gradivo 75 24.11.2005 10:20 Page 85 GRADIVO Janez Höfler, Ljubljana AUF DER SPUR EINER VERLORENEN KOMPOSITION DER VERKÜNDIGUNG MARIENS VON DIERIC BOUTS Artur Rosenauer zum 60. Geburtstag Bei der Erwähnung der sonst noch nicht richtig untersuchten gotischen Tafel mit der Verkündigung Mariens im Museum der Stadt Regensburg (Abb. 1) wies Eva Maria Zimmermann auf die Tatsache hin, daß sie in der Komposition haargenau das entsprechende Flügelbild des Tiefenbronner Hochaltars vom Ulmer Maler Hans Schüchlin aus dem Jahre 1469 (Abb. 2) wiederholt.1 Die Übereinstimmungen sind sowohl in der Inszenierung des Handlungsorts als auch in der Haltung der Figuren zu sehen. Die Differenzen im Bildformat zwangen allerdings den Maler, den Abstand zwischen Maria und dem Engel zu verringern und deswegen die Lilienvase und die Kissen auf der Fensterbank wegzulassen. Auch in der Ausführung zeigen sich Unterschiede: in die Höhe gezogene Figuren, schärfere Ausführung der Draperien, vereinfachte Landschaft, die durch die Fenster im Hintergrund zu sehen ist, und puppenhaft-liebenswürdige Gesichter sprechen nicht nur gegen die Annahme von einer engeren Beziehung des Malers zu Schüchlin, sondern auch, nach Isolde Lübbeke,2 für eine möglicherweise Regensburger Arbeit aus einer späteren Zeit (um 1490). Letztlich macht Lübbeke darauf aufmerksam, daß die Farbgebung - vom zentralen Weiß der Maria abgesehen - ganz anders abgestimmt ist, und räumt die Möglichkeit ein, daß der Autor nicht direkt mit dem Tiefenbronner Altar vertraut gewesen sein dürfte; ob er eine Zeichnung nach Schüchlin oder eine beiden gemeinsame graphische Vorlage für dieses Bild verwendete, könne hingegen heute nicht mehr festgestellt werden. 1 Eva Maria Zimmermann, Studien zum Frueauf-Problem (unveröffentlichte Dissertation), Wien 1975, S. 69 f., dazu Isolde Lübbeke, in: Regensburg im Mittelalter, Katalog der Abteilung Mittelalter im Museum der Stadt Regensburg, Regensburg 1995, S. 181, Kat.-Nr. 24. 7. 2 Lübbeke, wie Anm. 1. 85 gradivo 75 24.11.2005 10:20 Page 86 GRADIVO 1. Verkündigung an Maria, Regensburg (?), um 1490; Regensburg, Museum der Stadt 86 gradivo 75 24.11.2005 10:20 Page 87 GRADIVO 2. Verkündigung an Maria, vom Tiefenbronner Hochaltar, Hans Schüchlin, 1469 dat.; Tiefenbronn, katholische Pfarrkirche In Wirklichkeit ist die Regensburger Marienverkündigung nicht das einzige Malwerk, das an die Komposition anknüpfen würde, an der sich Schüchlin in seinem Tiefenbronner Altar orientierte. Nach dem Bildanhang der jüngst erschienenen Monographie zu diesem Thema von Sven Lücken zu schließen, gibt es mindestens noch drei solche Beispiele,3 und ein weiteres ist in Südtirol (Abb. 3) zu 3 Sven Lücken, Die Verkündigung an Maria im 15. und frühen 16. Jahrhundert: Historische und kunsthistorische Untersuchungen, Göttingen 2000, Abb. 14 (Altencelle, ev. Gertrudenkirche, Passionsaltar, Braunschweiger Arbeit, 1509 datiert), 38 (Lauterbacher Altar, Lauterbach, Heimatmuseum im Hochhaus, hier um 1480 datiert), 40 (ehemals Dresden, Museum des Sächsischen Altertumsvereins, Meister AE zugeschrieben, 1486 dat.); die Abb. 74 bringt den Tiefenbronner Hochaltar, Abb. 87 die Regensburger Tafel. Siehe dazu den Katalogteil, S. 31, N28 (Altencelle), S. 78, MR21 (Lauterbach), S. 91 f., SA2 (Dresden), S. 190, U5 (Tiefenbronn), und S. 223 f., B13 (Regensburg). Die Bezüge zwischen vier dieser Werke, ohne Dresden, wurden auch vom Autor selbst erkannt: Textteil, S. 65 ff. 87 gradivo 75 24.11.2005 10:20 Page 88 GRADIVO 3. Verkündigung an Maria, aus Vezzano bei Trient, Werkstätte