Arno Rußegger Universität Klagenfurt UDK 82.08-293.7:801.73 DAS DREHBUCH ALS LITERATUR I. Vorbemerkungen Ich gestehe ein, daß der gewählte Vortrags/Aufsatztitel irgendwie tautologisch klingt, ergibt sich daraus doch unweigerlich die Frage, als was denn sonst ein Drehbuch überhaupt betrachtet werden könnte, wenn nicht als Literatur. Man mag sagen: als Gebrauchstext zum Beispiel, nach dem Muster von Kochbüchern, die zwar die Voraussetzung für die schmackhafte Zubereitung bestimmter Speisen darstellen, weil sie die dafür notwendigen Informationen und Direktiven enthalten, zugleich aber darauf angewiesen bleiben, daß es Leute gibt, die deren fachgerechte Umsetzung beherrschen. Der Vergleich scheint ausbaufähig zu sein, zumal nach der Fertigstellung und Kon-sumation eines Gerichts im Normalfall kein Mensch mehr den genauen Wortlaut des zugrundeliegenden Rezepts berücksichtigt (geschweige denn gar würdigt), und die ganze Ehre (oder Schmach) fällt in ähnlicher Weise dem Koch bzw. der Köchin zu, wie einem Regisseur beim Film. Beides ist, nebenbei bemerkt, meiner Meinung nach höchst ungerecht und läßt mich der Gebrauchstexttheorie für Drehbücher entgegenhalten, daß diese ihr sprachliches Material niemals nur in pragmatisch-deskriptiver Weise verwenden, sondern vor allem in fiktiver. Unabhängig davon, ob ein Drehbuch überhaupt zu einem Film gemacht wird oder nicht, ob seine (kamera)technischen, Schauspieler- oder Regieanweisungen in die Tat umgesetzt werden oder nicht, tragen diese bereits auf der Ebene der Lektüre dazu bei, daß sich ein Leser aufgrund seiner (Film)Erfahrung und Imaginationskraft in eine Welt voller mehr oder weniger abenteuerlicher Geschichten versetzt fühlt. Dieses Vermögen macht Drehbücher narrativen Textsorten gleich und keineswegs Kochrezepten - nicht einmal solchen, die hin und wieder in Romanen auftauchen und ihre wahre Funktion aus ebendiesen literarischen Kontexten beziehen.1 Zurück also zu meinem Thema: "Noch vor nicht allzu langer Zeit mußte man den Philistern erst beweisen, daß der Film eine selbständige Kunst mit eigenen Prinzipien und Gesetzen ist. Wie es heute scheint, muß auch noch bewiesen werden, daß die literarische 1 Vgl. Johannes Mario Simmel "Es muß nicht immer Kaviar sein" oder Laura Esquivel "Bittersüße Schokolade". 189 Grundlage dieser neuen visuellen Kunst eine selbständige, eigene literarische Kunstform darstellt, genau so wie etwa das geschriebene Drama. Das Drehbuch ist nicht nur ein technisches Hilfsmittel, es ist nicht wie ein Baugerüst, das man wieder abträgt, wenn das Haus fertig steht, sondern es ist eine der Arbeit von Dichtern würdige literarische Form, die ohne weiteres als Lektüre in Buchform publiziert werden kann." So stand es bereits im Jahre 1949 in einem Buch eines der ersten Filmtheoretiker deutscher Sprache zu lesen, des aus Ungarn (Szeged) gebürtigen Alt-Österreichers Bela Baläzs (1884-1949). Der in dem Zitat angesprochene Kampf, den der in seiner Heimat berühmte Märchen- und Opernlibretti-Dichter seit den frühen zwanziger Jahren gegen die Geringschätzung und Diffamierung des Mediums Film von Seiten bildungsbürgerlicher Kunstlobbies führte, schloß publizistische und praktische Maßnahmen als Filmautor4 ein. Diese - neben vielen anderen - scheinen allerdings bis in unsere Tage herein nicht richtig gegriffen zu haben. Denn obwohl es sich bei einem jeden Drehbuch - egal, ob es als Original/manu/typo/skript in einer Bibliothek aufbewahrt wird oder (was glücklicherweise immer häufiger der Fall ist) in einem belletristischen Verlag herausgebracht und so einem größeren, nicht berufsspezifischen Publikum zugänglich gemacht worden ist - in erster Linie einmal um ein Buch handelt, das sich an Leser (!) (und wenn zugegebenermaßen ursprünglich vielleicht tatsächlich nur an einen einzigen, den späteren Regisseur...) wendet, gibt es praktisch keine systematische poetologische Auseinandersetzung mit einer Gattung namens Drehbuch;5 zum Glück auch - oder, besser gesagt: wenigstens - nicht im Bereich der Trivialliteraturforschung. Es entbehrt nicht der Ironie, daß ausgerechnet das Drehbuch, dessen poetisches Potential sich sozusagen an einer Schnittstelle von Wort- und Bild-Semantik, von individuell-künstlerischer und kollektiv-industrieller/'konfektioneller'6 Produktionsweise, entfaltet, die 2 Baläzs, Bela: Der Film. Werden und Wesen einer neuen Kunst. Wien 19806, S. 229. 3 Vgl. Baläzs, Bela: Schriften zum Film. Hrsg. von Helmut H. Diederichs, Wolfgang Gersch und Magda Nagy; Bd.l: Der sichtbare Mensch. Kritiken und Aufsätze 1922-1926. München, DDR-Berlin, Budapest 1982; Bd.2: Der Geist des Films. Artikel und Aufsätze 1926-1931. München, DDRBerlin, Budapest 1984. 4 Zu seinen bekanntesten Arbeiten bzw. Beteiligungen an Filmprojekten zählen: "Kaiser Karl" (1921), "Moderne Ehen" (1924), "Abenteuer eines Zehnmarkscheins. K 13413" (1926), "Narkose" (1929), "Die 3-Groschen-Oper" (1931), "Das blaue Licht" (1931/32) und "Karl Brunner" (1935/36). 5 Man glaubt es sich beispielsweise ohne weiteres leisten zu können, die Drehbücher eines Peter Tur-rini nicht mit der gleichen Aufmerksamkeit nach formalen und inhaltlichen Gesichtspunkten zu analysieren, wie seine Theaterstücke oder seine Lyrik. Das gleiche Manko betrifft Exil-Autorinnen wie Gina Kaus (1894-1985), deren heutiges Vergessensein wohl nicht zuletzt auch mit der Unlust und Unfähigkeit zusammenhängt, sich mit ihren Hauptwerken, die im Bereich der Filmskripts liegen, zu befassen. 