Geometrie berechnen. Man behalf sich mit einer projektiven, archimedischen Geometrie, eben mit 1:1 Rissen auf dem Boden, denen entlang Steine geformt wurden. Zuerst war der Entwurf, dann kam die Zahl. Der Maurer-Mönch Garin von Troyes spricht direkt von operativer Logik bei der Bewegung oder Krümmung. Aus der Skizze der Risse auf dem flachen Boden gewann er erst die Berechnung. Die Riss-Skizze erbrachte die Zahl, ergab die Zahlenverhältnisse, nicht umgekehrt. Es handelt sich dabei um ein nomadisches Vorgehen, wenn man etwas beim Durchlaufen desselben findet oder schafft und nicht schon in der Abstraktion fertig vorliegen hat. Die Gleichun- 9 Berühmt ist die Darstellung des Gervasius von Canterbury, der 1180 vom Wiederaufbau der Kathedrale berichtet (sie brannte am 5. September 1174 nieder), bei dem ein Kunstfertiger aus Sens in Frankreich, Wilhelm genannt, „wegen der Lebhaftigkeit der Erfindungsgabe" beigezogen wurde. Vgl. Binding 56. Abb. 7 Ritzzeichnungen, Soissons um 1250 Blendarkade u. Fensterbank 185 Abb. 8 Bourges um 1300 Masswerkfenster gen (Zahlen) spiegelten nicht absolut richtige Formen. Die Formen wurden vom Material durch qualitative Berechnung eines Optimums generiert. Werkzeuge, um Messungen durchzuführen, gab es wenige. Als Messinstrumente dienten Messstange, Richtschnur, Knotenschnur, Richtscheit, Lot und Lotwaage. Bodenrisse erstellte man mit Richtscheit und Bodenzirkel. Den rechten Winkel schuf man mit Hilfe eines Dreiecks mit den Seitenverhältnissen von 3:4:5 (gemäss dem Satz des Pythagoras). Erst um 1220/30 schuf der Werkmeister Villard de Honnecourt, selber weit gereist, mehr nach eigener konstruktiv-geometrischer Logik als nach exakten Messungen bei den Kathedralen von Reims, Laon, Chartres, Lausanne u. a. ein so genanntes Musterbuch. Es ist auch die Zeit, in der man begann, Schablonen zu bauen, um im Steinbruch selber massenweise Bauteile nach Schablonen zu fertigen. Die erste Massenanfertigung nach wenigen Mustern entstand. Das hatte den Vorteil, dass man auch im Winter weiterarbeiten konnte, während der Bau ruhte. Aber das war erst für die zweite oder dritte Generation der gotischen Baumeister der Fall. Von Seiten des Materials waren von Anfang an zwei andere Dinge sehr wichtig, nämlich die Entdeckung und Evaluation eines neuen Steines und die Entwicklung neuer Techniken des Steinschneidens. Man fand ganz in der Nähe einen Kalkstein, der sich für die Methoden des Schneidens eignete und den l86 man deshalb an Stelle der bisherigen Hausteine einsetzte. Beim Schneiden benutzte man die Projektionsfläche des ebenen Bodens zur Begrenzung. Das alles gegeben, bestand die eigentliche Leistung der nomadischen Bauhütten, der Maurer und Künstler darin, dem Stein das Äusserste an Schlankheit, Geschmeidigkeit und Leichtigkeit abzugewinnen. Wie dünn konnte man eine Form im Stein gerade noch realisieren, dass sie nicht brach? Das fanden sie nur experimentell heraus. Man muss sich ein einziges Masswerkfenster vornehmen, um zu ermessen, welche Kunstfertigkeit im Umgang mit dem Stein erforderlich war, um Kreise, Ovale, Rundungen aller Art dem Stein mitzuteilen und ohne Eisenverstärkung ineinander zu fügen. Die Krümmungen und Rundungen folgten den Strömen des Materials und der Fertigkeit der Hand mehr als dass sie abstrakter Geometrie vollends genügten. Obwohl mit wenigen stets wiederkehrenden Formungen und Schablonen gearbeitet wurde, war doch jedes Massfenster mit all den kleinen Variationen ein handgefertigtes Unikat. Wie weit konnte man die Schwerkraft minimieren, sie sogar überlisten? Immer höher, immer schlanker: das konnte nicht immer gut gehen. Von mehreren Kathedralen weiss man, dass Teile davon schon während des Baus einstürzten. Auch der höchste gotische Chor in Frankreich, der 48,5 Meter hohe der Kathedrale von Beauvais, stürzte ein, man hat die Chorwand mit zusätzlichen Rippen verstärken müssen. Mit dem Querhaus stoppte der ganze Bau, das Kirchenschiff wurde nie gebaut. Das mit dicken Baumstämmen gestützte Kathedralen-Fragment gilt bis heute als Wahrzeichen des gotischen Wagemuts, dem Material fast Unmögliches abzuverlangen. Der Chor dient als unübertreff- 187 Abb. 9 Beauvais, Kathedrale Saint-Etienne, Chor licher Beweis des filigranen Strebens einer Architektur, die dem Material Stein durch unendliche Verfeinerung immaterielle Wirkungen zu entlocken wusste. Die Frage konnte nur experimentell, nicht rechnerisch beantwortet werden: wie weit kann man bei der Konstruktion gehen, um ein Gleichgewicht der Kräfte zu erzielen, dass Schubkräfte durch Druckkräfte ausgeglichen waren, wobei der Querschnitt der Stützen möglichst gering gehalten wurde. Ich kann das gewaltige äussere Strebewerk hier nicht beschreiben, das die in sich selbst nicht tragende Konstruktion der leichten Wände und Gewölbe kräftemässig auffangen und ausbalancieren musste. Die technischen Prinzipien gotischer Konstruktion sind, so behauptet Viol-let-le-Duc (1814-1879) im 19. Jahrhundert, noch immer die Prinzipien moderner Konstruktion. Er schreibt: „Alle ihre Anstrengungen [die der gotischen Baumeister] richten sich in der Tat darauf, die Kräfte ins Gleichgewicht zu bringen und die Stützen nur noch als Stäbe zu betrachten, die nicht durch ihr Eigengewicht im Lot gehalten werden, sondern durch die vollständige Neutralisierung aller schrägen Schubkräfte, die auf sie einwirken." (zit. bei Binding 26) Die Stützen als Stäbe! So wurde ein leichteres, konsistenteres Material geschaffen, das die Empfindung von Leichtigkeit, Bewegtheit, Unendlichkeit vermittelte. Der gewaltige Sog nach oben, den die besten gotischen Bauwerke noch heute ausüben, verdankt sich nicht nur der immensen Höhe, sondern ebenso den schlanken vertikalen Linien, welche durch Rippen und Dienste geschaffen wurden, aber auch der schmucklosen Behandlung des Steins an Wänden und Bögen, am Ende der Rolle des Lichts und der Farben. Aus Schwerkraft schwebende Leichtigkeit schaffen, mit Materiellem die Wirkung von Immateriellem erzielen, mit Licht überall die Freude des Farbigen verbreiten, das muss als eigentliches Herzstück des gotischen Baugedankens gelten, den nomadische Steinmetze, Maurer, Konstrukteure konkret geschaffen haben. Die eigentliche Erfindung der Gotik sind nicht gewisse Formen wie Spitzbogen und Kreuzrippengewölbe. Die wirkliche Neuerung bestand in einer anderen Definition der Wand. In der Romanik baute man dicke, schwere Wände mit kleinen Schlitzöffnungen als Lichtquelle. Die Wand bildete Grenze und Schutz gegen die feindliche Aussenwelt. In der so entstandenen Innenwelt waren die romanischen Wände meist ganz und gar mit Fresken des Heilsgeschehens bemalt. In der Gotik aber artikuliert sich, wie bereits erwähnt, ein anderes 189 Abb. 11 und Abb. 12 Fensteraufbau Wandaufbau Saint-Denis Verhältnis zur Welt. Die Wand bildet nicht mehr eine Grenze, sondern wird transparent und durchlässig für das Licht der Welt.10 Wand als diaphane Folie, als durchleuchtete Fläche, entspricht in der Tat auf unerhörte Weise der Idee eines glatten Raumes als unendliche Ebene der Immanenz. Wenn das Licht der profane Repräsentant Gottes auf Erden ist, dann huldigten die nomadischen Künstler, die mit der Hand filigrane Netzwerke für eine durchsichtige Wand schufen, einem weltimmanenten Göttlichen. Die kosmische Harmonie, welche die göttliche spiegelte, sollte in Form des farbigen Lichts den ganzen Raum erfüllen. Was in der Romanik die Wandmalerei war, das übernahm jetzt die neu entwickelte Kunst der Glasmalerei. Es ging bei der Gotik nicht so sehr um die totale Erhellung und Lichtfülle im Gotteshaus als vielmehr darum, die ganze farbige Schönheit in die heiligen Handlungen hereinspielen zu lassen. Aber dafür musste man die Wand als filigrane, transparente Folie erst einmal dem Stein entreissen und dem farbi- 10 Hans Jantzen (1881-1967) hat 1927 den gotischen Innenraum vom Formprinzip her als „diaphane Struktur" bezeichnet: „Die Hochschiffwand wirkt wie ein vor der Ummantelung durch den Raumgrund errichtetes Reliefgitter." (zit. bei Binding 29) 190 gen Glas anvertrauen. Die grossen Meister und Pioniere der Steinmetz- und Glasmalereikünste, die solche Kräfte dem Material entlockten, blieben anonym. Jedenfalls haben die nomadischen Bauhütten diesem Material Äusserstes zugemutet, wovon die hohen, lichten Formen des gotischen Stils das überwältigende Ergebnis darstellen. In einer längeren Passage, die ich als Fazit zum neuen Wandbegriff in voller Länge zitiere, würdigt Binding die wichtige Rolle des gotischen Masswerks: „Das steinerne Masswerk, das ,gemessene Werk', ist eines der wichtigsten formalen Gestaltungselemente innerhalb der Entwicklung der Gotik. Die ,Dia-phanie der Wand' (H. Jantzen 1927), die ,übergreifende Form' (H. Sedlmayr 1950), die Vergitterung der Wand' (H. Sedlmayr 1950) und ganz besonders die Einführung des optischen Skelettbaus um 1200/1220 bedingen in konsequenter Ausformung die Erfindung des Masswerks als eine in das Skelett eingespannte Raumbegrenzung durch strukturierte, leuchtende Wände, denn durch die Negation der Mauer als raumschliessende Wand gibt es auch kein die Mauer durchbrechendes, lichteinlassendes Fenster mehr wie in der Romanik. Gerade dieser in den Chorkapellen der Kathedrale von Reims 1215/1220 vollzogene Wandel ist die Geburt der eigentlichen Gotik. Masswerk ersetzt nicht die Bleistege und Armierungen (Windeisen) der romanisch-frühgotischen Glasfenster, auch wohl nicht den die Fensteröffnung teilenden hölzernen Kreuzstock mit Quersprossen (wie z. B. Ilbenstadt vor 1159), sondern dient der raumbegrenzenden Vergitterung zwischen den Gliedern des Skelettbaus. So ist auch folgerichtig das Masswerk nicht in die Öffnungen, in den Zwischenraum eingespannt, sondern bildet schliesslich eine Einheit mit dem profilierten Gewände und den begleitenden Gewölbediensten, überzieht als Blend- oder Schleiermasswerk verbliebene Mauerflächen, füllt Wimperge, Brüstungen und Triforien und entspricht in seiner Profilierung den auch bei den Stützen, Bogen und Rippen üblichen Formen." (Binding 197) Die Diaphanie der Wand erforderte konstruktiv das Masswerk, eingespannt in das Skelett als strukturierte, leuchtende Raumbegrenzung, nachdem die Negation der Wand als raumschliessende Wand, als Mauer mit lichteinlassenden Fenstern vollzogen war. Wichtig sodann, dass dieses Masswerk mit dem profilierten Gewände eine Einheit bildet, Mauerflächen überzieht und nicht wie einst das Fenster lediglich in einen Zwischenraum eingesetzt wurde. 