des Narziß von Bozen, um 1490; Trient, Diözesanmuseum 88 gradivo 75 24.11.2005 10:20 Page 89 GRADIVO 4. Verkündigung an Maria, vom Lauterbacher Altar, Meister des Lauterbacher Altars, um 1470; Lauterbach, Heimatmuseum im Hochhaus finden.4 Da es sich um Werke handelt, die uns in einem weiten Raum von Norddeutschland bis zu der Südgrenze des deutschen Sprachgebiets hinab begegnen und werkstattmäßig nicht im geringsten miteinander verbunden sind, muß eine bedeutende und weitverbreitete Vorlage dahinter stecken. Den roten Faden stellt eben die Figur Ma-riens dar: Sie kniet in der rechten Bildhälfte an dem nach rechts gewendeten Lesepult. Da sich der Engel ihr von links nähert, hat sie vom Buch, das sie aufgeschlagen in der Rechten hält, aufgeschaut und sich im Oberkörper leicht in seine Richtung umgedreht. Ganz charakteristisch ist, wie der weiße Mantel, den sie um die Schultern gelegt hat, auf die Arme fällt und das rechte gestreckte Knie umwindet; selbst 4 Die Außenseiten des Flügelaltars aus der Kirche San Valentino in Vezza-no, ursprünglich in Sopramonte bei Trient, Diözesanmuseum Trient; Erich Egg, Gotik in Tirol: Die Flügelaltäre, Innsbruck 1985, S. 251, 257 Abb. 188, der Werkstätte des Meisters Narziß in Bozen um 1500 zugeschrieben. Dazu auch Lücken, wie Anm. 3, Katalogteil, S. 234, T9, mit einleuchtenderer Datierung um 1490. 89 gradivo 75 24.11.2005 10:20 Page 90 GRADIVO im Südtiroler Beispiel aus Vezzano, wo die Vorlage bereits sichtliche Veränderungen erfahren hat und Maria nur noch mit erhobenen Armen erscheint (Abb. 3), ist dieses Draperiesystem beibehalten. Ziemlich gleich bleibt auch der Engel in leichter Schrittposition. Wie gesagt, stimmen die Interieure in Tiefenbronn und in Regensburg weitgehend überein: links ein Vorhang, das Lesepult rechts ist mit einem oben rund abgeschlossenen Kastenaufsatz ausgestattet, eine viereckige loggiaartige Fensteröffnung in der Rückwand, von einem Säulchen in der Mitte geteilt, öffnet sich dem Blick in eine Landschaft. Bestandteile dieser Rauminszenierung finden sich noch im Lauterbacher Altar (Abb. 4), in den übrigen Fällen ist der Bildraum bereits anders konstruiert, obwohl die Fenster in der Rückwand, welcher Form auch immer, dieselbe realistische Rolle behalten haben. Die Tatsache, daß die Tiefenbronner Komposition mitsamt dem Bildraum in der Regensburger Tafel eine detailgetreue Wiederholung erfahren hat und im Lauterbacher Altar trotz einer gewissen Simplifizierung noch immer erkennbar ist, läßt daran denken, daß ihr Ursprung in der Werkstätte Hans Schüchlins zu suchen wäre. Der Ulmer gilt als ein wichtiger Vertreter der schwäbischen Malerei im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts und einer derjenigen süddeutschen Maler dieser Zeit, die am stärksten durch den niederländischen Einfluß geprägt worden waren. Allerdings sind kürzlich wieder seine Beziehungen zu Nürnberg, zu Hans Pleydenwurff und seinem Kreis, hervorgehoben worden,5 was angesichts Pleydenwurffs Rolle in der Vermittlung der niederländischen Malerei diese Seite seiner stilistischen Ausrichtung in eine neue Optik rückt. Was den sächsischen Meister AE, Autor des 1945 zerstörten Stolpener Altars von 1486 betrifft, vom dem die hier zitierte Marienverkündigung stammt, so wird ebenfalls eine fränkisch-nürnbergische Schulung vermutet;7 wenn in den übrigen Marienszenen dieses Retabels dem Maler bereits 5 Stefan Roller, Nürnberger Bildhauerkunst der Spätgotik: Beiträge zur Skulptur der Reichsstadt in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, München - Berlin 1999, S. 182 ff. 6 Lücken, wie Anm. 3. 