6 Vgl. Pluch, Thomas: Am Anfang war die Story. In: Ernst, Gustav und Schedl, Gerhard (Hrsg.): Nahaufnahmen. Zur Situation des österreichischen Kinofilms. Wien/Zürich 1992, S. 61-68; hier S. 62. 190 Funktion eines blinden Flecks innerhalb des literaturwissenschaftlichen Forschungsben triebs einnimmt. Bemerkenswerterweise recht konträr zu diesem Befund ist die Situation des Dramas und des Hörspiels, die zwar mittlerweile auch erhebliche Prestigeverluste haben hinnehmen müssen (Stichworte: die ökonomische und künstlerische 'Krise des Theaters', die eigentlich seit der Jahrhundertwende heraufbeschworen wird; und die totale Verkommerzialisierung des Hörfunks und die heutige Unpopularität radiophoner Kunstformen), aber zumindest als historische Größen im Bewußtsein der Literaturwissenschaftler gespeichert sind. Dabei dienen beide Gattungen um nichts weniger primär der Belieferung szenischer Künste mit Textvorlagen, auch sie wurden und werden von Dramaturgen, Regisseuren und Technikern verändert, gekürzt, mitunter verstümmelt, jedenfalls noch irgendwie weiterbearbeitet, bevor sie ihr Publikum erreichen; und doch wird ihr Wert als selbständige Textsorte im großen und ganzen akzeptiert, ja er wird - zumindest, was das Drama betrifft - im Grunde weit über demjenigen von konkreten Inszenierungen/Realisierungen angesetzt und mit einer unüberschaubaren Fülle von wissenschaftlichen Theorien und einschlägigen Publikationen untermauert. Die Gründe für dieses Ungleichgewicht sind mannigfach und liegen wohl in der allgemeinen psycho-kulturellen Verfaßtheit unserer Gesellschaft: man hat offensichtlich dem Film seine proletenhafte Herkunft aus Jahrmarktbuden und Varieteetablissements niemals ganz verziehen; ebensowenig seine Momente der Sinnlichkeit und Schaulust, welche so zynisch gut geeignet und einsetzbar sind, um die bürgerliche Doppelmoral zu entlarven; ebensowenig seinen Hang zur direkten Thematisierung und Aufdeckung von Gewalt, und vor allem nicht die ihm zugesprochene Zerstörung der 'Aura'8 (Walter Benjamin) der 'alten' Künste. Wenn nun jemand wie ich einen weiteren Anlauf unternimmt, um vielleicht einen neuen, dem Gegenstand angemesseneren Umgang mit Drehbüchern anzuregen, muß vorweg klargestellt werden, daß es vor allem Bücher zu Kinofilmen sind, die ich für eine eigenständige Textsorte halte. Sollte es demnach Filmemacher geben bzw. jemals gegeben haben, die entweder bloß beiläufig mit losen, später in Verlust geratenen bzw. vernichteten Notizzetteln arbeite/te/n oder die beim Drehen gänzlich ohne schriftliche 7 Symptomatisch für die ablehnende Haltung gegenüber einer ganzen Gattung ist die abfällige Einschätzung der avantgardistischen Leistung des von Kurt Pinthus 1913 herausgegebenen "Kinobuchs", jener legendären Anthologie von Filmszenarios aus der Feder einiger bekannter Literaten jener Zeit (von Walter Hasenclever bis Albert Ehrenstein, von Else Lasker-Schüler bis Max Brod), durch Viktor Zmegac; siehe: Über Beziehungen zwischen Dramen- und Filmtheorie in der Frühzeit des Kinos. In: Ders.: Tradition und Innovation. Studien zur deutschsprachigen Literatur seit der Jahrhundertwende. Wien 1993, S. 224-238, bes. S. 227. 8 Vgl. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt am Main 19773, S. 13ff., bes. S. 15.: "Es empfiehlt sich, den oben für geschichtliche Gegenstände vorgeschlagenen Begriff der Aura an dem Begriff einer Aura von natürlichen Gegenständen zu illustrieren. Diese letztere definieren wir als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag." 191 Unterlagen zurandegekommen sind bzw. die die Verwendung anderer als visueller Ausdrucksmittel im Film nicht zulassen woll/t/en, so interessiert es in dem hier gebotenen Zusammenhang nicht. Was die alte Diskussion über die 'reine Kinematographie'9 und die Beurteilung der Ergebnisse antiliterarischer Filmkonzepte angeht, entzieht sich eben unserer fachlichen Kompetenz als Literatur- bzw. Sprachkundler. Ebenfalls beiseite gelassen wird von mir ein Umstand, obwohl dieser die herrschende Ignoranz Drehbüchern gegenüber zu desavouieren vermöchte und indirekt für deren sehr wohl statthabende Wirkung als eigenständige Schreibweise innerhalb der Moderne spricht, nämlich daß es - von Peter Handkes "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter" bis zu Marguerite Duras' "Der Liebhaber", um zwei willkürlich gewählte, immerhin bekannte Beispiele anzuführen - eine Vielzahl von Prosawerken gibt, von denen behauptet wird, sie hätten gewisse Eigenschaften eines Drehbuchs quasi übernommen, sie würden sich sozusagen "wie ein Film" lesen, "jeder Satz eine Einstellung".10 Doch selbst wenn solche Aussagen wie in unserem Zitat aus dem Mund eines so renommierten Filmregisseurs wie Wim Wenders stammen und insofern stichhaltig sind, als er sicherlich viel genauer weiß, wovon er spricht, wenn er literarische und filmische Verfahrenstechniken zueinander in Analogie setzt, als das gemeinhin Literaturwissenschaftler mit ihren naiven, pauschal-unzulässigen