05-Hofer 77-91 09.01.2007 10:29 Page 77 o- RAZPRAVE IN ČLANKI Janez Höjler., Ljubljana ZUM EINFLUSS DES MEISTERS E. S. AUF DIE NIEDERLÄNDISCHE MALEREI: DER TOD MARIENS DES HUGO VAN DER GOES IN BRÜGGE* Jörg Traeger (1942-2005) in memoriam Soweit dem Autor dieser Zeilen bekannt, sind die ungewöhnlichen Positionen der trauernden Apostel in der Darstellung des Marientodes des Hugo van der Goes im Groeningemuseum in Brügge bisher - auch in der neuesten Monographie von Elisabeth Dhanens von 19981 - noch nicht als bildkünstlerisches Problem aufgefasst worden. Die Fragen, die sich die Forschung um die mittelgroße, aus der Zisterzienserabtei in Koksijde stammende und den Tod der Muttergottes im Beisein der zwölf Apostel schildernde Brügger Tafel2 (Abb. 1) stellte, kreisten vor allem um die beachtenswerte Komposition mit * Der vorligende Text wurde auf dem Symposium zu Ehren von Jörg Traeger zum 60. Geburtstag am 1. Februar 2002 in Regensbug vorgetragen und wird hier unbedeutend ergänzt veröffentlicht. 1 Elisabeth Dhanens, Hugo van der Goes, Antwerpen 1998, S. 356-358. Die Autorin hält sich nur bei den expressiv wirkenden Händen der Apostel mit den gespreizten Fingern auf, die sie auf eine einheimische Genter Tradition zurückführt. 2 Brügge, Groeningemuseum; Eichenholz, 147,8 x 122,5 cm, vorwiegend als Spätwerk um 1480-1482 datiert; Les Primitifs Flamands: Corpus de la peinture des anciens Pays-Bas méridionaux au quinzième siècle, 1: Le Musée communal de Bruges, Anvers 1951, S. 50 ff. Siehe u. a. Joseph Destkée, Hugo van der Goes, Bruxelles - Paris 1914, S. 123-127; Max J. Friedländer, Die altniederländische Malerei, IV: Hugo van der Goes, Berlin 1926, S. 49-51, 127 Nr. 14; Erwin Panüfsky, Early Netherlandish Painting: Its Origins and Character, Cambridge/Mass. 1953, I, S. 337-338; Friedrich Winkler, Das Werk des Hugo van der Goes, Berlin 1964, S. 75-80; Max J. Friedländer, Early Netherlandish Painting, IV: Hugo van der Goes (Comments and Notes by Nicole Veronee-Verhagen), Leyden-Brussels 1969, S. 31-32, 70 Nr. 14; Jochen Sander, Hugo van der Goes: Stilentwicklung und Chronologie, Mainz 1992, 2. Auflage 1996, S. 249 ff. und passim; Otto Pächt, Die altniederländische Malerei: Von Rogier van der Weyden bis Gerard David (hrsg. von Monika Rosenauer), München 1994, S. 199 ff.; Hans BeiTiNg, Christiane Kruse, Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei, München 1994, S. 242; Dhanens (wie Anm. 1), S. 333-360. 77 05-Hofer 77-91 09.01.2007 10:29 Page 78 O RAZPRAVE IN ČLANKI Abb. 1 Hugo van der Goes, Tod Mariens. Brügge, Groeningemuseum dem kühn in den Raum hinein angeordneten Sterbebett Mariens und den daraus resultierenden Verkürzungen. Da eine solche Komposition, die für diese Zeit einmalig zu sein schien, auch in einem frühen und einflussreichen Stich Martin Schongauers (B. 33, L. 16) vorkommt (Abb. 2), rätselte man, wem eigentlich, Schongauer oder dem Niederländer, diese Bilderfindung zuzuschreiben sei. Heute steht mehr oder 78 O 05-Hofer 77-91 09.01.2007 10:29 Page 79 O RAZPRAVE IN ČLANKI Abb. 2 Martin Schongauer, Tod Mariens (Kupferstich B. 33 / L. 16). weniger fest, dass das etwa ein Jahrzehnt früher entstandene Blatt nichts mit Goes - und umgekehrt - gemeinsam hat und dass Schongauer hier an ein älteres, inzwischen schon gut verbreitetes Bildmuster, möglicherweise von Rogier van der Weyden, angeknüpft hat, das in einer Miniatur von ca. 1455 in einer Abschrift der Fleure des Histoires von Jean Mansel in Brüssel, Bibliothèque Royale Albert Ier, Ms 9231, vorliegt.3 Demgegenüber findet sich eine dem Brügger Bild ähnliche Darstellung der sterbenden Gottesmutter am Wolfgangsaltar Michael Pachers in St. Wolfgang am Abersee (Abb. 3). Wie unlängst von Artur Rosenauer aufgezeigt,4 kann dabei weder Hugo van der Goes 3 Charles Steeling, Pour Jean Changenet et Juan de Nalda, L'Oeil, 217/218 (1973), S. 4-19, speziell S. 14-16; dazu Sandee (wie Anm. 2), S. 206 ff., mit einer Übersicht früherer Meinungen. 