HACQUETIA 2/2 • 2003, 25-35 RAUMKONZEPTE IM WERK BELSAZAR HACQUETS Marianne KLEMUN* Izvleček Razprava je posvečena konceptom prostora, opisanim v Hacquetovih delih. Pri tem razlikujem šest različnih aspek-tov: (1) evropsko ekspanzijo in invencijo »regije« kot strategije evidence; (2) terensko delo: petrologijo in njeno raz-meije do topografije; (3) orientacijo v prostoru: posamične steze namesto linearnih poštnih in cestnih sistemov; (4) fizično-geografska izhodišča namesto političnih mej; (5) višino kot novo dimenzijo prostora: od kaosa vrhov k hierarhiji vrhov; (6) raziskovanje nedefiniranih območij. Abstract This paper is dedicated to the spacial concepts described in Hacquet's work. I would like to distinguish between six different aspects: (1) the European expansion and the invention of "region" as a strategy of evidence, (2) fieldwork: petrology and its relationship to topography, (3) orientation in space: individual paths instead of linear post and road systems, (4) physical-geographical guidelines instead of political borders, (5) height as a new dimension of space: from the chaos of peaks to the hierarchy of peaks, (6) exploration of undefined zones. Ključne besede: prostor, izum regije, fizično-geografska izhodišča, »mineralogija« v poznem 18. stoletju Keywords: Space, invention of region, physical-geographical guidelines, "mineralogy" in the late eighteenth century 1. EINLEITUNG Kulturwissenschaft und Wissenschaftsgeschichte schenken derzeit dem Phänomen Raum ihre besondere Aufmerksamkeit (Berichte 2000). Sie bestimmen ihn weniger als eine essentialistische oder sogenannte „materielle" Kategorie, sondern als eine Konstruktion. Erfahrungsgebunden vermittelt letztere zwischen Wahrnehmung und Imagination. Demnach sind Raumverständnisse nicht per se „natürlich" gegeben, sondern werden prozesshaft und handlungsorientiert immer wieder kulturell neu konstituiert. Die folgende Arbeit interessiert sich für die im Werk Hacquets ausgedrückten Raumkonzepte. Die Praxis des Reisens einerseits und der „Aufschreibesysteme" (den Begriff prägte Kittler 1995) andererseits bilden eine Verschränkung, die hier analysiert wird, um es als fundamentale Struktur der Hacquet'schen Epistemiologie zu identifizieren. Methodisch gehe ich dabei so vor, dass ich Hacquets Werk nicht isoliert, sondern in Verbindung zu den in seiner Zeit verbreiteten Raumvorstellungen diskutiere. Dabei unterscheide ich sechs verschiedene Aspekte als unterschiedliche Zugangsweisen und erläutere, wie Hacquet den von ihm bereisten Raum in den Wissenstext transformiert. 2. GROßE UND KLEINE RÄUME -EUROPÄISCHE EXPANSION UND DIE ERFINDUNG DER REGION ALS EVIDENZSTRATEGIE Im 18. Jahrhundert wird das Reisen zur wichtigsten Basis der Erkenntnisgewinnung erklärt: „Der Rei- * Institut für Geschichte der Universität Wien, A-1010 Wien, Dr. Karl Lueger-Ring 1. E-mail: marianne.klemun@univie.ac.at 25 Hacquetia 2/2 » 2003 sende ist dem Philosophen, tuas der Apotheker dem Arzt ist; auf die Nachrichten des Erstem gründet der Philosoph seine Systeme, auf die Pharmacie des Leztern der Arzt seine Verordnungen. Tauscht der Apotheker die Arz-ney aus, so stirbt der Kranke; lügt der Reisende, so irrt der Philosoph. Die Rolle eines Reisenden ist also luichtiger, als mancher denkt" ([Reichard] 1784: 3) - so heißt es in einem bedeutenden Reisehandbuch der 80er Jahre. Weltvergewisserung und Wissensgenerierung scheinen beide dem Reisen gleichermaßen ihre Existenz zu verdanken. Wie im Kleinen so werden auch im Großen neue Räume, ja mit der Cook'-schen Expedition sogar der vierte Kontinent der Erde, nämlich Australien, bestimmt. Was zuvor nur eine Begleiterscheinung von Mission, Handel oder Diplomatie darstellt hat, infolgedessen zwar die Kenntnis Außereuropas seit dem 16. Jahrhundert sukzessive erweitert worden ist, bekommt im Laufe des 18. Jahrhunderts insofern einen Eigenwert, weil die europäischen Staaten euphorisch im Wettbewerb Expeditionen ausrüsten (Drouin 1995). Diese eröffnen mit ihren Ergebnissen (Erkenntnisse über neue Pflanzen, Tiere und geologische Daten sowie Vermessungsbefunde) - wohin auch immer sie führen - im Ansatz eine konkrete Idee davon, welches immense Ausmaß an Wissenserweiterung über Naturerscheinungen weltweit überhaupt zu erwarten sei. Die Resultate aus der neuen Welt werfen neue Fragen über Europa auf, sie verweisen die Eliten auf das Eigene. So kritisiert der wohl einflussreichste Naturwissenschafter der Zeit, der Schwede Carl von Linné, in seiner „Oratio, qua peregrinationum intrapcitriam asseritur nécessitas"das Phänomen, dass das Ausland besser naturgeschichtlich erforscht sei als die „patria". Er plädiert dafür, das Vertraute der „patria" entsprechend wie das Kuriose oder Exotische in der Fremde vom Naturforscher mittels Reisen ergründen zu lassen. Und auch Johann Anton Scopoli betont 1770: „Es ist eine ausgemachte Wahrheit, daß[\] die Naturgeschichten einzelner Gegenden und Fürstentümer zur Enueiterung dieser angenehmen und nützlichen Wissenschaft ungemein viel beitragen, da fast jeder Districkt[\] einige eigene Geschöpfe, entxue-cler ganz allein, oder doch in grosser Anzahl als andere benachbarte Gegenden hervor bringet" (Scopoli 1770: Vorbericht). Diese Haltung läuft auf die Bestimmung des individuellen Charakters eines Landes oder einer Region hinaus, den aber nicht nur die Naturgeschichte definiert hat, indem sie Flora, Fauna und geologische Gegebenheiten erstmals einer systematischen Bestandsaufnahme unter- zieht, sondern auch die Geschichtswissenschaft, wie sie durch die vom Göttinger Professor August Ludwig Schlözer betriebene Aufarbeitung einzelner Ländergeschichten (l769f.) eingeleitet wird. Hier ist der Beginn einer neuen Tendenz zu orten, nämlich die Aufwertung der Provinz (Brenner 1990: 161) oder der Region die für den Boom der Reiseliteratur wie auch für das Werk Hacquets charakteristisch ist. So widmet er sich dezidiert der Fragestellung, „ob nicht eine jede Gegend für sich etwas besonders zur Bildung der Berge habe" (Hacquet 1785: IV). Ebenso übt Gottfried Herders Konzept der „Volksgebundenheit" an die jeweilige Umgebung eine nachhaltige Wirkung auf die Reiseliteratur aus. In diesem für die Reiseliteratur expansiven Milieu ist Hacquets Werk anzusiedeln. Ich beziehe mich hier nur auf die wichtigste Literatur, die in den letzten Jahren zu diesem Thema so umfangreich erschienen ist: Krasnobaev 1980 und Brenner 1989. Verursacht ist der Trend durch einen gesellschaftlich-kulturellen Umwertungsprozess. Die dem Adel früher vorbehaltene Kavalierstour bekommt Konkurrenz durch die vom Bürgertum forcierte Bildungs- und Forschungsreise. Hat erstere bisher eher nur die Metropolen und Residenzen vorgesehen, wobei die Strecken zwischen den Städten, also der Naturraum, nur als lästiges Dazwischen bewältigt und in der Wahrnehmung sogar ganz getilgt worden ist, so definiert die bürgerliche Bildungsreise den zu bereisenden Raum neu, indem sie auch die physischen Gegebenheiten zum Kanon von Wissenswerten zählt. „Wer reiset, der liest im Buche aller Bücher, das ist im Buche der Natur und der Welt, nur muß er auch die Kunst besitzen, es lesen und verstehen zu können" (Posselt 1795, 1: 40) - so definieren es die „Apodemiken" (Stagl 1995; Rassem & Stagl 1980), die Anweisungen über die richtige und erfolgreiche Kunst des Reisens. Hacquet, der „sein Hauptaugenmerk auf das Physische des Erdballs [ge]richtet, nehmlich die Steinarten, xuelche das Gebirge bilden ", wie er selbst betont (Hacquet 1791: 158), konzentriert sich aber auf seinen Reisen tatsächlich nicht nur auf die Gesteinskunde oder das Buch der Natur, sondern sammelt so manche Beobachtung über die Eigenart der Menschen und ihre Kultur, was einer Hochschätzung der „Statistik"entspricht. Diese ist durch Gottfried Achenwall als neue Wissenschaft entwickelt worden, eine nüchtern verbale Sammlung von Informationen über die Geographie, die Topographie, die politischen Gegebenheiten, die Religion, die Kultur der Territorien und die besondere Lebensart ihrer Bewohner. 26 Marianne Klemun: Raumkonzepte im Werk Belsazar Hacquets „Apodemiken"und die „Statistik"bilden Schemata, an denen sich sowohl die Vorbereitung, die Beobachtung als auch die Wiedergabe der Erfahrungen orientieren. Diese Muster wirken sich als intellektueller Rahmen auch auf die von Hacquet praktizierte Vorgangsweise und Niederschrift aus. Jedenfalls hat er an der Erfindung des Regional-bewusstseins einen nicht zu unterschätzenden Anteil. In diesem Zusammenhang operiert Hacquet mit den Begriffen „Landstrich" (Hacquet 1791: 141), „Gegend" (Hacquet 1791: 59, 72) oder auch „Erdstrich" (Hacquet 1791: 70). Bemerkenswert aber ist auch, dass er in allen seinen Publikationen sein auf Reisen gesammeltes empirisches Wissen nicht systematisch unter verschiedene Aspekte subsumiert, sondern den Reiseweg selbst als bindende Struktur der Wissensanordnung und als Erzählleiste unterlegt, womit er auch auf formaler Ebene dem Reisen seinen angemessenen Ausdruck verleiht. 