Kurzschlüssen (ab)tun, könnte damit ein Sekundärphänomen überbetont und mein beabsichtigtes Plädoyer zugunsten einer eingehenderen Beschäftigung mit den originalen Drehbüchern11 letztlich doch wieder unterlaufen werden. Grundsätzlich gesagt, empfiehlt es sich, der Unterscheidung zwischen der Entstehungsgeschichte eines Drehbuchs und seiner Verwertungsgtschichte zu folgen, wie eine solche der Schriftsteller Peter Märthesheimer einmal getroffen hat, wobei nur erstere 12 Gegenstand von Analysen im literaturwissenschaftlichen Sinn sein kann. Märtheshei-mers Unterscheidung ist ein Reflex auf dreierlei: 9 Vgl. Baläzs: Der Film, a.a.O., S. 142f. 10 Brunow, Jochen und Wenders, Wim: Mauern und Zwischenräume. Ein Gespräch über das Schreiben von Drehbüchern und den Umgang mit ihnen. In: Brunow, Jochen (Hrsg.): Schreiben für den Film. Das Drehbuch als eine andere Art des Erzählens (= edition text + kritik, Literatur und die anderen Künste Bd. 2). München 1988, S. 95-107, hier S. 95. 11 Vgl. Schaudig, Michael: Literalität oder Poetizität? Zum Textstatus von 'Filmtexten'. In: Schwarz, Alexander (Hrsg.): Das Drehbuch. Geschichte, Theorie, Praxis (= diskurs film. Münchner Beiträge zur Filmphilologie Bd. 5). München 1992, S. 9-15, hier S. 10: ">Drebuch< ist genuin als eine aufnahmepraktische Anweisung zu verstehen, die im Hinblick auf den intendierten Film schriftlich vorformuliert, was und wie audiovisuell realisiert werden soll; >Roman< hingegen verweist auf die epische Großform innerhalb der literaturtheoretischen Gattungslehre." 12 Dieser Ansatz muß unweigerlich zu anderen Klassifizierungen von Texten führen, als sie in der Filmwissenschaft vorgenommen werden; vgl. Schaudig, a.a.O., S. 11 ff., der drei Textgruppen (Texte für Filme, Texte zu Filmen, Texte über Film und Filme) differenziert. 192 1. auf traditionelle Vorstellungen vom inspirativen Ursprung des dichterischen Akts;13 2. auf das Selbstverständnis eines Autors, dem es auch bei der Abfassung eines Drehbuchs um nichts anderes geht als das Erzählen einer Geschichte und der trotzdem permanent gezwungen ist, seine Position gegenüber jenen Kollegen zu rechtfertigen, die (aus Standesdünkeln oder Neid) mit den modernen, neuen Kommunikationsmedien möglichst wenig zu tun haben wollen;14 und 3. korrespondiert diese unbefriedigende Situation in fataler Weise (vgl. oben) mit einer weit verbreiteten Ablehnung alles Literarischen im konkreten Herstellungsprozeß eines Films. Dort nämlich gilt und dient ein Drehbuch für viele lediglich als lästiges Hilfsmittel zur kostenmäßigen Vorausplanung eines Projekts, das erst nach Sicherstellung seiner Finanzierung von den 'echten' Experten (= Produzent und Regisseur) in die Hand genommen wird. Dem Urheber der Geschichte wird dann selten genug das Recht zugestanden, Einfluß auf die endgültige Umsetzung seiner Ideen zu nehmen. Die bisher getroffenen Einschränkungen meines Themas sind notwendig, weil der Film im Laufe seiner hundertjährigen Geschichte zu einem äußerst vielgestaltigen Phänomen mit ganz verschiedenartigen Beziehungen zur Sprache, zum geschriebenen Wort und zur Literatur geworden ist.15 Die daraus resultierende Facettenhaftigkeit wäre durch mein besonderes Forschungsinteresse im Rahmen dieses Aufsatzes bei weitem nicht abzudecken. Dasselbe gilt auch für das weite Gebiet des Fernsehens, auf dessen Werdegang und Probleme (Stichwort: 'Fernsehspiel') ich hier überhaupt nicht eingehe. Außerdem konzentriere ich mich auf den deutschsprachigen Raum, wobei ich einen weiteren Schwerpunkt auf die österreichischen Verhältnisse setzen möchte.16 Mit diesem Hinweis soll der Nachholbedarf gegenüber Ländern (wie Frankreich oder solchen aus dem anglo-amerikanischen Raum), die sich in Produktion und (wissen- 13 Vgl. Märthesheimer, Peter: Herr Schmidt schreibt einen Film, und keiner weiß es. Zum Widerspruch zwischen dem Selbstverständnis des Drehbuchautors und seinem öffentlichen Ansehen. Ein Versuch, hinter der subjektiven Larmoyanz die objektiven Strukturen zu erkennen. In: Brunow, a.a.O., S. 1022, hier S. 14: "Die Entstehungsgeschichte des Drehbuchs hat alle Merkmale eines künstlerischen Prozesses: Der Autor erzählt eine Geschichte; er erzählt sie nach eigener Maßgabe, einzig den ästhetischen Regeln des Genres unterworfen; er organisiert sein Erzählmaterial in der ihm gemäß erscheinenden Form; das Drehbuch verdankt sich der Phantasie und der Kreativität einer Person. Die Verwertungsgeschichte des Drehbuchs nun spielt sich auf einer grundsätzlich anderen Ebene ab -sie trägt alle Merkmale eines wirtschaftlichen Prozesses, und zwar in der Form des entfremdeten Warentausches. [...]" 14 Vgl. Pluch, a.a.O., S. 63f. 15 Vgl. Ernst, Gustav (Hrsg.): Sprache im Film. Wien 1994. 