79 Filozofski vestnik | Volume XLIII | Number 3 | 2022 | 79–92 | cc by-nc-nd 4.0 | doi: 10.3986/FV.43.3.03 * Postgraduate School ZRC SAZU, Ljubljana, Slovenia | rriha@zrc-sazu.si Rado Riha* Transfinitisierung der Erkenntnis: Beispiel Kant1 Die Selbstkritik der Vernunft ist, so wenigstens kann aufgrund der Kant’schen Erzählung vom geschichtlichen Schicksal der Metaphysik in der Vorrede zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft gefolgert werden, die letzte Etappe in der geschichtlichen Entwicklung der Philosophie als Wissenschaft.1An die- sem Punkt ihrer Entwicklung gelang es der Vernunft nach allen ihren Irrnissen und Holzwegen endlich, das richtige Vorgehen zu finden, um die systemati- sche Einheit der philosophischen Erkenntnis denken und vorstellen und damit der Philosophie die Form der Wissenschaft verleihen zu können. Kants gesam- te Erkenntniskritik kann so als ein „Gegenstand in der Idee“ verstanden wer- den, das heißt, als der Umriss jener architektonischen Einheit aller Erkenntnis auf der Grundlage der reinen Vernunft beziehungsweise jener regulativen „idealen Wesenheit“, in Bezug auf welche alle empirischen philosophischen Erkenntnisse als Glieder eines Ganzen vorgestellt werden können und in der sie systematisch miteinander in Hinsicht auf die höchsten Zwecke der Vernunft verbunden sind.2 Natürlich ist jedes systematische Denken schon im Vorhinein zum Misslingen ver- urteilt, der Abstand zwischen der in der Vernunft enthaltenen Idee des Ganzen und ihrer empirischen Darstellung im architektonischen Schema ist unüberschreit- bar. Ungeachtet dessen kommt aber gerade der Transzendentalphilosophie Kants die Rolle jenes philosophischen Ansatzes zu, der berechtigt ist, als die „so viel als möglich“ entsprechende Darstellung der Idee der Philosophie als Wissenschaft 1 Der vorliegende Beitrag wurde in Rahmen des von der slowenischen Forschungsagentur finanzierten Forschungsprojektes J6-3139 „Reconfiguring Borders in Philosophy, Politics, and Psychoanalysis“ verfasst. Die Problematik der Transfinitiesirung wird in detailierte- ner Weise im Buch Rado Riha, Kant, in Lacan‘scher Absicht, Wien, Turia + Kant, 2018, ab- gehandelt. 2 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Werkausgabe in 12 Bänden, herausgeben von Wilhelm Weischedel, Bd. IV, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1999, (im Folgenden KrV), B 27/A 14 und B 860 ff/A 832 ff. 80 rado riha aufzutreten. Kant versucht keineswegs, seine Überzeugung zu verbergen, dass sich mit seiner Philosophie die philosophische Erkenntnis dem Punkt der voll- ständigen systematischen Einheit der Erkenntnisse maximal, das heißt, so weit wie möglich angenähert hat. Auch wenn nicht behauptet werden kann, dass in der Transzendentalphilosophie Kants, als einer unter zahlreichen anderen empi- risch existierenden Philosophien, wirklich alle notwendigen und wesentlichen Zwecke der Vernunft verwirklicht worden sind, gilt es dennoch, dass sich gerade Kants Philosophie diesen Zwecken „so weit als möglich“ angenähert hat. Sie ist ihnen so nahegekommen, dass eigentlich festgestellt werden muss: weiter geht es nicht, ein Absolutes ist, fast, erreicht. Genauer gesagt ist Kants Philosophie zwar nicht das Absolute selbst, sie ist aber ein Fall des Absoluten. An diesem Punkt unserer Darstellung der Kant’schen Idee der systematischen Einheit angelangt, können wir zur Problematik der zweiten „kopernikanischen Wende“ der Philosophie Kants zurückkehren. Wir werden zu unserer These zu- rückkehren, dass die Bedeutung der zweiten Wende im Rahmen des systema- tischen Ansatzes der Transzendentalphilosophie gesucht werden muss. Wir verstehen die zweite „kopernikanische Wende“ Kants also als eine begriffliche Operation, vermittelst deren die Transzendentalphilosophie jene formellen und inhaltlichen Konsequenzen entwickelt und vorstellt, die aus der Tatsache fol- gen, dass das kritische System mit der dritten Kritik seine Vollständigkeit und damit auch seine Vollkommenheit erreicht hat.3 Als wesentliche inhaltliche Neuerungen der zweiten „kopernikanischen Wende“ werden von uns dabei, um es noch einmal zu wiederholen, die Figuren des dritten Subjekts und des dritten Objekts angesehen. Im Weiteren wird uns nur die formelle Konsequenz der zwei- ten Wende beschäftigen. Wir wollen sie auf folgende Weise bestimmen: durch die zweite Wende wird das kritische System, wenn wir uns einen Begriff aus der Mathematik ausleihen, als Transfinitisierung der Erkenntnis begründet. Unseren Ausgangspunkt bildet ein kurzer Artikel von Jacques Alain-Miller, der die transfinite Zahl Alef 0 behandelt und gleichzeitig versucht, die Erfindung Cantors auf das Gebiet der Psychoanalyse zu übertragen.4 Millers Anwendung der Erfindung Cantors interessiert uns auch deshalb, weil sie als Kommentar des 3 Vgl.: „Vollständige zweckmäßige Einheit ist Vollkommenheit (schlechthin betrachtet.)