2.4 Träger, Ornament und glatter Raum in der Gotik Zum Schluss möchte ich die Aufmerksamkeit nochmals auf zwei Fragen lenken: einmal auf die Frage nach dem Verhältnis von Materie und Form im nomadischen Verständnis des Bauens, sodann auf die Frage nach einem möglichen glatten gotischen Raum. Warum ergibt eine aus wenigen, sich wiederholenden Formelementen rhythmisch völlig durchkomponierte, diaphane Wand bei den besten Lösungen dennoch keinen gekerbten, sondern einen glatten Raum? Zuerst zum neuen Verhältnis von Materie und Form. Gilles Deleuze und Félix Guattari behaupten als allgemeinstes Merkmal von Nomadenkunst die Ablösung der Dialektik von Materie und Form der Königswissenschaften „durch die dynamische Verbindung von Träger und Ornament" (TP 507). Wenn nicht griechisch-römische, so scheint der gotische Baugedanke doch arabische Einflüsse der Ornamentik zu verarbeiten. Während das imperiale hylemorphe Modell alle Materie zum „Inhalt" degradiert und die Form den gesamten „Ausdruck" regiert, bleiben Inhalt und Form bei der nomadischen Herangehensweise untrennbar zusammen. Für sie ist Materie nämlich nie homogenisierte Materie, sondern stets ein Träger von Singularitäten. Und Ausdruck wird nie nur formale Angelegenheit der Form, sie ist vielmehr Sache einer Ausdrucksmaterie, also eines Materials selbst. Damit verschwindet die Dualität von Materie und Form, weil die nomadische Wissenschaft „den Verbindungen zwischen den Singularitäten der Materie und den Ausdrucksmerkmalen" folgt. Nun verbindet man mit dem Ausdruck „glatt" üblicherweise gerade die Vorstellung von homogen. Aber der homogene Raum ist ein durch Form, Mass, Zahl eindeutig bestimmter, also gekerbter Raum. Das Modell der Kerbung ist für die Baukunst das Gesetz der Schwerkraft, die Vertikalität des Falls. Entsprechend wird die Materie nach parallelen Schichten, in laminarer Strömung, nach Art der Säulen homogenisiert. Der vertikale Abstand zwischen zwei Punkten wird auch auf den horizontalen Abstand umgelegt, sodass die universelle Anziehungskraft sozusagen zur Moralität, von Nietzsche belächelt, des homogenisierten berechneten Raumes aufsteigt, zum „Gesetz der Gesetze", zur „unvariablen Form" für Variablen, während Materie zur variablen Materie dieses Invarianten abfällt. Das Gleichbleibende wird das legale Modell des Denkens. Man sucht das Gleichbleibende, das Gesetz, die Konstanten, welche Beziehungen von Variablen darstellen. Das Denken des hylemorphen Modells der Königswissenschaften glaubt an die invariable Form von Variablen, sucht die Invariante von variabler Materie. Hingegen kennt ein nomadisches Denken als „Element" nur das Ungleiche. Es bezieht sich mehr auf Kräfte-Material als auf Form-Materie. Es zielt nicht auf Konstanten für Variable, weil es diese Konstellation so nicht verfolgt. Wenn es Variable gibt, dann werden sie in eine Situation kontinuierlicher Variation ver- 191 192 setzt. Wenn überhaupt Gleichungen vorkommen, gelten sie als Angleichungen, Ungleichungen, Differentialgleichungen, die nicht algebraischer Form genügen, sondern ein „Gespür für Variation" bewahren. Sie fassen eben Singularitäten von Materie und keine allgemeine Form. „Kurz gesagt, es scheint als ob die Schwerkraft auf einem laminaren, gekerbten, homogenen und zentrierten Raum beruht; sie bildet die Grundlage für jene Mannigfaltigkeiten, die metrisch oder baumartig genannt werden, deren Dimensionen unabhängig von bestimmten Umständen sind und mit Hilfe von Einheiten oder Punkten (Bewegungen von einem Punkt zum anderen) ausgedrückt werden." (TP 509) Der Nomos der Nomaden, der sich am Ungleichen orientiert, weist nun die Schwerkraft nicht zurück, er beschäftigt sich mit Kräften, die sich nicht gegen die Schwerkraft wenden, jedoch Kräfte sind, die von Ereignissen zeugen, die stets zusätzlich vorkommen, zusätzlich als „variable Affekte" vorhanden sind. Es geht der nomadischen Beschreibung um dieses „Mehr", um diesen „Zuwachs" zu den Schwerkräften.11 Ein solches „Mehr" an Ereignis in Bezug auf Material und Kräfte liefert der gotische Baukörper gegenüber demjenigen der Romanik. Bei allen Fehlern, Mängeln, Irrtümern, welche den gotischen Versuchen (es waren anfänglich mutige Bau-Experimente, man baute, ohne zu wissen, ob es hielt, ob die Formungen auch tatsächlich aufgingen) zugrunde lagen, empfahl Viollet-le-Duc, wie schon erwähnt, die gotischen gewagten Konstruktionen im 19. Jahrhundert als beste Einführung in die moderne Konstruktionskunst für Bahnhöfe, Markthallen, Kaufhäuser. Er resümierte: „Das Schöne ist nicht ... auf ewig an eine einzige Form geknüpft: es kann immer dort vorhanden sein, wo die Form nur der Ausdruck eines befriedigten Bedürfnisses und des wohlüberlegten Gebrauchs des vorhandenen Materials ist." Die Konstruktion wie die Analyse des Schönen an „das Bedürfnis als Angelpunkt" zu knüpfen, erinnert an die Wende, die Ludwig Wittgenstein von der logischen Form als Kriterium für „Sinn" in der Sprache zum Gebrauch der Wörter und Sätze in Situationen, im historischen Kontext, in Sprachspielen als Kriterium ihrer Bedeutung in der Sprachphilosophie um 1930 vollzogen hat. Entsprechend fiel jetzt sein Urteil über das zuvor nach strengen Formprinzipien gebaute Stonborough-Palais in Wien aus: es beweise guten Geschmack, gute Manieren, es fehle ihm aber die Leidenschaft, das Leben, die Gesundheit, was grosse Kunst auszeichne. 11 Um dieses „Mehr" an Ereignis, auf das in der Baukunst alles ankommt, drehen sich die Gespräche zwischen dem Philosophen Jean Baudrillard und dem Architekten Jean Nouvel in ihrem Buch Einzigartige Objekte - Architektur und Philosophie, Wien 2004. Wenn man die baupragmatische Perspektive stark macht, gelangt man langsam in den Bereich des glatten Raumes, den gotische Architektur entwickelt hat. Ich habe bereits auf das „Gespür für Variation" hingewiesen. Wo nicht mehr Zahl, Masseinheit, Form den Raum definieren, wo Wiederholung nicht durch „Symmetrie als Form" entsteht, vielmehr „Wiederholung als Kraft" eingesetzt wird, dort überwindet gotisches Operieren mit wenigen Formelementen gerade den gekerbten zugunsten eines spezifisch glatten Raumes. Konsistenz des Materials ersetzt die Form als General. Der Rhythmus als Ereignis des Ungleichen überragt die Zahl als Gleichung homogenisierter Schwerkraft. Wiederum haben G. Deleuze und F. Guattari in der Philosophie das Vokabular eines nomadischen glatten Raumes eingeführt und begrifflich vom gekerbten Raum unterschieden.12 Dass es sich beim ersten mehr um einen haptischen Raum des Kontakts, der Annäherung, der Nahsicht, bei letzterem mehr um einen visuellen Raum, um einen der Fernsicht, der Perspektive, des euklidischen Ideals von Zahl und Figur handelt, stellt ihr Nomadenbuch unmissverständlich heraus. Es geht aber überhaupt nicht darum, daraus einen Gegensatz, der sich ausschliesst, zu konstruieren. Hier ein Fazit zu der hier einschlägigen Idee des Glatten: „Der glatte Raum ist genau der Raum der kleinsten Abweichung: er hat auch keine Homogenität, ausser zwischen unendlich dicht beieinander liegenden Punkten, und die Verbindung zwischen ihnen vollzieht sich unabhängig von festgelegten Wegen. Es ist ein Raum des Kontakts, kleiner Kontaktvorgänge, der eher taktil oder manuell als visuell wie der gekerbte euklidische Raum ist. Der glatte Raum ist ein Feld ohne Leitungen und Kanäle. Ein Feld, ein heterogener, glatter Raum verbindet sich mit einem besonderen Typus von Mannigfaltigkeiten: mit nichtmetrischen, nicht-zentrierten, rhizomatischen Mannigfaltigkeiten, die den Raum besetzen, ohne ihn zu ,zählen', und die man nur ,erforschen kann, indem man auf ihnen entlanggeht'. Sie entsprechen nicht der visuellen Voraussetzung, von einem Punkt des Raumes, der ausserhalb von ihnen liegt, beobachtet werden zu können: so zum Beispiel das System von Tönen oder auch von Farben, im Gegensatz zum euklidischen Raum." (TP 510) Einen Raum besetzen, ohne ihn zu zählen, sondern durch Kontakt und Verläufe zu kennen, bedeutet, in einen glatten Raum einzugehen. 12 Man vgl. vor allem das letzte Kapitel von Tausend Plateaus „Das Glatte und das Gekerbte", das diese Unterscheidung an folgenden Modellen durchspielt: „Das Modell der Technik", „Das Modell der Musik", „Das Modell des Meeres", „Das Modell der Mathematik", „Das Modell der Physik", zum Schluss „Das Modell der Ästhetik: die nomadische Kunst". Tatsächlich scheiden sich die Geister durch alle Kunst- und Wissensbelange hindurch nach diesen beiden Schwerpunkten. Nur Ignoranten können diese hartnäckig übersehen. 193 194 Im Blick auf die Gotik ist es der Kunstwissenschaftler Wilhelm Worrin-ger gewesen, der in den viel beachteten Büchern Abstraktion und Einfühlung (erstmals München 1908) und Formprobleme der Gotik (in 6. Auflage München 1920) von spezifisch nordischer Ornamentik, von einer gotischen Linie sprach, die in Ausdruckskraft und nicht in einer Form besteht. Die klassische Ornamentik arbeitet mit der Symmetrie, die der organischen Mässigung des Gefühls entspricht. Diese Wiederholung eines Motivs (einer Form) im Gegensinn, im Spiegelbild beruhigt das Moment der Steigerung, erzeugt einen geschlossenen Rhythmus im Sinne der Addition. Im Abschnitt „Die unendliche Melodie der nordischen Linie" wird der gotischen Ornamentik ein Loblied gesungen, die mit einem Multiplikationsfaktor arbeitet und durch „steigernde Bewegtheit ohne Fermaten und Akzente" dem einzelnen Motiv Unendlichkeitspotenz verleiht. „Die unendliche Melodie der Linie schwebt dem nordischen Menschen in seiner Ornamentik vor; jene unendliche Linie, die nicht erfreut, sondern betäubt und uns zur willenlosen Hingabe zwingt." (Worringer, Formprobleme der Gotik 36/37) Man erlebt den gotischen Raum als körperlose, unendliche Bewegtheit. Zum Beispiel provoziert die so starke Vertikalisierung unmittelbar den Unendlichkeitsgedanken, „das In-sich-selbst-Verlaufen der Linie". Sie verhält sich labyrinthisch, hat weder Anfang noch Ende, besitzt keinen Punkt, an dem die Wahrnehmung verweilt, ist grundsätzlich azentrisch. Wo sie wie bei der Fenster-Rosette einmal zentrisch verläuft, besteht dieses Zentrum nicht in einem geometrischen Stern, sondern in einem drehenden Rad, im Sonnenrad oder in einer Turbine. So wird die Bewegtheit nicht gebremst. Sie beruhigt sich nicht in radialer, sondern beschleunigt sich in peripheraler Richtung. Die gotische Linie, die den glatten Raum erschafft, unterscheidet sich sowohl von geometrischen als auch von organischen Formen und erhebt mechanische, abstrakte Züge zur Intuition. „Abstrakt" bedeutet nicht geometrisch geradlinig und bildet auch nicht den Gegensatz zu figurativ. „Die abstrakte Linie ist der Affekt eines glatten Raumes", während die organische Darstellung das Gefühl des gekerbten Raumes vermittelt. Organe bilden funktionale Kerbungen eines Körpers, darunter ein organloser Körper einen glatten Raum der molekularen Kräfte des Lebens verbirgt. Wenn es berechtigt ist, den glatten Raum ein „nomadisches Absolutum als lokale Integration" zu nennen, bestehend aus unendlicher Fortsetzung von Annäherungen und Richtungsänderungen, dann kann dieses Absolute nichts anderes als „Werden" oder „Prozess" selber sein, ein „Absolutes des Übergangs" (TP 684). Paradox ausgedrückt: Übergehen ist das einzig Beständige. Das Absolute der Weitsicht des gekerbten Raumes hin- gegen etabliert sich als Horizont oder Hintergrund, als „das Allumfassende", worauf Umriss und Form sich abzeichnen. „Eine Linie dagegen, die nichts eingrenzt, die keinen Umriss mehr zieht, die nicht mehr von einem Punkt zum anderen geht, sondern zwischen den Punkten verläuft, die unaufhörlich von der Horizontalen und von der Vertikalen abweicht und sich ständig von der Diagonalen löst, indem sie unaufhörlich die Richtung wechselt - diese mutierende Linie ohne Aussen und Innen, ohne Form und Hintergrund, ohne Anfang und Ende, eine solche Linie, die ebenso lebendig ist wie eine kontinuierliche Variation, ist wahrhaft eine abstrakte Linie und beschreibt einen glatten Raum." (TP 689) Ich hatte eingangs das Ausreizen des Materials auf Leichtigkeit und Beschwingtheit hin betont. Die riskanten Höhen, das filigrane Netzwerk der Wände scheinen die Schwerkraft aufzuheben, die Entmaterialisierung des Materials zugunsten von Kräften und Strömen zu betreiben. Soviel von der nomadischen Erzählung muss genügen, um den metaphysischen Dualismus von Materie und Form für wenig ergiebig zu halten, um das Entstehen von Kunst zu begründen. Für gegenwärtige Künste gilt das im eminenten Sinne, dass sie es nicht mit Formen, sondern zumeist mit moleku-larisierter Materie zu tun haben, die nicht schon in einer vorgegebenen Form ein Intelligibilitätsprinzip besitzt. Vielmehr wird ein Material so gespannt, gedreht, getrieben, dass es Kräfte einer andern Ordnung freigibt, eben „Kräfte eines energetischen, formlosen und immateriellen Kosmos" (TP 467). Was einst philosophisch „Form" hiess, wird durch Konsistenzverfahren abgelöst, die permanent andere Schichtungen, Formationen, Transformationen des Materials vornehmen und derart ungeahnte Formungen hervorbringen. 