Victor Molchanov RAUMVERWANDLUNG UND ZEITERFAHRUNG. DIE FRAGE NACH DEM URSPRUNG DER ZEIT1* 1. Die Ursprungsfrage: Zeit oder Raum? Die Zeit zwingt uns ihre Substantivierung auf. Zeit als eine Epoche, als eine Einheit der Gegenwart, der Vergangenheit und der Zukunft, als ein passender Augenblick (Kairos), als eine Periode (Zeitraum), als ein Alter und ähnliche Bezeichnungen und Redeweisen setzen scheinbar eine Ursprünglichkeit der Substanz Zeit voraus, die ihren verschiedenen Modi zugrunde liegen sollte. Es scheint unmöglich, sich von der Zeit zu befreien. Wie wäre es möglich, der Epoche, den Jahreszeiten, dem Unterschied zwischen passendem und unpassendem Augenblick, und endlich dem Tod auszuweichen? In der Tat ist es unmöglich, aber ist hier wirklich die Rede von der Zeit? Oder ist es nur eine Redeweise, die uns anregt, eine zeitliche Substanz, objektive oder subjektive, anzunehmen, ob wir es wollen oder nicht? Die Zeit verbindet man immer mit Bewegung. Aber die Zeit besiegt auch sie. 101 1 *The author is grateful to Russian Foundation for the Humanities for financial support (The Project ^ 14-03-00641: Edmund Husserl's Philosophy: Sources, Evolution, Problems). Man argumentiert auf solche Weise: eine Bewegung kann zu Ende kommen, aber die Zeit setzt ihren Gang fort! Doch handelt es sich hier wirklich um die Zeit? Zeit als bewegliches Bild der Ewigkeit, als Zahl der Bewegung, als distentio animi, als Form des innern Sinnes, als die formale Bedingung a priori aller Erscheinungen überhaupt, als transzendentales Schema, als Leben und Schaffen, als Sein und Sorge usw. - geht es um dasselbe „Wesen" oder um verschiedene „nützliche Fiktionen"? Augustinus verweist auf ein implizites Wissen, was Zeit ist, und auf die Unfähigkeit, dieses Wissen zu explizieren. Dies setzt wiederum die Unfähigkeit voraus, mit der Explikation zu beginnen. Jede Explikation oder Erklärung eines aufgeworfenen Problems bedarf auch einer Prozedur der Einführung der Begriffe und Termini, i.e. der Wahl der Sprache oder des Diskurses. Die verschiedenen Zeittheorien übersehen in der Regel diese Anfangsschwierigkeit. Die Zeit wird betrachtet als ein besonderer Untersuchungsgegentand oder ein Thema, das unmittelbar eingeführt 102 und ausgearbeitet werden kann, unabhängig von der Thematisierung der Untersuchungssprache und von der Seinsfrage: so etwas wie Zeit scheint notwendig zu sein, auch wenn sie als eine transzendentale Form interpretiert wird. Von Kant aus bis zu Bergson, Husserl, Heidegger und darüber hinaus besteht eine Tradition, die Zeit als eine Grundlage des Erkenntnisvermögens, des Geistes, des Lebens, des Bewusstseins, des Daseins zu betrachten. Die Tradition setzt voraus, dass die Zeit der menschlichen Erfahrung zugrunde liege, deren Kern und deren tiefste Schicht sie bilden sollte. Gerade diese Voraussetzung wollen wir in Frage stellen. Hic et Nunc dürfen doch nicht ihre Stellen wechseln. In der Erfahrungssphäre sind sie untrennbar: Jedes Hier ist immer ein Jetzt, und jedes Jetzt immer ein Hier. Aber jedes Ereignis ist zuerst räumlich und jede seine Erfahrung ist zuerst eine Erfahrung von Hier/Dort, d.h. eine räumliche Unterscheidungsleistung. Wenn das Wort und der Terminus „Zeit" in verschiedenen Kontexten funktioniert, muss man nicht nur auf seine verschiedenen Bedeutungen aufmerksam machen, sondern auch auf die Art und Weise, durch die das Thema „Zeit" in den gewissen Kontext eingeführt wird. Mit anderen Worten, womit kann ein Gespräch über die Zeit beginnen, wie erscheint die Zeit im philosophischen Diskurs, was ist die Sprache, in welcher man über die Zeit spricht und die Zeitlehren konstruiert? Die Fragen hängen unmittelbar mit weiteren Fragen zusammen: Welche Stelle nimmt die Zeit in der Hierarchie unserer Erfahrung ein und was liegt dem Zeitbegriff und der Zeiterfahrung zugrunde, wenn sie sich auch als eine besondere Erfahrung erweisen lässt? Was ist der Ursprung der Mannigfaltigkeit der Zeitbegriffe? Was ist der Ursprung der Zeiterfahrung? Was ist das überhaupt - der Ursprung der Zeit? Die Frage nach dem Ursprung der Zeitvorstellung oder des Zeitbegriffes, die intensiv in der Philosophie und Psychologie des XIX Jahrhunderts diskutiert wurde, nimmt bei Husserl die Form der Frage nach dem Ursprung der Zeit an. Nicht der Ursprung der Vorstellungen oder Begriffe, sondern der Ursprung der Zeit selber, und zwar der subjektiven oder immanenten, sollte analysiert werden. „Diese Ursprungsfrage ist aber auf die primitiven Gestaltungen des Zeitbewusstseins gerichtet, in denen die primitiven Differenzen des Zeitlichen sich intuitiv und eigentlich als die originären Quellen aller auf Zeit bezüglichen 103 Evidenzen konstituieren. Diese Ursprungsfrage darf nicht verwechselt werden mit der Frage nach dem psychologischen Ursprung Uns ist die Frage nach der empirischen Genesis gleichgültig, uns interessieren die Erlebnisse nach ihrem gegenständlichen Sinn und ihrem deskriptiven Gehalt. <^> Die Erlebnisse werden von uns keiner Wirklichkeit eingeordnet. Mit der Wirklichkeit haben wir es nur zu tun, insofern sie gemeinte, vorgestellte, angeschaute, begrifflich gefasste Wirklichkeit ist. Bezüglich des Zeitproblems heißt das: die Zeiterlebnisse interessieren uns. Dass sie selbst objektiv zeitlich bestimmt sind, dass sie in die Welt der Dinge und psychischen Subjekte hineingehören und in dieser ihre Stelle, ihre Wirksamkeit, ihr empirisches Sein und Entstehen haben, das geht uns nichts an, davon wissen wir nichts. Dagegen interessiert uns, dass in diesen Erlebnissen „objektiv zeitliche" Daten gemeint sind" (Husserl 1969: 9-10). Dieser Gedankengang Husserls aber setzt schon voraus, was zu beweisen ist, nämlich die Selbstbezüglichkeit der Zeitsphäre. Husserl versucht, die Frage nach dem Ursprung der Zeit nur auf die Sphäre der Zeit zu begrenzen. Die Ausschaltung des Empirischen sollte uns ohne weiteres zu der Zeit selbst hinführen, damit wir die primären Formen des Zeitbewusstseins entdecken könnten. Wir sehen hier von der Frage ab, ob es überhaupt möglich wäre, sich von allem Empirischen zu distanzieren. Wenn es auch realisierbar ist, wenn wir uns auch auf die Wirklichkeit nur als auf die vorgestellte, gedachte usw. beziehen könnten, folgt jedoch daraus noch nicht die Ursprünglichkeit und die Selbstständigkeit der Zeiterlebnisse. Diese können ja von den Erlebnissen der anderen Typen abhängen! Anders gesagt, die Ausschaltung der objektiven Zeit und der Übergang zu der subjektiven beweist keine absolute Unabhängigkeit der Zeiterfahrung. Wenn auch die Zeit keinen empirischen Ursprung hat, bedeutet das nicht, dass die Zeit keinen anderen Ursprung in der Bewusstseinssphäre hätte. Die Voraussetzung, die zu einer Lücke in der Argumentation Husserls führt, besteht in der Identifikation der tiefsten Bewusstseinsschichten mit der Zeit, und in diesem Sinne steht Husserl in der oben genannten Traditionslinie. Seinerseits beruht diese Voraussetzung, meiner Meinung nach, auf der impliziten Identifizierung des nicht-Vorstellbaren mit reiner Innerlichkeit. 104 Wenn es unmöglich ist, sich die Zeit selbst vorzustellen und nur ein räumliches Bild deren zu schaffen, obwohl es eine Zeiterfahrung geben sollte, zieht man daraus den Trugschluss, dass die Zeiterfahrung eine rein innere wäre. Die rekonstruierte Argumentation hat auch ihre Grundlegung: den Glauben an die Existenz der Zeit als eine selbstständige Erkenntnis-, Natur-, oder Weltstruktur. Die Zeit kann man sich wirklich nur räumlich vorstellen, über die Zeit kann man nur auf einer räumlichen Sprache sprechen. Aber aus dieser Unfassbarkeit der Zeit folgt nicht, dass sie innerer Erfahrung zugrunde liegt. Ihre unmittelbare Unfassbarkeit lässt vielmehr vermuten, dass die Zeit eine Fiktion ist, ob eine nützliche oder schädliche, ist es eine andere Frage, dass die Zeit vielmehr eine Funktion, ein Mittel ist als eine Substanz oder eine Grundlegung, dass die Zeiterfahrung vielmehr eine abhängige als eine selbstbezügliche Erfahrung ist. Es entsteht aber die Frage, wovon sie abhängig wäre? Die Lösung, die Brentano anbietet: unsere Vorstellung von der Zeit hängt von den Proterästhesen oder primären Assoziationen ab, die im Grunde genommen, wie Husserl in seiner Darstellung der Lehre Brentanos betont, die primäre Wirkung der Phantasie ist. Den Ursprung der Vorstellung von der Zeit findet Brentano in den Bewusstseinsstrukturen, die selber aber nicht zeitlich sind. Husserl sucht, Brentano folgend, auch nach den inneren Bewusstseinsstrukturen, die für die Zeiterfahrung verantwortlicht werden sollten, aber er hält sie für zeitliche. Darin besteht der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Philosophen. Aber die wesentliche Ähnlichkeit besteht doch darin, dass als die letzte Quelle des Zeitbegriffes (Brentano) und der immanenten Zeit (Husserl) das Bewusstsein der Zeit bezeichnet wird. in diesem Zusammenhang entstehen zwei verschiedenen Fragen. Die erste ist die sachliche: Liegt in der Tat die Zeit innerer Erfahrung zugrunde? Die zweite bezieht sich auf die Zeitlehre Husserls: Inwieweit gelingt es Husserl, die Zeit von der Zeit ausgehend zu explizieren?2 Die Raum-Analogien, die Husserl bei der Einführung der immanenten Zeit immer wieder anwendet, sprechen nicht dafür. Aber das reicht nicht aus, um auf die Analogien und sogar auf die räumliche Sprache der Zeit und der Zeiterfahrung zu verweisen. Es ist auch nötig, die bei Husserl eingeführten räumlichen Unterschiede zu untersuchen, die den Weg zur immanenten Zeit öffnen sollten. Die Räumlichkeit der Ausgangsunterschiede, sowie die anderen 2 Rudolf Bernet bemerkt mit Recht, dass für Husserl „die Verflechtung von zeitlichen