“, KrV, B 722/A 694. 4 Jacques-Alain Miller, „Vers un signifiant nouveau“, Revue de l’ECF (20/1994), S. 47–54. 81 transfinitisierung der erkenntnis: beispiel kant Satzes von Jacques Lacan aus der Proposition sur la psychoanalyse de l’école ge- dacht ist,5 dass sich in der strengen Reihe der Buchstaben, unter der Bedingung, dass wir keinen Einzigen verfehlen, das Un-Gewusste sich als Rahmen des Gewussten herausausbildet. An die Stelle der „strengen Reihe der Buchstaben“, von der Lacan spricht, setzen wir das System Kants, und an die Stelle des Un- Gewussten die kritisch begründete Idee der systematischen Einheit.6 Inwiefern kann von einer Homologie zwischen Cantors Konstruktion des Unendlichen, der Entdeckung der transfiniten Zahl Alef O, und Kants Konstruktion der Idee der systematischen Einheit gesprochen werden? Solange wir das Unendliche als eine veränderbare Größe betrachten, die gren- zenlos anwachsen oder sich vermindern kann, bleiben wir immer – so wie auch Jacques-Alain Miller in seinem Artikel den Ausgangspunkt von Cantors Entdeckung vorstellt – auf der Ebene der endlichen Größe der Kardinalzahlen. Cantor hat deshalb eine andere logische Operation konstruiert. In der Reihe der Kardinalzahlen bleibt die Frage der größten Reihe, also die Größe des Unendlichen, immer offen. Gerade als das Un-Gewusste der Reihe wirkt sie als eine Art Triebfeder für ihre Fortsetzung. Cantor ging nun hier wie folgt vor, dass er die unendliche Reihe der ganzen Zahlen als etwas Abgeschlossenes be- handelte, und dann für eine solche gezählte, totalisierte Menge eine neue Zahl, die transfinite Zahl Alef null erfand. Der Ausschluss der transfiniten Zahl Alef null aus der Reihe der Kardinalzahlen ist korrelativ mit der Konstruktion die- ser Reihe als einem in sich abgeschlossenen, endlichen Nacheinander, das un- endlich fortgesetzt werden kann. Die endliche Reihe kann insofern unendlich lange fortgesetzt werden, als die größte Zahl aus ihr ausgeschlossen ist und als Ausgeschlossene den Rahmen der abgeschlossenen Menge der Kardinalzahlen bildet: innerhalb dieses Rahmens können jetzt Kardinalzahlen ins Unendliche addiert oder subtrahiert werden, der Rahmen, die transfinite Zahl selbst, bleibt etwas Fixes, immun gegen jede Operation der Addition oder Subtraktion. 5 Vgl. Jacques Lacan, „Proposition du 9 octobre 1967 sur le psychanalyse de l’école“, in: Autres écrits, Paris, Seuil, 2001, S. 249. 6 Die These, dass sowohl Kants Ding an sich als auch sein Postulat der Unsterblichkeit der Seele als eine Operation der Transfinitisierung zweier Gemütsvermögen, in einem Fall des Erkenntnisvermögens, im anderen des Begehrungsvermögens, verstanden werden kön- nen, wurde von Jelica Šumič Riha im Rahmen des Seminars „Le pour tous face au réel“, Collège international de philosophie, Paris 2001, aufgestellt. Unsere Darstellung ist ein Versuch, diese These auf Kants Systemidee anzuwenden. 82 rado riha Das Wesentliche dieser Operation liegt darin, dass von ihr der unüberschreitba- re Abstand zwischen der unendlichen Fortsetzung der Reihe der Kardinalzahlen und der transfiniten Zahl Alef null als eine irreduzibel innere Bedingung der in sich geschlossenen Menge der Kardinalzahlen gesetzt und aufrechterhalten wird.7 In Cantors Konstruktion fungiert das Unendliche nicht als Ideal, dem man sich nur unendlich annähern kann, und der Rahmen des Unendlichen stellt nicht die Schließung der unendlichen Reihe dar, vielmehr wird von ihm diese Reihe als eine unendliche Reihe überhaupt erst gesetzt. Insofern die Aufrechterhaltung des Abstandes zwischen der transfiniten Zahl und der un- endlichen Reihe für die Operation der Transfinitisierung konstitutiv ist, könnte man die transfinite Zahl auch als eine Regel für die Nichtentsprechung des je- weiligen Falls der Regel, in unserem Fall der Reihe der Kardinalzahlen, mit der Regel, das heißt, mit der transfiniten Zahl selbst bezeichnen. Kommen wir jetzt zu unserer Behauptung zurück, dass die zweite „kopernikani- sche Wende” als Operation der Vollendung des kritischen Systems formal gese- hen eine der Transfinitisierungsoperation Cantors homologe Struktur hat. Dass die Realisierung der Forderung, vor die sich die Transzendentalphilosophie Kants durch ihren systematischen Ansatz gestellt sieht, der Forderung, dass