2.5 Eine neogotische Reminiszenz: Perrets „Notre Dame du Raincy" 1922/23 Die Kathedrale Notre Dame du Raincy erwähne ich als späte Bestätigung der Interpretation der gotischen Wand als diaphane Fläche, nun im neuen Material Beton sehr anschaulich realisiert, wobei nun dieser flüssige Materialträger eben auch erlaubt, eine doch sehr homogene Ornamentik in Gussformen hervorzubringen. Der Betonpionier Auguste Perret (1874-1954) baute 1922/23 in einem Pariser Vorort die neogotische Kirche „Notre Dame du Raincy", wobei er ganz im Sinn des gotischen Wandbegriffs der diaphanen Folie die Seiten vollständig mit einem Raster aus vorfabrizierten verglasten Betonelementen (60x60 cm) überzog, die mit abstrakten und christlichen Zeichen (Kreis, Kreuz usw.) ornamental 195 dekoriert sind, wobei diese Rasterung die Konsistenz und die Leichtigkeit von Textilmustern annimmt. Die Wand erscheint dadurch noch mehr als transparente Fläche, dass der Architekt die raumtragenden Rundpfeiler innen vor die Wand stellt, das konstruktive Gerüst funktional und optisch von der Raumhülle absetzt. Diese wird nun sichtbar von der statischen Funktion befreit. 196 Abb. 13, Abb. 14 Auguste Perret, Notre Dame du Raincy, Paris 1922/23 Lichteffekte Innen - Wandmuster Aussen Man hat Perrets Kirchenbau als Reflex des 20. Jahrhunderts auf Abt Sugers Lichtarchitektur gepriesen. Gelobt werden muss aber insbesondere der neue Baustoff Eisenbeton, der gar kein homogenes, sondern insofern ein heterogenes Material darstellt, als sein Konsistenzgrad von den variierbar gemischten Rohstoffen abhängt, gelobt sei auch das Material, weil es eine so leichte, eine geradezu textile Bauweise hergibt. 2.6 Weltmonument der Ingenieurkunst: Maillarts „Salginatobelbrücke" 1929/30 Was im 12. und 13. Jahrhundert gotische Sakralarchitektur an wagemutiger Konstruktion mit Stein und Glas erobert hat, das setzte sich im 19. und 20. Jahrhundert beim Brückenbau in Eisen und Beton fort Das neue Material Stahlbeton ermöglichte es, ungeahnt schlanke Brückenformen über weite Distanzen zu legen. Ich will die Pionierleistung des Schweizer Ingenieurs und Brückenbauers Robert Maillart, die Salginatobelbrücke oberhalb von Schiers im Kanton Graubünden aus dem Jahre 1929/30 als Beispiel anführen. Sie wurde 1990 zum Weltmonument der Ingenieurkunst erhoben.13 Die Formung dieser Brücke resultiert aus der Kühnheit des Ausreizens des neuen Baustoffs. Sie schlägt einen abstrakten weissen Bogen über die tiefe Schlucht, dem die Leichtigkeit und Geschmeidigkeit des Sprunges einer grossen Wildkatze zukommt. Die Fahrbahn hebt den Besucher linksseitig plötzlich vom Terrain ab, sie führt ihn über die Querbalken des Zufahrtsweges zum Hohlkastenprofil, das ihn in die Hauptspannweite hinüber lockt, wo er von der zweiten Bogenhälfte übernommen wird und im gegenüberliegenden Felsausschnitt sanft landet. Was macht die konstruktive, künstlerische Leichtigkeit dieser Baute abgesehen von der äusserst minimalen Materialbemessung aus? Es handelt sich um einen Dreigelenkbogen mit Hohlkastenprofil. Man sieht in der Frontansicht sehr schön das Gelenk im Bogenscheitel. Durch zwei eingelassene Betonblöcke, welche die gleiche Breite wie Gewölbeplatte und Fahrbahn aufweisen, wird die Schattenlinie der sonst auskragenden Fahrbahn 2,4 m unterbrochen. Diese kleine Diskontinuität gibt Einblick in die Konstruktion und macht sie optisch leicht. Zur optischen Leichtigkeit tragen auch die geringen Vouten (Verstär- 13 Vgl. D. Billington, Robert Maillart and the Art of Reinforced Concrete. The Architectural History Foundation N. Y., Cambridge Mass. and London 1990. Auch A. Kessler, Vom Holzsteg zum Weltmonument. Die Geschichte der Salginatobelbrücke. Internationales Historisches Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst. Buchdruckerei Schiers, 1996. Und Max Bill, Robert Maillart - Brückenschläge. Zürich 1990. Diese Brücke stand schon 1947 im Mittelpunkt der ersten Ausstellung der reinen Ingenieurkunst im Museum of Modern Art in New York. 197 kungen) dort bei, wo die stützenden Querwände den Fahrbahnträger berühren. Dazu gehört auch, dass die Bogenhöhe zu den Kampfgelenken hin deutlich abnimmt. Das sind künstlerische Details, welche dem Material Schlankheit und der Konstruktion Sparsamkeit auferlegen. Und der Leichtigkeit gewaltig förderlich ist natürlich die Tatsache, dass diese Stahlbetonkonstruktion völlig ohne Natursteinwiderlager beidseits am Berg auskommt. "Der Effekt ist atemberaubend, denn es gibt keine falsche Umrahmung durch Natursteinwiderlager mehr, keine falschen Formen des Viaduktes, welche an Steinbogen erinnert hätten, und keine falschen Fassaden, die das weisse, in der Holzschalung geformte Betontragwerk verborgen hätten."14 Es fehlt jegliche Steinfundation bei den Bogenkämpfern. Nichts erinnert hier mehr an die alte Steinbogenbrücke. Der Betonbogen scheint an beiden Enden in den Fels zu verschwinden. Das weisse, nackte Material wirkt als Kontrast zur Landschaft. Der Ingenieur gleicht seine Brücke keinen Moment der Natur an. Der neue Baustoff erlaubt ihm, einen geschmeidigen Sprung aus Beton in einer unwirtlichen Gegend zu tun. Der seitliche Blick zeigt, dass die weisse Gewölbeplatte und die letzte Querwand (links) zum Brücken-Auflager hin breiter werden, geschwungen sind. Auch werden die beiden Seitenwände zum Kämpfer hin schmaler. Diese Ver- 14 Billington 46. Abb. 17, Abb. 18, Abb. 19 Salginatobelbrücke 17 Seiten-Unterblick 18 Längenschnitt 19 Richard Coray, Holzbaugerüst jüngung bestimmt ganz wesentlich die Eleganz des Bogenprofils. Schliesslich lässt der Seiten-Unterblick die sehr leichten Randverstärkungen der vertikalen Querwände erkennen. Und die Begehbarkeit der Brückenplatte bis fast zum Scheitelpunkt wird deutlich. Der Längenschnitt gibt als Gesamtlänge 132,3 m, als Bogen-Stützweite 90 m an. Die Höhe über Wasser beläuft sich auf 93 m. Das Gefälle der Fahrbahn beträgt 3% oder nahezu 4 Meter. Schliesslich ist auch noch das Holzbaugerüst von Richard Coray als Kunstwerk von grosser Geschmeidigkeit wie die Brücke in Erinnerung geblieben. David P. Billington von der Princeton University, USA, nannte diese schlanke Brücke „eines der vollendetsten Bauwerke des zwanzigsten Jahrhunderts" und ein „vor allem für den Fachmann geheimnisvolles und wunderbares Gebilde". Maillarts Werke seien insgesamt „Musterbeispiele einer neuen Kunstform". Zusammenfassend gilt die Meinung der Ingenieurwelt, dass diese Salgi- natobelbrücke in den 30er Jahren die fortschrittlichste Bogenbrücke überhaupt darstellte. Im Zusammenhang mit meinem Thema von Materie und Form erscheint mir am Ende die Feststellung nicht unwichtig, dass hier ein versierter Ingenieur und Künstler am Werk war, der mit Schul-Mathematik auskam: „Seine Berechnungen beschränkten sich auf elementare Mathematik ohne Infinitesimalrechnung."15 200 3. Den Strömen folgen in der Malerei 3.1 Rembrandts „ruwe manier" Ich wechsle nun von Beispielen der Architektur zu solchen der Malerei. Einem Material, in diesem Falle der Farbe, Äusserstes abzuverlangen, das taten auch zu allen Zeiten Pioniere der Malkünste. Ich werfe gerade deshalb den Blick ganz kurz auf Rembrandts raue Manier des Farbauftrags, weil ich nachher eine gegenwärtige Malerin vorstellen möchte, die sicher nicht direkt bei Rembrandt anknüpft, die aber ähnlich mutig mit heutigen Mitteln mehr den Strömen der Farbe folgt als Formen zu reproduzieren, wie es im 17. Jahrhundert der holländische Grossmeister getan hat. Ich verorte sie deshalb keineswegs auf einer Höhe mit Rembrandt, ich behaupte nur einen ähnlichen Mut im Umgang mit dem Material. Von van Gogh weiss man, dass er bei Rembrandts „Judenbraut" vor Staunen über die Malweise völlig ausser sich geriet und von einem intimen, unendlich sympathischen Bild sprach. Zeitgenossen Rembrandts, allen voran Gerard de Lairesse, geisselten hingegen Rembrandts Maltechnik, bei welcher „der Saft gleich Dreck am Bild herunter laufe".16 Er forderte im Sinne der „feinen Manier" des Malens, dass der Pinselstrich überall gleichmässig sein müsse, sodass die Gegenstände allein durch Kunstfertigkeit, nicht durch Kleckserei (kladdery) rund und plastisch erscheinen. Kunstfertigkeit bezog sich auf die einzig korrekte Verwendung malerischer Mittel wie Kontur, Farbauftrag, Licht, Schatten gemäss der feinen Art, um im Bild plastische und räumliche Illusion zu erzeugen. In dieser Stimme sprach noch das Ideal der Renaissance, das dem „disegno", der Vorzeichnung den Vorrang gegenüber dem „colorito", dem Farbauftrag gab. 15 Billington 172. 16 Zit. Nach Ernst van de Wetering, „Rembrandts Malweise: Technik im Dienst der Illusion" 13, in Ch. Brown, J. Kelch, P. van Thiel, Rembrandt. Der Meister und seine Werkstatt. München, Paris, London 1991, 12-39. Von G. de Lairesse stammt das Buch Het Groot Schilderbo-ek, Amsterdam 1707. Die immer wiederkehrende Formdebatte ist meines Erachtens die Nachwirkung eines Ideals und das Produkt eines nicht farbigen Sehens, eines nicht malerischen Sehens, sondern eines Verstandessehens, das die Dinge in Umrissen, Grenzen, Formen auffasst, nach Kategorien in Charaktere und Arten einteilt, statt sich dem Spektakel von Licht und Farben wirklich auszuliefern. 