7 Zuletzt: Ingo Sandner, Spätgotische Tafelmalerei in Sachsen, Dresden - Basel 1993, S. 68 f., 310 f., ansonsten Alfred Stange, Deutsche Malerei der Gotik, Band IX, München 1958, S. 153. 90 gradivo 75 24.11.2005 10:20 Page 91 GRADIVO die Blätter des Martin Schongauer als Vorlage dienten,8 bedeutet dies noch nicht, daß diese Feststellung auch für die Marienverkündigung gelten muß, da eine solche Komposition beim Colmarer nicht nachzuweisen ist und da ihr frühes Auftauchen bei Schüchlin dies auch unmöglich macht.9 Für den späten Autor der Marienverkündigung des Passionsaltars in Altencelle von 1509 wird eine braunschweigische Herkunft in Erwägung gezogen, sein recht bescheidenes Vermögen läßt aber keine Anschlüsse an aktuelle künstlerische Strömungen nachweisen. Aus der Hauptgruppe gesondert erscheint auch das Südtiroler Beispiel; seine stilistischen Wurzeln in der örtlichen Bozner Malerei um 1500 scheinen gesichert zu sein.11 Ob Schüchlin tatsächlich der Erfinder der hier besprochenen Komposition gewesen wäre, bleibt also unklar. Es steht wohl fest, daß, wie Lücken überzeugend aufgezeigt hat, die Einzelheiten der Inszenierung, speziell des Aufsatzpults, nur im Tiefenbronner Bild als dem vermeintlich ältesten unter ihnen klar wiedergegeben sind, in den übrigen drei Beispielen (Regensburg, Lauterbach, Altencelle) sind sie hingegen bereits mißverstanden worden. Dies beweist aber noch nicht, sie müßten sich alle am Schüchlinschen Vorbild orientiert haben. Das wichtigste Hindernis dabei stellt eben der Lauterbacher Altar (Abb. 4) dar. Man hat zwar einmal versucht, dieses Retabel als ein Jugendwerk des Ulmers anzusprechen,13 was aber keine Zustimmung fand.14 Die Verkündigung an Maria ist das einzige, was das im Hessischen entstandene Werk mit Schüchlin verbindet, in den übrigen 8 Siehe Sandner, wie Anm. 7, Abb. auf S. 311 (die Geburt Christi nach B. 4/ L. 5, die Anbetung der hl. Drei Könige nach B. 6/ L. 6). 9 Die Verwendung von Schongauers Blättern aus dem Marienleben beim Meister AE muß als ein Reflex der neu eingesetzten Praxis in der Nürnberger Werkstätte des Michael Wolgemut betrachtet werden, wie sie der Marienaltar in Zwickau von 1479 belegt. 10 Hans Georg Gmelin, Spätgotische Tafelmalerei in Niedersachsen und Bremen, München - Berlin 1974, S. 423 f., Kat.-Nr. 139. 11 Egg, wie Anm. 4. 12 Lücken, wie Anm. 3, Textteil, S. 65 ff. 13 Wilhelm Boeck, Der Lauterbacher Altar: Ein Frühwerk des Hans Schüchlin, Zeitschrift für Kunstgeschichte XV (1952), S. 128-141. 14 Alfred Stange, Deutsche Malerei der Gotik, Bd. VII, München - Berlin 1955, S. 277 f.; ders., Kritisches Verzeichnis der deutschen Tafelbilder vor Dürer, Bd. II, München 1970, S. 118, Nr. 543. 91 gradivo 75 24.11.2005 10:20 Page 92 GRADIVO 5. Verkündigung an Maria, Handzeichnung, Werkstätte des Dieric Bouts, um 1470-1490; Berlin, Kupferstichkabinett der Staatlichen Sammlungen Preußischer Kulturbesitz 92 gradivo 75 24.11.2005 10:20 Page 93 GRADIVO Bildern weist es hingegen eigene Wege auf, und im Falle der Geburt Christi lehnt es sich direkt an die Mitteltafel des berühmten Bladelin-Altars Rogier van der Weydens in Berlin an. Es kann demnach sein, daß der hessische Anonyme bei der Verkündigung des Lauterbacher Retabels zwar dieselbe Vorlage wie Schüchlin vor Augen hatte, die ihn aber aus einer anderen Richtung erreichte. Solche Vermutung wird noch plausibler, erwägt man noch die Möglichkeit einer viel früheren Entstehung des Retabels.15 Angesichts der allgemeinen Lage, in