das System der Transzendentalphilosophie „so weit als möglich“ als eine ideenge- rechte Erscheinung der empirisch nichtdarstellbaren Idee der systematischen Einheit aufgebaut werden muss, eine Operation der Transfinitisierung der Erkenntnis darstellt. Wir werden zunächst die zwei „kopernikanischen Wenden“ der Kant’schen Philosophie als ein Anzeichen dafür verstehen, dass die Transfinitisierung der Erkenntnis im kritischem System in zwei Schritten erfolgt. Der erste, von der ersten Kritik gemachte Schritt besteht in einem Verfahren, das für die Vernunftideen im Allgemeinen gilt und von der Transzendentalen Dialektik der ersten Kritik als immanenter Gebrauch der Vernunftideen benannt wird. Wir können diesen Schritt als ein Vorgehen bestimmen, bei dem die Idee, die für die Transzendentalphilosophie ein konstitutiv Un-Gewusstes ist, aus der Erfahrung ausgeschlossen wird. Um unsere Bestimmung der Idee als eines für die Erfahrung konstitutiv Un-Gewussten etwas näher zu erklären, können wir auf eine Argumentation Kants in der ersten Kritik zurückgreifen. 7 Wir übernehmen hier das Argument von Jelica Šumič Riha, siehe Fn. 7. 83 transfinitisierung der erkenntnis: beispiel kant Am Beispiel des Ideals des höchstens Wesens die Notwendigkeit des dialekti- schen Scheins der transzendentalen Idee erklärend, bestimmt Kant auch zwei sich gegenseitig ausschließende Grundsätze des Vernunftgebrauchs. Der ers- te lautet: wir können nichts von dem, was existiert, denken, ohne gleichzei- tig auch schon vorauszusetzen, dass es notwendig existiert. Ohne also die Idee seiner vollständigen Bestimmung, damit aber auch die Vorstellung von einem absolut notwendigen ersten Grund vorauszusetzen. Aber, zweitens, so wie es nicht möglich ist, in der Erfahrung nicht immer schon die Anwesenheit eines Ganzen, die Totalität der Bedingungen für ein gegebenes Bedingtes, zu denken, so ist es auch nicht möglich, diese Anwesenheit des unbedingten Ganzen in der Erfahrung wirklich zu denken und vorzustellen. Obwohl alles, was existiert, für uns immer notwendig existiert, können wir das Dasein der Dinge niemals als etwas absolut Notwendiges denken und vorstellen. Nichts hindert mich daran, wie Kant sagt, für alles, was existiert, nicht auch sein Nichtsein denken zu kön- nen. Kurz, „[...] ich kann das Zurückgehen zu den Bedingungen der Existenz nie- mals vollenden, ohne ein notwendiges Wesen anzunehmen, ich kann aber von demselben niemals anfangen“.8 Die Totalität der Bedingungen bleibt ein für die Erfahrung konstitutiv Un-Gewusstes. Von Kant wird das Problem der zwei sich untereinander ausschließenden Erfahrungsrollen der Vernunftidee gelöst, indem er die Idee des Ganzen aus der Erfahrungswirklichkeit ausschließt: „Es folgt aber hieraus, daß ihr das Absolutnotwendige außerhalb der Welt annehmen müßt“9 Das Wesentliche dieser Ausschließung bestimmt Kants präzise Formulierung: sobald die Vernunfteinheit, die an sich selbst unbestimmt und unbestimmbar, kurz, jenes ist, was in der Erfahrung ihr Un-Gewußtes ist, sobald diese Vernunfteinheit aus der Erfahrungswirklichkeit einmal ausgeschlossen ist, fallen auch alle an die Erfahrung gebundenen, restriktiven Bestimmungsbedingungen weg, und „das Größeste und Absolutvollständige läßt sich bestimmt gedenken“.10 Die aus der Erfahrung ausgeschlossene Idee wird von Kant als etwas Bestimmtes so ge- dacht, dass er ihr eine eingebildete objektive Wirklichkeit zuschreibt, und dann diese eingebildete Objektivität als „Gegenstand in der Idee“ benennt. Dieser 8 Kant, KrV, B 644/A 616. 9 Ibid., B 645/ 617, 10 Ibid., B 694/A 666. 84 rado riha „als-ob-Gegenstand“ fungiert nun genau als die Einrahmung des Feldes der Erfahrungserkenntnis. Das, was Kant den größtmöglichen empirischen, auf der Idee einer systema- tisch-vollständigen Einheit gründenden Vernunftgebrauch nennt,11 ist keines- wegs etwas, was sich der Verstandeskonstitution der Erfahrung von Außen an- schließen würde. Vielmehr handelt es sich um eine Operation, vermittelst de- ren sich die Erfahrung als ein in sich geschlossenes Feld von allen möglichen Verstandesverfahren und Verstandesgegenständen überhaupt erst konstituiert. Mit einem solchen Feld haben wir es, strenggenommen, erst dann zu tun, wenn der stets bestimmte, empirische Gebrauch des Verstandes vermittelst seiner Beziehung mit der in Form des „Gegenstandes in der Idee“ ausgeschlossenen Idee, bis zu jenem Grad der durchgängigen Einheit erweitert wird, in dem er sich „so viel als möglich“, also niemals vollständig, der Idee der systematischen Einheit annähert. Der Punkt des „so viel als möglich“ ist