1991 schrieb Ernst van de Wetering, dass man ob der rätselhaften Farbbehandlung etwa beim Ärmel des Männerarms der Judenbraut den Eindruck gewinnt, „dass nicht der Maler malte, sondern dass sich das Gemälde selbst gemalt hat, dass es eher das Ergebnis eines geologischen Prozesses [zu sein] scheint als von Menschenhand aufgebrachte [aufgetragene] Farbe, dass der Zufall in unfassbarer Weise eine wichtige Rolle bei dieser Art zu malen spielte". (de Wetering 13) Diese Beschreibung würde zweifellos auf viele Beispiele der so genannten „Postmoderne" bestens passen. Das Ausreizen des autonomen Farbmaterials war bereits beim grossen Holländer ein Hauptanliegen. Auf dem besagten rechten Ärmel ragt Farbe in Klumpen hervor. Rätselhaft bleibt, wie er sie überhaupt aufgetragen hat. Man weiss nicht, welche Instrumente der Maler dabei benutzte, jedenfalls fehlen Pinselstriche und Spachtelspuren. Das Bild, das sich selber malt: die Rolle des Subjekts wird diejenige eines Auslösers und Regulierers von Materialströmen. Geologische Metaphern legen sich bei näherer Betrachtung nahe. Der Zufall regiert im Detail, wo bereits abstrakte Malerei vorliegt. Ein Ausreizen von Farbe im Dienste des Figurativen und der Raumillusion, jedoch nichts Abbildendes ist da. Die „ruwe manier" ist mehr ein haptisches Malen durch Kontakt mit dem Material, das aus der Nahsicht eine Molekularisierung erfährt, in seine Kräfte zerlegt wird, als ein visuelles Malen aus der Fernsicht auf den Gegenstand, wie es die „feine Manier" zur Erzeugung der Illusion verlangt. Bei der Partie durchscheinender Stoffe auf der Schulter der Frau, worauf der Mann seine linke Hand legt, erzeugen zufällig hingetropfte Farbfäden auf einer chaotisch gewischten, fleckigen Unterschicht den Effekt von kostbaren Stoffen, denen Metallfäden unterlegt sind. Man weiss, dass Rembrandt alle darin übertraf, erlesene exotische Stoffe in ihrer samtenen oder pelzigen Weichheit mit unerhörten malerischen Mitteln in Szene zu setzen. Früh liebte er den Prunk, das Gold, den Glitzer. Er erschuf den Prunk mit Klecksen. Aber er begegnete auch dem Schmerz und der Trauer (man denke an das Leuchten der Farben im Bild „Jeremias trauert über die Zerstörung Jerusalems" (1630), dem Alter und dem Verfall mit derselben strahlenden malerischen Geste. Er erzeugte in Farben die Empfindung von grosser Güte und Schönheit bei allem, was er anrührte. Er übergab es einem bisher nie gesehenen Farbenfluss. 201 202 Abb. 20 Rembrandt, Die Judenbraut 1665 Ausschnitte Ärmel, Schulter, Kleid Man sagt, Rembrandt hätte Mühe gehabt, bei einem Portrait die Ähnlichkeit zu erreichen. Ausgerechnet er, der wie kein anderer Portraits und Selbst-portraits „en masse" produzierte, konnte die Ähnlichkeit mit dem Portraitier-ten nur schwer erzielen. Das kann nur heissen, dass es ihm nicht um formale Ähnlichkeit, nicht um die Form der Repräsentation gegangen sein konnte. Die Farbatmosphäre oder Farblandschaft eines Gesichts war ihm wichtiger, als Formen und Merkmale der Repräsentation desselben abzubilden. Die Protagonisten mussten ihre Identität verlieren, mussten gesichtslos werden, um in Farbe, um in ein Farbgesicht überzugehen. Hand, Fuss, Ärmel, Schulter war ihm ebenso wichtig wie das Gesicht, malte er mit ebensolcher Lust der Farbe. Der Dichter Jean Genet stellt zurecht die rhetorische Frage, „welchem ist es in diesem Masse gelungen, die Identität des Themas zugrunde zu richten, um es besser hervortreten zu lassen."17 Das Gesicht seiner alten Mutter malte er erschreckend schonungslos mit Schrunden, Falten und Warzen, aber er verwandelte es so sehr in Malerei, dass die hässlichen Zeichen des Alters und des Verfalls selbst Ornamente oder Verzierungen wurden. Desgleichen malt er den totalen Verfall des Gesichts 17 „Rembrandts Geheimnis", in Jean Genet, Rembrandt, Gifkendorf 1996, 33-34. der Margaretha de Geer (Gattin von Jacob Tripp), als wäre es eine liebenswerte Sache, er gibt ihm bei der Verwandlung in Farbe Schönheit und Würde zurück. Man könnte die späten Selbstbildnisse heranziehen, die zunehmend der „ruwen manier" gemäss viel Strömen der Farbe realisieren. Man müsste viele Tuschezeichnungen und auch die Radierungen unter dem Aspekt fliessender Linien betrachten. Man würde eine Menge technischer Neuerungen antreffen, welche die Illusion von Wirklichkeit weniger durch feste Form als durch raue Materie erzeugen. Es werden nirgends Formen reproduziert. Auch Rembrandt hatte als Feinmaler begonnen und endete bei der „ruwe manier". Man kann nicht anders, als diese atemberaubende Entwicklung in der Maltechnik bei ihm als bewusste Entscheidung des Malers und als Experimentierfreudigkeit mit dem Farbmaterial aufzufassen. Bei seiner zufälligen Verteilung von reliefartigen Farbkügelchen, Kratzern, Furchen unter durchsichtigen Farbschleiern, worin man schwerlich eine Formbildung erkennen kann, geht es nur darum, die Farbmaterie mit der stärksten Wirkungskraft strömen zu lassen und diese neuartig erzeugten Effekte auf der Fläche so zu verteilen, dass im Bild die Empfindung von Intensität, Intimität, Stille, Güte, Harmonie erzielt wird. Ähnlich ist vor ihm der Weg bei Tizian verlaufen, dessen Spätstil sich schon der rauen Malweise ohne Vorzeichnung bediente.18 Auch bei ihm, dessen Werk vermutlich den stärksten Einfluss auf Rembrandt ausgeübt hat,19 beruhte das nicht auf abnehmender Sehkraft im Alter. Er wollte dem Material noch mehr Leuchtkraft, Frische, Zauber entlocken. Drei Schritte bezüglich Formen reproduzieren oder Materialströmen folgen lassen sich in der Maltechnik mit einem Schlag verdeutlichen, wenn ich mit de Wetering die Darstellung eines Kindes im Ausschnitt aus einem Gemälde von Raffael, von Tizian und von Rembrandt nebeneinander stelle. Arbeitete Raffael sehr formbewusst und setzte er die Farbe gezielt, kolorierend, kompositorisch ein, so befreite der späte Tizian die Farbe schon sehr von der Bindung an eine Symbol- und Formgebung, und Rembrandt löste den „Gegenstand", ob Hand oder Hemd oder Kleid, unterschiedslos in Farbatmosphäre auf. Mehr „den Strömen folgen" im Sinne der Wirksamkeit von 203 18 „Dabei erhielten Ton- und Farbschattierungen bei der Wiedergabe der Wirklichkeit das Primat über die Form." Das schreibt E. van de Wetering 18. 19 Das wird von E. van de Wetering im oben genannten Aufsatz nachgewiesen. Die Kunstgeschichte vom Gesichtspunkt des Materials aus und des spezifischen Umgangs mit den Maltechniken ist bis heute nicht geschrieben worden. Farbmaterial war bisher nicht als bei Rembrandts Spätstil. Es handelte sich um einen revolutionären Weg, Farbe vom königlichen Dienst an der Formbildung zur autonomen Wirkung zu bringen, bei der „Form" selber nicht mehr linear, sondern malerisch verstanden wurde, das atmosphärische Ergebnis von Farbexperimenten war. Das hat auch das Sehen von Kunst verändert. Man musste Rembrandts Bilder auf Distanz betrachten, weil man von nahe nur Farbflecken sah. Der Meister hielt die Besucher auf Distanz, indem er auf den schädlichen Geruch der Farbe verwies. In der Atelierkultur des 17. Jahrhunderts diskutierte man Fragen der Art, wie ein achtlos erzeugter grober Strich soviel Weichheit bewirken kann? Sind derart gemalte Werke überhaupt vollendet? Wann ist ein Bild fertig? Wenn ein Meister es als solches bezeichnete, nicht wenn die Formerwartungen des Betrachters befriedigt waren. Das war also nicht erst im 20. Jahrhundert so. Rembrandt bediente sich auch ungeniert des „pentimentos", des nachträglichen Eingriffs in ein Bild. Um eine Perle kräftiger leuchten zu machen, hätte er die 204 schönste Kleopatra mit brauner Farbe überzogen, erzählt die Legende. Natürlich gab es Rezepte und Tricks, wie die Illusion der Wirklichkeit mit Farbe am besten getroffen wurde. Rembrandt bediente sich dieses Repertoires auf die souveränste Weise, er wich nämlich wie kein anderer Zeitgenosse davon ab. Zum Beispiel wirft bei einem Portrait die helle Stelle eines damals in Holland üblichen breiten weissen Halskragens Licht auf die dunklere Stelle des Unterkiefers und der beschatteten Wange, sodass die Haut der unteren Gesichtshälfte, weil heller, kühler wirkt als die der oberen. Die raue Manier setzte solche Nuancen schwungvoll. Oder bei einem Auge bekommt nicht nur der Augapfel einen Glanzpunkt (hellen Reflex), auch bei der Tränenflüssigkeit auf der Lidkante und im inneren Augenwinkel erscheinen bei Rembrandt solche Reflexe als kühne, raue, helle Flecken, was die Lebendigkeit des gemalten Auges enorm steigert. Oder ein Schlagschatten unter der Nase beginnt scharf und endet verschwommen. Rembrandt erzielt gerade durch Flüchtigkeit und Zufälligkeit des Malauftrags diese Effekte sehr wirklichkeitsnah. Was er von früh an wie kein anderer beherrschte, war die Art, die Farbkonsistenz zu differenzieren, um einem Gegenstand optimale Lichtwirkung zu verpassen. Die Pigmente eigenhändig zu reiben, die Dicke auf dem Reibstein zu variieren, um entsprechende Oberflächenstrukturen zu realisieren, verhalfen dazu. Dass Rembrandt experimentell vorging, belegen auch einige frühere Entdeckungen oder Änderungen, die er bei den Malregeln der Illusion machte.20 20 Ich folge hier weitgehend der Darstellung von Ernst van de Wetering. Abb. 21 Raffael, Madonna und Kind mit dem kl. Johannes (Ausschnitt) 205 Wenn es zum Beispiel zur Erzeugung von Raumillusion heisst, dass helle Stellen im Gemälde hervortreten, dunklere Töne jedoch im Bildraum zurückweichen, dann weist Rembrandt nach, dass nicht immer die Helligkeit, sondern gerade auch die Rauheit des Farbauftrags (Hoogstraten nannte es die „Kenntlichkeit") die räumliche Illusion von Tiefe bewirkt. Das Auge hat Halt am Rauen der Farbe, während die Gleichmässigkeit den Eindruck von Entfernung schafft. Bei der „Nachtwache" (1642) fesselt der unebene Farbauftrag im Vordergrund beim gelben Kostüm von Ruytenburgh, bei der Trommel, bei Hand und Kragen von Banning Cocq. Oder der Meister setzte bewusst Schatten im Vordergrund dunkler, Schatten im Hintergrund heller. Um den Abstand zwischen gelbem Leutnant Ruytenburgh und gelbem Mädchen zu vergrössern, malte er die Schatten beim Mädchen heller. Die geringste Entfernung kann durch Tonnuancen erzielt werden. Das waren drei malerische Mittel, die Raumillusion zu erzeugen: raue Oberfläche, atmosphärische Perspektive, dunkle vor hellen Partien. Und formgebende Konturen fehlen. Rembrandt fand eine ganz eigene Lösung, ein eigenartiges „sfumato", Konturen atmosphärisch aufzulösen, indem er etwa mit Pinselborsten zähe Farbe über Oberflächen streifen liess, wodurch unebene Farbtonübergänge entstanden, die räumlich-atmosphärische Wirkung taten. Was nach Effekt oder Trick klingt, war damals eine Tat von Wagemut 206 Abb. 22 Tizian, Kind mit Hunden um 1570/76 (Ausschnitt) Abb. 23 Rembrandt, Familienbildnis um 1665 (Ausschnitt) und Freiheit, allerdings noch zeitgemäss im Dienste der Illusion. Die Rauheit und Wildheit, wenn es letztere überhaupt gab, bedeutete kein drauflos Schmieren. Nirgends fliesst der Saft der Farbe wie Dreck am Tuch, wie der Zeitgenosse Lairesse schimpfte. Der Dichter Jean Genet nennt die hauptsächliche Empfindung, welche Rembrandts Bildnisse (man denke an die späten Selbstportraits) realisieren, eine grosse Güte. Letztlich ging es seiner Malerei nicht um die Illusion des Räumlichen. Das stellte damals nur ein Mittel der technischen Komposition dar. Am Ende regulierte und kanalisierte die Arbeit an dieser Empfindung unendlicher Güte dem Verfall gegenüber den ungewöhnlichen Umgang mit dem Farbmaterial, sie ergibt die eigentlich ästhetische Komposition, die wir so sehr lieben. Wenn man mit Alberti das Wesentliche der Baukunst der Renaissance (und die Kunst der Renaissance wurde insgesamt als plastischer Stil bezeichnet, im Zentrum stand die Statue) in der Geformtheit (concinnitas) erblickt, welche durch das Mittel der Begrenzung (finitio) erreicht wurde und die Vollkommenheit (perfectio), das Ideal zum Ziele hatte, dann bestimmt sich die Malerei von Rembrandt als eine Kunst der Entformtheit, die sich durch den ganz und gar malerischen Stil dem Unendlichen (infinitudo) öffnet und alles einer einzigen Substanz (substantia), dem Stoff oder Material Farbe entlockt, wobei die Potentialität (potentia) des Lichtes, eine neuartige Lichtdynamik, Regie führt. Rembrandt reihte sich damit in eine barocke Vision des Kunstschaffens ein. „Entformtheit" heisst das philosophische Stichwort meines viel zu flüchtigen Blicks auf Rembrandts Beitrag zum Thema dieses Symposiums.21 3.2 Das „dekorative Bild" bei Matisse Matisse vollzieht in der Moderne eine Aufwertung des Dekorativen, des Ornamentalen, die mit der neuen Definition des Bildes als Oberfläche einhergeht. Nicht dass er Figur und Raum ganz aufgegeben hätte. Er reflektiert und thematisiert unablässig dieses Verhältnis. Die grosse Düsseldorfer Ausstellung Henri Matisse, Figur Farbe Raum von 2005/06 war diesem Thema gewidmet.22 21 Der Spinoza-Spezialist Carl Gebhardt hat diese barocke Sicht Rembrandts bereits 1927 deutlich herausgearbeitet. Vgl. C. Gebhardt, „Rembrandt und Spinoza. Stilgeschichtliche Betrachtungen zum Barock-Problem", in Kantstudien 32, 1927, 161-181. 