3. GELÄNDEARBEIT - GESTEINSKUNDE UND IHR VERHÄLTNIS ZUR TOPOGRAPHIE Blicken wir zunächst auf ein Portrait des Protagonisten Hacquet (zur Biographie siehe: Jakob 1930; Klemun 1988), dem dieses Symposium gewidmet ist. Nicht der „Stubengelehrte", wie wir sonst Gelehrte in der Regel abgebildet finden, tritt uns hier im Bild entgegen, sondern der neue Typus des „Geländeforschers". Er sitzt nicht mehr in seiner Studierkammer vor Büchern, sondern im Freien in der Nähe der Objekte seines wissenschaftlichen Begehrens. Belsazar Hacquet de La Mottes (1739/1740-1815) Portrait (Abb. 1; Stich vonj. S. L. Halle nach einer Zeichnung von Thomas Klimesch 1793) zeigt uns den „Professor der Naturkunde", wie wir ihn uns im Gebirge vorstellen würden: mit einer warmen Mütze und einem Pelzrock. Das Oval des Portraits ist direkt in den Felsen eingelassen. Er ist quasi in Stein verewigt. Sein Konterfei hat sich in jenes Material transformiert, nämlich in das Gestein, dem er sein ganzes Leben große Aufmerksamkeit schenkt. Barometer, Hammer und Steigeisen, die maßgeblichen Instrumente seiner Arbeit, sind ebenfalls als Insignien seiner Person und seiner Tätigkeit abgebildet. Besonders augenfällig ist das Barometer, mit dessen Hilfe es Hacquet möglich wird, erstmals auch die Höhen der Berge zu bestimmen. Aber dazu noch später. Abb. 1: Belsazar Hacquet, Stich von f. S. L. Halle (1797) nach einer Zeichnung von T. Klimesch (1793) (Osterreichische Nationalbibliothek Wien, Porträtsammlung, Bildarchiv und Fidei-kommißbibliothek ) Fig. 1: Belsazar Hacquet, engravingby f. S. L. Halle (1797) on the basis of a drazuing by T. Klimesch (1793) (Osterreichische Nationalbibliothek Wien, Porträtsammlung, Bildarchiv und Fideikommißbibliothek ) Vergleichen wir diese Pose mit Portraits von anderen Gelehrten oder Naturforschern, oder auch Hacquets großen Vorbildern, Johann Jacob Scheu-chzer (1672-1735) und Horace Bénédict de Saussure (1740-1799), so sehen wir, dass diese in ähnlicher Weise abgebildet sind. In einem Stich (Abb. 2; das Bild ist von Melchior Füßli gezeichnet, von Josef Nutting radiert) ist der Arzt und Naturforscherjohann Jacob Scheuchzer mit den Attributen seiner Tätigkeit umgeben, einer Pflanze (dem Er-yngium alpinum L., Alpen-Mannstreu oder Alpendistel), die er in der Hand hält, einem Ammoni-ten, einem Kristall, einer Muschel, einem Ge- 27 Hacquetia 2/2 » 2003 Abb. 2: Porträt von Johann Jacob Scheuzer, gezeichnet von M. Füßti, gestochen von J. Nutting (Osterreichische Nationalbibliothek Wien, Porträtsammlung, Bildarchiv und Fideikommißbi-bliothek ) Fig. 2: Johann Jacob Scheuzer's portrait, engraving by J. Nutting afier a drawing of M. Füßli (Osterreichische Nationalbibliothek Wien, Porträtsammlung, Bildarchiv und Fideikom-mißbibliothek ) steinsschliff und einer Koralle. Diese Studienobjekte sind in einem Dreieck angeordnet, dessen Höhe vom Wasserfall im Hintergrund dominiert wird. Die Kette der Wesen, die gängige Vorstellung, dass alle Naturerscheinungen eine hierarchische Stufenleiter bilden, ist damit angesprochen (Lovejoy 1933). Die zugrundeliegenden Gedanken der Physikotheologie visualisiert der Wasserfall im Sinne der Fülle („Wasserschatz"), der Kontinuität (Kreislauf des Wassers) und der Abstufung (Katarakte). Der Wasserfall steht für die Hochge-birgsforschung. Für diesen Forschungsbereich wird Scheuchzer von den nachfolgenden Generationen von Naturforschern in der Schweizer Fachliteratur als Begründer genannt, im Unterschied zu seinen geognostisch-paläontologischen Ansätzen, die schon zu seinen Lebzeiten belächelt worden sind (Blei 1980: 150). (Er hat das fossile Skelett eines Lurches aus dem obermiozänen Süßwas- serkalk von Öhningen am Bodensee für traurige Reste eines in der Sintflut umgekommenen Sünders - später Andrias Scheuchzeri genannt - gehalten). Ist die Natur bei Scheuchzer nur statisch angedeutet, so bildet sie im Portrait von Horace Benedict de Saussure (Abb. 3; Stich von Chr. de Me-chel) einen lebendigen Hintergrund. Die Alpendistel, die Scheuchzer in der Hand hält, ist im Falle Saussures ebenfalls im Bild, allerdings nicht abgepflückt, sondern als Teil einer angedeuteten Vegetation. Saussure richtet seinen Blick in die Ferne auf Gipfel. In einer Hand hält er einen Sondierstab, den er in den neuen Räumen (der Gletscherwelt) seiner wissenschaftlichen Arbeit einsetzt, und daneben liegt der Geologenhammer, die neue Dienstmarke des Mineralogen. Im Portrait Scheuchzers sind die Objekte vor dem Gelehrten aufgelegt, Saussure sitzt hingegen auf einem Felsstück, die Natur obwaltend. Weitere Fundstücke (Kristalle |i,l*J>K S A ? * S S t ' H B Abb. 3: Porträt von Horace-Bénédict de Saussure, gestochen von Chr. de Meckel (Osteneichische Nationalbibliothek Wien, Porträtsammlung, Bildarchiv und Fideikomrnißbibliothek) Fig. 3: Horace-Bénédicte de Saussure's portrait, engraving by Chr. de Meckel (Österreichische Nationalbibliothek Wien, Porträtsammlung, Bildarchiv und Fideikomrnißbibliothek) 28 Marianne Klemun: Raumkonzepte im Werk Belsazar Hacquets und Fossilien) liegen neben ihm. Saussure