das, was in der Erfahrung von der aus dem Erfahrungsbereich ausgeschlossenen Idee übrigbleibt. Einerseits ist der Punkt dieses „so viel als möglich“, wie schon bemerkt, ein Äußerstes, die Grenze ei- nes „weiter geht es nicht“, der Punkt der empirischen Vollständigkeit. Aber die- se Vollständigkeit hat kein festes Kriterium, das „so viel als möglich“ ist ande- rerseits der Punkt einer äußersten Unbestimmtheit und Unabgeschlossenheit: kein empirisches System, wie vollkommen es auch scheinen mag, kann die Vernunftidee des Systems je erreichen. Im Punkt des „so viel als möglich“ kommt ein Zweifaches zum Ausdruck. Erstens, dass der Abstand zwischen dem empirischen System und der Idee der durchgängigen Einheit irreduzibel und unüberschreitbar ist. Und zweitens, dass gerade durch den Abstand ein em- pirisches System dennoch die Idee erreichen kann. Der Abstand gewährleis- tet die empirische Anwesenheit der aus dem Erfahrungsbereich ausgeschlos- senen Systemidee, er gewährleistet also nicht eine vollständige, sondern eine sowohl subjektiv als auch objektiv bloß äußerst vollständige – und das heißt auch: immer wieder noch zu vervollständigende – systematische Einheit des empirischen Systems. Die Einrahmung der Erfahrung mit dem „Gegenstand in der Idee“ bedeutet keine Schließung des systematisch geordneten Feldes der 11 Einer Idee, die unbedingt notwendig ist, um die „empirische Einheit dem höchstmögli- chen Grade zu nähern“, Ibid., B 705/A 677. 85 transfinitisierung der erkenntnis: beispiel kant Erfahrungserkenntnis. Ganz im Gegenteil, durch die Einrahmung wird dieses Feld geöffnet – aber es wird von Innen her geöffnet, und zwar so, dass es als ein in sich abgeschlossenes Feld der fortwährend fortschreitenden Erkenntnis, als aktuelle Unendlichkeit gesetzt wird. Diese innere Öffnung der Erfahrungserkenntnis steht aber unter der absoluten Bedingung, dass in ihrem Inneren auch eine materielle Spur der ausgeschlosse- nen Idee anwesend ist, in unserem Fall also eine materielle Spur des „so viel als möglich“. Genauer gesagt, der unüberbrückbare Abstand zwischen der empiri- schen systematischen Einheit und der Idee des Systems muss, erstens, in sei- ner doppelten Rolle eines Elements erscheinen, das einerseits dem empirischen System angehört und es andererseits auch schon transzendiert; und zweitens, innerhalb des empirischen Systems muss es als ein solches Element auch re- flektiert werden. Das Problem, das von einer „so viel als möglich“ vollständigen empirischen Einheit der philosophischen Erkenntnisse, also auch von Kants Philosophie selbst, gelöst werden muss, liegt nicht, wenigstens nicht unmittel- bar, in der prinzipiell unmöglichen empirischen Darstellung der Idee der syste- matischen Einheit. Das Problem eines erfolgreich konstruierten empirischen philosophischen Systems liegt vielmehr darin, um es noch einmal zu wiederholen, dass die Unmöglichkeit der empirischen Darstellung der Vernunftidee gerade die Bedingung seiner Möglichkeit ist. Und das sie als diese Möglichkeitsbedingung innerhalb des empirischen Systems unbedingt auch dargestellt und reflektiert werden muss. Das Ausbleiben einer solchen Darstellung und Reflexion kann dazu führen, dass sich das empirische System in einer spontanen transzenden- talen Illusion auch schon für eine adäquate Objektivierung der Vernunftidee nimmt. Die Bedingung der Vollendung des empirischen Systems ist jenes sei- ner Elemente, vermittelst dessen das empirische System sich selbst reflektiert, ein Element, das sowohl die Vollständigkeit und Abgeschlossenheit des empiri- schen Systems darstellt, gleichzeitig aber seine Offenheit, das heißt, seine fort- währende Umänderung und Umbildung ermöglicht.12 12 Das empirische System, das erfolgreich abgeschlossen wurde, das sich also „so weit als möglich“ der regulativen Idee der Vernunfteinheit angenähert hat, bleibt immer gleich und dennoch fortwährend etwas ganz Anderes: es ist ein System als aktuelle Unendlichkeit. 