und räumlichen Bestimmungen kein reines und ursprüngliches Phänomen [ist], sondern eine Mischehe" (Bernet 1987/1988: 91). Aber in diesem muss man gerade Husserl zustimmen! „Mit dieser ontologischen Apartheidpolitik, setzt R. Bernet fort, versperrt sich Husserl auch die Möglichkeit, die raum-zeitliche „Weltzeit" der Naturwissenschaft phänomenologisch angemessen zu fundieren" (Ibid.) Es scheint mir aber, dass man die naturwissenschaftliche Weltzeit nicht fundieren kann und muss, sondern zeigen, wie eine solche Abstraktion entsteht. Indem Husserl Raum und Zeit ihre naturwissenschaftliche Ehe zu scheiden zwingt, macht er einen wichtigen Schritt für die Untersuchung der beiden Sphären. Husserl selbst wendet den Vergleich mit den verwandtschaftlichen Beziehungen an, wie wir sehen werden, aber er schliesst von Anfang an die primäre Gleichursprünglichkeit der Zeit und des Raums aus. Dies macht möglich, die Frage nach den deskriptiven Beziehungen zwischen ihnen zu stellen. Husserl wählt die Zeit und nicht den Raum als eine führende und selbstbezügliche Sphäre und in seiner in vielen Hinsichten aufschlussreichen Analyse folgt R. Bernet doch der Husserlschen Strategie der Selbstständigkeit der Zeit: „Der Ursprung der Zeit liegt nicht ausschließlich im selbstbezüglichen und letztkonstituierenden Bewusstseinsfluss, sondern vielmehr im konstitutiven Wechselspiel zwischen der 'Zeitlichkeit' des Bewusstseinsflusses und der ,Innerzeitlichkeit' der Zeitgegenstände" (Ibid., 94). Mit der Voraussetzung der Selbstbezüglichkeit der Zeitsphäre und innerhalb der Lehre Husserls kann man dieser Interpretation zustimmen, aber die dreifache Anwendung des Terminus Zeit bringt uns dem Verständnis davon nicht näher, von wessen Ursprung hier die Rede ist. Wir bewegen uns in einem Kreis, den Husserl eingeführt hat und R. Bernet wiedergibt: Das Zeitbewusstsein ist auf die zeitlichen Bestimmungen der Gegenstände gerichtet. 105 Prozeduren, die mit dem Verhältnis des Ganzen und seiner Teile verbunden sind, stellen die Selbstständigkeit des Problems oder der Sphäre der Zeit in Frage, und zwar nicht nur der objektiven, sondern auch der subjektiven. Der Überzeugung Husserls zuwider zeigt sein Gedankengang, dass die Wurzeln des Zeitproblems im Raumproblem liegen. Der Ausgangspunkt oder die Voraussetzung unserer Untersuchung kann in folgender These ausgedrückt werden: Der Ursprung der Zeit ist mit der Transformation oder Deformation des Raums verbunden. Es ist offenbar, dass die so genannte objektive Zeit das Ergebnis einer wenigstens doppelten Transformation des Raums ist. Ganz schematisch dargestellt: Erstens wird der lebensweltliche Raum in einen physischen (stereometrisch bestimmten) transformiert, zweitens wählt man zwei Hauptmaßeinheiten der Zeit - ein Jahr und Tag und Nacht, die durch zwei Erdbewegungen bestimmt sind und die letzten Endes zu den Uhren in Korrelation gebracht werden. Aber es bleibt 106 die Frage, ob die Sonnenuhr ein Chronometer ist! Dieser verbreiteten Meinung zuwider, die Husserl übrigens teilt, messen wir die objektive Zeit nicht mit Chronometern, sondern messen wir mit räumlich bestimmten Bewegungen, die Uhren genannt, eine Koinzidenz oder nicht-Koinzidenz verschiedener Dinge, Bewegungen, und Räume. Es ist eine Illusion, dass die Erde ein Jahr braucht, um die Sonne einmal zu umrunden, weil man gerade eine Erdeumdrehung als ein Jahr bezeichnet. Wir schaffen die objektive Zeit, wenn wir „sie" „messen". Wenn Heidegger behauptete, dass es gerade in Uhren keine Zeit gibt, hatte er Recht und Unrecht. Als eine besondere Substanz steckt die Zeit weder hinter den Zahnrädern oder Mikrochips, noch gibt in Uhren Zeit als eine besondere Erfahrung. Die Uhr kann vorgehen, aber ohne Eile. Aber was man heute die Zeit nennt und was als ein allgemeiner Orientierungspunkt des gegenwärtigen Lebensrhythmus dient, steckt eben in Uhren. Die Frage ist nun, ob die subjektive oder immanente Zeit ebenso eine Transformation oder Deformation des Raums wäre, jedoch eines inneren Raums?3 Die sachliche Lösung des Problems scheint sehr kompliziert zu sein4. Es handelt sich dabei nicht um einen „ursprünglichen Raum" oder einen Raum als solchen, der anschaulich vorstellbar wäre, wie ein Ort, ein Feld oder ein Volumen. Vielmehr ist der primäre Erfahrungsraum eine Hierarchie der bedeutsamen Unterscheidungen, der aus dem primären lebensweltlichen Raum erwachsen kann. Im engen und strengen Sinne kann man menschliches Bewusstsein als Unterscheidungshierarchie im Sinne der Unterscheidung der Unterscheidungen bezeichnen und es mit dem primären Erfahrungsraum identifizieren. 3 In Analogie zum inneren Raum könnte man auch über die innere Zeit sprechen. Und dies verliehe der Zeit eine räumliche Charakteristik. Vielleicht vermeidet deshalb Husserl diesen Terminus. Wenigstens gibt es keine „innere Zeit" in den Hauptwerken Husserls und in den mir bekannten Manuskripten. Die Haupttermini sind „inneres Zeitbewusstsein" und „immanente Zeit". Aber den Terminus „inneres Bewusstsein", den Brentano verwendet, kann man auch bei Husserl finden. In diesem Zusammenhang scheint mir die Übersetzung des Terminus und des Titels der Vorlesung Husserls ins Englische von John 107 B. Brough fragwürdig zu sein: On the Phenomenology of the Consciousness of Internal Time (Husserl 1991). Allerdings wird der Terminus „Zeitbewusstsein" bei Husserl zweideutig. Er bedeutet sowohl das Bewusstsein der Zeit als auch die Zeitlichkeit des Bewusstseins. Vgl. Heidegger: „Das, was Husserl noch Zeitbewusstsein nennt, d.h. Bewusstsein der Zeit, ist gerade im ursprünglichen Sinne die Zeit selbst" (Heidegger, 1978: 264). Aber „das Bewusstsein der inneren Zeit", was als „die innere Zeit, die bewusst werden kann" interpretiert werden kann, führt eine zusätzliche Substantivierung ein, die bei Husserl doch abwesend ist. Dabei kann man die Frage stellen, ob bei Husserl eine innere Zeit möglich wäre, die nicht bewusst wird. Inwiefern der Terminus „innere Zeit" als ein Gegensatz oder ein Derivat des inneren Raums relevant wäre, lassen wir offen. 4 Einen der ersten Versuche, die Entstehung des Zeitbegriffes im Zusammenhang mit der Entwicklung der Raumvostellung, sowie mit dem Willen, der Absicht und der motorischen Aktivität zu erörtern, kann man im Buch von Jean-Marie Guyau finden (Guyau 1890; 1993). Bei Guyau handelt es sich um die Entstehung der Idee oder der Vorstellung oder des Begriffes der Zeit. Man muss doch, Husserl folgend, versuchen, sich den Sachen selbst zu nähern, d.h. den Raum und die Zeit, wie auch ihre Beziehung sein mag, als verschiedene Typen realisierbarer Erfahrung ans Licht zu bringen. Freilich würde Husserl mit Recht seine Theorie als eine „empirische" bewerten, was bei Husserl in diesem Kontext hieße: Den Ursprung von außen suchen. Aber die Idee selber ist fruchtbar und sie könnte nicht nur evolutionistisch, wie bei Guyau, sondern auch analytisch ausgearbeitet werden. Man muss aber m.E. weder den Raum noch die Zeit vom Handeln abzuleiten versuchen, sondern den Ursprung der Zeit eher in der Transformation des Raums durch das Handeln suchen. Dafür ist es nicht unwichtig, die vermeintlich selbstbezügliche Sprache der Zeit in der Korrelation mit der Entstehung der Zeiterfahrung und der Einführung des Zeitbegriffs zu erörtern. Allerdings geht es hier nicht um einen genetischen Ansatz, der aber auch mit dem Unterscheidungsraum verbunden sein kann. Es geht hier um die Möglichkeit, die Erfahrung als eine bewegliche Unterscheidungshierarchie zu beschreiben.5 Die Zeit als Zahl der Bewegung, als Zahl oder Einheit der Erlebnisse, als Zahl oder Einheit der Sorgen usw. bleibt doch die Zahl, die verschiedene Räume und Bewegungen synthetisiert und ausgleicht. Die Zeit entsteht in der menschlichen Welt unerlässlich - in der räumlichen Welt des Handelns, des Wollens, des Suchens, des Gewinnens und des Verlustes. Die Frage aber besteht darin, ob die Zeit eine primäre und ursprüngliche Realität der menschlichen Erfahrung und Welt ist oder nur eine sekundäre und derivative, nur ein Mittel für bestimmte Ziele. In Bezug auf die Phänomenologie der Zeit Husserls besteht unsere unmittelbare Aufgabe darin, auf die Räume hinzuweisen, deren Transformationen die Einführung der immanenten Zeit zulassen konnten. 108 Welche Transformationen welcher Räume liegen der immanenten Zeit in der Phänomenologie Husserls zugrunde? 2. Erlebnis und Empfindung Unter den vielen Aspekten der Ursprungsfrage muss man vor allem die folgende Frage erörtern: in welchem Kontext und in welchem Werk Husserls ist der phänomenologische Zeitbegriff eingeführt worden? Die weiteren Entstehungsfragen scheinen sekundär zu sein, z.B.: was hat Husserl eigentlich zunächst eingeführt: die Zeit oder das Zeitbewusstsein, die immanente Zeit oder das innere Zeitbewusstsein? Wie und wann wurde das respektable Thema des Zeitbewusstseins zu einem neuen und riskanten Thema der der Bewusstseinszeitlichkeit und des Bewusstseinsflusses transformiert, der übrigens sowohl fließt als auch nicht fließt? 