welcher sich die deutsche Malerei im dritten Viertel des 15. Jahrhunderts vorfand, empfiehlt es sich, bei der Suche nach dem Ursprung der hier besprochenen Verkündigungskomposition die Aufmerksamkeit auf die Niederlande zu lenken. Der Rogierisch aufgefaßte Engel in Tiefenbronn und Lauterbach - hier würde man lieber an Rogiers frühe Pariser Verkündigung als an dessen Columba-Altar in München17 denken, der zwar in solcher Verbindung und parallel zum Verkündigungsengel B. 1 Martin Schongauers immer wieder zitiert wird18 - gibt den ersten Hinweis in dieser Richtung. Mehr Aufschluß gibt jedoch Maria selbst. Eine Figur in derselben knienden Position und mit ähnlich um den Körper und das rechte Knie angeordnetem Mantel begegnet uns in einer Handzeichnung aus der Werkstätte des Dieric Bouts im Berliner Kupferstichkabinett (Abb. 5).19 Diese Handzeichnung wurde immer auf die 15 Die Datierung um 1500 bei Stange, wie Anm. 14, ist entschieden zu spät, auch jene bei Lücken, wie Anm. 3 (um 1480), entspricht nicht dessen Stil. Obwohl Boeck, wie Anm. 13, mit der Zuschreibung an Schüchlin zu weit gegangen ist, bleibt seine Annahme, man habe es dabei mit einer stilistisch früheren Arbeit zu tun, wohl begründet. Unseres Erachtens kann das Retabel höchstens in der Zeit um 1470 angesetzt werden. 16 Siehe zuletzt Dirk De Vos, Rogier van der Weyden, München 1999, S. 195 ff. (mit Bibliographie). 17 De Vos, wie Anm. 16, S. 276 ff. (mit Bibliographie). 18 So auch bei Lücken, wie Anm. 3 und 12. Die aus der Sicht der Statik unbegreiflich postierte Pariser Engelsgestalt, bei welcher man am ehesten von einem „Vorwärtsschweben“ (Pächt) sprechen könnte, stellt doch einen gewissen Gegensatz zu seinem zwar noch transzendenter erscheinenden, aber im Umriß geschlosseneren und firmer am Boden stehenden Pendant des Columba-Altars dar; Otto Pächt, Altniederländische Malerei: Von Rogier van der Weyden bis Gerard David, München 1994, S. 13. 19 Zuletzt: Dirk Bouts (ca. 1410-1475): een vlaams primitief te Leuven, Katalog zur Ausstellung Leuven 1998 (hrsg. von Maurits Smeyers), Leuven 1998, S. 423 ff., Nr. 108, mit Datierung um 1470-1490. 93 gradivo 75 24.11.2005 10:20 Page 94 GRADIVO eine oder andere Weise mit Bouts in Verbindung gebracht, entweder als Wiedergabe eines verschollenen Bildes oder als sonstiges Erzeugnis seiner Werkstätte oder Nachfolger, denn die Figuren enthüllen in Köpfen und Draperieduktus klar dessen spezifische Manier. Die Tatsache, daß sie fast identisch damit an den Flügelaußenseiten eines bereits 1451 datierten Diptychons in New York, The Metropolitan Museum of Art, The Friedsam Collection, auftauchen, das einem Nachfolger des Rogier van der Weyden zugeschrieben wird,21 berührt unseres Erachtens keineswegs die Urheberschaft des Vorbilds. Erstens ist die Art, wie der Mantel das rechte Knie Mariens umhüllt, bei Rogier kaum nachzuweisen, bei Bouts hingegen in mehreren Varianten bekannt. Und zweitens läßt sich der Engel ungeachtet dessen, daß er - so wie die unzähligen verwandten Gestalten in der niederländischen und deutschen Malerei der Zeit - an Rogiers Verkündigungen anknüpft, in seiner etwas dürftigen Auffassung besser mit den künstlerischen Dispositionen von Bouts als von Rogier in Einklang bringen. Daß der anonyme Autor des New Yorker Diptychons trotz seiner eventuellen Schulung bei Rogier nach Bouts gegriffen haben muß, sieht man letztlich an den Innenseiten der Flügel, an denen die Kreuzigung des hl. Petrus mit dem Stifter in Landschaft und Figurenkomposition bereits klar von den genuinen Bildformulierungen dieses Malers ausgeht. Mit dem Hinweis auf die zitierte Berliner Handzeichnung wollen wir freilich noch nicht sagen, daß wir damit schon eine Wieder- 20 Bei Max J. Friedländer, Early Netherlandish Painting, Vol. III, Leyden - Brussels 1968, zu Nr. 78, S. 70, zwar fälschlich auf die verschollene Marienverkündigung bezogen, die in einer Kopie in Richmond, Va., vorliegt; die übrige Bibliographie im Ausstellungskatalog Leuven 1998, wie Anm. 19. 