86 rado riha Diese Bedingung wird vom zweiten Schritt der Kant’schen Transfinitisierung der Erkenntnis erfüllt, einem Schritt, zu dem es in der zweiten „kopernikani- schen Wende” in der dritten Kritik kommt. In diesem Schritt wird die logische Operation der Transfinitisierung der Erkenntnis, also die Aufstellung der in sich abgeschlossenen Unendlichkeit der Erfahrungserkenntnis, zur ontologi- schen Aufstellung eines Seinsmoments, das nicht von dieser, das heißt empiri- schen Welt ist. Innerhalb des empirischen philosophischen Systems kommt ein Element zum Vorschein, das sich radikal von allen anderen empirischen Elementen unterscheidet, und zwar dadurch, dass durch ihn das System in ei- nen Fall der Systemidee umgewandelt wird. Ein solcher Fall ist innerhalb des Kant’schen System die dritte Kritik. Die dritte Kritik ist einerseits, formell gesehen, in keinerlei Hinsicht etwas mehr und auch anderes als die ersten beiden Kritiken: sie ist ein Teil des kritischen Systems. Zugleich ist sie aber doch etwas mehr und auch anderes. Sie ist nämlich jenes empirische Element des Systems, mit dem das System vollendet ist und damit als System eigentlich überhaupt erst wirklich existiert. Sie ist jenes Element, in dem sich das System der Transzendentalphilosophie „so viel als möglich“, also äu- ßerst, bis zum Punkt eines unbestimmten „weiter geht es nicht“, der Vernunftidee der systematischen Einheit der Transzendentalphilosophie annähert. Eine der Implikationen der systematischen Orientierung der Transzendental- philosophie liegt auch darin, dass am Abschluss des Systems die Aussage möglich sein muss, dass in Wahrheit alles schon am Anfang gegeben war. Dass also schon die erste Kritik, obwohl sie sich nur mit der theoretischen Erkenntnis befasst, in nuce das ganze System der reinen Erkenntnis der spe- kulativen Vernunft umfasst, das sowohl deren theoretischen wie deren prak- tischen Gebrauch umfasst. Die zwei der ersten Kritik folgenden Kritiken sind – nicht trotz der Thematisierung, sondern gerade wegen der Thematisierung neu- er Begriffe und Problembereiche – nichts anderes als die Bestätigung, dass die Grundsätze für den anfänglichen Entwurf einer architektonischen Einheit der Vernunfterkenntnis richtig ausgewählt und bestimmt waren. Und ungeachtet dessen, wie sehr die Aufgabe mit „großen Schwierigkeiten“, um Kants Worte zu gebrauchen,13 verbunden war, auch für die Urteilskraft einen Grundsatz a 13 „Man kann aus der Natur der Urteilskraft (deren richtiger Gebrauch so notwendig und all- gemein erforderlich ist, dass daher unter den Namen des gesunden Menschenverstandes 87 transfinitisierung der erkenntnis: beispiel kant priori aufzufinden, um damit das System der oberen drei Erkenntnisvermögen, des Verstandes, der Vernunft und der Urteilskraft, abzuschließen – die erfolg- reich ausgeführte Kritik der letzten unter den drei Erkenntnisvermögen ist nur ein Beweis dafür, dass schon die anfänglichen Grundsätze der Kritik keine „noch so kleine Gebrechlichkeit“14, keine Fehler oder Mängel enthalten haben. Mit anderen Worten, Kants Entdeckung eines apriorischen Grundsatzes für die Urteilskraft ist zwar wirklich etwas Neues – neu insofern, als dieser Grundsatz nicht von den schon bestehenden Elementen des bis zur dritten Kritik ausge- arbeiteten philosophischen Systems Kant einfach abgeleitet werden konnte, darin nicht schon engeschrieben war. Vielmehr ist er eine an sich kontingen- te Entdeckung Kants. Gleichzeitig zeugt aber die problemlose Aufnahme die- ser Neuheit ins System davon, dass es zu dieser kontingenten Entdeckung ei- gentlich kommen musste. Alles, einschließlich der Möglichkeit von etwas irre- duzibel Neuem, war schon von Anfang an da. Mit anderen Worten, die einzige Notwendigkeit des Systems ist seine darin eingeschriebene Kontingenz, sind sei- ne darin eingeschriebenen kontingenten Neuanfänge. Aber, und mit der Antwort auf diese Frage können wir unsere Betrachtung der Systemidee in Kants Philosophie abschließen: wo im kritischem System kann je- nes Element gefunden werden, von dem das System vollendet, zu einem „so viel als möglich“ vollständigen Ganzen abgeschlossen wird? Ein Element, von dem diese Vollendung gleichzeitig auch reflektiert wird? Wo kann dieses Element der Selbstreflexivität des Systems festgemacht werden? Die Antwort auf die- se Frage zu finden ist leichter, als dies dem ersten Blick nach scheinen mag. In Wirklichkeit sind wir diesem Moment in unserer bisherigen Abhandlung der zweiten „kopernikanischen Wende” der Philosophie Kants schon begeg- kein anderes, als ebene dieses Vermögen gemeinet wird) leicht abnehmen, daß es mit größten Schwierigkeiten begleitet sein müsse, ein eigentümliches Prinzip derselben aus- zufinden (denn irgend eins muß es a priori in sich enthalten, weil es sonst nicht, als ein be- sonderes Erkenntnisvermögen, selbst der gemeinsten Kritik ausgesetzt sein würde), wel- ches gleichwohl nicht aus Begriffen a priori abgeleitet sein muß, denn die gehören dem Verstande an, und die Urteilskraft geht nur auf die Anwendung derselben.“, Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Vorrede B VII. Die Schwierigkeit, von der Kant hier redet, liegt darin, dass die Urteilskraft das Vermögen ist, unter Regeln zu subsumieren, für die Untersuchung der Richtigkeit der jeweiligen Regelanwendung aber (immer wieder) eine Meta-Regel vonnöten ist – deshalb gilt es, dass Urteilskraft „[...] ein besonderes Talent sei, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will.“ Kant, KrV, B 172/A 133. 14 Ibid., B XXXVIII. 88 rado riha net. Und zwar an der Stelle, an der wir Kants Worte aus der Vorrede zur Kritik der Urteilskraft angeführt haben. Wenn wir uns erinnern: Kant erklärt hier sein kritisches Unternehmen zunächst für beendet, und fügt dann hinzu, dass die Kritik in der Abhandlung über die Urteilskraft auch schon als Theorie diene. Die Aussage von der Kritik, die keine bloß propädeutische Rolle hat, sondern selbst auch schon Theorie ist, ist m. E. die Weise, wie die Transzendentalphilosophie ihre Einheit in der Form eines Systems konstruieren kann, das vollständig und vollendet, also in sich geschlossen ist, und sich gleichzeitig fortwährend ver- ändert und neue Erkenntniselemente einbeschließt, die in der Kontingenz ih- rer Entdeckung das Gegebene unterbrechen und das Alte umwandeln. Kants Aussage ist der Augenblick der Transfintisierung der systematischen Einheit der Transzendentalphilosophie in ihrer immer endlichen Erkenntnis. Sie ist die Erfindung der Regel für die unendliche Reihe von immer neuen Anfängen einer in sich abgeschlossenen systematischen Einheit der Erkenntniskritik. Mit die- ser Aussage erreicht das kritische System den Punkt, an dem behauptet werden kann, dass hier die Vernunfteinheit und die empirisch mögliche Einheit einan- der „so weit als möglich“, also äußerst, nahegekommen sind – und dass gerade wegen dieser ihrer äußersten Nähe und durch diese äußerste Nähe gleichzeitig der irreduzible Abstand zwischen ihnen aufrechterhalten wird. Warum kann das behauptet werden? Wir dürfen hier einen wesentlichen Zug der Aussage Kants nicht aus den Augen verlieren: die Aussage von der Kritik, die in der dritten Kritik auch schon als Theorie diene, ist eine bloße Feststellung, eine bloße Versicherung. Von einer bloßen Versicherung kann deshalb gespro- chen werden, weil wir in Wirklichkeit in keiner der drei Kritiken die Kritik auch schon in Form der Theorie finden. Das heißt, in keiner von ihnen ist ein allge- meiner Begriff der Kritik zu finden, unter dem wir dann spezifische, besonde- re Beispiele der kritischen Analyse subsumieren könnten. Die Kritik spielt in allen drei Kritiken jene Rolle, die sie schon in der ersten Kritik innehat: sie ist „eine Wissenschaft der bloßen Beurteilung der reinen Vernunft, ihrer Quellen und Grenzen“.15 Die drei Kritiken unterscheiden sich voneinander nur hinsicht- lich des jeweiligen oberen Erkenntnisvermögens, das in ihnen kritisch abge- handelt wird. Die Entdeckung einer Kritik, die auch schon die Rolle der Theorie spielt, mit der das kritische System abgeschlossen wird, findet ihre Begründung nirgendwo anders als bloß in der Aussage der Kritik der Urteilskraft, von der 15 Ibid., B 25/A 11. 89 transfinitisierung der erkenntnis: beispiel kant festgestellt wird, dass hier die Kritik auch als Theorie dient. Diese Aussage ist eine bloße faktische Versicherung, ihr Inhalt ist ein „es ist halt so“. Die Vollendung des kritischen Systems, der Punkt seiner äußersten Annäherung an die Vernunftidee der systematischen Einheit tritt in Form einer bloßen, begrün- dungslosen Faktums, eines Sinns ohne Bedeutung auf. Das kritische System wird mit einer Kritik vollendet, die sozusagen alles ist, sowohl eine kritische Untersuchung der Bedingungen der reinen Vernunfterkenntnis auf dem ihr jeweils eigenen Gebiet, als auch Theorie dieser Vernunfterkenntnis. Mit einer solchen Vollendung ändert sich die Bedeutung der kritischen Reflexion selbst. Die Operation der Kritik der reinen Vernunfterkenntnis begann damit, dass sie in der ersten und zweiten Kritik zwei gesetzgebende Erkenntnismodi begründete, von denen jeder sein apriorisches Handlungsprinzip und sein Gebiet hatte: die erste Kritik begründete das Gebiet des Naturbegriffs, die zwei- te das des Freiheitsbegriffs. Die Kritik selbst als Beurteilung der Quellen, des Umfanges und der Grenzen der reinen Vernunfterkenntnis hatte dabei kein ei- genes Gebiet.16 Zum Schluss entdeckte die dritte Kritik ein apriorisches Prinzip noch für die Urteilskraft, und mit dieser Entdeckung wurde das kritische System vollendet. Auch die Urteilskraft ist gesetzgebend, hat aber im Gegensatz zum Verstand und zur Vernunft nicht ein ihr eigenes Gebiet. Ihr apriorisches Prinzip schreibt sie weder der Natur noch der Freiheit vor, vielmehr