5 Einen solchen Versuch kann man in meinem Aufsatz: Bewusstsein, Erfahrung, und Unterscheidensleistung (Prima Philosophia 1997, ^ 1) finden, wie auch im Buch: Unterscheidung und Erfahrung. Phänomenologie des nicht-aggressiven Bewusstseins. Moskau, 2004. (auf Russisch). Man kann ganz naiv über das Zeitbewusstsein sprechen, ohne sich den Begriff Zeit klar zu machen. In den ersten Texten Husserls über die Zeit aus den Jahren 1893-1901 (Hua XI, 137-186) ist dies der Fall. Das bedeutet nicht, dass man in diesen Texten keine Antizipation der zukünftigen Phänomenologie des Zeitbewusstseins finden kann. ^emen wie die Einheit der Melodie, die Evidenz des Zeitbewusstseins, der Unterschied zwischen frischer Erinnerung und der Wiedererinnerung, der sich eigentlich später in den Unterschied zwischen der Retention und der Wiedererinnerung verwandelt, und weitere weisen darauf hin, dass Husserl in seiner Auseinandersetzung mit Brentano seine eigene Sicht auf traditionelle Probleme ausgearbeitet hat. Auch die Voraussetzung der Bewusstseinszeitlichkeit erweist sich hier, wenigstens formal. Doch fehlt in den ursprünglichen Texten die ^ematisierung des subjektiven oder inneren Zeitbewusstseins, sowie der immanenten Zeit. So weit mir bekannt ist, sind die Termini „immanente Zeit" sowie auch „inneres Zeitbewusstsein" nicht vor den Jahren 1904-1905 erschienen, und in 109 erster Linie in den Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (weiter ZB). Es scheint deshalb, dass die phänomenologische Zeit erst in ZB (und weiteren Texten aus der gleichen Zeit) eingeführt worden ist und dass die Bestätigung dafür nichts anderes ist, als die Prozedur der Ausschaltung der objektiven Zeit, die den Weg zur immanenten zeitlichen Sphäre eröffnen sollte. In einem formalen terminologischen Sinne stimmt das, aber was motiviert die Ausschaltung selbst? Es geht im Moment nicht darum, wie sich die Prozedur erfüllt. Die Frage besteht vielmehr darin, woher das Problem der immanenten Zeit kommt und was Husserl zum Verzichten auf die objektive Zeit anregt? Was für ein Problem nicht nur geht dem Zeitproblem in der Phänomenologie voraus, sondern auch zwingt es zu stellen? Bei Husserl ist es evident das Problem des Bewusstseins und deshalb muss man die erste Problemstellung bezüglich der phänomenologischen Zeit dort suchen, wo die Phänomenologie des Bewusstseins zum ersten Mal ans Licht kommt. Dies geschieht wie bekannt in den zweiten Band der Logischen Untersuchungen (weiter LU), und zwar in der ersten Auflage. Dabei ist die mereologische Methodologie Husserls von Bedeutung. Die Phänomenologie der Zeit nimmt ihren Anfang im §6 der Fünften Logischen Untersuchung nach der Explikation der beiden ersten Begriffe des Bewusstseins. Durch die zeitliche Erweiterung des zweiten Bewusstseinsbegriffes sollten die beiden Begriffe eine Einheit bekommen, der Begriff des Erlebnisses sollte vom „innerlich Wahrgenommenen" „zum Begriff des die Seele oder das bleibende Ich Konstituierenden" erweitert und damit sollte auch „das Gebiet der Psychologie als der Lehre von den „psychischen" Erlebnissen oder „Bewusstseinsinhalten" bestimmt werden. Die Begriffe Bewusstsein, Erlebnis und Zeit scheinen für immer zusammen zu hängen. Aber dem dritten Bewusstseinsbegriff, wo es um intentionale Bewusstseinsakte geht, fehlt jegliche Betrachtung der Zeit überhaupt. Bemerkenswert ist auch, dass Husserl im Unterschied zu Brentano „das Gebiet der Psychologie" ohne Begriff der Intentionalität zu bestimmen versucht. Also geraten wir in eine Bewusstseinssphäre, die kein Merkmal der Intention trägt. Wenn wir annehmen, dass es ein nicht intentionales Bewusstsein gibt, welches keinen formalen Widerspruch in sich enthält, müssen wir uns doch Rechenschaft 110 darüber ablegen, wie es gegeben sein könnte. Den ersten Bewusstseinsbegriff erklärt Husserl als „«Bündel» oder Verwebung der psychischen Erlebnisse" (Husserl 1984: 356; Husserl 1988: 46). Husserl geht von den Begriffen Erlebnis und Inhalt aus, wie sie in der ihm gegenwärtigen Psychologie funktionieren: „Unter diesen letzteren Titeln Erlebnis und Inhalt meint der moderne Psychologe die realen Vorkommnisse (Wundt sagt mit Recht: Ereignisse), welche, von Moment zu Moment wechselnd, in mannigfacher Verknüpfung und Durchdringung die reale [in der zweiten Auflage: reelle] Bewusstseinseinheit des jeweiligen psychischen Individuums konstituieren [in der zweiten Auflage: ausmachen]. In diesem Sinne sind die Wahrnehmungen, Phantasie- und Bildvorstellungen, die Akte des begrifflichen Denkens, die Vermutungen und Zweifel, die Freuden und Schmerzen, die Hoffnungen und Befürchtungen, die Wünsche und Wollungen u. dgl., so wie sie in unserem Bewusstsein vonstatten gehen, Erlebnisse oder Bewusstseinsinhalte" (Husserl 1984: 357; Husserl 1988: 5). 6 Die erste Auflage der LU zitiere ich auch nach der Edition: Husserl 1988. Man könnte dabei den Übergang zum anderen Begriff des Erlebnisses erwarten, und zwar durch eine Entgegenstellung zum psychologischen. Aber der Übergang vollzieht sich als eine vermeintlich fließende Fortsetzung: „Und mit diesen Erlebnissen in ihrer Ganzheit und konkreten Fülle sind auch die sie komponierenden Teile und abstrakten Momente erlebt, sie sind reelle Bewusstseinsinhalte. Natürlich kommt es darauf nicht an, ob die betreffenden Teile für sich irgendwie gegliedert, ob sie durch eigens auf sie bezogene Akte abgegrenzt sind, und speziell ob sie für sich Gegenstände „innerer", sie in ihrem evidenten Bewusstseinsdasein erfassender Wahrnehmungen sind und es überhaupt sein können oder nicht" (Husserl 1984: 357; Husserl 1988: 5). Die Teile der Erlebnisse erweisen sich zunächst als Empfindungen. Dafür spricht das Beispiel, durch das Husserl den Unterschied zwischen der Empfindung und der Wahrnehmung in LU demonstriert und in ZB wiederholt: „Wenn der Gegenstand nicht existiert, wenn also die Wahrnehmung kritisch als Trug, als Halluzination, Illusion u. dgl. zu bewerten ist, so 111 existiert auch die wahrgenommene, gesehene Farbe, die des Gegenstandes, nicht. Diese Unterschiede zwischen normaler und anomaler, richtiger und trügerischer Wahrnehmung gehen den inneren, rein deskriptiven, bzw. phänomenologischen Charakter der Wahrnehmung nicht an. Während die gesehene Farbe — d. i. die in der visuellen Wahrnehmung an dem erscheinenden Gegenstande als seine Beschaffenheit miterscheinende und in eins mit ihm als gegenwärtig seiend gesetzte Farbe — wenn überhaupt, so gewiß nicht als Erlebnis existiert, so entspricht ihr in diesem Erlebnis, d.i. in der Wahrnehmungserscheinung, ein reelles Bestandstück. Es entspricht ihr die Farbenempfindung, das qualitativ bestimmte phänomenologische Farbenmoment, welches in der Wahrnehmung, bzw. in einer ihm eigens zugehörigen Komponente der Wahrnehmung („Erscheinung der gegenständlichen Färbung") objektivierende „Auffassung" erfährt" (Husserl 1984: 358; Husserl 1988: 5). Der Unterschied wird dann auf die Zeit angewendet: Husserl unterscheidet zwischen der empfundenen und wahrgenommen Zeit. Genauer gesagt, entstehen die Zeitempfindungen aus der Notwendigkeit, diesen Unterschied zu begründen. In ZB folgt der zweite Unterschied unmittelbar nach dem ersten als Analogie, in LU aber tauchen die „Zeitempfindungen" im Kontext des Evidenzproblems und der möglichen Ausdehnung ihrer Sphäre auf, was eine immanente Beweglichkeit der Empfindungen voraussetzt. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass der phänomenologische Begriff des Erlebnisses in der ersten Auflage der LU durch die Begriffe Teil und Ganzes eingeführt wird. Aber eine Einfügung zwischen der Einführung der Erlebnisteile und dem Beispiel mit der gesehenen Farbe in der zweiten Auflage erweckt den Anschein, als ob eine zusätzliche Prozedur dafür erforderlich wäre: „Es sei nun gleich darauf hingewiesen, dass sich dieser Erlebnisbegriff rein phänomenologisch fassen lässt, d. i. so, dass alle Beziehung auf empirisch-reales Dasein (auf Menschen oder Tiere der Natur) ausgeschaltet bleibt: das Erlebnis im deskriptiv-psychologischen Sinn (im empirisch-phänomenologischen) wird dann zum Erlebnis im Sinne der reinen Phänomenologie" (Husserl 1984: 357). 112 Wenn Husserl diese Einfügung (von mir teilweise zitiert) unmittelbar nach der Beschreibung des psychologischen Begriffes Erlebnis machte, so wäre es weiter klar, dass die Einteilung der Erlebnisse in Teile und Momente, seien sie auch „unbewusste", nichts anderes ist, als die Ausschaltung der gegenständlichen Beziehung jeden Erlebnisses. Was für eine besondere Ausschaltung wäre dann nötig?7 Aber Husserl macht die Einfügung sofort nach dem Unterschied zwischen den Erlebnissen und ihren Teilen, als ob ist es nicht ausreicht, auf die Erlebnissteile aufmerksam zu machen, um die Erlebnisse als die ganzheitlichen Akte jeder gegenständlichen Beziehung zu berauben. Die sachliche Frage besteht aber darin, wie und welche Erlebnissteile man phänomenologisch (als die in der Erfahrung gegebenen) und nicht konstruktivistisch überhaupt hervorheben kann. Jedenfalls können darauf vielmehr die Akte einen Anspruch haben, aber nicht die Empfindungen. Die Einteilung der Erlebnisse in Teile und Momente, die dem Unterschied zwischen der Wahrnehmung und der Empfindung zugrunde liegt, wird in der 7 Es sei auch bemerkt, dass Husserl, wie sich zeigen wird, in folgenden Paragraphen der ersten Auflage zwischen dem populären und dem phänomenologischen Begriff des Erlebnisses ohne jegliche „reine Fassung" unterscheidet. Und wieder funktioniert hier die erwähnte Aufteilung. dritten Logischen Untersuchung „Zur Lehre von den Ganzen und Teilen" in Aussicht gestellt. Auch hier kann man eine bemerkenswerte Stelle und auch eine spätere Einfügung finden, die auf die grundlegende Rolle des Unterschieds zwischen dem Ganzen und den Teilen in Bezug auf die Einführung des Zeitbegriffs hinweist. Es handelt sich um relative Selbstständigkeit und Unselbstständigkeit (§13), deren Betrachtung Husserl damit beginnt, was „in den Sachen selbst liegt", nämlich mit der Beziehung der Teile innerhalb der „Sphäre der Bewusstseinsinhalte", die in der zweiten Auflage durch die „Sphäre der bloßen Empfindungsgegebenheiten" ersetzt wird. (Husserl 1984: 263). Die Sachen selbst sind hier, wie wir sehen, nicht die erscheinenden Dinge, wie Husserl