22 Den neuesten Forschungsstand liefert der gleichnamige Katalog, hrsg. v. Pia Müller-Tamm, Hatje Cantz 2005. Die Kuratorin und Herausgeberin schreibt: „Die Moderne hat die bildliche Konstellation von Figur und Raum kategorial neu bestimmt. Wie kein anderer Maler des 20. Jahrhunderts war Henri Matisse an diesem Prozess beteiligt." (Müller -Tamm 17) Was heisst kategorial neu bestimmt? Werden nicht gerade alle kategorialen Bestimmun- 207 Nicht nur im Zusammenhang mit der Formfrage ist die Bemerkung von Matisse wichtig, dass für ihn Malen und Zeichnen eine Einheit darstellen, sondern auch sein Bekenntnis zur Farbe als formgebende Kraft, das in den Satz mündet: „Die Farbe darf auch die Form nicht einfach ,kleiden': sie muss sie bilden."23 Bei diesem frühen Bild „Stillleben mit ,Der Tanz'" (1909) wird an allen vier Seiten ein Gegenstand angeschnitten präsentiert, nämlich „Formreste" eines schwarzen Stuhls, eines roten Tuches, einer reichlich dekorierten Tischdecke, oben dann Ausschnitte von der Rückseite einer Leinwand und von der Vorderseite des eigenen Bildes „Der Tanz" als reduziertes Bildzitat. Die Komposition besteht aus lauter angeschnittenen Flächen, die sich ineinander schieben. Da gibt es zwar noch Raumillusion, eine Art Ateliersituation, wobei aber selbst der Tisch derart in einer Aufsicht gezeigt wird, dass er flächig wirkt. Nur an der verkürzten Vorderkante und bei den kleinen Gegenständen auf dem Tisch ist eine deutlich plastische Wirkung vorhanden. Dieses frühe Bild komponiert die Fläche tatsächlich aus angeschnittenen Ge-208 genstandsformen, sodass eine gegenständliche Lesart sofort von „Formresten" oder „Formfragmenten" spricht. Es kündigt sich darin jedoch ein radikalerer Schritt in Richtung eines flächig konstituierten Bildes an, worin der Gegenstand dem Gegenständlichen, die Figur dem Figurativen entrissen wird. Sie werden zu Arabeske und Dekor in Farbe verwandelt. „Die Umgebung macht den Gegenstand", behauptet der Maler. Und: „Der Gegenstand ist ein Schauspieler", weil er in zehn verschiedenen Bildern zehn verschiedene Rollen spielen kann. „Man nimmt ihn nicht für sich...". Vielmehr gilt, „jedes Kunstwerk ist eine Sammlung von Zeichen, die der Künstler im Laufe der Arbeit erfindet, so wie es ihre Stellung im Bild erfordert" (Matisse 242). gen von Figur und von Raum durch Farbe und Ornament überwunden? Eine sich als Königswissenschaft der Kunst verstehende Analyse betont die komplexe Durchdringung von Zwei- und Dreidimensionalität bei Figur und Raum, bei „Figur als Raum", betrachtet, wie das Sujet den Bildraum formt, denn die Figur strahlt und greift in den Raum aus. Sie sieht Matisses Modernität gerade nicht in neuartigen formalen Strategien der Abstrahierung und der „Verflächigung", schreibt Müller-Tamm. Dem halte ich entgegen: Man kommt gerade vom Bild als Illusionsraum nicht los, benutzt weiter munter den Begriff „Bildraum", liest auch noch die letzten Papierschnitte von Matisse vor allem als plastische Illusion. Derweil erobert Matisse das Bild als unendliche Immanenzebene der Linie und Farbe, gewinnt trotz figurativer Elemente und Situationen die „Oberfläche" als Sinnebene der Kunst. Das ist, philosophisch betrachtet, die Modernität dieses französischen Malers, der die Immanenzebene der malerischen Zeichen parallel zum Rhythmus der Gegenstände unendlich erkundet. Die Papierschnitte macht er, weil die Schere „mehr Gefühl für die Linie" entwickeln kann als Bleistift oder Kohle. 23 H. Matisse, Über Kunst. Hrsg. J. D. Flam, Zürich 1982, 241. Nun hat der Kunsthistoriker Gottfried Boehm im Katalog schon darauf hingewiesen, wie die so angeordneten „Formfragmente" (malerischen Zeichen) eine Wucht über den Rand hinaus bekommen, er verwendet dafür die Metapher von expansiver oder zentrifugaler Kraft (Boehm 279). Das Bild besteht in einer Balance fliehender Kräfte. Die Bildmitte verliert an Gewicht, die Ränder werden bedeutsam, was auch die Flächigkeit des Bildträgers hervorhebt. Für die dargestellten Gegenstände, deren Massstab variiert, bedeutet die Fragmentierung ebenfalls eine deutlich gesetzte Verflachung. Was bei dieser Komposition heraus sticht, sind allemal heterogene Flächen, die einen Rhythmus, ähnlich dem von Tanzenden, bilden. Mit Boehm weiterhin vom Vorrang des Ganzen über die Teile, überhaupt vom Bild als Ganzheit, von „übergreifender Ordnung", von der „primären und blitzartig vollzogenen Wahrnehmung der Fläche" zu sprechen, erinnert terminologisch an die alte metaphysische Einheit des Bildes, die man hier als Hypothese aber nicht mehr benötigt, weil der Unterschied von Ganzem und Teil dahin fällt, wenn alles in die Fläche gebracht wird, wenn das Bild vom Maler konsequent als (unendliche) Oberfläche definiert wurde, darauf Arabesken flotieren, die vom Betrachter einen „schweifenden Blick" verlangen. „Fläche" 210 ist kein übergeordnetes Ganzes mehr, weil jedes Flächenteil die Fläche ganz ist. Matisse verlangt die andere Sprache der Oberfläche. Darum wird bei ihm kompositorisch Rhythmus, nicht Mass wichtig. Mass beruht auf Messbarkeit, Zählbarkeit, gehört zur Ordnung des Logos und schafft den durch Zählung und Messung eingekerbten Raum. Rhythmus gibt es hingegen nur im Tanzen selbst, er ist von der Ordnung des Nomos (der Nomaden), die einen glatten Raum bewohnen.24 Man kennt den Rhythmus eines Liedes nur durch das Singen desselben, beim Durchgang durch die einzelnen Töne, man besitzt ihn nicht abstrakt durch das Lied als Ganzes. Matisse betont in seinen Schriften, man müsse so malen, wie man singt, nämlich unbewusst und mit Leichtigkeit. Matisse verschiebt notgedrungen die Terminologie der Königswissenschaft. Statt bei Arabesken von Wiederholung der „Form" würde ich lieber von Variation eines Themas sprechen. Das malerische Zeichen entsteht durch Kontakt und Nahsicht. Seine unregelmässig handgemalten Arabesken, etwa beim ockerfarbenen Tischtuch, deren Anordnung nicht planimetrischer Logik, sondern eher dem Rhythmus der Tanzenden im Bildzitat dahinter folgt, seine Ornamente, seine Teppich-, Tapeten-, Tuchmuster variieren Bewegung und reproduzieren nicht einheitliche Formen. Figuren und Gegenstände gehen ebenfalls in diese Bewegtheit von Zeichen ein. „Man organisiert die Arabeske wie eine Musik. Sie hat ihren eigenen Klang." (Matisse 251) Die Variation bedeutet in der Musik keine blosse Wiederholung, sondern jede stellt ein eigenes kleines Stück Musik, ein kleines Ritornell dar. „Der maurische Wandschirm" lässt bei den die ganze Fläche bedeckenden „Mustern" überhaupt keine Wiederholung erkennen. Figuren und Gegenstände werden von einem Meer von Arabesken (malerischen Zeichen) überschwemmt, dass sie selber zu einer solchen werden, das durch Form und Volumen bestimmte Figurative der Figur wurde in FarbRhythmen aufgelöst. Nur eine Fernsicht dieser Malerei erkennt vorrangig das Räumliche. Denn auch der Begriff „Raum" dient Matisse nicht als ein sakrosanktes Vorausgesetztes des Bildes. Beim „Roten Interieur mit Stillleben auf blauem Tisch" werden durch das variabel gezackte Linienornament und durch das nach aussen fortgesetzte Rot alle bekannten Raumverhältnisse durchbrochen. Wo ist Boden, wo Wand? Wo ist Innen, wo Aussen? Raum gibt es im Bild, den Strömen der Variationen von geschmeidigen Linien, von textilen oder organischen Mustern malerisch folgend, als Resultante der flächigen oder zeichenhaften Elemente, nicht aber als Form. Das Oszillieren von Flächen lässt die alte 24 Die Ausdrücke glatter und gekerbter Raum habe ich , dem Standardwerk des nomadischen Denkens Tausend Plateaus von G. Deleuze und F. Guattari folgend, eingangs erläutert. Matisse, Intérieur rouge, nature morte sur table bleue 1947 Bildtiefe kaum illusionistisch aufscheinen. Sie machen auch am Bildrand nicht Halt, sondern greifen in unbestimmte Weiten aus. So etwa nehmen die dekorativen Elemente der Kapelle von Vence in Südfrankreich Einfluss auf den Kontext der darin stattfindenden Rituale und Gebete der Dominikanerinnen. Rituale und Gebete lassen sich plötzlich wie Dekor, wie Schmuck verstehen, was ritualisierte Gebete und Gesänge allemal auch sind. Das kann man jedoch nur dann so positiv sehen, wenn man sinngeographisch die Oberfläche (das Zeichenhafte, das Dekorative) gegenüber dem Sinn in der Tiefe der Elemente (der Natur, der Substanz) und dem Sinn in der Höhe der Ideen (die Ewigen Wahrheiten) favorisiert. Zu solchem Umdenken trägt die Malerei von Matisse bei. Spezifisch für die Oberfläche von Matisse ist es, dass er Figürliches in Zeichenhaftes sui generis verwandelt. Er benutzt den Begriff „Zeichen" sehr eigen. Ich erwähnte schon, dass jedes Kunstwerk eine Sammlung von selbst erfundenen Zeichen darstellt. Diese Zeichen werden von der Stellung im Bild erfor-212 dert. „So hat also das Zeichen, für welches ich ein Bild schmiede, gar keinen Wert, wenn es nicht übereinstimmt mit anderen Zeichen. Das Zeichen wird bestimmt in dem Moment, in dem ich es brauche, und für den Gegenstand, an dem es teilhaben soll. Deshalb kann ich nicht zum Voraus Zeichen festlegen, die sich nie verändern und die so etwas wie eine Schrift wären."25 Also keine feste, reproduzierbare Formen- und Muster-Sammlung anlegen, keine abstrakten Zeichen wiederholen. Einerseits bekommt eine Arabeske nur Wert durch die Nachbarschaft mit anderen, andererseits unterhält sie doch auch eine Beziehung zum Gegenstand, an dem sie „teilhat". Gemeint ist, dass der Künstler „die Natur besitzen", „sich mit ihrem Rhythmus identifizieren" muss. Er muss den Gegenstand lange studieren, um herauszufinden, welches sein Zeichen sein könnte. Darin drückt sich der dritte Weg zwischen dem der Figuration und dem der Abstraktion aus. Für Matisse gingen die Abstrakten vom Nichts aus, wie er sagte: „Es scheint mir, dass viel zu viele von den Malern, die man heute ,abstrakt' nennt, von einem Nichts ausgehen. Sie sind willkürlich.sie imitieren die Abstraktion. Man findet keinen Ausdruck in dem, was sich als Zusammenhang zwischen ihren Farben ausgibt." Die abstrakte Malerei zwingt die Farbe meistens unter 25 Und er fährt fort: „Es besteht keine Kluft zwischen meinen früheren Bildern und meinen Schnittarbeiten. Ich habe lediglich durch grössere Absolutheit und durch grössere Abstraktion eine auf das Wesentliche reduzierte Form erreicht, und ich habe vom Gegenstand, den ich früher in der ganzen Komplexität seiner Umgebung darstellte, nur das Zeichen übrig behalten." (Matisse 242) ein Konzept, ein Programm, repetiert