gibt sie es sich sel- ber als Gesetz.17 Die Kritik der Philosophie endigte somit mit der Entdeckung und Kritik eines Erkenntnisvermögens ohne eigenes Gebiet, dessen einzig entspre- chendes „Handlungsgebiet“ eigentlich die als Erkenntnis ohne Gebiet wirkende Kritik selbst ist. Mit der Kritik der Urteilskraft hat sich die Bedeutung der kriti- schen Reflexion insofern verändert, als die Kritik jetzt sich selbst als eine Art ge- bietsloses Gebiet der Urteilskraft entdeckt, eines Erkenntnisvermögens, dessen Leitungsbegriff die Abwesenheit des Leitungsbegriffs und dessen Leitungsregel die Abwesenheit jeder festen Leitungsregel ist.18 Dieser Entdeckung entspricht 16 „Die Kritik der Erkenntnisvermögen in Ansehung dessen, was sie a priori leisten können, hat eigentlich kein Gebiet in Ansehung der Objekte; weil sie keine Doktrin ist, sondern nur, ob und wie, nach der Bewandtnis, die es mit unserem Vermögen hat, eine Doktrin durch sie möglich sei, zu untersuchen hat.“ Kant, Kritik der Urteilskraft, Einleitung, B XXI. 17 Vgl. KdU, Einleitung, B XXVII; vgl. auch KdU, Einleitung, erste Fassung, Kant Werkausgabe, Bd. X, S. 39. 18 Oben wurde bemerkt, dass die Vernunftidee in der Erfahrung unmittelbar in Form ih- rer Abwesenheit anwesend ist. Jetzt können wir dazusetzen, dass die Urteilskraft, jenes 90 rado riha wiederum eine Art vorgreifender Identifikation, in der die Kritik sich selbst als Theorie anerkennt. Als ein gebietsloses Gebiet kann sie nur so bestehen, dass sie sich selbst auch schon als Theorie erklärt, und so zu einem eigenen Erkenntnisgebiet kommt. Ihr Erkenntnisgebiet konstruiert sie so, dass sie es selbst sich gibt, sich dabei einzig auf ihre bloße Feststellung gründend, sie sei auch schon Theorie. Ohne diesen Akt ist die Kritik nicht möglich, und durch ihn wird die Kritik vollendet: nicht nur die Kritik in Form der kritischen Analyse der Urteilskraft. Vielmehr kommt mit dem bloßen Aussageakt die ganze komplexe Operation der Erkenntniskritik als solcher zu ihrer Vollendung, von der die verschiedenen Anwendungsgebiete der Kritik zum System der Kritik des Vernunftvermögens zusammengeschlossen werden. Das kritische System wird so mit einem Element vollendet, in dem die Kritik, sozusagen sich selbst überholend, sich als Theorie setzt, und im Nachhinein sich selbst als ein Gebiet konstruiert, das seinem on- tologischen Status nach eine Art nichtempirischen Faktums ist. In der dritten Kritik existiert die Kritik faktisch als ein Gebiet, und zwar als das Gebiet eines abgründigen Faktums. Das kritische System, das mit einer Kritik, die auch schon Theorie ist, abgeschlossen wird, ist ein System, das auf einem Element aufgebaut ist, das im System selbst nicht bestimmbar ist, da es sich in seiner bloßen Faktizität jeder Erkenntnisbestimmung entzieht. Mit der Erfindung der Kritik in Form der Theorie, einer Kritik, die in Form eines begründunglosen, ab- gründigen Faktums auftritt, löst Kant die Aufgabe, auf die wir oben verwiesen haben. Es handelt sich um die Aufgabe, dass innerhalb jeder empirisch syste- matischen Einheit auch noch die Bedingung ihrer Möglichkeit, das heißt, die Unmöglichkeit einer empirischen Darstellung der Vernunftidee der systemati- schen Einheit, mitreflektiert und dargestellt werden muss. Mit der Kritik als einem theoretischen Faktum ist auch die Bedeutung der drit- ten Kritik als Kants letzter Kritik verbunden. Die dritte Kritik ist nicht deshalb die letzte Kritik, weil mit ihr das kritische System tatsächlich abgeschlossen ist. Die Faktizität der dritten Kritik liegt nicht darin, dass die dritte Kritik faktisch die letzte Kritik Kants ist. Vielmehr ist die Kritik der Urteilskraft deshalb die letz- Erkenntnisvermögen ist, das, erstens, auf der Abwesenheit des Vernunftbegriffs in der Erfahrung gründet, und das, zweitens mit dieser Abwesenheit gerade operiert: durch die Handlungen der Urteilskraft ist diese Abwesenheit als Abwesenheit gerade anwesend. 