betont, sondern die Empfindungsgegebenheiten, aus denen er das Moment der visuellen Ausbreitung hervorhebt, das in der Fußnote als „das darstellende Moment für die räumliche Ausdehnung der erscheinenden farbigen Raumgestalt" bestimmt wird. „innerhalb der Sphäre der bloßen Empfindungsgegebenheiten" im Ganzen ist dieses Moment unselbstständig, 113 aber die Teile der Ausbreitung selber, wenn wir diese in abstracto betrachten, sind relativ unselbstständig. Es ist offenbar, dass es sich um räumliche Verhältnisse handelt. Also war am Anfang der Raum, und der Übergang zu der Zeit oder die Einführung des Zeitbegriffs vollzieht sich durch eine sozusagen Mathematik der Empfindungen, nämlich durch die Formalisierung der Verhältnisse in einem Empfindungsraum, der nichts anderes ist, als ein transformierter Wahrnehmungsraum. Zuerst formalisiert Husserl die beschriebenen Verhältnisse, i.e. die der Teile zum Ganzen. Weiter formalisiert er das Verhältnis der relativen Unselbstständigkeit zwischen den Teilen oder inhalten, was in der folgenden Definition resultiert: „Ein Inhalt a ist relativ unselbständig zu einem Inhalt ß, wenn ein in den gattungsmäßigen Wesen a, ß gründendes Gesetz besteht, wonach a priori ein Inhalt der reinen Gattung a nur in oder verknüpft mit einem Inhalt der Gattung ß bestehen kann" (Husserl 1984: 264). Nach der Formalisierung und auch durch sie geht Husserl zu den zeitlichen Beziehungen über: „Das [in der zweiten Auflage: notwendige] Zusammenbestehen, von dem in der Definition die Rede ist, ist entweder zeitliche [in der zweiten Auflage: auf einen beliebigen Zeitpunkt zu beziehende] Koexistenz, oder es ist auch Zusammenbestehen in einer ausgedehnten Zeit. Im letzteren Falle ist ß ein zeitliches Ganzes, und die zeitlichen Bestimmtheiten figurieren dann (und zwar als Zeitrelationen, Zeitstrecken) mit in dem durch ß bestimmten Inhaltsbegriff. So kann ein Inhalt k, der die Zeitbestimmung t(0) in sich enthält, das Sein eines anderen Inhaltes A mit der Zeitbestimmung t(1) = t(0) + A fordern und insofern unselbständig sein" (Husserl 1984: 265). Die Formalisierung verdrängt sowohl die ursprüngliche Räumlichkeit und die Leiblichkeit des Unterschieds „Ganzes / Teile", als auch „die visuelle Ausdehnung" und macht den Übergang zu der Zeit möglich. Der Terminus „Teil", der direkt oder indirekt auf eine räumliche und leibliche (relative Selbständigkeit charakterisiert in erster Linie die Teile des Leibes) Beziehung hinweist, wird durch den Termin „Inhalt" ersetzt, der eine von den Raumbeziehungen distanzierte Bedeutung haben könnte. Aber um welche Zeit handelt es sich hier, und zwar in einer räumlichen Sprache? Es sieht so 114 aus, als gehe es um die objektive Zeit mit ihren Punkten und Strecken, und in der Tat ist dies bei Husserl der Fall. Aber eine solche Sprache gebraucht Husserl auch in Bezug auf die immanente Zeit an. Sogar im alltäglichen Leben könnte man die Formeln und diese Sprache verwenden. Wenn es unbestimmt bleibt, welche Zeit hier gemeint wird, so ist es doch bestimmt, dass eine solche Sprache für beliebige Typen von Zeit passend ist. Der Gedankengang Husserls gibt uns ein gutes Beispiel, wie eine Transformation des Raums und eine formalisierende Neutralisierung der Raumsprache einen allgemeinen Zeitdiskurs möglich macht: Die räumlichen Teile werden in zeitliche Punkte, die räumliche Ausdehnung in eine zeitliche verwandelt. Die Unbestimmtheit der formalisierten Zeit macht es weiter nicht schwierig, neben ihr die immanente Zeit und den Bewusstseinsfluss in der Einfügung zur zweiten Auflage zu stellen: „In der Sphäre der phänomenologischen Vorkommnisse des 'Bewusstseinsflusses' bietet exemplarische Belege der zuletzt erwähnten Unselbständigkeit das Wesensgesetz dar, dass jedes aktuelle, erfüllte Bewusstseins-Jetzt notwendig und stetig in ein eben Gewesen übergeht: also dass die Bewusstseinsgegenwart kontinuierliche Forderungen an die Bewusstseinszukunft stellt; Natürlich ist die Zeit, auf die wir uns in diesen Reden beziehen, die zum phänomenologischen Bewusstseinsfluss selbst gehörige immanente Zeitform" (Husserl 1984: 265). Also sind hier nebeneinander zwei verschiedene Zeiten - die unbestimmte, die man mit Husserl für die objektive gehalten kann, und die immanente, und zwar dienen die beiden als verschiedene Beispiele der unselbständigen Inhalte. Die beiden entstehen durch eine Formalisierung und der Begriff Unselbständigkeit erweist sich hier in einem anderen Sinne: als die Abhängigkeit der Zeit vom Raum. Ist die Zeit nicht eine Formalisierung des Raums? Wenn für den Übergang zum unbestimmten Zeitdiskurs, der in erster Linie für die objektive Zeit relevant ist, eine transformierende Prozedur (nämlich eine Formalisierung) erforderlich ist, ist es umso mehr nötig, eine spezielle Prozedur für den Übergang zur immanenten Zeit zu vollziehen. In ZB wird diese Prozedur, wie bekannt, die Ausschaltung der objektiven Zeit genannt. Analog könnte man auch die erste Frage nach dem Ursprung der immanenten Zeit auf folgende Weise zu stellen: Was für ein Raum und was für eine Transformation dessen kann zur immanenten Zeit führen? Um diese Frage zu beantworten, kommen wir Husserl folgend zurück zum 115 oben angeführten Beispiel mit der gesehenen Farbe, das eigentlich mehr als ein Beispiel ist, und in dem der Unterschied zwischen der Wahrnehmung und der Empfindung eingeführt wird. Dieser Gedankengang Husserls ist einer mathematischen Schlussfolgerung ähnlich. Wenn X nicht existiert, dann existiert auch Y als seine Beschaffenheit nicht, oder wenn die Menge A nicht existiert, dann existieren auch ihre Glieder nicht. Aber eine solche Schlussfolgerung auf die Wahrnehmungssphäre zu übertragen, scheint fragwürdig zu sein. Phänomenologisch wäre es relevant, von einer Gegebenheit auszugehen, d.h. nicht vom Gegenstand, „der nicht existiert", sondern von der gegebenen Farbe. Bei Brentano sieht die Sachlage so aus: Es gibt die gesehene Farbe als ein physisches Phänomen unabhängig davon, ob der Gegenstand existiert, zu dem die Farbe unserer Meinung nach gehören sollte. Das ist auch gleichgültig, was für ein Gegenstand hinter dem Phänomen steckt. Es ist nur wichtig, die Unabhängigkeit des Phänomens hervorzuheben. In der Auseinandersetzung mit Brentano will Husserl zeigen, das ein Teil davon, was Brentano für Physisches hält, zum Psychischen gehört. Die gesehene Farbe zergliedert Husserl auf die Farbenempfindung, das qualitativ bestimmte phänomenologische Farbenmoment, und die objektivierende „Auffassung". Die beiden Komponenten gehören aber zum Psychischen, oder, nach Husserl, zu reellen Bewusstseinsinhalten. Aber was bleibt nun von der gesehenen Farbe als einer gegebenen? Die Empfindungen sind nicht gegeben, die auffassenden Akte können nur als Akte des Sehens gegeben sein, aber nicht als etwas Gesehenes. Wie ist es geschehen, dass nicht ein Teil, sondern das ganze physische Phänomen „die gesehene Farbe" in einen psychischen „reellen Inhalt" verwandelt ist? Um eine Illusion, Halluzination usw. kann es nur nach deren Enthüllung gehen. Solange sie nicht enthüllt wird, gehört die gesehene Farbe zur Illusion, die man für einen Gegenstand hält. Oder zu einem anderen Gegenstand, wenn wir einen Gegenstand für einen anderen halten. Aber immer ist die Farbe, wenn nicht mit einem Gegenstand als Ding, doch mit einer Form verbunden. Nach der Enthüllung der Illusion, wenn sie sich als nichts erweist, verschwindet auch die gesehene Farbe, die mit dem bestimmten Gegenstand oder der bestimmten Form verbunden ist, und wenn etwas Farbiges und 116 Identisches (das letzte ist übrigens unwahrscheinlich) bestehen bleibt, müsste es mit dem anderen Gegenstand oder mit einer anderen Form verbunden sein. Die Enthüllung der Illusion transformiert nicht die gesehene Farbe in die Farbenempfindungen, wie Husserl darzustellen versucht, sondern sie ändert die gegenständliche Zugehörigkeit der Farbe. Man muss der Kritik H. Asemissens zustimmen, dass „Husserls Unterscheidung von einerseits empfundenem und andererseits wahrgenommenem Rot bzw. Weiß theoretisch konstruiert [ist]" (Asemissen 1957: 28). Man kann auch sagen, dass der konstruktivistisch eingeführte Begriff der Empfindungen (als der besonderen Bewusstseinsinhalte) nur eine Zwischenrolle spielt. Das Endziel ist der neue Bewusstseinsbegriff, der wenigstens drei Bedingungen erfüllen muss. Erstens sollte der Bewusstseinsgegenstand kein immanentes Objekt sein, er sollte nicht „im" Bewusstsein enthalten sein, wie bei Brentano. Zweitens sollte er nicht aus Empfindungen bestehen, wie bei Mach. Drittens sollte das Bewusstsein selber nicht als eine Kollektion oder eine Menge an Vorstellungen, Urteilen, Erinnerungen usw. verstanden werden. Das Bewusstsein ist vielmehr etwas in sich Lebendiges, Variables, Bewegliches. Also dient der Begriff Empfindung bei Husserl einerseits der Auseinandersetzung mit Brentano (die Empfindungen, meint Husserl, aber nicht die Gegenstände sind in Wahrheit immanent) und Mach (die Gegenstände darf man nicht in den Empfindungen auflösen). Andererseits machen die Empfindungen die bewegliche Schicht des Bewusstseins aus. Die Beweglichkeit des Bewusstseins sollte auch Husserls Hauptthese bestätigen: die Gegenstände sind dem Bewusstsein transzendent. Zwischen dem Bewusstsein und den Gegenständen liegt der Abgrund: auf der Seite des Gegenstands befindet sich Identität, auf der Seite des Bewusstseins Veränderlichkeit. 