ist also inmitten seiner Arbeit im Freien dargestellt. In Hacquets Darstellung ruht der Blick des Betrachters wohl nicht zufällig auf dem Barometer. Die Parallele bzw. die Steigerung der Aussage durch die erwähnten Portraits sind kein Zufall. Sie demonstrieren, dass Geländearbeit im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einer essentiellen Qualifikation des Naturforschers avanciert (Rudwick 1996: 267 ff). Bei Scheuchzer finden wir die altbewährte Technik der Datenkompilation und die neue Empirie nebeneinander. Saussure verlässt sich nur mehr auf das, was er selbst gesehen hat. Es ist bezeichnend, dass gerade er, fast am Ende seines Lebens, einen Leitfaden für den im Gelände arbeitenden Geologen verfasst. Mit etwa zweihundert Fragen und Problemstellungen soll der Forscher, der „so verwickelte Gegenstände untersuchen will" (Saussure 1799: 15), ausgestattet werden, damit er der Vielfalt der Natur im Gelände gewachsen ist. Damit wird die allgemeine Apodemik noch für den Mineralogen spezifiziert und die Tätigkeit selbst professionalisiert. Zwar haben Gelehrte auch zuvor schon Reisen in die Natur unternommen, um Mineralien in Bergwerken zu erhalten und ausgewählte, ästhetisch ansprechende Arten im Mineralienkabinett zu versammeln, aber nun bekommen auch die „gemeinen" Gesteine, sozusagen die ganze Ausbeute, Gewicht. Und die Mineralien oder Gesteine werden nicht mehr isoliert von seinem Herkunftsort klassifiziert, sondern das Fundareal muss in Beziehung zum Fundstück gestellt werden. Wie Johann Charpentier (Charpentier 1778; Engewald 1980) trägt auch Hacquet die Verteilung von Mineralien und Gesteinen den topographischen Gegebenheiten entsprechend in eine Karte ein (Mappa Litho-Hydrographica Nationis Slavicae, gezeichnet von Lieber zu Laibach 1782. Kupferstich in: Hacquet 1784a, 3). Er fixiert die Fundstücke im Kontext des Raumes. Die Verbindung zwischen dem Fundstück und dem Terrain stellt Hacquet stets auf seinen mineralogischen Reisen her. Diese Praxis wird zur entscheidenden Dimension seines Aufschreibemusters, das er in seinen wissenschaftlichen Texten belegt. Raum und Belegstück kommen in Beziehung, sie verweisen aufeinander. Die registrierende auf den Raum bezogene Form des Mineraliensammelns entspricht nun auch der registrierenden Funktion des Reisens selbst: Hacquets besondere Sorgfalt gilt der Bodenbeschaffenheit. Jede aufgefundene Gesteinsart analysiert er nach Zusammensetzung und Struktur und gibt sie minuziös in seinem Reisebericht seinem Weg entlang wieder. So beteuert er auch, er habe alles „an Ort und Stelle aufgezeichnet." (Hacquet 1785). Noch ausführlicher wird Hacquet in der Beschreibung der von ihm besichtigten Bergwerke und der dort abgebauten Erze. Das Wachstum von Pflanzen, als Beispiel nennt er Speik, macht er von der Bodenbeschaffenheit abhängig. Damit zählt Hacquet zu den ersten Botanikern, die diesen Zusammenhang explizit aussprechen. Fünfzig Jahre später wird Franz Unger die Bodenabhängigkeit der Pflanzen in ein Gesetz bringen und damit die Pflanzenökologie begründen. 4. ORIENTIERUNG IM RAUM: EIGENE GEHWEGE STATT DES LINEAREN POST- UND STRAßENSYSTEMS Hacquet bereist in einem Zeitraum von zwanzig Jahren einen Großteil des heutigen Mitteleuropas, meist zu Fuß, oft hat er auch seine „Rosinante", sein Ross dabei, dem das Gepäck aufgeschnallt ist. Der „Endzxoeck [... des Reisens ist, sich, M. K.] aus der Natur zu belehren" (Hacquet 1778, 1: XIV; der Begriff wurde von Aristoteles eingeführt, „orykta" = gegrabene Stoffe, nicht schmelzbare Steine und Erden!) und diese Praxis macht ihn zum ,,wahre[n] Physiker und Mineralog" (Hacquet 1791: 3f.), wie es Hacquet ausdrücklich betont. Auf einen Uberblick der Reise- und Forschungstätigkeit Hacquets möchte ich in diesen Rahmen verzichten. Ich habe das an anderer Stelle bereits ausführlicher beschrieben (Klemun 2000: 84-92). In der Regel sind es die Postrouten, die den Verlauf der Bildungsreise eines Gelehrten bestimmen. Die Distanz von einem Pferdewechsel zum nächsten bildet die wichtigste Bezugsgröße der Raum- und Zeitbewältigung während einer solchen Reise. Während des 18. Jahrhunderts kommt es zu einer Verdichtung des Postnetzes und Beschleunigung des Kutschenverkehrs. Aber gerade diesen Fortschritt der Raumerschließung versagt sich Hacquet bewusst. Er wählt die gesellschaftlich wenig angesehene Form der Fortbewegung, die Fußwanderung. Auf die eigenen Beine angewiesen sind ansonsten nur wandernde Handwerker, Unterkunftslose und vagierende Händler. Bürger hingegen bewegen sich mittels eines Wagens oder der Post. Die Fußreise ist aber die bindende Voraussetzung, um in schwer erreichbare Seitentäler zu gelangen und dieses Gelände