91 transfinitisierung der erkenntnis: beispiel kant te Kritik Kants, weil sie den Status eines Faktums hat, genauer gesagt, weil von ihr die Kritik als philosophische Methode auf einem nicht-empirischen Faktum begründet wurde. Der faktische Status der dritten Kritik erscheint auf eine fast empirisch greifbare Weise darin, dass im Rahmen der Begriffsentwicklung der dritten Kritik nie der Augenblick auftritt, in dem sich sagen ließe, „hier wirkt die Kritik auch schon als Theorie“. Die Bedeutung der Kritik als Theorie kann innerhalb des kritischen Systems nicht bestimmt werden. Etwas anders aus- gedrückt: obwohl in der dritten Kritik die Kritik auch schon Theorie ist, sind ihre Begriffsentwicklungen, so wie die Begriffsentwicklungen der beide ers- ten Kritiken, in Wahrheit nie etwas anderes als die Kritik eines der drei oberen Erkenntnisvermögen. Die drei Kritiken werden nie etwas Anderes als Kritiken sein, nie werden sie an- ders möglich sein als in Form der kritischen Beurteilung, durch die Anwendung der Urteilskraft auf sich selbst. Die Bedingung dafür, dass die drei Kritiken in allen ihren gegenwärtigen oder künftigen interpretativen Aneignungen immer wieder so wirken können, wie dies durch ihren Titel bestimmt wird, als Kritiken also, besteht aber darin, dass die dritte Kritik, mit der das gesamte kritische System abgeschlossen wird, im Augenblick dieser Abschließung die Form eines Faktums hat. Die bloße faktische Versicherung, dass hier die Kritik auch schon Theorie sei, ist etwas, was sich nicht nur der Kritik der Urteilskraft, sondern auch dem gesamten kritischen System entzieht. Durch die Subtraktion wirkt diese fak- tische Versicherung aber genau als Rahmen für die unendliche Fortsetzung des kritischen Systems, kurz, als Moment seiner Transfinitisierung. Kants kritisches System besteht nur in Form einer potentiell unendlichen Konstruktionsreihe der Folgen der bloßen Versicherung, durch die es seine Vollendung findet, der Versicherung, die es zum Gebiet eines abgründigen und mit dem Anspruch auf universelle Gültigkeit auftretenden Faktums macht. Kants Feststellung, dass die Kritik in der dritten Kritik auch schon als Theorie fungiert, bedeutet nicht, dass die dritte Kritik wirklich schon diese Theorie sei. Die dritte Kritik ist vielmehr jene empirische Form der philosophischen Kritik, die auf sich selbst als Fall der Theorie hinweist – einer Theorie, deren Existenz auf einem bloßen Faktum begründet ist. Und erst die Tatsache, dass die dritte Kritik sich selbst als Fall eines abgründigen Faktums darstellt, mit dem das kri- tische System vollendet wird, gibt ihren Themen, Begriffen und methodologi- schen Einsichten ihre spezifische Bedeutung. 92 rado riha Die Wirkungsgeschichte der dritten Kritik wurde auch vom Dilemma beglei- tet, wie ihre neuen inhaltlich-methodologischen Elemente des Schönen und Erhabenen, die Ausarbeitung der Zweckidee, die Problematik des Überganges vom Gebiet der Natur zum Gebiet der Freiheit, die Struktur des reflektierenden Urteils, um nur einige aufzuzählen, eigentlich verstanden werden sollten. Sind diese Erkenntniselemente theoretisch genauso bedeutend wie die Erkenntnisse der ersten und zweiten Kritik? Oder werden mit ihnen nur Lücken im anfängli- chen Entwurf der gesamten Kritik der reinen Vernunft ausgefüllt – sind sie also nichts mehr als Spuren der abschließenden Feinarbeiten am kritischem System? Das Dilemma ist, um es noch einmal zu wiederholen, u. E. falsch. Das Neue der dritten Kritik besteht gerade darin, dass in ihr ein neuer Begriff des partikulären Erkenntniselements erarbeitet wird. Die Erkenntniselemente der dritten Kritik sind für das Ganze der Transzendentalphilosophie gewiss ihres je besonderen Inhaltes wegen bedeutend. Ihre Besonderheit verleiht aber diesen Elementen erst die Tatsache, dass sie Elemente einer Kritik sind, die auch schon Theorie ist. Sie sind Elemente eines kritischen Systems, dessen höchster Punkt, der Punkt seiner Vollendung, ein Faktum ist, das sich dem kritischen System selbst ent- zieht und bestimmungslos bleibt. Das Besondere der besonderen Inhalte der dritten Kritik liegt darin, dass sie den Erkenntniselementen des ganzen kriti- schen Systems im Nachhinein die Rolle von singulären Punkten verleihen, deren Geltungsanspruch erst durch die jeweilige Rekonstruktion ihres Anspruchs auf Universalität verwirklicht werden kann: Sie zählen als Punkte der Faktizität und Kontingenz, die es Kants empirischen System der philosophischen Kritik erlau- ben, sich „so viel als möglich“ der universellen Idee des Systems anzunähern. Literangaben Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, Werkausgabe in 12 Bänden, herausgeben von Wilhelm Weischedel, Bd. III und IV, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1–11. Aufl. 1990. Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft, Werkausgabe in 12 Bänden, herausgeben von Wilhelm Weischedel, Bd. X, Frankfurt am Main, Suhrkamp, erste Auflage 1974. Lacan, Jacques, „Proposition du 9 octobre 1967 sur le psychanalyse de l’école“, in: Autres écrits, Paris, Seuil, 2001. Miller, Jacques-Alain, „Vers un signifiant nouveau“, Revue de l’ECF (20/1994), S. 47–54. Riha, Rado, Kant, in Lacan‘scher Absicht, Wien, Turia + Kant, 2018.