3. Beweglichkeit und Abschattung Die Empfindungen muss man jedoch anders als gewöhnlich verstehen, um die Beweglichkeit in ihnen zu entdecken. Wenn Husserl zwischen dem populären und phänomenologischen Begriff der Erlebnisse einen Unterschied zieht, unterscheidet er in erster Linie zwei Begriffe von Empfindungen. „Die äußeren Vorgänge erleben, das hieß: gewisse auf diese Vorgänge gerichtete Akte des Wahrnehmens, des (wie immer zu bestimmenden) Wissens u. dgl. haben. Dieses Haben bietet gleich ein Beispiel für das ganz andersartige Erleben in dem innerlichen [in der ersten Auflage: phänomenologischen] Sinne. Es besagt nicht mehr, als dass gewisse Inhalte Bestandstücke in einer Bewusstseinseinheit, in einem „erlebenden" Subjekt [in der ersten Auflage: im phänomenologisch einheitlichen Bewusstseinsstrom eines empirischen Ich] sind. Dieser selbst ist ein reelles Ganzes, das sich aus mannigfachen Teilen reell zusammensetzt, und jeder solche Teil heißt „erlebt". In diesem Sinne ist das, was das Ich oder das Bewusstsein erlebt, eben sein Erlebnis. Zwischen dem erlebten oder bewussten Inhalt und dem Erlebnis selbst ist kein Unterschied. Das Empfundene z. B. ist nichts anderes als die Empfindung" (Husserl 1984: 362; Husserl 1988: 9). Könnte aber Husserl ein anderes Beispiel anführen? Formal gehören zu den Inhalten als Bestandstücken einer Bewusstseinseinheit auch Akte. Aber der bewusste Akt und das Bewusstsein des Aktes (die innere Wahrnehmung des ersten) können nicht gleich sein, auch wenn die beiden zu einem und demselben psychischen Akt gehören, wie es Brentano gemeint hat. Also kann 117 es bei Husserl faktisch nur um Empfindungen gehen. Der populäre Begriff charakterisiert das Erlebnis als ein Ereignis im Bewusstsein, das auf etwas Gegenständliches bezogen ist, der phänomenologische als die Mannigfaltigkeit der Übergangsprozesse, die von jedem Gegenständlichen frei sind und eine bewegliche Schicht, zuerst die reale, dann die reelle genannt, ausmachen. Die Beweglichkeit der Teile wird dann auf die Erlebnisse übertragen, wobei die Besonderheit jedes Erlebnisses in den Hintergrund rückt, und ihre Verknüpftheit in den Vordergrund tritt. In der Beziehung der Erlebnisse zu einem erlebenden Bewusstsein oder einem Ich aber liegt kein eigentümlicher phänomenologischer Befund, bemerkt Husserl. Das Ich, wenn wir vom Ich als Ding zum Ich als Erlebniskomplex übergehen, ist kein Zentrum, das von außen die Erlebnisse zur Einheit bringt. Das Ich oder das Bewusstsein (in der ersten Auflage konnte Husserl ohne den zusätzlichen Terminus „phänomenologisch" auskommen) ist nichts anderes, 118 als die Verknüpfungseinheit der Erlebnisse. Die Bedeutung dieser Überlegung Husserls kann man kaum hoch genug einschätzen. Man kann sie als einen Versuch bezeichnen, für das Dilemma zwischen dem Primat des Ganzen über die Teile und der Teile über das Ganze, und wenn man will, für das Dilemma zwischen dem Idealismus und Empirismus eine Lösung zu finden. Weder das Ganze noch die Teile sollten nun über einander herrschen. Jetzt gehört das Primat zu den Verknüpfungen, Verschmelzungen, Zusammenhängen der Teile, aus denen die Teile selber hervorgehoben werden können und die das Ganze selber bestimmen. Aber allmählich geht die räumliche Beschreibung der Erlebnisse durch die Annahme der Beweglichkeit in eine zeitliche über. In der Verknüpfung selbst und auch in den Übergängen kann man kaum etwas Zeitliches entdecken. Zu der Zeit führt uns die den Teilen der Erlebnisse zugeschriebene Beweglichkeit, die keine Einheit in den Gegenständen finden kann, weil sie von diesen ganz und gar abgerissen ist. Und diese Einheit finden sie nach Husserl in einem „subjektiven Zeitbewusstsein". Letzen Endes verwandelt sich die Beweglichkeit der Verknüpfungsform in den Bewusstseins- oder Erlebnisstrom. Husserl schreibt die Beweglichkeit nicht nur den Erlebnisteilen und den Erlebnissen selber zu, sondern auch der Evidenzsphäre, was direkt die Einführung der immanenten Zeit anregt. Nach der Einführung des zweiten Bewusstseinsbegriffs - „inneres Gewahrwerden von eigenen psychischen Erlebnissen" - versucht Husserl, den ersten B ewusstseinsbegriffvon dem zweiten abzuleiten. Er behauptet, dass die Sphäre solcher ursprünglichen Evidenzen wie «Ich bin», «diese Lust, die mich erfüllt», «diese Phantasieerscheinung, die mir eben vorschwebt" und anderer ungezählter Urteile der Form ich nehme dies oder jenes wahr erweitert werden kann durch die Erinnerung und die empirische Annahme dessen, was mit dem evident Wahrgenommenen koexistiert und einen kontinuierlich einheitlichen Zusammenhang mit ihm bildet. Nun entsteht die Frage, was ist das Beurteilte oder der Gegenstand dieser und anderer wirklich unzähligen Urteile der inneren Wahrnehmung, wie z.B. ich nehme diese oder jene Farbe wahr, ich höre diesen oder jenen Ton, usw.? Was wird hier wahrgenommen, der Akt der Wahrnehmung oder das in diesem Akt Wahrgenommene - Farben, Töne, Phantasiebilder? Bei Brentano geht es in erster Linie um die Akte oder psychischen Phänomene: wir sehen die 119 Farbe, und innerlich nehmen wir wahr, dass wir jetzt die Farbe sehen bzw. den Ton hören oder über etwas urteilen, aber nicht z. B. etwas tasten oder riechen oder uns erinnern, etwas erwarten, usw. Darauf ist dieser Evidenzbereich eingeschränkt: Mit Evidenz nehmen wir innerlich nur die Akte wahr. In Bezug auf die Zeit bedeutet dies, dass die Evidenz nur in der Gegenwart realisiert werden kann. Husserl verlagert die Akzente. Die Inhalte der inneren Wahrnehmung sollten nun nicht die Akte sein, sondern vielmehr das Gegebene in diesen Akten: „<^> sofern ich dabei nicht bloß vermeine, sondern dessen mit Evidenz versichert bin, dass das Wahrgenommene als das, was es vermeint ist, auch gegeben ist: dass ich es selbst erfasse als das, was es ist" (Husserl 1984: 367-368; Husserl 1988: 14). Im Beispiel mit gesehener Farbe kann man den Unterschied zwischen Brentano und Husserl folgenderweise darstellen: als evident bezeichnet Brentano den Wahrnehmungsakt der Farbe, für Husserl ist die empfundene Farbe evident gegeben, und zwar unabhängig von der Existenz des gefärbten Gegenstandes. M. a. W. verlagert Husserl die Akzente vom Bereich der Akte auf die Bewusstseinsinhalte, die für ihn in erster Linie Empfindungen sind. Bemerkenswert ist, dass Husserl die Akzentsverlagerung durch den Akt ego cogito realisiert. „Ich bin" als Bewusstseinsakt transformiert sich in das Ich als einen Bereich der absolut gegebenen Erlebnisse, befreit von jeder Gegenständlichkeit. Dies ist eigentlich der erste Bewusstseinsbegriff. Es ist nicht zufällig, dass die Beispiele mit Lust und Phantasie ausgewählt werden, in denen die Beziehung auf die Gegenstände nur indirekt ist. Aber zusammen mit der Gleichgültigkeit gegen die Existenz von Gegenständen rücken sich auch die Bewusstseinsakte in den Hintergrund. Verbal handelt es sich bei Husserl immer wieder um die Akte oder Auffassungen, die die Empfindungen objektivieren oder beseelen sollen. Aber deskriptiv sind sie bei Husserl nicht in den Erlebnissen eingeschlossen. Zum ^ema der Deskription, besser gesagt, Quasideskription bleiben nur die Empfindungen. Wenn die Erlebnisse im gewöhnlichen Sinne nichts anderes sind als 120 Wahrnehmungen, Urteile und sonstige Akte, die sich auf Gegenstände beziehen, so sind die Erlebnisse im phänomenologischen oder innerlichen Sinne die Inhalte als Bestandsteile in der Bewusstseinseinheit. Nach Husserl koexistieren diese Teile beweglich: „Und die Einheiten der Koexistenz gehen von Zeitpunkt zu Zeitpunkt stetig ineinander über, sie konstituieren eine Einheit der Veränderung, welche ihrerseits stetiges Verharren oder stetiges Ändern mindestens eines für die Einheit des Ganzen wesentlichen, also von ihm als Ganzem unablösbaren Moments fordert" (Husserl 1984: 369; Husserl 1988: 15). Also fordert die Übergangsbeweglichkeit eine Einheit, die sich wieder innerlich konstituieren sollte: «Diese Rolle spielt vor allem auch das subjektive Zeitbewusstsein, als Abschattung der „Zeitempfindungen" verstanden, welches, so paradox es klingt, eine allübergreifende Form des Bewusstseinsaugenblicks, also eine Form der in einem objektiven Zeitpunkt koexistenten Erlebnisse darstellt» (Husserl 1984: 369, Husserl 1988: 15). Die „Zeitempfindungen" kann man nicht anders verstehen, als die Empfindungen der reinen Beweglichkeit und die Beweglichkeit selber als die immanente Zeit. In der Tat, was könnte der bewusste Inhalt des subjektiven oder inneren Bewusstseins der Zeit sein? Übrigens ist es nicht so leicht, die immanente Zeit von dem inneren Zeitbewusstsein zu unterscheiden. Dafür sollten wir die Empfindung und das Empfinden von einander trennen: „Das Empfinden sehen wir an als das ursprüngliche Zeitbewusstsein; in ihm konstituiert sich die immanente Einheit Farbe und Ton, die immanente Einheit Wunsch, Gefallen usw." (Husserl 1984: 107). Aber wurde nicht die Gleichheit zwischen den Empfundenen und der Empfindung bereits festgestellt? (Husserl 1984: 362; Husserl 1988: 9). Also verwendet Husserl zwei Schlüsselbegriffe für die Einführung der immanenten Zeit: Empfindung und Abschattung (der letztere wird weiter eine wichtige Rolle in der Theorie der Wahrnehmung Husserls spielen), und jeden in einem besonderen Sinn. Zum Teil kann man L. Landgrebe zustimmen, dass der in den Ideen I „entwickelte Begriff der „sensuellen u\n" < — > noch keineswegs von Resten der sensualistischen Tradition frei ist" (Landgrebe 1954: 196). Es sollte jedoch berücksichtigt werden, dass Husserl diesen Termini 121 eine besondere Bedeutung zuschreibt. Husserl verleiht der Empfindung eine darstellende oder repräsentierende Funktion und versucht den Begriff Empfindung von seinem sensuellen Inhalt zu befreien. Die Empfindung hat nichts zu tun mit dem Reagieren auf die Wirkung der Außenwelt im weiteren Sinne. Dies betrifft, wie wir sehen werden, auch die