16 Vgl. Berecz, Peter: Selbstmord oder Psychotherapie. In: Buchkultur, Heft 17/5/92 (= Themenschwerpunkt: Schreiben für den Film), Wien 1992, S. lOf. In dieser Ausgabe finden sich auch Interviews mit den österreichischen Drehbuchautoren Gerald Szyszkowitz, Ernst Hinterberger, Hilde Berger, Peter Berecz, Kitty Kino. 193 schaftlicher) Rezeption durch einen qualitativ höher- bzw. hochstehenden Umgang mit dem Kulturfaktor Film auszeichnen, bewußt bloß angedeutet worden sein. Wenn heute trotz der genannten Widrigkeiten eine Diskussion über Drehbücher im Gange ist, sind es häufig die unmittelbar betroffenen Autorinnen und Filmschaffenden selbst, die sie initiieren. Freilich sind ihre Motive und Zielsetzungen dabei höchst unterschiedliche. So haben Symposien, Workshops, Seminare und Publikationen, veranstaltet und herausgegeben von (z.T. erst jüngst entstandenen) Organisationen wie der ARGE Drehbuch (Wien) und deren Proponenten,17 oft etwas von (ohne Zweifel berechtigtem!) Selbsthilfegruppen-Aktivismus an sich. Sie bilden Foren, in denen eher sozialrechtliche Probleme ihrer Mitglieder behandelt werden als ästhetische Fragestellungen, ohne auf diese Weise die fehlende wissenschaftliche/künstlerische Akzeptanz wettmachen zu können. Parallel dazu gibt es ein immer stärkeres Engagement, den offensichtlich vorhandenen, auf Kosten der Schriftsteller von Kino-Produzenten und TV-Anstalten spitzfindigerweise zuerst herbeigeführten und nun heftig beklagten Mangel an brauchbaren Drehvorlagen zu beheben. Zwischen Selbstzweifeln und Rechtfertigungszwang hin-und hergerissen, werden in jüngster Zeit von professionellen Schreibern immer wieder Versuche unternommen, gemeinsam mit 'Laien' Stories, Exposés und Treatments zu entwickeln; dadurch erweckt man aber den trügerischen Eindruck, das Verfassen von Drehbüchern sei eine (von jedermann?) erlernbare, rein handwerkliche Fertigkeit und Dienstleistung im Bereich der Filmindustrie. Bestimmt haben solche, womöglich in Wochenendkursen durchgeführte Schreibwerkstätten u.ä. das Mißtrauen auf seiten der Literaturwissenschaft noch verstärkt, zumal es aus denselben Gründen durchaus vorkommen mag, daß Drehbuchautoren selbst die Literarizität ihrer Texte leugnen. II. Der Drehbuchautor als Schrift-, Bild- und Tonsteller Welche Argumente ließen sich dennoch anführen, um Filmtextbücher als eine literarische Gattung per se zu legitimieren, die bestimmte Spezifika des inneren und äußeren Baus aufweist und der autonome Kompositionsmöglichkeiten und -erfordernisse zugrunde liegen? 17 Vgl. folgende Publikationen mit schwerpunktmäßiger Ausrichtung auf die Verhältnisse in Österreich: Ernst, Gustav und Pluch, Thomas (Hrsg.): Drehbuch schreiben. Eine Bestandsaufnahme. Wien/Zürich 1990. Ernst und Schedl: Nahaufnahmen, a.a.O.; darin vor allem: Pluch, Thomas: Am Anfang war die Story, S. 61-68; Cencig, Michael: Drehbuchworkshops oder geschützte Werkstätten, S. 320-323. 194 Wie gelernt, versuchte ich diese Fragen historisch zu ergründen. Sogleich haben mich meine Recherchen zu der Tatsache geführt, daß es eine relativ lange Entwicklungsgeschichte des Drehbuchs gibt, wie sie erstmalig von Jürgen Kasten in einem 18 Buch zusammengefaßt worden ist. Die von ihm untersuchten Aspekte behandeln jedoch keineswegs nur die wechselvollen historischen, soziologischen oder ideologischen Hintergründe der Filmproduktion seit dem Aufkommen von Drehbüchern im heutigen Sinn in den zehner Jahren unseres Jahrhunderts, sondern auch Veränderungen in der Aufbereitung und Stilistik der Szenarios. Als bahnbrechend hervorgehoben wird übrigens das Oeuvre des aus Graz stammenden Österreichers Carl Mayer (1894-1944), der heute als "einer der innovativsten und eigenwilligsten Autoren des Films",19 des so- 20 genannten Stummfilms wohlgemerkt, wiederentdeckt und anerkannt wird: "Sein eigenwilliger Sprachstil versuchte - bevorzugt in substantivischen und Partizip-Wendungen - eine ungemeine Satzverknappung bei gleichzeitiger höchster Bildhaftigkeit und Präzision in der Szenenbeschreibung. Ungewöhnliche Inversionen (besonders Verbumstellungen) und Reihungen, häufig in einfachen 'Und'- oder 'Dann'-Konjunktionen, scharf einschneidende Ausrufe, wie 'So', 'Doch' oder 'Jetzt', und regelrecht sezierende Satzzeichen geben dem Text einen unnachahmlichen, bereits Personen- 21 und später Kamerabewegungen andeutenden Rhythmus." Mayers legendäre, ausgesprochen artifizielle Entwürfe, deren Dynamik expressionistische Ekstatik, Zerstückelung, neologistische Experimentalität sowie die ra-tional-kalkulierteste Fassung sprachlicher Wendungen in sich vereint, was die sonst üblichen Zwischentitel fast überflüssig machte, blieben individuelle Einzelleistungen und eigneten sich in der Folge freilich nicht, so etwas wie eine Norm für einen standardisierbaren Drehbuchstil abzugeben. Sie zeigten jedoch in der Subtilität ihres formal- 18 Kasten, Jürgen: Film schreiben. Eine Geschichte des Drehbuchs. Hrsg. von Eva H. Plattner und der Österreichischen Gesellschaft für Filmwissenschaft. Wien 1990. Vgl. auch: Witte, Karsten: Direktor Musenfett, Ein Volksfeind und Die Ästhetik der Nebensachen. Zur Geschichte und Theorie des Drehbuchschreibens in Deutschland. In: Brunow, Schreiben für den Film, a.a.O., S. 40-72. Und: Schwarz, Alexander: Der geschriebene Film. Drehbücher des deutschen und russischen Stummfilms (= diskurs film Bd. 6). München 1994. 19 Kasten, Film schreiben, a.a.O., S. 66. 20 Vgl. Kasten, Jürgen: Carl Mayer: Filmpoet. Ein Drehbuchautor schreibt Filmgeschichte. Mit Beiträgen von Carsten Schneider und Oliver Schütte. Berlin 1994. Und: Scholl, Sabine: Der Filmautor Carl Mayer. In: Amann, Klaus und Wallas, Armin A. (Hrsg.): Expressionismus in Österreich. Die Literatur und die Künste. Wien, Köln, Weimar 1994, S. 199203. Und: Frankfurter, Bernhard: Entfesselung des Grauens. Ein Portrait Carl Mayers. In: Buchkultur, a.a.O., S. 16f. Und: Schwarz, a.a.O., S. 304ff. 21 Kasten, Film schreiben, a.a.O., S. 71. 