dem forschenden 29 Hacquetia 2/2 » 2003 registrierenden Blick zu unterwerfen. Besonders ist zu betonen, dass sich Hacquet damit von vorgegebenen kulturellen durch das Straßensystem geprägten Raumstrukturen unabhängig macht, um eigene Leitlinien der Landstriche bestimmen zu können. Der durchschnittliche Bildungsreisende der Zeit versichert sich mit einem Blick auf die Postnetzkarte der Übersichtlichkeit der vorgegebenen Strecken, gleichwohl diese die tatsächliche über Stock und Stein führenden holprigen und kurvigen Trassen in eine imaginäre Linearität verwandeln. Hacquet hingegen bemüht sich in seinen Texten, die dem Gelände angemessenen subjektiv gewählten Wege zu dokumentieren. Damit entsteht das Terrain im Kopf nicht planiert, sondern als ein von Höhen, Tälern und Gebirgszügen durchsetztes komplexes Gebilde. Uberqueren von Gebirgen, Umrandungen von Bergen, Richtungswechsel und Zick-Zack-Wege sind nicht nur Teil seiner Gehpraxis, sie schreiben sich in den Text ein, um die Struktur des alpinen Raumes zu untermauern. Mit Richtungsangaben, die da lauten, „Nordnordwest", wird der Leser soweit durchwegs versorgt, dass auch er der Evidenz von Orientierung unterstellt wird. So betont Hacquet, er habe seine Erkundungszüge „in der Schneide der Alpkette nach der Länge vollzogen [und nicht nur, M. K] auf den Gehängen der Gebirge" (Hacquet 1785: IX). 5. PHYSISCH-GEOGRAPHISCHE LEITLINIEN ANSTATT POLITISCHER LANDESGRENZEN Von Staats- oder Landesgrenzen läßt sich Hacquet nicht beeindrucken oder gar soweit einschränken, dass er eine Beschreibung ausschließlich auf einen politisch definierten Raum beziehen würde. Es sind die natürlichen Gegebenheiten, die Physik der Erde, denen er zu folgen gedenkt und diese politisch willkürlichen Abgrenzungen, wie er meint, „nicht allemal gestatten kann" (Hacquet 1778, 1: XIV). Damit hebt er den natürlichen Raum über den politisch-definierten. Auch in seinem Werk „Oryctographia Carniolicci", in dem er einen „Grundriß der Physikalischen Erdbeschreibung unsers Landes" (Hacquet 1778, 1: VII) darstellen möchte, kommt er weit über die Landesgrenzen des damaligen Kronlandes hinaus. Die Routen der Reisen richten sich nach Bergwerksorten; diese sind die anziehenden Punkte für seine Unternehmungen. Sie bilden quasi die Knoten seiner Netze, die er über den natürlichen Raum spannt. Grundsätzlich geht es Hacquet um die Feststellung, wie die Gebirge verlaufen, so verschafft er sich - um ein Beispiel zu nennen - vom Loiblpass aus einen ersten Uberblick: „Hier auf dem Gebirge konnte ich die Theilung der Alpkette sehr deutlich sehen, ... indem ich hier alle die Vorgebirge übersehen konnte" (Hacquet 1778, 1: 33). Von der Einzelbeobachtung fasziniert, verliert er sich oft in Details. Einen theoretischen Uberbau, auf den alle Aussagen hinauslaufen, wird man vergebens bei ihm suchen. Jedoch macht er auf dem Weg nach Villach z. B. die zutreffende Beobachtung, dass der westliche Teil des Klagenfurter Beckens von einer großen Zahl von Hügeln verschiedenster Gesteinsarten durchzogen ist, ja er erkennt sogar in der Ebene von Villach die Drau als Grenze zwischen Kalk-und Schiefergebirge, denn „alles, xuas links des Flusses liegt, nämlich gegen Morgen, ist meistens kalkartig... hingegen luas rechts, oder gegen Abend und Mitternacht liegt, ist, wie gesagt, Quarz, oder Kieselschiefer" (Hacquet 1784b: 22). Wohl den besten Uberblick der Gebirgswelt, weit über die Ostalpen hinaus, verschafft sich Hacquet auf Reisen durch Friaul, Krain, Tirol, die Schweiz und Bayern in den Jahren 1781 und 1783, die er im Werk „Physikalisch-Politische Reise" publiziert. Aus den vielen Beobachtungen ist die über das Phänomen Karst hervorzuheben, da sie nachhaltigen Einfluss auf die Forschung der Folgezeit ausübt. Als erster stellt Hacquet die Entstehung der später als Dolinen und Poljen bezeichneten Hohlformen des Karstes als Ergebnis von Einstürzen unterwaschener Schichten dar. Auf dem Rückweg seiner ausgedehnten Reisen wählt Hacquet den Katschberg als Ubergang von Salzburg nach Kärnten. An dieser Stelle trifft er die Feststellung, dass die Höhe der Bergkette beträchtlich ist, sie aber „wenn sie gegen ihr Ende zugehet, als derjenige Theil, xuelcher einen grossen Theil von Oesterreich und Steyermark ausmachet, und sich in der grossen Fläche von Hungam und Oesterreich endiget", eine „mindere Höhe" (Hacquet 1785, 2: 205) aufweist. Um das „blose Gerippe von der Alpkette" (Hacquet 1791: 2), das er in seinen bisherigen Arbeiten liefert, noch zu vervollständigen, unternimmt Hacquet in den Jahren 1784 bis 1786 jeweils eine weitere „Reise durch die Norischen Alpen". Nach seinem Rückweg durch die Steiermark, über die Saualpe an die