21 Max J. Friedländer, Early Netherlandish Painting, Vol. II, Leyden -Brussels 1967, S. 81, Nr. 103, Taf. 115; Ausstellungskatalog Leuven 1998, wie Anm. 19, S. 424, Abb. 1, eine weitere spätere Version in Burgos, a. a. O., Abb. 2. 22 Ein Ansatz dafür findet sich nur bei Maria im rechten Bild des Miraflores-Altars in Berlin (De Vos, wie Anm. 16, S. 226 ff.). 23 Wie etwa bei der Maria Magdalena in der Pariser Beweinung Christi (Friedländer, wie Anm. 20, Abb. 4) und bei der Anzahl der thronenden Madonnen mit dem Kind (Friedländer, a. a. O., etwa Abb. 21 und 25), deren Draperiesystem um die Knien ausgiebig von Hans Memling in seinen Madonnenbildern weiter erarbeitet wurde. 94 gradivo 75 24.11.2005 10:20 Page 95 GRADIVO gabe der Komposition vor uns haben, die unseren Verkündigungen zugrunde liegt. Dort hält Maria das Buch in der Hand, hier hat sie es, nach der New Yorker Version von 1451 zu schließen, auf dem Pult abgelegt. Auch der Engel mutet dort vielmehr Rogierisch an und dürfte, wie oben angedeutet, auf der Basis der Louvre-Figur formuliert worden sein, allerdings von dem hinten flatternden Mantel umhüllt, der vom einflußreichen Engel des Münchner Columba-Altars stammt. Dennoch stellt auch der Engel der Berliner Handzeichnung den Reflex einer Figur dar, die gleichfalls in die deutsche Malerei Eingang fand,24 obwohl seine Rolle in der Komposition, die uns hier interessiert, fraglich erscheint. Die oben angesprochenen Momente helfen uns, das Vorbild für die Marienverkündigung des Tiefenbronner Altars und die weiteren davon abhängigen Werke nach den Niederlanden zu verfolgen, für dessen einwandfreie Rekonstruktion genügen sie aber noch nicht. Was mehr oder weniger sicher steht, ist die Herkunft der Figur Mariens, für welche man ohne Vorbehalt Bouts in Anspruch nehmen kann, und sie stellt auch einen firmen Referenzpunkt bei allen hier angeführten Beispielen dar. Ob der so stark Rogierisch aufgefaßte Engel ebenso auf Bouts zurückgeht, bleibt hingegen offen; kann sein, daß er bereits in der niederländischen Werkstätte, welche die Vorlage lieferte, die ursprüngliche Boutsische Figur ersetzte. Nach den Beispielen in Tiefenbronn, Lauterbach und Regensburg zu schließen, bildete auch die loggiaartige Öffnung in der Rückwand einen Bestandteil dieser Komposition. Dabei fühlt man sich natürlich sowohl an Rogier (Der hl. Lukas malt die Madonna) als auch an Jan van Eyck (Die Madonna des Kanzlers Rolin) erinnert, dennoch wird hier dieses Motiv stark reduziert. Hinter der Maria des Bildes aus Vezzano (Abb. 3) erscheint hingegen ein Biforienfenster, welches man aus der Verkündigung des Genter Altars Jan van Eycks her kennt. Ob der Südtiroler Maler dieses Fenster aus einer anderen, sagen wir, eher eyckischen Quelle erhielt, ist kaum zu glauben. Es dürfte ebenfalls in der zeichnerischen Vorlage vorhanden gewesen sein, der er sich bediente. Für die Existenz einer 24 Siehe z. B. den Verkündigungsengel an den Flügelaußenseiten eines Retabels in Klerant, Südtirol, von 1484; Egg, wie Anm. 4, S. 115, Abb. 65. 