195 inhaltlichen Aufbaus die inspirative Kraft auf, die von einer neuen Technik wie dem Film ausging, und bewiesen damit eine Analogisierbarkeit ästhetischer Strukturen, die jenseits einer oberflächlichen gegenseitigen Anbiederung verschiedener Künste zu suchen ist. Es genügt nicht, wenn in einen Drehbuchtext willkürliche Hinweise auf filmische Kategorien wie Einstellungsgrößen (Weit, Total, Halbtotal, Halbnah, Amerikanisch, Nah, Groß, Detail), Perspektiven (Normal-, Unter-, Aufsicht), Kamera- und Objektbewegungen, Achsverhältnisse, Mise en scène, Beleuchtung, Kulissen, Requisiten, Musik, Geräusche oder Montage eingebaut werden. Ein Drehbuch soll und braucht nicht als Gängelband des künftigen Regisseurs fungieren oder dessen kreative Leistung schmälern; es "versucht vielmehr, die Momente herauszuarbeiten, auf die sich eine Arbeit im visuellen Bereich stützen kann, ohne in die narrative Struktur eingreifen zu 22 müssen." Die poetische Herausforderung besteht darin, eine mit literarischen Kunstgriffen imaginierte Vorwegnahme durchorganisierter visueller und akustischer Wahrnehmungen zu skizzieren; partiturhaft synchrone oder asynchrone Wort-Bild-TonBeziehungen sich auszudenken, wie sie das Wesen dessen ausmachen, was auf der Leinwand im Kino geschieht, sodaß die Bedeutungen der Worte im Drehbuch weder allein aus ihren begrifflichen noch aus 'metaphorischen' Zusammenhängen resultieren. Dem Drehbuch verbieten sich Redeweisen des Uneigentlichen geradezu; seine ästhetischen Strategien basieren stattdessen spiegelbildlich auf einer Erfüllung der folgenden Hauptkriterien: Sie sollten beschreibend kinematographische Techniken assoziieren lassen, indem die beschriebenen Vorgänge und Aktionen so wirken, als würden sie durch ein Bewußtsein registriert, das automatisch und ausschließlich intentionale Sinneswahrnehmungen produziert (nicht: re-produziert!, siehe unten) und deshalb einen Eindruck von der Welt vermittelt, wie er sonst nur mit Hilfe von Filmapparaten (darunter verstehe ich eine Kombination aus Kamera + Schneidetisch + Projektor + Tonanlage) hervorgebracht wird. Die beliebte Formel, ein Drehbuchautor agiere mit einem 'Kamerablick', greift zu kurz. Die fiktive Formalisierung der Wahrnehmung in einem Drehbuch beruht nämlich darauf, daß in der Gliederung und Abfolge einzelner 'Bilder', die praktisch wie Bühnenszenen behandelt werden, ohne daß sie an die theatralische Zeit-Raum-Trägheit gebunden wären, ein verzweigtes Netz von akustischen und optischen Konnotationen entworfen wird, die den Wörtlaut des Texts infiltrieren und die Semantik/Symbolik des beschriebenen Wahrzunehmenden mitbestimmen. Zur Illustration ein kurzer Ausschnitt aus der Anfangssequenz von Helmut Zenkers Buch "Drohbriefe", das zur Kriminalserie "Kottan ermittelt" gehört: 22 Aumont, Jacques: "Mehr Licht!" Zu Murnaus "Faust" (1926). In: Albersmeier, Franz-Josef und Roloff, Volker (Hrsg.): Literaturverfilmungen. Frankfurt am Main 1989, S. 59-79, hier S. 60. 196 "Das ORF-Zeichen ist zu sehen. Darunter steht in einer anderen Farbe präsentiert. Im O des ORF-Zeichens ist der Kopf einer Katze zu sehen, die ihr Maul weit aufreißt. Dazu: lautes M.G.M.-Löwengebrüll. Büro. - Kottan, Schrammel und Schremser stehen (für den Zuschauer von links nach rechts) nebeneinander. Schrammel hat seine rechte Hand auf der linken Schulter Kottans. Schremser hat seine rechte Hand auf der linken Schulter Schrammeis. Sie pfeifen das Hauptthema aus For A Fistful Of Dollars. Auch auf der linken Schulter Schremsers liegt eine rechte Hand, die allerdings bandagiert ist. Schremser erschrickt, als er die Hand entdeckt, und schaut in die Kamera. Die Person, die zur bandagierten Hand gehört, kommt nicht ins Bild."23 Weil es sich bei einem Drehbuch eher um die Beschreibung fertiger/vorgefertigter, bewegter Bilder mit eingepaßten Gesprächspartien handelt und nicht um Erzählung im herkömmlichen Sinn, läßt sich der grammatikalische Gebrauch des Präsens als 'Erzähl'zeit erklären. Darüberhinaus ist die Handlung - quasi à priori - geprägt durch eine stillschweigend vorgenommene Eingrenzung/Rahmung/'Kadrierung' des Gesichtsfelds, was für den Rezipienten eine weitreichende, wenn auch meist unreflektierte Wirkung zeitigt, wird die wahrnehmbare Welt infolge dieses Settings unweigerlich einer (im weitesten Sinne) ideologischen Färbung unterworfen. Der Drehbuchtext umschreibt einen Blick, der entweder anonym, abstrakt bleibt oder einem/r bestimmten Protagonisten/in zuzuordnen ist. Dabei braucht sich ein Autor nicht dahingehend zu verausgaben, seine Welt 'diegetisch'24 bis ins kleinste zu rekonstruieren; er weiß/vermutet, was der Leser schon einmal gesehen hat und vertraut darauf, daß er es wiedererkennt; außerdem ist es müßig, es im Bereich der Nachahmung mit dem Film aufnehmen zu wollen, weil diesen von Haus aus eine viel stärkere 'perzeptive Ähnlichkeit' zwischen Signifikanten 25 und Signifikaten auszeichnet als das Wort. 23 Zenker, Helmut: Drohbriefe. Aus der Kriminalserie "Kottan ermittelt". (Fernsehspiel-Bibliothek, hrsg. vom ORF [Dr. Gerald Szyszkowitz]) Salzburg und Wien 1979, S. 9. Hinzuweisen wäre übrigens auf den Klappentext: "Fernsehspiel-Bibliothek nennt sich diese gemeinsame Publikation des ORF mit dem Residenz Verlag. Sie geht von der Tatsache aus, daß in der letzten Zeit erfreulicherweise immer mehr junge Schriftsteller der Aufforderung des ORF nachgekommen sind, Drehbücher für abendfüllende Fernsehspiele zu schreiben. Dabei sind Textbücher entstanden, die über ihre Funktion als Vorlage für einen Film hinaus einen literarischen Wert besitzen, der es nahelegte, sie auch in Buchform zu veröffentlichen. Zusätzlich zum Drehbuch werden in wechselnder Folge Standfotos, Treatments und Aussagen der Autoren, Regisseure und Produzenten zum jeweiligen Film gedruckt." 24 Der Begriff Diegese geht wie der Mimesis-Begriff auf Aristoteles und Plato zurück. Während der letztere aus der Tragödien-Theorie stammt, bezeichnet der erstere eine narrative Methode, Fiktion zu erzeugen. 25 Das macht die starke denotative Bedeutung des Films aus; vgl. Metz, Christian: Semiologie des Films. Frankfurt am Main 1972, S. 325ff. 197 Ein Drehbuchautor befindet sich einerseits in einer Erzählsituation, die gemäß F.K. Stanzeis Einteilung am ehesten als 'auktorial' zu bezeichnen wäre, doch nicht aufgrund von angestammter Souveränität, sondern von etwas, das man persönliche 'Unwillkür' nennen müßte: die Sinne bewehrt mit einer nahezu vollkommen funktionierenden Reproduktionsmaschinerie, kann ihm (paradoxerweise) nichts anderes widerfahren als eine Neuschaffung der Welt. Andererseits schreibt er auch wieder so, als bewegte er sich - unsichtbar - inmitten dieser pseudorealen Welt, von der er erzählt und die ihn mitreißt; als tauchte er tief in sie ein, um sie zu dynamisieren und neu zu arrangieren, Überraschungen und Unbekanntes an die Oberfläche der Erscheinungen zu holen.und sichtbar zu machen. Der Erzähler/Beschreiber/Arrangeur geht in seinen Text -prinzipiell gesagt - nur als stilisierte Funktion seiner Sinne ein; reflektierende Kommentare zum Text als solchen erübrigen sich völlig. Es genügt ihm, Vorkommnisse und Abläufe ganz nüchtern und knapp zu markieren, ohne sie erklären zu müssen. Er gibt nicht damit an, mehr zu wissen, als sich dem Leser in der Phantasie ohnehin auch vom (literarisch vorweggenommenen) äußeren Augenschein her kundtut. Aus der nur mit kombinatorischen Ergänzungen des Lesers zu bewerkstelligenden Überbrückung der Bruch- und Nahtstellen, die sich zwischen den (meist durchnumme-rierten) 'Bildern'/Einstellungen befinden, resultiert eine sozusagen 'induktive' Zusammengehörigkeit des Ganzen. Dieses fungiert, obwohl nie wirklich faßbar, als Hintergrund, vor dem die genau dosierten Informationen des Auges/des Ohrs/des Gehirns eine zusätzliche semantische Qualität erhalten. Dazu kommen noch alle Komponenten des Sprechfilms im engen Sinn des Wortes, d.h. Dialoge, deren Funktion und Struktur sich von denjenigen eines Theaterdialogs unterscheiden, und gegebenenfalls Erzählerkommentare aus dem on oder off, des weiteren die Beachtung von (bzw. der vorsätzliche Bruch mit) äußeren (i.e. beispielsweise eine Filmdauer von durchschnittlich 90 bis max. 120 Minuten!) und inneren/inhaltlichen dramaturgischen Genrestrukturen, die sich im Laufe der Filmgeschichte herausgebildet haben und zu differenzieren sind: z.B. Melodram, Western, Kriminalfilm, Thriller, Actionfilm, Science-fiction-film, Erotikfilm, Horrorfilm u.ä. Obwohl etwas unexakt, weil es allzu leichtfertig gleich mehrere Kennzeichen des Filmischen in sich vereinigt, wird in der Fachliteratur für das soeben umrissene Konglomerat konzeptionell zu koordinierender Phänomene mit Vorliebe der Topos von einem "Erzählen in Bildern"27 verwendet, wie beispielsweise auch Jochen Brunow eine seiner Abhandlungen zum Thema nennt. Er meint damit folgendes: "Im Kino entsteht die Handlung, die Geschichte erst aus den Bildern heraus und durch die Bilder hindurch. Sie entsteht aus Vorübergehendem, aus Andeu- 26 Vgl. Field, Syd: Das Handbuch zum Drehbuch. Übungen und Anleitungen zu einem guten Drehbuch. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Kramer. Frankfurt am Main 19924, S. 81ff. 27 Brunow, Jochen: Erzählen in Bildern. Das Drehbuch als Nahtstelle zwischen literarischer und filmischer Narration. In: Ernst/Pluch, a.a.O., S. 21-30. 198 tungen, die kaum das Bewußtsein erreichen, aus der Verteilung von Licht und Schatten oder den Zweigen, die sich im Wind bewegen. Die Geschichte entsteht natürlich auch aus dem, was die auftretenden Figuren sagen, aber wirklich zu sprechen beginnt der Film als Film erst auf der Ebene, wo sich Einsicht und Unentwirrbares verbinden, Heroisches sich mit Banalem mischt und 28 wo Erkenntnisse nur als Rhythmen erscheinen." Bei Durchsicht publizierter Drehbücher zeigt sich, daß eine explizite Erwähnung der oben aufgezählten filmtechnischen Medienspezifika im Buch eine letztendlich unerhebliche Rolle spielt. In seiner Textur, die entweder synoptisch in eine reine Bild-und eine Dialogspalte geteilt ist oder nicht, können Dinge, die in der Natur getrennt auftreten, in jedem Fall auf eine Weise miteinander konfrontiert bzw. kombiniert werden, daß