Drau, schließt Hacquet mit der Einteilung in drei Hauptzonen Kalk - Granit - Kalk, gewisser- 30 Marianne Klemun: Raumkonzepte im Werk Belsazar Hacquets maßen als zusammengefasstes Ergebnis seiner Beobachtungen diesen Reisebericht ab. Bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts ist die Frage nach einer Gliederung der Ostalpen nicht aufgeworfen worden. Man hat die Alpen als homogene Masse betrachtet, die sich vom Norden nach Süden erstreckt. Die schon von den Römern mittels Namensgebung unterschiedenen Gebirgsgruppen stellen noch keineswegs einen ersten Einteilungsversuch dar. Es bleibt den in Kärnten wirkenden Lokalforschern Belsazar Hacquet und dem Bleiberger Bergrichter Karl von Ployer (1738-1812) (Klemun 1993, 2: 408-423) vorbehalten, das erste richtige, übersichtliche Gesamtbild der „die Ostalpen beherrschenden grossen physisch-geographischen Leitlinien" (Schichl 1950: 145) zu entwerfen. Hacquets registrierende Betrachtung entspricht neuzeitlicher wissenschaftlicher Neugier. Ihm bereitet es insofern ein „Vergnügen", die höchsten und unbetretenen Gipfel zu erreichen, als er dadurch befähigt wird, „über das umliegende Gebirge weg zu sehen" (Hacquet 1784a, 3: 93), da er sich von dort aus einen besseren Uberblick über die physische Geographie einer Gegend verschaffen kann: „Ich nahm mir dießmal bey Besteigung des Berges vor, wo es möglich wäre, bey Sonnen Aufgang auf den letzten Gipfel des Berges zu seyn, um bey dieser Gelegenheit die richtige Lage des Bergs Klokner, Snisnik ohnweit Fiume, Grindouz undDobratsh[l] abnehmen, und um diese Gebirge in ihrer xuahren Lage gehörig aufs Pappier auftragen zu können." (Hacquet 1784a, 3: 93). 6. HÖHE ALS EINE NEUE DIMENSION DES RAUMES: VOM GIPFELCHAOS ZUR GIPFELHIERARCHIE In seinem Werk „Oryctographia Carniolica"erläutert Hacquet seine spezifische Vorgangsweise, er werde „in tiefsten Flächen anfangen ... und dann stuf emueise bis zur Spitze unserer Alpkette steige[n] " (Hacquet 1778, 1: XV). Demnach richtet er seinen Weg nach der Steigerungsmöglichkeit seiner Erkenntnis ein. Entscheidend wird damit für ihn die Kategorie Höhe, die nicht mehr wie bisher nur relativ, sondern absolut gesetzt und gemessen wird. Programmatisch setzt Hacquet für seine Reise vom Triglav zum Glockner die zwei höchsten Berge der Norischen Kette in den Titel seiner Publikation und quasi als Leitpfosten an den Rändern des von ihm definierten Raumes. Die dritte Dimension kommt hier neu ins Spiel, weil sie sich am besten dafür eignet, im Durcheinander der Berge Außergewöhnliches von Gewöhnlichem zu unterscheiden. Die Höhe bringt in das Chaos der Berge eine Rangordnung. Und das ist erst Mitte des 18. Jahrhunderts notwendig, als die zuvor unbeachteten Berge allgemein ins Bewußtsein der Bildungsbürger geraten. Höhendifferenzen können generell auf ganz verschiedene Arten bestimmt werden. Zum Nivellement, einem geometrischen Verfahren zwischen ausgewählten Höhenfestpunkten, werden unterschiedliche Nivellierinstrumente verwendet. Bei der trigonometrischen Höhenmessung stellen Winkelmessgeräte eine Voraussetzung dar. Man bestimmt Höhenunterschiede mit beliebig zur Talhöhe liegenden Geraden, deren Neigungswinkel gegen die Höhe ermittelt werden. Trigonometrische Höhenbestimmungen werden seit dem 18. Jahrhundert durchgeführt, unter anderem bei der von La Condamine geleiteten französischen Grad-messungs-Expedition in Peru (1735-43), bei der die Höhe des Chimborazo auf 3220 Toises (= ca 6279m, tatsächlich 6310 m) festgestellt worden ist. Im 18. Jahrhundert gilt der Chimborazo als der höchste Berg der Welt. Nach Erfindung des Quecksilberbarometers durch Galilei (1638) und Toricelli (1643) wird das Instrument auch für die barometrische Höhenmessung genutzt. Die Vermessungsart beruht auf der Erkenntnis, daß der Luftdruck bei einer Veränderung der Höhe von ca 12 m um 1 mm ab-oder zunimmt. Mariotte (1676) entwickelt eine erste Formel der Berechnung, und Johann Jakob Scheuchzer wendet sie auch praktisch in den Bergen der Schweiz an. In der Folge beschäftigen sich nahezu alle großen Astronomen bzw. Geodäten mit der Verbesserung dieser Formel, Cassini (1733), Daniel Bernoulli (1738), Pierre Bouguer (1749) und Tobias Mayer in Göttingen (1769). Pierre Bouguer (Bouguer 1749, 4: 39 f.), La Condamines Begleiter, hat als Ergebnis seiner in Peru gemachten Erfahrungen eine einfach nachvollziehbare Regel einer Berechnung der Höhe aufgestellt, die wegen ihrer einfachen Handhabung gerne angewendet worden ist (Zur Berech-nungsart: Gehler 1781-1796, 2: 619 f., s.v. Höhenmessung, barometrische). Höhenbestimmungen sind bis dahin nur an wenigen Gipfeln in den Westalpen - besonders durch Scheuchzer und Saussure, die