95 gradivo 75 24.11.2005 10:20 Page 96 GRADIVO solchen Variante der Vorlage, die in Tiefenbronn, Lauterbach und Regensburg benutzt worden war, würde auch das Vorkommen eines derartigen Biforienfensters beim Meister AE in Dresden sprechen, obwohl sich dieses Architekturmotiv in den nach niederländischen Vorbildern entstandenen deutschen Marienverkündigungen der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts recht gut eingebürgert hatte. Dieser kleine Versuch, die Zusammenhänge zwischen einigen deutschen spätgotischen Bildern der Verkündigung Mariens näher zu erörtern und sie auf eine gemeinsame Vorlage zurückzuführen, die im Umkreis von Dieric Bouts entstanden sein soll, läßt noch manches offen. Allgemein gesehen, handelt es sich um ein weiteres Beispiel der Rolle konkreter niederländischer Kompositionen in der deutschen Malerei dieser Zeit. Im komplizierten Sachverhalt um die Rekonstruktion der ursprünglichen Komposition zeichnet sich jedoch etwas Faßbares ab: Der Grund dafür, warum diese aufgegriffen worden ist, liegt sicherlich in der einfallsreichen Figur Mariens. Mit ihrer Haltung und Anordnung des Mantels um den Körper stellt sie sich ebenbürtig zur Seite jener bedeutenden Verkündigungsmarien vor allem aus dem Oeuvre des Meisters von Flémalle und Rogier van der Weydens, die dieses ikonographische Thema in der nordeuropäischen Malerei im Laufe des 15. Jahrhunderts so stark geprägt haben. 96 gradivo 75 24.11.2005 10:20 Page 97 GRADIVO UDK 75.033.5(492):929 Bouts D. NA SLEDI IZGUBLJENE KOMPOZICIJE MARIJINEGA OZNANJENJA DIERICA BOUTSA Èlanek obravnava vrsto nemških upodobitev Marijinega oznanjenja iz druge polovice 15. in zaèetka 16. stoletja, ki se ujemajo tako v postavitvi figur kot deloma tudi v zasnovi prizorišèa in kažejo na uporabo ene in iste predloge. Domnevno najstarejša med njimi je tista, ki jo naslikal Hans Schüchlin na glavnem oltarju cerkve v Tiefenbronnu (1469); ker se zdi, da je tu ta predloga najzvesteje posneta, bi se dalo sklepati, da je bil prav ta ulmski slikar tudi njen avtor. Vendar se da z analizami in primerjavami dognati, da imamo opravka z neko kompozicijo, ki je morala nastati v delavnici nizozemskega slikarja Dierica Boutsa. O tem prièata tako neka risba iz Boutsove delavnice, shranjena v berlinskem Kupferstichkabinettu, kot tudi poslikava zunanjih strani kril nekega oltarja iz leta 1451 v New Yorku, The Metropolitan Museum of Art; ta se sicer pripisuje nekemu nasledniku Rogierja van der Weydna, vendar je Boutsov vpliv oèiten. Obravnavane nemške upodobitve se v nadrobnostih izvedbe med seboj razlikujejo, bolj ali manj nespremenjeno pa ohranjajo Marijino figuro z znaèilno držo in plašèem, ki ji pada preko rok in se ji ovija okoli izstopajoèega kolena. Tako lahko tudi to figuro uvrstimo med tiste pomembne Marije Oznanjenja, predvsem iz opusa Mojstra iz Flémalla in Rogierja van der Weydna, ki so preko nizozemskih vplivov v 15. stoletju tako globoko zaznamovale to ikonografsko temo v severnem slikarstvu. Slikovno gradivo: 1. Marijino oznanjenje, Regensburg (?), ok. 1490; Regensburg, Museum der Stadt 2. Marijino oznanjenje, s Tiefenbronnskega velikega oltarja, Hans Schüchlin, 1469 dat.; Tiefenbronn, katoliška cerkev 3. Marijino oznanjenje, iz Vezzana pri Trentu, delavnica Narcisa iz Bozna, ok. 1490; Trento, Museo diocesano 4. Marijino oznanjenje, z Lauterbaškega oltarja, Mojster Lauterbaškega oltarja, ok. 1470; Lauterbach, Heimatmuseum im Hochhaus 5. Marijino oznanjenje, risba, delavnica Dierica Boutsa, ok. 1470-1490; Berlin, Kupfer-stichkabinett der Staatlichen Sammlungen Preußischer Kulturbesitz 97