4 Artur Rosenauee, Michael Pacher und Italien, Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte, L, 1998, S. 119-130 (124 ff.). 79 05-Hofer 77-91 09.01.2007 10:29 Page 80 O RAZPRAVE IN ČLANKI Abb. 3 Michael Pacher, Tod Mariens. St. Wolfgang am Abersee, Hochaltar noch Schongauer vorbildlich gewesen sein, sondern ein zerstörtes Wandgemälde Andrea del Castagnos in Santa Maria Nuova in Florenz, das in einer Paraphrase von Ercole de' Roberti in Sarasota (allerdings auch nur eine Kopie) vorzuliegen scheint. Es bleibt noch zu erörtern, ob dieses Vorbild bei einer so eindeutigen Übereinstimmung mit der 80 O 05-Hofer 77-91 09.01.2007 10:29 Page 81 RAZPRAVE IN ČLANKI Brügger Gottesmutter und der Christuserscheinung über ihr, die bei Ercole zwar fehlt, jedoch, laut Vasari,5 in Castagnos Fresko zu sehen war, auch Hugo van der Goes bekannt gewesen sein könnte, was in der Forschung allerdings noch nicht angeschnitten wurde. Wie auch immer, auf einer allgemeinen bildkünstlerischen Ebene war es die höchst intensive Gestaltung der Spannung zwischen der leidenschaftlichen Anteilnahme der Apostel am Geschehen und der übernatürlichen Erscheinung Christi über der Sterbenden des Brügger Gemäldes, die von jeher die Aufmerksamkeit der Forscher und Liebhaber der altniederländischen Malerei gefesselt hat. Seltener wurden die Fragen nach der Genese einzelner Typen, nach ihren möglichen Quellen und Ableitungen angeschnitten. Diese sind letzten Endes auch für die Œuvre-Chronologie des Hugo van der Goes relevant, in der unser Bild einen Platz in seiner spätesten Schaffensperiode einnimmt. Ich erinnere dabei an den weitgehend abgelehnten Versuch von Otto Pächt, der es für ein Frühwerk erklärt und auf dieser Basis die Goessche Chronologie auf den Kopf gestellt hat.6 Lassen sich die merkwürdigen Apostelgestalten mit ihren ausdrucksvollen Köpfen bereits in den früheren Werken des Künstlers nachweisen und von dort ableiten, oder hat man es dabei doch mit neuen Formen zu tun, die auch von außen her angeregt worden sein könnten? Schon auf den ersten Blick spürt man nämlich, dass die Apostel trotz ihrer Verankerung im Typenrepertoire des Malers - hier kann man etwa auf die Hirten und andere männliche Figuren des berühmten Portinari-Altars in Florenz von 1474 verweisen - doch in dem Maße neu sind, dass sie nach einer gesonderten Untersuchung verlangen. Die auffallend differenzierten Stellungen ihrer Körper und Glieder, die betont gegen den Körperrhythmus gesetzten Köpfe mit ihren von Mitleid erfüllten 5 Giorgio Vasari, Le vite de' più eccellenti pittori scultori ed architettori (hrsg. von Gaetano Milanesi), II, S. 677 («Intanto aveva Andrea nella sua fac-ciata fatto a olio la morte di Nostra Donna; nella quale ... si vede fatto con in-credibile diligenza in iscorto un cataletto, dentrovi la Vergine morta; il quale, anchorachè non sia più che un braccio e mezzo di lunghezza, pare tre. Intorno le sono gli Apostoli, fatti in una maniera, che sebbene si conosce ne' visi loro allegrezza di veder esser portata la loro Madonna in cielo da Gesù Cristo, vi si conosce ancora l'amaritudine dal rimanere in terra senz'essa.»). 