großen Vorbilder - durchgeführt worden, die Höhe keines einzigen bedeutenderen Ostalpengipfels ist bis dahin allgemein bekannt gewesen (Schichl 1950: 178). Auch bei der Josephi- 31 Hacquetia 2/2 » 2003 nischen Landesaufnahme sind die Höhenverhältnisse noch unberücksichtigt (Schichl 1950: 178) geblieben. Der Genfer Uhrmachersohn Jean An-dré Deluc (1727-1817), der sich später als Meteorologe (Deluc 1772), Geologe und Konstrukteur von wissenschaftlichen Instrumenten in London einen Namen machen sollte, versucht sich in den 50er Jahren in Genf mit Barometermessungen. Er entwickelte eine Formel, die eine Korrektur der Ergebnisse gewährleistet und die von nun an allen Geodäten eine relativ sichere Möglichkeit bietet, Höhen zu bestimmen. In einer Arbeit zur Geschichte der „Bestimmung der Höhenkote Großglockner" ist die Meinung vertreten worden (Roth 1983: 4), dass die erste dokumentierte Aussage über die Höhe des Glockners, die auf Hacquet zurückgeht (Hac-quet 1791: 115), er spricht hiervon etwa 2000 Lach-ter) und die sehr nahe an den heutigen Wert herankommt, zufällig entstanden sei. Hacquet gibt tatsächlich als Begründung nur die Höhe der Sonnenstrahlen an. Es ist aber begründet anzunehmen, dass Hacquet auch Barometermessungen durchgeführt hat, weil er sie jedem naturforschenden Reisenden empfiehlt und sich auch immer wieder darauf im Text auf das Instrument, zum Beispiel im Falle des Triglav (Hacquet 1784a, 3: 94), bezieht. Die Berechnungsformel von Deluc wird er aber nicht angewendet haben, allerdings hat er selbst ein „Delucisches Barometer" besessen (Hacquet 1784b: 75). Hier bereut er die Tatsache, dass er das Barometer von Deluc nicht bei sich habe). 7. ANEIGNUNG FREMDER, NOCH NICHT DEFINIERTER ZONEN Im ausgehenden 18. Jahrhundert existieren im Herzen von Europa, im Gebirge, aus der Sicht des Kulturbürgers Zonen, nämlich die Gletscher, die sich als noch vollkommen unbekannt erweisen. Ein Vorstoß in diese Zonen erweckt deshalb Interesse, weil der Bürger seinen eigenen vergesellschafteten Raum somit zeitweise verlassen (Großklaus 1983a: 182) und auf dem Weg zum sozialen Aufstieg seine emanzipatorischen Vorstellungen gemäß eigenmächtig handeln kann. Wie Eichberg (1983: 197-230) in einer interessanten Studie zeigt, ist die Aneignung von Naturräumen durch den „Kulturbürger" nicht Folge einer ökonomischen Veränderung und auch nicht einer verkehrsmäßigen Erschließung, sondern beide Phänomene folgen erst dem Wandel des Sehens und Wahrnehmens sowie „einer Revolution des gesell- schaftlichen Raumes" (Eichberg 1983: 201). Wissenschafter und Intellektuelle stellen sich bewusst dem der Nutzbarkeit entzogenen Neuland, sei es der Heide, der Wüste oder den eisigen Arealen in den Alpen - der Herausforderung „Neuheit", die sie infolge ihrer Bildungsansprüche mit gesteigerter Aufmerksamkeit befriedigen können. Schrittweise etablieren sich neue Wahrnehmungsmuster (Großklaus 1983b). Gleichzeitig werden noch ganz andere, bislang nicht beachtete Dimensionen des Raumes erobert, nämlich die Luft mit den ersten Ballonflügen und die Küsten des Meeres durch die Errichtung erster Seebäder. Die Gletscher, eine Extremform der Natur, die vom Menschen ganz unberührt geblieben ist, reizen auch Hacquet besonders. Vom Mölltal aus benützt er den schon von älteren Zeiten her bekannten Weg der Bergknappen zu den hoch gelegenen Gruben auf der Goldzeche. In deren unmittelbarer Nähe kann er die Gletscher betreten. Er nennt die Klüfte auch „Todtengrüfte" (Hacquet 1784b: 73). Seine Schilderung der mutigen Gletscherannäherung mündet in Diskursen über die Gletscherphysik. Er weiß von der Gefährlichkeit der Spalten zu berichten und beobachtet, dass diese Klüfte nie geradlinig, sondern „wellenförmig" (Hacquet 1784b: 74) verlaufen. Die Entstehung der Spalten führt er auf die Winterwitterung zurück. Die politische Rolle dieses Fremd-Natur-Rau-mes ist nicht Nostalgie oder Flucht, sondern, wie Großklaus meint, die Notwendigkeit, „jenes Gegen-Territorium abzugeben, in das eine frühbürgerliche Avantgarde ihre sinnlich-ästhetischen Probehandlungen hineinverlegt" (Großklaus 1983b: 271). Dieser noch als frei identifizierte Raum wird zum „Projektionsfeld und Probierfeld gesellschaftlicher Emanzipationswünsche" (Großklaus 1983b: 271). Die „gleichsam [sich, M. K] selbst überlassene Natur" (Wyttenbach 1781) -wie es Wyttenbach in seinem Vorwort zu Saussures Werk formuliert - fasziniert den Bürger, der im Begriffe ist, die Gesetze einer neuen bürgerlichen Gesellschaft selbst zu definieren. Hacquet ist der Prototyp des bürgerlichen Avantgardisten. Als Arzt in Idria (Idrija, Krain, heute Slowenien) und als Lehrer in Laibach (Ljublana) legt er sich mit