Zeitempfindungen. Aber welches positive, d.h. erfahrungmäßige Merkmal kann man in den Empfindungen entdecken, außer Beweglichkeit und Darstellungsfunktion? Sind die Zeitempfindungen auch rein funktionell? In Ideen I bezeichnet Husserl Empfindungen als „Träger der Intentionalität" und betont, dass er unter Empfindungen nur die darstellenden Inhalte versteht, die sich im Bewusstsein befinden. Diese Bewusstseinsinhalte, die von jeder Gegenständlichkeit befreite wahrhaftige Immanenz ausmachen, charakterisiert Husserl als Abschattung. Die darstellende Abschattung kann man auch als eine variable Projektion bezeichnen und sich anschaulich als Schatten von Gegenständen vorstellen. Die Gegenstände werfen die Schatten, und zwar die unterschiedlichen Schatten im Einklang mit dem Winkel der Beleuchtung. Die Schatten enthalten in sich nichts außer einer Form, aber sie stellen die Gegenstände dar; nach dem Schatten kann man den Gegenstand wiederherstellen. Bemerkenswert ist es auch, dass die Nicht-Dinglichkeit des Schattens ihn nicht stört, räumlich zu sein. Aber ungeachtet des unmittelbar räumlichen Sinns der Abschattung verwendet Husserl den Terminus im zeitlichen Sinne und zwar in einem Sinne, der dem räumlichen gegensätzlich sein sollte. Gewöhnlich versteht man unter einem Schatten etwas Lebloses. Im Gegensatz dazu schreibt Husserl den Abschattungen, d.h. den die Schatten tragenden Empfindungen, Lebendigkeit zu, die uns den Gegenstand so auffassen lässt, wie er selbst ist, d.h. leibhaftig. Die Variabilität der die Schatten, besser die Schattierungen tragenden Empfindungen bildet die reelle Bewusstseinsschicht, die denselben Namen hat wie die entsprechenden Beschaffenheiten des Dinges, das in den Projektionen gegeben wird. Husserl bemerkt in Ideen 1: „Die Abschattung, obwohl gleich genannt, ist prinzipiell nicht von derselben Gattung wie Abgeschattetes. Abschattung ist Erlebnis. Erlebnis 122 ist nur als Erlebnis möglich und nicht als Räumliches. Das Abgeschattete ist aber prinzipiell nur möglich als Räumliches (es ist eben im Wesen räumlich), aber nicht möglich als Erlebnis" (Husserl 1995: 86). Wie wir sehen weist Husserl auf die Nicht-Räumlichkeit der Erlebnisse hin, aber durch eine räumliche Beschreibung. Wenn H. Asemissen in seinem Kontext mit Recht die Frage stellt, „wie sich der räumliche Charakter der Abschattung mit ihrem hyletischen Charakter verträgt?" (Asemissen 1957:28), setzt er Husserl folgend voraus, dass dies unmöglich ist. In der Tat hat das Wort Abschattung einen räumlichen Sinn in allen seinen Wortbedeutungen. Es kann sich bei Husserl kaum um eine Metapher handeln, weil oben genannte Husserls Unterscheidung „Abschattung/Abgeschattetes" in diesem Fall die Unterscheidung zwischen dem Metaphorischen und nicht Metaphorischen wäre. Auf der Seite des Erlebnisses bliebe nur die Metapher. Im Gegenteil gehen wir davon aus, dass das Bewusstsein räumlich beschrieben werden kann. Dies lässt uns eine andere und schärfere Frage stellen: wie verträgt sich der räumliche Charakter der Abschattung mit ihrem zeitlichen Charakter? Die Antwort kann man teilweise bei Husserl selber finden. Die Räumlichkeit des Dinges soll auch repräsentiert werden, wie auch alle seine Beschaffenheiten. Und in Ding und Raum (weiter DR) schreibt er den Empfindungen, und zwar den Farbenempfindungen eine präphänomenale Räumlichkeit zu: „Die Farbendaten sind nicht verstreut und zusammenhanglos, sie haben eine feste Einheit und eine feste Form, die Form präphänomenaler Räumlichkeit, und ebenso alle Sinnesdata, die zu eigentlich raumfüllenden Qualitäten als Darstellungsinhalte gehören" (Husserl 1973: 69). Wenn in den LU das subjektive Zeitbewusstsein als Abschattung der Zeitempfindungen die Rolle der Invarianz in der Stabilität und Variabilität der Empfindungen auf sich nimmt, bringt in DR die präphänomenale Räumlichkeit die beweglichen Empfindungen in ordnung. Es bezieht sich aber nur auf Empfindungen, die räumliche Eigenschaften der Dinge darstellen. Allerdings hängt diese Einschränkung in erster Linie mit dem Husserlschen Verständnis des objektiven Raums als eines Behälters zusammen, der mit den visuell gegebenen Dingen gefüllt ist. Und umgekehrt interpretiert Husserl den visuellen Raum als einen objektiven: 123 «Öffnen wir die Augen, so sehen wir in den objektiven Raum hinein - das heißt (wie reflektierende Betrachtung zeigt): wir haben visuelle Empfindungsinhalte, die eine Raumerscheinung fundieren, eine Erscheinung von bestimmten, räumlich so und so gelagerten Dingen» (Husserl 1969: 5). In diesem Sinne füllt der Ton nach Husserl den Raum eigentlich nicht: „Er füllt den Raum, sofern er in dem Raum, etwa des Saales gehört wird. <^> Der Raum des Saales erscheint visuell so und so bestimmt durch seine Grenzkörper und Grenzflächen. Fußboden, Wände, Decke sind überdeckt (Hervorgehoben von mir - V.M.) mit visuellen Qualitäten. So erscheinen sie. Aber nirgends erscheint eine Tonbedeckung oder sonstige Tonerfüllung. Nur bildlich wird von einer Verbreitung des Tones und Erfüllung des Raums gesprochen, es leitet etwa das Bild eines Fluidums" (Husserl 1973: 67-68). Diese Rauminterpretation scheint zu eng zu sein. Wenigstens ist die Rede von der Erfüllung des visuellen Raums auch bildlich oder geometrisch. Einem Ding, z.B. einem Tisch geht nicht ein leerer Raum voran, um erfüllt zu werden, sondern ein passender (oder unpassender) Ort. Vielmehr ist der primäre Raum nicht visuell, sondern er ist eine Mannigfaltigkeit der leiblich-gegenständlich-bedeutsamen Ausrichtungen. Dass der Raum visuell erscheinen kann, bedeutet nicht, dass der lebensweltliche Raum unbedingt visuell sein soll. Das Sehfeld ist nur eine der orientierungsweisen in der Umwelt, das, wenn es nötig ist, durch das Hörfeld und das Feld der Tastempfindungen, wenigstens zum Teil, ersetzt werden kann. Außerdem muss man eine sehr künstliche oder professionelle Stellung nehmen, um sich den Raum des Saales als mit den sinnlichen Qualitäten bedeckte Boden, Wände und Decke vorzustellen. Dafür sollte man z.B. ein Architekt oder Baumeister sein8. Aber im Prinzip wäre es möglich. Eine andere Sache besteht darin, ob es überhaupt möglich ist, einen Ton als solchen zu hören, oder, wie es Husserl in ZB vorschlägt, „den Ton rein als hyletisches Datum [zu] [nehmen]" (Husserl: 1969: 24). Ein solcher Ton könnte weder als Signal noch als Symbol, weder als ein Stück Musik noch als Lärm des Verkehrs, weder als Klang eines Instruments noch als menschliche Stimme usw. interpretiert wird. Natürlich sehen wir keine Verbreitung des Tones im visuellen Raum, denn ein Tonraum ist nicht visuell, aber wir hören die Verbreitung des Tones im Hörraum und können sich auch dem Ton nach in verschiedenen Räumen orientieren. Der Übergang zu reiner Hyletik ist bei Husserl der oben erwähnten Formalisierung 124 ähnlich. Der Tonraum wird mehr als transformiert, er wird bis zur Vernichtung zusammengepresst, um sich in ein immanentes zeitliches Objekt zu verwandeln. Dabei verliert ein solches Objekt seine Bestimmtheit und wird zu einem abstrakten Objekt. Husserls Beschreibung in ZB (Husserl 1969: 24-25): der Ton fängt an, hört auf, erfüllt die Dauer, wird bewusst als Jetzt, rückt in die Vergangenheit usw. kann man auf ein beliebiges Wahrnehmungsobjekt übertragen. Husserlssche Beschreibungsmittel bleiben hier auch ganz und gar räumlich: Punkte, Strecke, Erstreckung, Retention (behalten) usw.9 Es sei auch bemerkt, dass jede räumliche Darstellung der Zeit eine doppelte Abstraktion ist. Zuerst verwandelt man einen lebensweltlichen Raum in einen geometrischen, aus welchem man die Punkte, Linien, und Schemen als die 8 Heideggers Bemerkung ist treffend: «Es bedarf schon einer künstlichen und sehr komplizierten Einstellung, um so etwas wie 'reines Geräusch' zu ,hören'. Dass wir aber zunächst gerade solches hören, Motorräder und Wagen, was im Grunde doch merkwürdig klingt, ist der phänomenologische Beleg dafür, dass wir zunächst in unserem Sein in der Welt immer schon bei der Welt selbst sind und nicht zunächst bei 'Empfindungen' und dann aufgrund irgendwelchen heaters schließlich bei den Dingen sind" (Heidegger 1994: 367). 9 Vgl. dazu die treffende Unterscheidung von Erwin Strauss: „Die Farbe erscheint uns gegenüber, dort, auf eine Stelle beschränkt, den Raum in Teilräume begrenzend und gliedern, entfaltet sich in ein Neben- und Hintereinander. Der Ton dagegen, kommt auf uns zu, erreicht und erfasst uns, schwebt vorbei, er erfüllt den Raum, gestaltet sich in einem zeitlichen Nacheinander" (Straus 1960: 146). Zeitdarstellungsmittel entlehnt. In diesem Sinne erweist sich die dargestellte Zeit als ein doppelt transformierter Raum. 4. Zeit - und/oder Raumphänomenologie In ZB steht das Problem der Evidenz und ihrer Ausbreitung im Hintergrund. Die Analogie zwischen der Farbe und der Zeit im Aspekt der Unterscheidung zwischen dem Empfundenen und dem Wahrgenommenen tritt in den Vordergrund. Dabei wird die Analogie zwischen dem Raum und der Zeit zu einem Leitfaden. Sie wird notwendigerweise unumgänglich bei der Einführung des Zeitbegriffs. Husserl fängt an mit dem Unterschied zwischen der objektiven Zeit, die mit einem Chronometer messbar ist, und der „immanenten Zeit des 125 Bewusstseinsverlaufs". Es geht hier nicht, wie Husserl betont, um die Existenz einer Weltzeit oder die Existenz einer dinglichen Dauer u. dgl., sondern um „die erscheinende Zeit", die „erscheinende Dauer als solche". Diese sind, nach Husserl, „absolute Gegebenheiten", was er am Beispiel des Nacheinanders illustriert: „Dass das Bewusstsein eines Tonvorgangs, einer Melodie, die ich eben höre, ein Nacheinander aufweist, dafür haben wir eine Evidenz, die