ihre Auswahl und Konstellation als signifikant im Hinblick auf eine Verflechtung mehrerer Rezeptions- und daher Bedeutungsebenen erkennbar wird. Der entscheidende Punkt ist die Herausstellung dessen, was Bela Baläzs einst als das 'Physio- 29 gnomische' bezeichnet hat: Jede Nennung eines Bild- und Tondetails (d.h. von Menschen, Tieren, Landschaften, Gegenständen) muß wie eine Geste sein, damit in den 'Bildern' eines Drehbuchs das skizzierte Leben durchsichtig wird für eine andere, ästhe-tisierte Welt mit unmittelbarem Erlebniswert. Je intelligenter, origineller, geheimnisvoller, spannender, grotesker die semantischen Einheiten sind, die ein Filmautor zusammenbaut und aufeinander abzustimmen vermag, je mehr Geschichten er quasi gleichzeitig erzählt, desto schwerer wird man sich seinem Plot entziehen können. Das, was dem Film oft vorgeworfen wird - er schränke die Phantasie ein, indem in ihm alles, was man überhaupt zu sehen und hören bekommt, vorgegeben wird - ist zugleich auch seine Stärke und beeinflußt natürlich die Konzeptionen von -3A Drehbüchern, die auf einen 'idealen Zuschauer' zugeschnitten sind, ganz anders als beispielsweise diejenige von Romanen. Letztere haben noch (oder gerade!) in der ausführlichsten, realistischsten, anschaulichsten Schilderang etwas Beliebiges und müssen es dem Leser anheimstellen, sich eine Szene geistig auszumalen. Dem Roman vergleichbar ist in dieser Hinsicht das traditionelle Theater, wo man sich mehr oder weniger nach eigenem Gutdünken und Interesse das vom Zuschauerraum völlig abgetrennte Bühnenbild zu erschließen hat und mit Konflikten konfrontiert wird, die im wesentlichen unter Einsatz des gesprochenen Worts geschürzt und gelöst werden. Das ist, wenn man so sagen will, der geistig-spirituelle Bereich der Literatur, der sie im Zeitalter des auf Intimität bedachten bürgerlichen Individualismus, also im Laufe des neun- 28 Ebd., S. 24. 29 Vgl. Baläzs, Schriften zum Film, Bd.l, a.a.O., S. 92ff. 30 Vgl. Esslin, Martin: The Field of Drama. How the signs of drama create meaning on stage and screen. Great Britain 19946, S. 95. 199 zehnten Jahrhunderts, zur wichtigsten Kunstform werden ließ. Gute Drehbücher hingegen dürfen nichts, dem Zufall überlassen; sie konstruieren ihre Geschichten im Hinblick auf eine jeweils konkrete Anschauung der Welt und liefern damit immer auch eine Weltanschauung freihaus, der man sich nicht ohne weiteres entziehen kann. Darin liegt die Anziehungskraft von Filmen und eine Gefahr, was die Manipulation des Rezi-pienten angeht, wenn er der Suggestivität der filmischen Präsentationweisen aus Unkenntnis ihrer Wirkungspotentiale nicht gewachsen ist. Die wissenschaftlich-analytische, aber auch die spielerisch-produktive Arbeit mit und an Drehbuchtexten (bzw. nachträglich angefertigten Filmprotokollen) könnte daher eine entscheidende medienpädagogische bzw. mediendidaktische Rolle übernehmen und zu einer wohl als dringend notwendig zu erachtenden Verbesserung im kritischen Umgang mit Massenmedien beitragen. III. Zusammenfassung und 'Abspann' Drehbücher beruhen stärker als andere Texte auf der Voraussetzung einer Verwandlung bereits der bestehenden Wirklichkeit in eine ästhetische Montage; sie adaptieren das Kinematographische in Gestalt einer übernommenen Form der Anschauung, der Analyse und der künstlichen Synthese der Elemente der Welt. Sie antizipieren den Inhalt einer bestimmten Wahrnehmungsform und bringen diese (implizit oder explizit) mit literarischen Mitteln zur Darstellung. Sie sind Ausdruck einer historisch vermittelten, durch das Medium Film installierten kollektiven Bewußtseinsstruktur, in welcher die zivilisationstechnischen Konditionierungen der Sinne und deren Rückwirkungen auf das Subjekt, d.h. die Dialektik von Subjekt und Objekt im Bereich des Sinnenhaften (= Ästhetik31), Spuren hinterlassen haben. Sie ziehen die Konsequenz aus dem Umstand, daß das scheinbar höchst Authentische kinematographischer Reproduktionen und das Künstlich-Künstlerische ihrer Abstraktionsmechanik (Reduktion von Drei- auf Zweidimensionalität, Wegfall der Größen- und Formkonstanz, Wegfall der räumzeitlichen Kontinuität u.ä. ) bei der Vorführung eines Films in eins fallen, und machen ihr Programm daraus. So verstanden, zielt die Poetik von Drehbüchern weniger ab auf Mimesis, d.h. die scheinbar unmittelbare Nachahmung der gegenständlich-natürlichen Wirklichkeit, als 31 Vgl. Welsch, Wolfgang: Ästhetisches Denken (= Reclams Universal-Bibliothek Nr. 8681). Stuttgart 1990, S. 9/10, wo "Ästhetik genereller als Aisthetik", das sich vom griechischen aisthesis (als dem Gegebenen der Sinneserscheinung) herleitet, aufgefaßt wird; d.h. eine "Thematisierung von Wahrnehmungen aller Art, sinnenhaften ebenso wie geistigen, alltäglichen wie sublimen, lebensweltlichen wie künstlerischen." 