seinen Vorgesetzten an, um Missständen entgegenzuwirken. Mit der Kirche gibt es andauernd Streit. Hacquet schreibt darüber selbst: „Die Mönche tobten öffentlich in den Kirchen mit ihren vom Schzveis des armen Landmannes gemästeten Wames gegen mein Betragen, um dem Volk das Gehirn zu verrücken, und es xoicler mich recht christgeistlich aufzuwiegeln, ja diese liebe Geistlichkeit hat es bey dem Fürst 32 Marianne Klemun: Raumkonzepte im Werk Belsazar Hacquets Bischöfe in G ... und seinem präsidirenden Weihbischofe E... so toeit gebracht, daß sie mich für einen Ketzer nichts mehr, nichts weniger hielten" (Hacquet 1789, 4: Vorrede) . Wie im sozialen Umfeld geht er auch in seiner alpinen Forschung im wahrsten Sinne des Wortes eigene Wege. Ein bürgerlicher Aufklärer, der sich zum Anwalt gegen die Bleivergiftungen der Knappen erklärt (Lesky 1956: 31) und der sich in seinen wissenschaftlichen Arbeiten nur auf das beruft, was er unterwegs selbst bemerkt haben will und bewusst notiert. 8. SUMMARY Space concepts in the work of Belsazar Hacquet This paper is dedicated to the spacial concepts described in Belsazar Hacquet's work. Those spacial concepts are not seen as essentialist or naturally material category, but as concepts that are being culturally newly defined, depending on actions, formed by processes. My reflections are based on a system of coordinates, which is formed by the practice of travelling on the one hand and the system of inscription on the other hand. I want to distinguish between six different aspects: 1. Large and small spaces - European expansion and the invention of ,,region"as a strategy of evidence At Hacquet's times travelling became the most important source of gaining knowledge. In competing with each other, the European powers concentrated on areas outside Europe. And while there was an expansion of knowledge, there was also a deepening of it at the same time, the consequence of which was the discovery of the province. Hacquet played an important role in this process. 2. Fieldwork - petrology and its relationship to topography The fact that field work, i.e. the movement of the researchers in space, was evaluated anew can be noticed when looking at the portraits of three scholars (J. J. SCHEUCHZER, H. B. DE SAUS-SURE, B. HACQUET). Here, the insignia and the instruments of the new method, a miner's hammer, a barometer, glacier stick, play a vital role, since they signal that scientific activity, measurement of altitude and probing of glaciers can only take place in nature itself. The collected minerals are considered as their relationship to space. Afterwards, Hacquet enters them into a lithological map. 3. Orientation in space: Individual paths instead of linear post and street systems Contrary to many other travelling scholars of his time, Hacquet acts independently of the cultural space structures defined by the street system in order to be able to determine his own lines of orientation. In his texts, he tries to document the subjectively chosen paths that he selects according to the respective area in a way that the landscape does not appear to be plane or linear in the reader's mind, but that one has an image of a complex formation characterized by heights, valleys and mountain ranges. 4. Physical-geographical guidelines instead of political borders Hacquet does not differentiate according to political borders but according to frequently occur-ing minerals and rocks in the respective mountain ranges. One of the main goals in his research by giving a rough overview over the mountain ranges in Central Europe, is the categorisation of the East Alps into three main zones: lime - granite - lime. 5. Height as a new dimension of space: from the chaos of peaks to the hierarchy of peaks For the purposes of his journey from Triglav to GroBglockner, Hacquet uses the two highest mountains of the "Nordic chain" in the title of his publication and places them very effectively at the edges of the space defined by him. The third dimension, height, is a new parameter here. It can be used as a defining criterion in order to distinguish the ordinary from the extraordinary in the chaos of mountains. Hacquet pays special attention to the heights by using his barometer observations. 6. Exploration of unknown, hitherto undefined zones According to Hacquet, the unexplored zones in the heart of Europe that exist at the end of the 18lh century, i.e. the glaciers, are becoming a field of exploration for the rising bourgeoisie and the prototypes of the avant-garde, a field in which they can carry out their critical experiments. 33 Hacquetia 2/2 » 2003 10. 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