und imitiert Elemente desselben, ohne parallel zur Natur rhythmischen Ausdruck in Farbe zu erschaffen. Sie beschäftigt sich mit nichts, wirkt oft leer und langweilig. Das Konzept, das sich als Zusammenhang zwischen ihren Farben ausgibt, wirkt formal abstrakt statt malerisch ausdrucksstark.26 Matisse fügt emphatisch hinzu: „Der Zusammenhang ist die Liebe, ja, die Liebe." Denkt man kurz an den Stellenwert von Textilien in Rembrandts und in Matisses Gemälden, dann ist eine gemeinsame Vorliebe für edle exotische Stoffe und Teppiche offensichtlich. Schon Rembrandt malte sie sehr dekorativ. Matisse lässt bei ihnen das Dekorative bildnerisch geradezu explodieren. Stoff, Gewand, Teppich, Tapete sind als Gegenstände selber Flächengebilde. Einmal das Bild als Tafel für malerische Zeichen und nicht mehr als Fenster zur Welt definiert, werden Bilder dekorative Sinfonien. Wenn schon immer galt, dass das Bild die ganze Welt auf eine Fläche projiziert, so macht Matisse dabei in rhythmischer Parallelität zur figürlichen und gegenständlichen Natur alle Dinge zu dekorativen Zeichen. Seine Gemälde folgen kompositorisch Strömen des Dekorativen. Die alten Formen der Gegenstandsdarstellung werden ornamental verflüssigt. In der Konsequenz dieser Bildphilosophie dehnt sich die ganze Welt als gewaltige Oberfläche aus. Darin gäbe es nichts, was sich nicht als malerisches Zeichen erwiese. So entriss Matisse die Figur dem Figurativen. Und er beendet auf seine Weise die Herrschaft der Form über die Farbe. Eine Generation später unternimmt der Engländer Francis Bacon einen ganz anderen Versuch, die Figur dem Figurativen zu entreissen. Er tut es mit dem Mittel deformierter Formen. Er setzt die Figuren in farbige Flächen, die keine Räume mehr sind, er lässt sie allerlei akrobatische Bewegungen ausführen, die keinen Sinn ergeben, er entreisst ihnen Körperteile, sie werden von einem Sog in einen Schlund gezerrt. Formkonventionen der Figürlichkeit tummeln sich, durch Spasmen und Deformationen entstellt, wie in einem gespenstischen Inferno. Wer nicht an Gott glaubt, der glaubt auch nicht an die Form. Die ganze Repräsentation der Welt durch feste Formen hängt vom Gottglauben ab. Wer den Strömen folgt, wer einem reichhaltigeren und konsistenteren Material immer intensivere Kräfte abringt, der kann nicht an Formen glauben. Im Blick auf „Der Tanz" (1909) sagte Matisse, er wollte „in einem beschränkten Raum eine Vorstellung von Unendlichkeit erwecken". Darum hat er die Bewegung der Figuren über den Rand hinausgehen lassen, damit der Betrach- 213 26 „Wenn Zeichnen dem Geist entspringt und die Farbe den Sinnen, dann muss man zunächst einmal zeichnen, um den Geist so zu kultivieren, dass er fähig ist, die Farbe durch die Pfade des Geistes zu führen." (Matisse 214) 214 ter sie ins Unendliche fortsetze. Solche Unendlichkeit ist eine weltimmanente und keine transzendente. Matisse favorisierte nicht die Substanz einer Figur, sondern deren Hülle. Die Bewegung tanzender Figuren transponiert das Figurative selbst ins Zeichenhafte, ergibt als dynamische Linien eine Girlande oder Arabeske. Vergleichbar der Art, aus einer Anekdote einen Aphorismus zu machen. Wichtiger als die Begrenzung der einzelnen Figur wird die Gewinnung ihrer dynamischen Linien, die nach Boehm bildnerisch „expansive und zirkulierende Kräfte" (Boehm 282) freisetzt. Das hat auch zur Folge, dass Ausdruck nicht mehr traditionell an Physiognomie und Körperhaltung einer Figur gebunden ist, sondern vom ganzen Gemälde übernommen wird. Die Gesichter bei Matisse wirken leer. Nicht das Gesicht, das Kunstwerk als eine Sammlung von Zeichen macht den Ausdruck. Das Zusammenspiel der dekorativen Bildelemente, die ganze Ökonomie und Materialität (Farbigkeit) des Bildes erschafft den Ausdruck. Er hat sich vom Subjekt des Künstlers ins Material der Malerei verlegt.27 Ich schliesse diesen Streifzug mit einer Bemerkung über das Bild als Teppich. Es macht den Anschein, als verwandelte Matisse Bilder regelrecht in Teppiche, wovon er unzählige freie Muster auch gemalt hat. Entsteht seine Bildkomposition nach dem Nomos des Teppichs? Der Teppich, für gewisse Nomaden Zelt, Kleid und Decke, ist für diese Ausdruck ihrer Deterritorialisierung. Nun gilt aber das Gewebte aufgrund der Machart durch feste Vertikale und bewegliche Horizontale (Kette und Schuss), durch Vorder- und Rückseite unweigerlich von der Entstehung her als der Repräsentant eines stark gekerbten Raumes. In diesem geregelten Sinne werden die Zeichen bei Matisse gerade nicht zum Teppich gefügt. Man kann also nur analog von der Anschauung, von der Buntheit, vom Dekorativen her seine Gemälde Teppiche nennen. Für das Malen nach dem Nomos des Teppichs genügte es nicht, „die Oberfläche auch in ihrer Materialität zu betonen", sondern es war nötig, „mit Dezentrierungen und schwachen Hierarchien zu arbeiten, der hohen Beweglichkeit Tribut zu zollen, geregelte Rhythmen zu installieren, mit dem Gesetz der Wiederholung zu operieren und - nicht zuletzt - die Ränder des Feldes ganz anders zu definieren, als es im europäischen Perspektivbild der Fall gewesen 27 Warum malt Matisse seinen Figuren oft keine Augen, keinen Mund? „Das kommt daher, dass das Gesicht anonym ist. Weil der Ausdruck im ganzen Bild liegt. Die Arme, die Beine, alles sind lauter Linien, die agieren, wie in einem Orchester ein Register, Bewegungen, verschiedene Nuancen." Und wenn wir statt Formen einer gewissen Ähnlichkeit „nur Linien andeuten, Werte, Kräfte, dann engagiert sich der Betrachter im Labyrinth dieser verschiedenen Elemente... und dann ist die Phantasie von allen Schranken befreit!" (Matisse 250) war."28 Hier schlagen beim Kunstwissenschaftler Gesichtspunkte einer nomadischen Beschreibung durch: Dezentrierung, kaum Hierarchien, Beweglichkeit, Rhythmus, Kreislauf, an den Rändern offenes Territorium. Nur die Ausdrücke „Logik des Teppichs" und „Gesetz der Wiederholung" im gleichen Abschnitt deute ich als „Nomos" und als „Wiederkehr der Variation". Durch solche nomadischen Massnahmen „knüpfte" Matisse das Gemälde zum Farbteppich, der schon eher im Sinne eines „crazy patchwork" die unendlich aufeinander reagierende Linien-, Form- und Farbvariation betrieb und sich insofern einen glatten Raum ähnlich dem des Patchworks erspielte. 3.3 Wie die Malerin Pia Fries heute Farbströmen folgt Mit der Autorität Rembrandts im Rücken, dessen 400. Geburtstags wir dieses Jahr gedenken, und mit Matisse, dessen epochale Leistung (ebenbürtig derjenigen von Kubismus, Abstraktion, Surrealismus) eben erst neu gewürdigt wird, kann ich mich nun einer jungen Künstlerin zuwenden, die ersteren sicher nicht zum Grossvater und letzteren nicht zum Vater erwählt hat, die sich aber wie diese bei der Malerei zu jener Reihe schlägt, welche mehr den Strömen folgt, als Formen zu reproduzieren. Wie experimentiert sie mit Farbe? Wie bereitet sie sich ein reichhaltigeres und konsistenteres Material, das immer intensivere Kräfte einfangen kann? Ich halte ihren Beitrag in der Malerei heute für einen sehr beachtenswerten.29 Ich meine, im Werk der Schweizer Malerin Pia Fries (1955 in Beromünster geboren, sie lebt und arbeitet in Düsseldorf) wichtige Gesichtspunkte in gesteigerter oder veränderter Gestalt wieder anzutreffen, die mir bei Rembrandt und Matisse begegnet sind. Da sie ihre Tätigkeit als abstrakte Malerei versteht, stellt sich die Frage, ob sie von dieser Seite her einen dritten Weg einschlägt? Jedenfalls explodiert bei ihr einerseits die „ruwe manier" so sehr, dass der Farbauftrag enorm reliefartig, extrem materiell-körperlich daher kommt, also die Unterscheidung zwischen Bild als Fläche und Bild als Objekt oft hinfällig wird. Auch den Bildträger lässt sie seit längerem bewusst als Bildkörper aus 28 G. Boehm, a.a.O. S. 285. Es ist das grosse Verdienst von Gottfried Boehm, auch auf die französische literarische Tradition der Aufwertung der Arabeske bei Baudelaire und Mallarmé (totale Arabeske) sowie auf die viel ältere Kunst der Rhetorik hingewiesen zu haben, bei der das „decorum" nicht zuerst Ausschmückung, sondern gerade den adäquaten, prägnanten Lebensbezug einer Rede ausmachte. Die Rhetorik behandelt die Rede als unendliche Oberfläche. 29 Vgl. den jüngsten Katalog Pia Fries vom Kunstmuseum Winterthur, das im April 2007 eine grössere Werkschau präsentiert. Darin gibt es zum Thema meinen Beitrag „Das Mannigfaltige muss man machen: Die Malerei von Pia Fries". 215 Holz bauen. Andererseits experimentiert sie seit einigen Jahren gerade mit der Fläche, lässt unbemalte und bemalte Stellen aufeinander einwirken, klebt Originaldrucke oder setzt Siebdrucke von vegetativen Vorlagen, auch von Baumwollgeweben (Musselins) und sogar von Fotos der eigenen Bilderstapel im Atelier auf die nackte Bildfläche aus Holz, verwendet also in der Malerei auch Grafiken und reagiert hernach mit dick und fliessend eingesetzten Farben auf diese Setzungen. Diese Druckvorlagen repräsentieren nämlich durchwegs einen stark gekerbten Raum aus Formen und Mustern, gegen den die Malerin die ganze Palette von Farben in rauer und feiner Manier antreten lässt, um den glatten Raum derselben auszureizen. Dekorative Druckelemente werden von Farben regelrecht überschwemmt. Im Unterschied zu Matisse wird Farbe nicht mehr als rhythmisches Zeichen für Figuren und Gegenstände eingesetzt. Sie tritt bei Pia Fries völlig frei von jedem Gegenstandsbezug auf, kämpft gegen die Unterjochung durch eine Form, ist sich selber das Rätsel, das in immer erneuten in-2l6 ternen Beziehungen und Reaktionen von Farben ausgebreitet und zu intensiven vibrierenden Schichten getrieben wird, die ein Bild ergeben. Die Beziehung der frei gesetzten Zeichen untereinander wird so lange fortgesetzt, bis ein befriedigender Ausdruck erreicht ist. Dem Vorwurf von Matisse an die Abstrakten, ihr Tun sei beliebig, sie imitierten die Abstraktion, das Zusammenspiel der Farben ergäbe keinen Ausdruck, begegnet Pia Fries mit der Erforschung des Materials Farbe ausdrücklich in der Absicht, intensiv vibrierende Plateaus derselben zu erschaffen. Autonome Malerei kann gar keinen anderen, höheren Gegenstand als die Erkundung des Farbmaterials in Richtung Intensitäten, Singularitäten, Ereignissen desselben haben. Ich habe bereits in einem früheren Text „Über Farben reden" 30 zur Malerei dieser Künstlerin den italienischen Lyriker Giuseppe Ungaretti zitiert: „Jede Farbe breitet sich aus und gibt sich auf / in den anderen Farben // Um einsamer zu sein wenn du hinsiehst". Dieser Gedanke drückt die beidseits differentielle Wirksamkeit jeder Farbe auf die andere aus: sie ruft (fordert) eine andere und verändert sich selber durch die andere, sie wird auf sich zurückgeworfen, denn sie muss sich selber anders sein. Diesen Metamorphosen der Farben folgen, sie experimentell erforschen, das macht diese Malerei auf Schritt und Tritt. Ausdruck durch Zusammenhang der Zeichen untereinander besteht also in einem Reden der Farben miteinander. Jede bereits gesetzte Farbe in einer rohen Formung ruft nach einer anderen Farbe mit einer anderen, mit ihr eine 30 Vgl. den Katalog Pia Fries - Sieben Arbeiten auf Papier. Schifferhaus Benzeholz Meggen (Schweiz) 1995. Beziehung, eine Spannung, einen Kontrast herstellenden Formung oder Gebärde: auf eine eckige