32 Vgl. Arnheim, Rudolf: Film als Kunst. Mit einem Vorwort zur Neuausgabe. Nachwort zur Taschenbuchausgabe von Helmut H. Diederichs, Frankfurt am Main 1979, S. 21ff. 200 vielmehr auf Semiosis, d.h. die Hervorbringung von spezifischen Bedeutungen, die aus inszenierten Gegenmodellen zur gewöhnlichen/gewohnten Wahrnehmung resultieren. Diese Haltung rückt Drehbücher in die Nähe der Lyrik. Die Grenzen zwischen Leben und Kunst fließen sprachlich ineinander, die Dinge des 'Realen' werden vor jedem wirklichen Wahrnehmungsvollzug als 'Bilder' ausgestellt. Wer noch niemals einen Film gesehen hätte, könnte deshalb ein Drehbuch kaum mit Gewinn und Verständnis lesen. Hier offenbart sich auch der entscheidende Unterschied zwischen Drehbuch und den anderen Gattungen der Literatur. Er liegt darin, daß etwa ein Roman fiktiv eine Geschichte vergegenwärtigen soll, die in der/irgendeiner Realität spielt/spielen könnte, während ein Drehbuch so tut, als bezöge es sich auf eine Geschichte, die schon in einem anderen Medium Gestaltung gefunden hat. Pier Paolo Pasolini sprach einmal 33 vom Drehbuch als von einer "Struktur, die eine andere Struktur sein will." Mit anderen Worten ausgedrückt, heißt das: das Signifikat eines Signifikanten (= Begriffe) in einem Drehbuchtext ist nicht etwas in der 'normalen' Lebenswirklichkeit, sondern ist seinerseits ein Signifikant in einem anderen komplexen ästhetischen Code-System. Die Ebenen der BedeutungsVermittlung potenzieren sich, sodaß es lohnend sein könnte, Drehbücher einmal in ihrem Verhältnis zu frühromantischen Dichtungstheorien zu untersuchen. Diesbezüglich kann auch kein Dramentext mithalten, der zwar - das ist einzuräumen - auf eine bestimmte Kommunikationssituation im Theaterraum hin geschrieben werden muß (wie immer dieser beschaffen sein mag), dem jedoch der Verweischarakter auf eine (zumindest) 'doppelte' Wirklichkeit fehlt. Der ästhetische Reiz eines Drehbuchs entspricht jener Distanz - nicht Identität (!) - die es zwischen dem sinnlichen Erlebnis eines Films im Kino und dessen 'Transkription' in der Schrift herstellt. Es trifft daher sicherlich zu, daß (gute) Drehbuchtexte von einer Beherrschung der filmischen Darstellungsmittel ausgehen, die der Leserschaft nicht immer zueigen ist. Der Text eines Drehbuchs bezieht sich jeweils auf einen fensterhaften Ausschnitt der Außenwelt, in dem sämtliche Handlungen und Geschehnisse das Schauspielhafte der Realität demonstrieren. Er ist Ergebnis einer Wahrnehmung, die alles, was jemand aufnimmt, zu nichts anderem als einer Widerspiegelung seiner psychischen Prädis-potion(en), seiner Wünsche, Träume, Begierden und Ängste macht. Drehbücher sind literarische Umsetzungen eines Erkennens, in dem sich die Phänomene der 'äußeren' und der 'inneren' Welt vermischen. Dem Drehbuchautor geht es nicht primär um die Übernahme des Filmischen im Sinne der Imitation bestimmter technischer oder stofflicher Eigentümlichkeiten, sondern um das Erlebnishafte, das dem Medium Film eignet. Drehbücher entwerfen ein 33 Zitiert nach Brunow, Erzählen in Bildern, a.a.O., S. 25. 201 Denken in Anschaulichkeit, einen Diskurs in Bildern, in denen sinnliche Erscheinung und Allgemeinbegriffe zu einer kohärenten Einheit verschmolzen sind. Ich hoffe, wenigstens einige Gründe nachvollziehbar gemacht zu haben, warum meiner Meinung nach Drehbücher weit ausführlicherer Theorien bedürften, als sie heute zur Verfügung stehen, und neuer literaturwissenschaftlicher Analysemethoden, die nicht von den nach wie vor gängigen dualistischen Vorstellungen ausgehen, die wertend Wörter versus Bilder oder einen Text versus Film stellen. Zusammenfassung Es entbehrt nicht der Ironie, daß bislang ausgerechnet Drehbücher, deren poetisches Potential sich sozusagen an einer Schnittstelle von Wort- und Bild-Kultur, von individuell-künstlerischer und kollektiv-industrieller Produktionsweise entfaltet, die Funktion eines blinden Flecks innerhalb des Literaturforschungsbetriebs einzunehmen scheinen. Doch ausgehend von der Überlegung, daß es sich bei einem jeden Drehbuch - grundsätzlich gesagt! - in erster Linie einmal um ein Buch handelt, das sich an Leserinnen wendet, werden in dem vorliegenden Aufsatz einige Kategorien für eine Poetologie einer Gattung namens Drehbuch zu entwickeln versucht. Dabei wird ersichtlich, daß es einen eigenständigen ästhetischen Reiz von Drehbüchern gibt, der nicht aus der mehr oder weniger präzisen Formulierung filmaufnahmepraktischer Anweisungen resultiert, sondern aus dem Zusammenspiel bestimmter literarischer Kunstgriffe, deren sich der Drehbuchautor bedienen muß, um den komplexen filmischen Code aus sprachlichen, bildlichen und akustischen Elementen in anschaulicher Weise (vor)strukturieren zu können. Povzetek SCENARIJ KOT LITERATURA Ne gre brez ironije ob dejstvu, da so imeli doslej ravno scenariji, katerih poetični potencial se razvija takorekoč na prerezu besedne in slikovne kulture ter individualno-umetniškega in kolektivno-industrijskega produkcijskega načina, funkcijo slepe pege na področju raziskovanja literature. Izhajajoč iz prepričanja, da gre -načeloma rečeno! - pri vsakem scenariju v prvi vrsti za knjigo, ki se obrača na bralce, poskuša pričujoči članek razviti nekaj kategorij za poetologijo literarne vrste, imenovane scenarij. Pri tem se pokaže, da imajo scenariji svoj lasten estetski čar, ki ne nastaja zaradi bolj ali manj natančnega oblikovanja praktičnih navodil za snemanje filma, ampak zaradi součinkovanja določenih literarnih prijemov, ki jih mora avtor scenarija uporabiti, da lahko na nazoren način iz jezikovnih, slikovnih in akustičnih elementov strukturira celoten filmski kod. 202