jeden Zweifel und jede Leugnung sinnlos erscheinen lässt" (Husserl 1969: 5). Dies ist der erste und der einzige Hinweis auf die Erfahrung (die als eine zeitliche gelten sollte, die aber ihre Zeitlichkeit noch beweisen muss), der den Analogien zwischen dem Raum und der Zeit vorangeht. Weiter folgt immer die Zeit dem Raum. Im ersten Schritt bei der Ausschaltung der objektiven Zeit greift Husserl zur Analogie der immanenten Zeit mit dem Raumbewusstsein. Er bemerkt dabei, dass „Raum und Zeit so vielbeachtete und bedeutsame Analogien aufweisen" (Husserl 1969: 5). Die Deskription des Gesichtsfelds dient weiter als Muster für das Verständnis des „ursprünglichen Zeitfelds", das übrigens ohne Beschreibung bleibt. Husserl schlägt vor, „von aller transzendierenden Deutung" zu abstrahieren und „die Wahrnehmungserscheinung auf die gegebenen primären Inhalte zu reduzieren", die „das Kontinuum des Gesichtsfeldes, das ein quasiräumliches ist", ausmachen. Die Verhältnisse, die man in diesem Kontinuum finden kann, sind: „Nebeneinander, Übereinander, Ineinander", wie auch „geschlossene Linien ein Stück des Feldes völlig umgrenzen usw." Es liegt auf der Hand, dass ein Versuch, solche Verhältnisse wie Nebeneinander, Übereinander usw. abzusondern und ohne jeden Zusammenhang mit den Gegenständen vorzustellen, dem Versuch analog ist, Farbempfindungen als eine selbstständige quasiräumliche Sphäre zu betrachten. Im Gesichtsfeld kann man dies kaum erreichen. Vielmehr sind diese quasiräumlichen Verhältnisse primäre Verhältnisse leiblicher Orientierungen in einem lebensbedeutsamen, aber nicht bloß visuellen Raum. Nach der Beschreibung des quasiräumlichen Kontinuums kehrt Husserl zu der Zeit zurück: „Ähnliches gilt nun auch von der Zeit" (Husserl 1969: 6). Das soll bedeuten, dass man auch in den Zeiterlebnissen Zeitauffassungen 126 und „spezifisch temporale Auffassungsinhalte" als Momente betrachten kann und muss. Also wird dieser „temporale" Unterschied durch eine Analogie mit dem Unterschied zwischen der „Raumanschauung" und den visuellen Empfindungsinhalten eingeführt. Man könnte sagen: der räumliche Unterschied wird auf die Zeit übertragen. Allerdings würde damit die Existenz der Zeit schon vorausgesetzt. Aber man kann die andere, genetische Frage stellen, ob es überhaupt nicht der Zeitbegriff bzw. die Zeiterfahrung aus dem Raumbegriff bzw. der Raumerfahrung entsteht? Jedenfalls beginnt die Zeitphänomenologie mit der Festlegung von Aufgaben der Phänomenologie des Raums. Nach der analog eingeführten Unterscheidung wendet sich Husserl wieder an die Raumphänomenologie: „In eine ausgeführte Phänomenologie des Räumlichen gehörte auch eine Untersuchung der Lokaldaten, welche die immanente Ordnung des „Gesichtsempfindungsfeldes" ausmachen, und dieses selbst" (Husserl 1969: 6). Eben in diesem Zusammenhang führt Husserl den aus LU uns bekannten Unterschied zwischen der empfundenen und wahrgenommenen Farbe. Diese Unterscheidung macht Husserl zu einem Beispiel aus der Phänomenologie des Raumes, obwohl es der empfundenen Farbe noch nicht die präphänomenale Räumlichkeit zugeschrieben wird, was später, wie wir gesehen haben, in DR erfolgt. Dann kommt die entscheidende Analogie: „Nennen wir empfunden ein phänomenologisches Datum, das durch Auffassung als lebhaft gegeben ein Objektives bewusst macht, das dann objektiv wahrgenommen heißt, so haben wir in gleichem Sinne auch ein „empfundenes" Zeitliches und ein wahrgenommenes Zeitliches zu unterscheiden. Das letztere meint die objektive Zeit. Das erstere aber nicht selbst objektive Zeit (oder Stelle in der objektiven Zeit), sondern das phänomenologische Datum, durch dessen empirische Apperzeption die Beziehung auf objektive Zeit sich konstituiert. Temporaldaten, wenn man will, Temporalzeichen, sind nicht tempora selbst" (Husserl 1969: 7). Bemerkenswert ist, dass Husserl in der ersten logischen Untersuchung die „verstehende Auffassung, in der sich das Bedeuten eines Zeichens vollzieht" und die „objektivierenden Auffassungen" sorgfältig unterscheidet (Husserl 1984: 79-80). In ZB aber verwendet er sowohl im Fall der Farbe, als auch im Fall der Zeit „Empfindung" und «Zeichen» als Synonyme. Der Grund liegt 127 darin, dass das Zeichen (in seiner Funktion) nichts Sensuelles in sich trägt. Husserl bemerkt in Bezug auf die Zeit: „Empfunden" wäre dann also Anzeige eines Relationsbegriffs, der in sich nichts darüber besagen würde, ob das Empfundene sensuell, ja ob es überhaupt immanent ist im Sinne von Sensuellem, m. a. W. es bliebe offen, ob das Empfundene selbst konstituiert ist, und vielleicht ganz anders als das Sensuelle. - Aber dieser ganze Unterschied bleibt am besten beiseite; nicht jede Konstitution hat das Schema Auffassungsinhalt - Auffassung (Husserl 1969: 7). Woher aber sind die Zeitempfindungen gekommen? Was ist ihr Konstitutionsgrund? In Bezug auf die andere Art von Empfindungen entsteht die Konstitutionsfrage nicht, weil sie nur als Material für Auffassungen dienen. Aber die Zeitempfindungen selbst sollen konstituiert werden, weil sie in sich selbst die immanente Zeit tragen. „Die Vorobjektivierte Zeit [gehört] zur Empfindung", wie Husserl bemerkt (Husserl 1969: 72). Und doch: „Die „empfundenen" Temporaldaten sind nicht bloß empfunden, sie sind auch mit Auffassungscharakter behaftet" (Husserl 1969: 7). Die Zeitempfindungen sind in einem Sinne die idealen: sie betreffen prinzipiell keinen Gegenstand. Wenn Farbenempfindungen von der Gegenstandsfarbe abstrahiert sind, d.h. von dem, was in der wirklichen Erfahrung gegeben sein kann, könnte man auch vermuten, dass sowohl die Zeitempfindungen, als auch die Zeitauffassungen von der objektiven Zeit abstrahiert sind. Aber die objektive Zeit selber ist auch schon eine Abstraktion; als etwas in der Erfahrung nicht Gegebenen ist sie ein zweifelhafter Grund für die Abstraktion. P. Ricoeur macht aufmerksam darauf, dass die objektive Zeit eine Voraussetzung für die Beschreibung der immanenten Zeit bei Husserl ist. Er meint dabei sowohl die Zeitauffassungen als auch die Zeitempfindungen: „Man kann sich aber fragen, ob diese Auffassungen, um die Hyletik vor dem Schweigen zu bewahren, nicht Anleihen bei gewissen Bestimmungen der objektiven Zeit machen müssen, von denen wir vor der Ausschaltung wissen. Würden wir von einem empfundenen „Zugleich" reden, wenn wir nichts von 128 der objektiven Gleichzeitigkeit wüssten, oder von der empfundenen Gleichheit phänomenologisch-temp oraler Abstände, wenn nichts von der objektiven Gleichheit von Zeitabständen wüssten?" (Ricoeur 1991: 40). Man kann dieser Bemerkung im Allgemeinen zustimmen, aber mit der Ergänzung, dass sich die objektive Zeit letzten Endes auf den objektiven Raum und die Erdbewegung reduziert. Und sowohl „Zugleich" und „empfundene Gleichheit", als auch „Gleichzeitigkeit" und „objektive Gleichheit" sind im Grunde genommen räumliche Bestimmungen. Konsequenter und ein Jahrhundertsviertel früher als P. Ricoeur hat der Freiburger Philosoph G. Eigler bemerkt: „Sicher, wenn auch die Weltzeit ausgeschaltet bleibt, so ist doch gerade die immanente Zeit an ihr orientiert und durch sie am Raume, weil die Weltzeit durch die Bewegung des Himmels, diese Raumbewegung, gemessen wird und die Raumstrecke und die Zeitdauer sich entsprechen. Paradox ist dies, dass Husserl - in gewissem Gegensatz zu Bergson - Raumkonstituition in Zeitkonstitution fundiert!" (Eigler 1961: 110). Vom Himmel ist hier deshalb die Rede, weil G. Eigler die Aristotelische mit der Husserlschen Lehre vergleicht und den Begriff Zeit im Wesentlichen nur historisch und nicht sachlich betrachtet. Das treffend formulierte Paradox aber hat eine „räumliche" Lösung: was Husserl sowohl für die Zeit, als auch für die immanente Zeit hält, ist nichts anderes, als der transformierte Raum.10 Die Räume, die bei Husserl eine Transformation erfahren oder erleiden, sind in erster Linie der Wahrnehmungsraum und der Tonraum. Aus dem Wahrnehmungsfeld, das man auch Wahrnehmungsraum nennen kann, wird eine Schicht, Empfindungen genannt, hervorgehoben, der weiter eine absolute Beweglichkeit zugeschrieben wird. So lässt sich letzten Endes das Bündel der Erlebnisse in den Bewusstseinsstrom verwandeln. Wenn sich der visuelle Raum in ein Empfindungsfeld transformiert, verwandelt sich der Raum des Tons, verstanden als ein hyletisches Datum, in ein immanentes Zeitobjekt. Anders gesagt setzt die Ausschaltung der objektiven Zeit die Ausschaltung des objektiven Raums durch seine Verwandlung im Sehfeld voraus, das seinerseits als ein Empfindungsfeld interpretiert wird. Die reine Beweglichkeit der von den Raumbeziehungen befreiten Empfindungen ist der letzte Schritt vom Raum zur immanenten Zeit. Allen diesen Transformationen liegt, ich erlaube mir das nochmals zu betonen, der entscheidende Unterschied 129 zwischen der Wahrnehmung und der Empfindung zugrunde. Also erweist sich der Raum sowohl als der objektive, als auch der „subjektive" (quasiräumliches Gesichtsfeld und präphänomenale Empfindungsräumlichkeit) als die notwendige Voraussetzung der Zeitphänomenologie Husserls. Wenn „die zeitliche Extension mit der räumlichen [verschwistert ist]", wie es Husserl in DR ausdrückt (Husserl 1973: 65), entsteht nun die Frage: wer ist die ältere Schwester oder der ältere Bruder? Der Hinweis auf die absolute Gegebenheit des Nacheinanders und der Dauer spricht noch nicht zugunsten der Zeit, denn die Beziehung vor / nach (npöxepov / uoxepov) ist in erster Linie räumlich und das Nacheinander, wie auch die Aufeinanderfolge und die Reihenfolge ist nichts anderes in der Erfahrung, als die Gegebenheit der räumlichen Ordnung der Bewegung. „Das Folgen" drückt die