antwortet eine runde, auf eine gezackte eine gekrümmte, auf eine geschlossene eine offene, auf eine volle eine leere Stelle. Das Bild versteht sich hier meines Erachtens als ein Heterogenengefüge des Farbigen, entsteht aus einem nomadischen Begehren, das nicht weiss, wo die Farbe herkommt und wo sie hingelangt, wo die Grenzen des Farbigen sind. Das klingt vielleicht trivial, weil es für jede Malerei gilt. Aber kaum eine nimmt sich dieses als einziges Thema vor, provoziert und produziert in dem Masse Heterogenes, Mannigfaltiges, das dennoch ein „Gefüge" ergibt. Das ist nicht die Einheit einer „Form", einer „Struktur", eines „Systems". Der Begriff des Gefüges definiert sich durch „Ausdrucksmaterien", die nicht nach dem Verhältnis von Substanz-Form selber Konsistenz annehmen. „Was ein Gefüge zusammenhält, ist nicht das Zusammenspiel von umrahmenden Formen oder von linearen Kausalitäten, sondern seine am stärksten deterritorialisierte Komponente, sein vorhandener oder möglicher Ansatz zur Deterritorialisierung." (TP 459) Wie viel Verschiedenes der Farbe lässt sich gegeneinander ausreizen? Was am Ende das Bild oder die Komposition ausmacht, wird einzig vom „decorum", von den kontextuellen Wertigkeiten der zufällig oder experimentell gewählten Farben bestimmt. Die Form als solche, auch die der Druckvorlagen, spielt weiter keine Rolle. Nur im Sinne des farbigen Zusammenhangs, nicht in einem abbildenden Sinn wollen die Bilder von Pia Fries „Blumen" sein. Eine vierteilige Arbeit von 2005 mit den Massen 220x680 cm trägt selbst den Titel „Schwarze Blumen".31 Schon für Matisse sollten Malereien wie Blumen erfreuen. Ich kann nun die Entwicklung dieser intensiven Arbeiten nicht im Detail ausbreiten. Ich kann nur ein paar Proben vorlegen, hinter denen sich ein gewaltiges Schaffenspotential verbirgt. An mancher Stelle erinnert dieser raue Farbauftrag bei den frühen Arbeiten „Quendel" (1990) und „Greff" (1994) an Rembrandts Malweise bei der Judenbraut oder beim Familienbild. Feine und grobe Pinsel- und Spachtelstriche, Farb-Kontraste wechseln sich ab und erzeugen räumliche Verhältnisse, obwohl keine abbildende oder gegenständliche Malerei vorliegt. Farbe reguliert sich vor allem bei den frühen Arbeiten doch stark nach Art geologischer Erosion sowie von organischen Schnitten. Die Farbmaterie, hier noch sehr kompakt und flächendeckend eingesetzt, erzeugt selber eine plastische Komponente. Sedimentation, Landschaft, Plätze, Höhlen, Fruchtstände, Organe entstehen, wo doch nur Ausdrucksmaterie geschickt zusammengefügt worden ist. 31 Normal wählt die Künstlerin für ihre Gruppen poetische Titel. 217 Es geht sicher um Autonomie der Malerei, die sich nicht mehr in den Dienst von Form und Repräsentation, von Referenz und Abbild stellt. Sie unterwirft sich auch nicht monochromen, konstruktiven oder konzeptionellen Prinzipien, nach welchen die Selbstreferentialität des Farbigen ausgelotet würde. Die Farbe ist losgelassen, möchte ich dieses indefinite Gemenge von Farbtönen bezeichnen, bei dem jeder Ton, weder expressiv noch wild auftretend, wohl aber in vielen Abstufungen immer rau und körperlich, gleichberechtigt behandelt wird. Allerdings wird dieses experimentelle Loslassen einer Mannigfaltigkeit von Farben doch irgendwie reguliert durch ein wirksames „Perzept" und durch einen leitenden „Affekt" davon, was die Künstlerin unter „Bild" versteht. Die Weise der Wahrnehmung (das Perzept im Unterschied zu einzelnen Perzep-tionen) favorisiert ein Mannigfaltiges. Die Weise der Empfindung (der Affekt im Unterschied zu einzelnen Affektionen) hat mit empirischer Verträglichkeit des Mannigfaltigen zu tun. Wie weit kann das Mannigfaltige getrieben werden, dass es noch eine empirische Verträglichkeit im Sinne eines intensiven Aus-218 drucks ergibt? Wie reisst die äusserste deterritorialisierte Komponente von Farbe alle anderen zu einem einzigen intensiven, vibrierenden Plateau heraus? Das war schon ein kühner Schritt in die Farbe, aber doch einer im Rahmen des traditionellen, geschlossenen Materialeinsatzes. Im Folgenden wird dieses eng gestrickte Farbgeflecht durch allerlei Techniken und Bildreflexionen aufgebrochen. Ich will ein paar Beispiele von Techniken zeigen, die Pia Fries einsetzt, um die Farbe freier, differentieller, und die Idee des Bildes als Materialoberfläche deutlicher in Erscheinung treten zu lassen. In fortschreitenden Arbeiten praktiziert sie nach Autonomie und Masse der Farbe einen um vieles gesteigerten rauen Farbauftrag. Ein körperlicher Farbauftrag erschafft allein durch Konsistenz und Masse sofort, wie ich vorher bei Rembrandts „Kenntlichkeit" schon erwähnte, die Illusion von Tiefe, Volumen, Räumlichkeit, Gegenständlichkeit. Manche Bilder von Pia Fries tun eine enorme räumliche Wirkung, obwohl nichts Räumliches vorkommt oder intendiert ist. Ein weiteres Element der Komposition werden mehr und mehr farbfreie Stellen, leere Plätze sozusagen. Risse, Schnitte, Brüche werden dem ungehemmten Strömen von Materie zugefügt. War anfänglich der gesamte Farbton des Bildes durch Mischung und Farbkontrast noch sehr klassisch und Rembrandts atmosphärischer Malweise entfernt nachempfunden, so emanzipiert der Gesamtton des Bildes zu völlig neuer, moderner, heller, reiner Tonalität und extremer Leuchtkraft. Bei diesen Beispielen „Heuer" (1996) und „Spina" (1994) sieht man gut, wie die Farbe aufquillt, wo immer sie auftritt. Die Verteilung scheint völlig zufällig zu sein, doch dieser Zufall folgt einem Rhythmus des Antwortens der nach- kommenden auf vorausgehende Farben und Formationen. Sehr unterschiedliche Instrumente wurden benutzt, neben Pinsel und Spachtel auch Rechen und allerlei Eigenfabrikate aus Eisen, um der Farbe möglichst differentielle Materieformungen abzutrotzen. Sie wurde zum Teil auf die Leinwand geschlagen, gepresst, gedrückt. Wo fliessende Streifen entstanden sind, dort wurde die Leinwand gedreht und am Boden aufgeschlagen, damit locker hingeworfene Masse zu fliessen begann und sich von selber verteilte. Alle Methoden sind willkommen, um ein möglichst vielfältiges Geflecht zu erzielen. Von eigentlichen Formen im herkömmlichen Sinn kann man da nicht mehr reden. Ich spreche lieber von Farb-Formationen und Farb-Trans-formationen. Es handelt sich aber keineswegs um ein wildes Drauflosmalen. Der Vorgang ist vielmehr ein sehr bedächtiger und überlegter. Beim Ersten sind wir frei, beim Zweiten sind wir Knechte, das trifft auf das Vorgehen dieser Malerei mehr oder weniger zu. Durch Lust, durch Zufall, durch bewusste Wahl wird am Anfang eine Farbe gesetzt, wobei schon Erfahrung und Erinnerung eine Rolle spielen. Es wäre also noch zu bedenken, wie frei der erste Schritt tatsächlich ist. Diese erste Setzung von Materie besitzt unwillkürlich auch eine Gestalt. Und schon ruft dieser Anfang materiell wie formal nach Fortsetzun- 220 Abb. 28 Pia Fries, Greff 1994 (120x140) gen in völlig verschiedenen Richtungen. Das Kriterium dieses Fortschreitens muss ein Wandern und Wundern unter dem Gesichtspunkt der äussersten Deterritorialisierung von Farbkomponenten sein. Kompossibilität des Materials und Konsistenz der Formungen müssen das Ergebnis sein. Es gibt in dieser Malerei trotz des Redens der Farben miteinander nichts Narratives. Dieses Reden miteinander nimmt manchmal, wie Matisse forderte, die Leichtigkeit eines Singens an. Nun leben wir in einer mehr und mehr unifizierten Welt, welche durch Kommunikationsmedien, Verkehrsverbindungen, Geld- und Warenflüsse, Wissenschaften, Künste, Mode, Sport, aber auch durch Weltorganisationen, Gesundheitswesen, medizinische Versorgung, Katastrophenhilfe usw. so Widersprechendes wie die globale Ausbeutung aller Ressourcen, die weltweite Solidarität gegenüber den Benachteiligten, die gleichmachende Einheitlichkeit der Lebensvollzüge, die sichere Klimakatastrophe mit Nachdruck betreibt. Die Frage ist berechtigt: was hat solche Malerei mit einer solchen Welt zu tun? Natürlich bildet sie diese Welt nicht ab, ahmt sie nicht nach, bewundert oder verdammt sie nicht. Was die grösste Unifizierung zur „global village" nämlich zu Tage fördert, ist in der Tat eine historische Heterogenität, Vielfalt, Buntheit, die als Wert nicht preisgegeben werden kann. Die grösste Einheit macht erst den Wert des Unterschiedes deutlich. Das Ideal der einen Identität für alle gebiert das Recht der Differenz eines jeden. Gegen die Tyrannei der einen Form wehrt sich die Kraft des Mannigfaltigen. Dem Mannigfaltigen des Materials Farbe in allen Richtungen nachzugehen und Recht zu geben, ohne die Gebote und Verbote der grauen Eminenzen der Malerei zu befolgen, macht die Aktualität dieser Kunst aus. Sie führt die Konflikte zwischen Unifikation und Multiplikation im Medium der Kunst selber durch. Die manchmal schwer erträgliche Mannigfaltigkeit in Masse und Formung des Materials, die ständig auftretende Brüchigkeit von beiden steht nicht in einer symbolischen Beziehung zur Welt, der gemäss dieser Bilder die Schönheit einer völlig zerstörten, ausgebeuteten, kaputten, verlassenen Welt verkörpern. Mich interessiert hier mehr, wieweit das Farbmaterial getrieben wird, Kräfte nicht nur der Erde (wie beim klassischen Bild) und nicht nur des Chaos (wie beim romantischen Bild), sondern kosmische Kräfte einzufangen. Gemeint sind „Kräfte eines energetischen, formlosen und immateriellen Kosmos" (TP 467) „Wenn es ein modernes Zeitalter gibt, dann ganz gewiss das Zeitalter des Kosmischen." (TP 466) Schon bei Klee tritt der Erdgedanke vor dem Weltgedanken zurück. Bei Cézanne molekularisiert sich das Material beim Malen der „sensation" von Apfel oder Landschaft und wird „zwangsläufig kosmisch". Wenn man von den Formen bis zu den Kräften herabsteigt, wobei das Zerlegen der bisher heiligen Formeinheiten und die Molekularisierung des Materials der direkte Weg zu den Kräften ist, dann haben diese freigesetzten Energien keine weitere ästhetische, keine metaphysische Bedeutung. Aber zweifellos handelt es sich um Kräfte eines energetischen, formlosen, immateriellen Kosmos. In dieser Richtung zu arbeiten, macht die Aktualität und Modernität der Malerei von Pia Fries aus. In jedem Fall erreicht bei ihren Farb-Gefügen das Material ein rhythmisches Zusammenleben, das jeder Abbildung von Erde und von Chaos entbehrt. Diese Kunst formt nicht die Zerstörungen und Katastrophen symbolisch nach. Sie erschafft mit Mitteln der Kunst eine Differenzwelt, in der jedem Mitspieler Recht, Würde und Wirksamkeit zuteil wird. Die raue Manier hat sich bei „parsmal" (1999) so weit in die Masse von reiner Farbmaterie geworfen, dass diese unweigerlich autonome dekorative Züge bekommt. Man kann sagen, da geniesst eine ungebremste Sinnlichkeit den Farbenfluss, reizt jeder Farbe ein Maximum an Eigenwert oder Eigenleben im Umgang mit jeder anderen heraus. Da herrscht eine ungebremste Power des 221 Abb. 30 Pia Fries, Spina 1994 (150x120) Materials, das sich um ein rechtwinkliges, unbestimmtes Gebilde versammelt, dieses bedrängt, überdeckt, umkämpft, derweil sich in der gegenüberliegenden Ecke zartere Farbereignisse ausbreiten. Man ist natürlich versucht, diese Gemengelage symbolisch zu lesen. Hier könnte man zum Beispiel die Spannung oder den Kampf zwischen einem männlichen und einem weiblichen Element vermuten. Aber solche