räumliche Relation aus, und wenn wir uns dessen bewusst sind, dass das Etwas (2) nach dem Etwas (1) folgt, bedeutet das, dass das zweite Etwas das erste im entsprechenden Raum, auch im Hörraum, für uns ersetzt und mit dem ersten 10 Bergson ist in dieser Hinsicht konsequenter, wenn er unsere gewöhnlichen Vorstellungen von der Zeit aus den Raumvorstellungen abgeleitet hat. Die Frage nach der Räumlichkeit der reinen Dauer (duree) bei Bergson lassen wir offen. eine Einheit ausmacht. Man könnte freilich diese Einheit die Zeit nennen, aber es geht im Grunde genommen um die Koordination der Räume und der Bewegung. Ein Nacheinander ist eine Abstraktion, wenn es sich nicht auf eine Gegenständlichkeit bezieht. Das Nacheinander ist immer das Nacheinander von den Gegenständen, die ihrerseits immer räumlich sind. Die Konstitution und die Gegebenheit des Nacheinanders setzten die Konstitution und die Gegebenheit des Vorgangs im entsprechenden Raum voraus. Die Gegebenheit des Nacheinanders, die in der Tat kaum zu bezweifeln ist, ist nichts mehr als die Gegebenheit der wechselnden räumlichen ordnung, die man gewöhnlich eine Zeitgegebenheit nennt. Auch die Gleichzeitigkeit ist nichts anderes als eine Koinzidenz der räumlichen Vorgänge in einem Punkt eines Raums, die durch die anderen räumlichen Vorgänge oder durch die Wahrnehmung festgelegt wird. Was 130 die Dauer betrifft, bezeichnet sie in erster Linie eine Beständigkeit, eine Stabilität des Gegenstandsvorhandenseins in einem lebensweltlichen Raum, die verschiedene Gefühle erregen kann, meistens negative und die man gewöhnlich eine psychologisch erlebte Zeit nennt, obwohl in der Sprache der objektiven Zeit ausdrückt. Kann man überhaupt die Zeit ohne jede Analogie zum Raum einführen? Jedenfalls gibt es keine andere Sprache für die Zeit als die der Bewegung und des Raums. Das Innere und Äußere, das Immanente und Transzendente, die Extension und der Inhalt, die Abschattung und das Abgeschattete, die Auffassung und die Erfüllung, das Bedecken und die Verbreitung, der Strom und das Feld usw. sind Wörter aus dem räumlichen Thesaurus. Auch die vermeintlich zeitliche Sprache Heideggers ist ganz und gar räumlich: z.B. die Ekstasen, außerhalb-sich-selbst, sich-vorweg, usw. Wenn die Zeit keine eigene nicht auf Bewegung und Raum reduzierbare Sprache hat, so gibt es vielleicht eine besondere Zeiterfahrung, die auf die Erfahrung von Raum und Bewegung nicht reduzierbar wäre? Für rein zeitliche Phänomene hält man gewöhnlich das Verschiedene: Erwartung und Erinnerung, Musik, Reifung und Alterung, Geschwindigkeit, Irreversibilität, etc. Es gibt hier keine Möglichkeit, jedes dieser Phänomene zu beschreiben; ich möchte nur darauf hinweisen, dass die Erfahrung der Zeit, auch wenn wir ihre relative Autonomie annehmen, in den erwähnten Phänomenen mit der ursprünglichen Räumlichkeit des Erwarteten, des Erinnerten, des Gehörten, der Gestalt, des Bewegenden, des Aufrichtenden, usw. zusammenhängt. Die Irreversibilität ist z.B. ein grundlegendes Merkmal verschiedener Räume, das auf ein räumliches Bild der Zeit übertragen wird. Erörtern wir eine sehr einfach realisierbare Erfahrung, mit der Husserl auch versucht, die innere Zeit empfindlich zu machen: «Blicken wir auf ein Stück Kreide hin; wir schließen und öffnen die Augen. Dann haben wir zwei Wahrnehmungen. Wir sagen dabei: wir sehen dieselbe Kreide zweimal. Wir haben dabei zeitlich getrennte Inhalte, wir erschauen auch ein phänomenologisches zeitliches Auseinander, eine Trennung, aber am Gegenstand ist keine Trennung, er ist derselbe: im Gegenstand Dauer, im Phänomen Wechsel. So können wir auch subjektiv ein zeitliches Nacheinander empfinden, wo objektiv eine Koexistenz festzustellen ist» (Husserl 1969: 8). In diesem Beispiel sollte die Zeit durch die Opposition der Stabilität und 131 des Wechsels erscheinen, m. a. W. durch die Gegenüberstellung mit dem räumlichen Ding. Dabei kommt die Dauer nicht der Zeit zu, sondern dem Gegenstand im Raum. Eine solche Verteilung steht mehr im Einklang mit der Erfahrung als eine zeitliche „Erfüllung der Dauer". Auf der Seite der Zeit bleibt nur der Wechsel bestehen. Es wäre aber überschüßig dem Wechsel und der Bewegung die Zeit als ihre innere Beschaffenheit zuzuschreiben; die Zeit ist kein wirkliches Prädikat der Bewegung. In diesem Husserlschen Experiment zählen wir wirklich, aber wir zählen die Wahrnehmungen als Bewusstseinsakte, und jedes Mal, wenn wir die Augen schließen und öffnen, addieren wir noch einen Akt der Wahrnehmung, aber keinen Bewusstseinsinhalt als Empfindung. Die Empfindungen, die wir dabei haben, sind leiblich; sie beziehen sich auf unsere schließenden und öffnenden Augen. Aber wie oft wir die Akte der Wahrnehmung der identisch wahrgenommenen Kreide auch zählen würden, bekommen wir keine besondere Zeiterfahrung oder die immanente Zeit. Bestenfalls könnte uns das objektiv feststellbare Nacheinander oder die mit Augen als Chronometer messbare Dauer in Erscheinung treten. In unserer Analyse und Interpretation der Zeitlehre Husserls geht es in erster Linie um ihre impliziten und expliziten räumlichen Voraussetzungen und sozusagen um die Berichtigung der Namen. Dort, wo sich die selbstbezügliche Zeit befindet, muss doch zuerst die Erfahrungsräumlichkeit stehen. Die Beschreibung Husserls bleibt aufschlussreich bestehen, wenn man wissen will, woher kommt und wofür dient die Zeit als eine notwendige Funktion in der menschlichen Welt. Die ursprünglichen Unterscheidungen Husserls eröffnen den Weg zur weiteren Phänomenologie des Raums, die den Raum nicht nur als Naturgegebenheit erforschen, sondern auch die verschiedenen sozialen Räume in Betracht ziehen könnte. Dafür ist wenigstens die Unterscheidung der normalen und deformierten (anomalen) Räume relevant. Die Einführung der immanenten Zeit und des inneren Zeitbewusstseins, die eine variabel reelle Schicht des Bewusstseins in Ordnung bringen sollte, weist vielmehr auf einen inneren beweglichen und hierarchischen Erfahrungsraum hin, einen primären Raum der Unterscheidungen, der allen anderen menschlichen Räumen: leiblich-situativen, funkzionellen, und intersubjektiv-132 bedeutsamen zugrunde liegt. Alle Räume, physikalich einschließend sind Unterscheidungsräume oder Hierarchien der Unterscheidungen. Wenn die räumliche Metapher in Bezug auf die Zeit als solche und nicht auf ihre „Eigenschaften" (fließt, vergeht, kommt usw.) angewendet wird, so könnte man sagen: die Zeit ist ein Raumschatten. Der Schatten aber ist kein Nichts, sondern er lebt auf fremde Kosten und die Zeit lebt auf Kosten der Räume und ihrer Korrelation. Dies gehört sowohl zu den objektiven und lebensweltlichen Zeiten, als auch zur immanenten Zeit, die die innere Räumlichkeit verschattet. Um eine metaphorische Sprache zu vermeiden oder sie wenigstens auf ein Minimum zu reduzieren, kann man das auf folgende Weise zum Ausdruck bringen: Die Zeit ist ein Ersatz des Raums in dem Sinne, dass sie zur unmittelbaren und lebendigen Raumerfahrung eine äußerliche Stellungsnahme zulässt. Die objektive Zeit nivelliert und verdrängt den lebendigen Bewegungsraum, wie z.B. ein Chronometer die Herrlichkeit des Laufs verwischt und den Unterschied zwischen den Meistern nur in einer Maßeinheit darstellt. Das betrifft auch die immanente Zeit, die vielmehr die Form äußerer Erfahrung ist, aber nicht äußerer Sinne, wie bei Kant, sondern die Form äußerer Einstellung überhaupt. Doch reicht die Aufteilung der Erfahrung auf eine innere und eine äußere nicht aus. Man kann auch von innen äußerlich die innere Erfahrung darstellen. Dafür kann gerade die immanente Zeit dienen als eine „durchgehende[n] intentionale[n] Linie, die gleichsam der Index der allzu dringenden Einheit ist" (Husserl 1987: 30). Diese „Linie der anfangs- und endlosen immanenten „Zeit"" lässt gerade die innere Erfahrung als einen innerlich beobachtbaren Vorgang mit seinen Punkten, Phasen usw. darstellen. Eine solche Zeit ist nichts anderes, als eine eindimensionale innerlich räumliche Struktur, die die komplexe Hierarchie der Unterscheidungsleistung ersetzen kann. „Eindimensional" ist aber nicht buchstäblich zu verstehen. Es bedeutet hier eher nicht einen geometrischen Begriff, sondern die Begrenztheit bestimmter Bewusstseinszustände, die die Orientierungsmannigfaltigkeit der räumlichen Welt gleichsam vergessen. Das Eilen deformiert z.B. den lebensweltlichen Raum und steht uns im Wege, die Kräfte räumlich relevant zu verteilen. Die Ungeduld als die durch Einbildung und Fantasie Transformierung der leiblichen, funktionellen und bedeutsamen Räume ist dem Versuch ähnlich, die Erdbewegung zu beschleunigen. Die Zugehörigkeit der Raum- und Zeiterfahrung einerseits und 133 die Verdrängung des Raums durch die Zeit andererseits ist die Quelle unvermeidlicher, unentbehrlicher, und wenn man will, transzendentaler Illusion der Selbständigkeit der Zeit und der Zeiterfahrung. Redaktion von Dr. Anne Rörig Bibliographie Asemissen, Hermann (1957) Strukturanalytische Probleme der Wahrnehmung in der Phänomenologie Husserls. Köln. Bernet, Rudolf (1987/1988): „Die Frage nach dem Ursprung der Zeit bei Husserl und Heidegger". In: Heidegger-Studien. 3-4. (S.) 91. Eigler, Günter (1961). Metaphysische Voraussetzungen in Husserls Zeitanalysen. Meisenheim am Glan: Anton Hain KG. (S.) 110. Guyau, Jean-Marie (1890) La Genese de l'Idee de Temps, Paris. Guyau, Jean-Marie (1993) Die Entstehung des Zeitbegriffs. Cuxhaven: Junghans. Heidegger, Martin (1994 Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs. Gesamtausgabe Bd.20. Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann. 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