symbolische wie auch die gegenständliche Lesart treffen nicht diesen Schaffensprozess. Die Komposition entsteht durch Gewichtsausgleich: wenn einmal ein Eckiges gesetzt wurde, und diese Anfangssetzungen sind ebenso bewusst wie zufällig, kann die Malerin nur mit Rundem aller Art (die grüne Farbmasse fliesst richtiggehend über das lineare Element) darauf antworten. Wo so sehr Massiges daher kommt, dort muss ein zartes Feld das Gleichgewicht wieder herstellen. Farben benötigen genügend Freiraum, damit alle atmen können. Was soviel bedeutet wie dass sie leuchten können. Was dieses Strahlen des Materials betrifft, spricht Pia Fries vom Bild als einer Aufrichtekraft. Eine Malerei ist erst dann ein Bild, wenn das Material eine Aufrichtekraft erreicht. Dann ist es fertig. Obwohl diese kühne Künstlerin gern mit aller Schwere des Farbengeschützes auffährt, kennt sie auch Zärtlichkeit des Farbauftrags und hört nicht auf, bis sich insgesamt eine Empfindung von Leichtigkeit einstellt. Sie kratzt und schabt und bürstet Farbmasse da wieder weg, wo sie erdrückt. Ihr Malen ist ein ungeheuer komplexer, empirischer, experimenteller Vorgang. Sie greift auch nachträglich wieder in längst abgeschlossene Bilder ein, wenn sie ihr nochmals begegnen sollten. Das Bild ist eine Aufrichtekraft. Das könnte ihre Definition von Kunst sein. Es fällt bei solcher Malerei noch schwerer, von Formen zu sprechen, als bei derjenigen von Matisse. Das Reden in geologischen, organischen, textilen Analogien angelt aus einem unerhörten Strömen von Material Bedeutungen, welche diesem Strömen selber nicht gerecht werden, sondern eigentlich nur Nebenschauplätze benennen. In diesem unendlichen Strömen gibt es kein Territorium (etwa das Bild oder die Farbe), wo sie sich völlig beruhigte. Alle Farben sind gleichberechtigt. Der Nomos dieses Fliessens scheint mir im Sinne der Rhetorik einer des „decorums" der Aufrichtekraft zu sein, wonach die Umstände der Ausschmückung der Rede diese gerade qualifizieren. Die Verteilung von Farbe auf einer Fläche erfolgt unter Rücksichten eines positiv verstandenen Dekorativen. Dabei erschaffen die Bewegungen des Farbauftrags steile, spitze, schiefe, runde, flache, gerippte, steigende, fallende usw. Energieströme, also völlig heterogene Gebilde, die als intensive Gefüge funktionieren, nie wirklich konventionelle Formen sind. 223 Nun malt Pia Fries mit einer neuen Technik immer ganze Gruppen von Bildern. Sie stellt damit mehrere ähnliche Experimente an, um herauszureizen, was ein neues Material hergibt. Die Idee der Serie gehört im Unterschied zu den identitätslogischen Begriffen von Wesen und Formen zur Idee der unendlichen Oberfläche von Farbereignissen. Ich stelle aus einer Gruppe der Reihe der Leningrader Aquarelle nur ein einziges Exemplar vor. Den Namen haben sie von Leningrader Farbdrucken, die Maria Sibylla Merian im 18. Jahrhundert peinlich genau nach Naturvorlage gemalt hatte. Pia Fries reisst das Faksimile durch und klebt zerrissene Stücke direkt auf die Holzplatte. Solches Zerreissen bedeutet Distanznahme. Das Bildverständnis ist heute ein anderes als vor 300 Jahren. Da haben wir also eine bewusste Setzung eines Fremden, das als Bilderinnerung allen zur Verfügung steht, das als figuratives und dekoratives Element respektlos zerrissen und bruchstückhaft, schief und verkehrt ins Bild montiert wird. Und was macht jetzt die Malerei? Sie reagiert auf diese fremde 225 Abb. 32 Pia Fries, parsmal (Ausschnitt) Vorgabe. Da können unendliche Variationen entstehen. Als zusätzliches neues Element, das auch einen grafischen Aspekt in die Malerei einbringt, weil die Holzmaserung erkenntlich ist, kommt noch das zum Teil unbemalte nackte Holz hervor und spielt im Konzert der Farben selber munter mit. Natürlich fällt so die strenge Trennung von Malerei und Grafik dahin. Das Bild setzt sich mit dem Thema „Form" direkt auseinander. Einerseits fördert dieser respektlose Umgang mit den säuberlich geformten Pflanzenbildern der Vergangenheit die ganz anderen Möglichkeiten der Farbe zutage, die diesen starren, toten Formgebilden entgegenwehen oder entgegenschlagen. Die verschiedenen Gruppen „Aquarelle von Leningrad" zeigen unendliche Variationsmöglichkeiten vom zartesten bis gröbsten Strömen des Farbmaterials und des Reagierens mit Farb-Arabesken auf die streng der Natur nachgezeichneten Formen. Andererseits reflektiert und zeigt das Bild gerade auch die Art, wie hier heterogene Flächen aus Holz, Papier und Farbe gut zusammen existieren 226 Abb. 33 Pia Fries, les aquarelles de léningrad 2003 (Öl und Faksimile auf Holz 80x60cm) können. Ich erkenne darin sehr wohl eine Fortsetzung der Bildreflexionen von Matisse mit anderen Mitteln. Mit diesem textilen Siebdruck, der Titel „musselin" (2004) sagt es schon, haben wir erneut eine Vorgabe, welche ein textiles Motiv aufgreift, das schon bei Rembrandt und Matisse wichtig war. Allerdings erfolgt darauf eine heftige Farbreaktion. Diese Bilder sind keine Teppiche. Die Materialströme treten überall die Fluchtlinie an, wo sich Formgebilde hemmend dagegen stellen. Paradox ausgedrückt: Ihr Strömen ist ihr einziger Halt. Dem fremden, regelmässigen Raster der Textilie wälzen sich Farbmassen entgegen und entlang, überschwemmen es geradezu, als müsste die Farbmaterie alle Register ziehen, um diesen gekerbten Raum wegzuspülen oder zu überdecken. Dem Grafischen, das sich als sehr formstarkes Territorium ausbreiten will, schlagen geschmeidige, lebendige Formationen entgegen. Diese Technik des Siebdrucks innerhalb der Malerei setzt sich in zwei Richtungen fort: Einmal arbeitet die Malerin mit Siebdrucken von Ausschnitten aus dem wunderbaren Buch der schon erwähnten Maria Sibylla Merian (16471717) Flowers, Butterflies and Insects, das in den Jahren 1713/17 in Amsterdam erschienen ist. Pia Fries druckt sie beliebig gedreht und gewendet auf die Holzplatte und reagiert darauf. Natürlich lehnt sie diese starren, formgetreuen Radierungen von Blättern, Blumen, Insekten ihrer berühmten Vorgängerin ab, weil diese Formen tot sind. Aber sie kommt diesen Schwarz-Weiss-Formen in einem Punkt auch entgegen. Sie bezieht nämlich, was sie bisher nie gemacht hat, Schwarz als Farbe mit ein. Und dadurch erhalten ihre sonst in reiner Brillanz leuchtenden Farben plötzlich einen von Schwarz, Weiss und Holzfarbe bestimmten, abgemilderten Ton, der nur durch Blau-, Rot- und Gelbspuren ein wenig angereichert wird. Man hat plötzlich den Eindruck, da lebt ein Bildbegriff des Kubismus in einer grosszügigeren Neugeburt nochmals auf. Sodann mit Siebdrucken von Fotos eigener Bilderstapel aus dem Atelier, die ein starkes serielles räumliches Element einbringen. Es handelt sich nur um Rahmenansichten der Bildkörper, nicht um Fotos von den Bildern selbst. Da wird also eine ganz abstrakte Selbstreferenz zum formalen Bildelement gemacht. Was kann das bedeuten? Dass jedes Bild gegen alle anderen Bilder antritt? Gibt die Künstlerin im Bild selbst einen Einblick ins Atelier, wie es Matisse bei „Nature morte a ,La Danse'" 1909 mit angeschnittenen Leinwänden getan hat? Der Titel „Tisch" geht auch in Richtung Ateliertisch. Das Bild-im-Bild-Motiv kommt in der Kunst überall vor. Hier dient es wohl vor allem als formales KompositionsElement, gegen das die Farbe wie gegen ein Hindernis anläuft. Ich lasse diesem Aspekt die folgenden Arbeiten aus dem Jahr 2006 folgen, die farblich diese andere Tonart anschlagen: „Tisch" (2006), „Peri" (2006), „REXE" (2006). Ich schliesse diesen kurzen Durchgang durch das sehr respektable Oeuvre dieser Schweizerin mit einem Blick auf das unerhört leicht wirkende „Stratum" (2006). Dieser Titel greift einen geologischen Fachbegriff auf und bedeutet Schicht. „Strata sind Phänomene der Verdichtung auf dem Körper der Erde. Sie sind zugleich molekular und molar: Ansammlungen, Gerinnungen, Ablagerungen und Faltungen: Gürtel, Zangen oder Gliederungen." (TP 696) Ein solches Verdichten, Ansammeln, Gerinnen, Ablagern, Falten, sodass Gürtel, Zangen, Gliederungen entstehen, geschieht in allen diesen Bildern dem Material selbst. Jedes Bild der Pia Fries liefert Einblick in eine solche intensive Schicht. Bei diesem letzten Beispiel kommen besonders dünne, leichte, helle Schichten hervor. Man wird es wegen dieser Leichtigkeit gern in Erinnerung behalten. Zwei Linien kommen meines Erachtens in der Malerei dieser Künstlerin zusammen: die eine, welche die „ruwe manier" von Rembrandt mutig, frech, 227 228 Abb. 34 Pia Fries, musselin 9 u. 8, 2004 und „musselin"-Ausschnitt (Öl und Siebdruck auf Holz 50x40 u. 50x38) modern explodieren lässt, und die andere, welche in Fortführung des „dekorativen Bildes" von Matisse Oberflächenexperimente mit Farbereignissen, auch in Auseinandersetzung mit Grafiken und Bildträger, macht. Dekorative Elemente, in diesem Fall grafische, werden nicht mehr handgemalt wie bei Matisse, sondern von Fotos aus Büchern über Siebdrucke in die Bildfläche projiziert, vielfach in sich selbst gedreht oder gespiegelt. Damit wird eine starke Formsetzung, eine Art Gerüst, wenn auch lediglich als Formzitat, zum Hindernis genommen, worauf alle verfügbare, spielerisch und reflektiert aufgebotene Farbmaterie losgelassen wird, um zu reagieren und so kosmische Kräfte freizusetzen. Abschliessend stellt sich nochmals die Frage: ist dieser Umgang mit dem Material geeignet, Kräfte eines energetischen, formlosen und immateriellen Kosmos einzufangen? Jedenfalls wird das Material nicht in eine Form als Intelligibilitätsprinzip gepresst. Es wird massig und molekular eingesetzt. Es variiert unendlich und atomisiert unablässig. Die Schlichtheit im Material und die Indifferenz im Gemüt scheinen mir wesentliche Bedingungen für 229 Abb. 35 M. S. Merian: Blatt aus „Flowers, Butterflies and Insects", Amsterdam 1713/17 solche Deterritorialisierung und Molekularisierung des Materials zu sein, wodurch immaterielle kosmische Ereignisse als Kunst entstehen können. Ich meine, dass diese Malerei das klassische Bild der Erde und das romantische Bild des Chaos hinter sich lässt und an der Schwelle zum modernen Bild dieses energetischen Kosmos arbeitet. War die Materie beim klassischen Bildbegriff Inhalts-Materie, also stets auf den Inhalt für eine Form reduziert worden, wurde sie beim romantischen Bildbegriff Ausdrucksmaterie, zum Ausdruck von Subjektivität, Einsamkeit und Verlorenheit, dann zum Ausdruck aller Art benutzt, so ergreift diese reichhaltigere und konsistentere Materie nun die Fluchtlinie, um nichts anderes mehr als kosmische Ereignisse auszudrücken. „Man kann einzig und allein sagen, dass die Kräfte, wenn sie als Kräfte der Erde oder des Chaos auftreten, nicht direkt als Kräfte erfasst, sondern in Verhältnissen von Materie und Form reflektiert werden. (...) Nur wenn die Materie genügend deterritorialisiert ist, tritt sie molekular auf und lässt reine Kräfte zum Vorschein kommen, die nur noch dem Kosmos zugeordnet werden 230 Abb. 36 Pia Fries, Tisch 2006 (Öl und Siebdruck auf Holz, 145x100) Abb. 37 Pia Fries, Peri 2006 (Öl und Siebdruck auf Holz, 70x50) Abb. 38 Pia Fries, REXE 2006 (Öl und Siebdruck auf Holz, 50x70) können. Das war bereits ,zu allen Zeiten' so, aber unter anderen Wahrnehmungsbedingungen." (TP 473) Die Malerei der Pia Fries scheint mir auf dem besten Weg dahin zu sein.