6 Otto Pächt, Typenwandel im Werk des Hugo van der Goes, Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte, XXII, 1969, S. 43-58, dazu auch Pächt (wie Anm. 2), a. a. O. 81 -Q- 05-Hofer 77-91 09.01.2007 10:29 Page 82 O RAZPRAVE IN ČLANKI Gesichtern und mit in hohem Maße fast ans Karikierende grenzenden realistischen Gesichtszügen, weisen weder im eigenen Werk des Malers noch bei seinen niederländischen Vorgängern einen wirklichen Stützpunkt auf. Im Folgenden möchte ich kurz darauf aufmerksam machen, dass eine Erklärung dafür höchstwahrscheinlich in der Anlehnung an druckgraphische Vorlagen, und zwar aus dem Nachlass des Meisters E. S., zu finden ist. Die kompositorische Lösung des Marientodes mit den um das Bett stehenden, sitzenden, hockenden oder knienden Aposteln, wie sie im besprochenen Gemälde vorgeführt wird, hat bekanntlich eine lange Tradition. Meistens sind die Apostel bei verschiedenen, der Vorbereitung auf das letzte Ritual verbundenen Tätigkeiten festgehalten: beim Anzünden der Sterbekerze, dem Bereitstellen des Rauchfasses, versunken in Gebetbüchern oder nur die Hände faltend.7 Von diesen Motiven ist in Brügge eigentlich nur Petrus im Messgewand mit der 7 Siehe im allgemeinen Gertrud Schillee, Ikonographie der christlichen Kunst, Bd. 4,2: Maria, Gütersloh 1980, S. 131 ff. In der niederländischen 82 O 05-Hofer 77-91 09.01.2007 10:29 Page 83 RAZPRAVE IN ČLANKI Kerze, die er seinem Nachbarn zum Anzünden gibt, geblieben. Im Vergleich mit der Bildtradition überrascht es nämlich, wie der Maler die meisten Apostel in stummer Trauer um das Bett knien und ihre Hände darauf legen oder die bedeckten Füße Mariens liebevoll berühren lässt.8 Am auffallendsten aber sind die beiden vorderen Apostel (Abb. 4): Sie sitzen auf dem Boden mit halb ausgestreckten Beinen und entblößten Füßen, der rechte an der unteren Bettkante hat dabei den Oberkörper zur Seite gedreht und stützt sich mit der Rechten auf das Buch, das er aufgerichtet auf einen Zipfel seines Mantels gestellt hat. Die in ihren aparten Stellungen so herausgehobenen Apostel müssen eine starke Wirkung auf den damaligen Betrachter ausgeübt haben: Wie sehr auch die Komposition des Brügger Marientodes - von der eigentümlich verkürzten Figur der Gottesmutter im Bett abgesehen - noch in der oben erwähnten Rogierschen Bildüberlieferung verankert ist, so sprengt sie diese mit den völlig neu aufgefassten Aposteln, die wie nie zuvor mit einem so tiefen menschlichen Verhalten auf den nahen Tod der Gottesmutter reagierend dargestellt sind. Dennoch haben sie, wie es scheint, keinen direkten Nachklang gefunden.9 Malerei vor van Goes ist das Thema nur dürftig vertreten; die einzige bedeutende Darstellung bleibt jene von Petrus Christus in San Diego (Belting, Kruse, wie Anm. 2, S. 202 f.). 8 Man sieht, wie der Maler dabei darum bemüht war, die Hände aller Apostel dem Betrachter vorzuzeigen - eine Beobachtung, die ich Marylin Aronberg Lavin schulde. Das gilt auch für den Apostel im schwarzen Mönchsgewand links im Hintergrund, der als seine Selbstschilderung gelten darf (Dhanens, wie Anm. 1, S. 358 f.). 9 In diesem Zusammenhang wird immer wieder auf den Marientod des ehemaligen, 1489 datierten Hauptaltars der Nonnenklosterkirche von Lichtenthal, heute in Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle, hingewiesen (Jan Lauts, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe: Katalog Alte Meister bis 1800, Karlsruhe 1966, Bd. 1, S. 276-277, Bd. 2. Abb. S. 78-79). Aufgrund zahlreicher Vergleiche bei Sterling (wie Anm. 3) wird dieses Bild kaum noch auf einen Einfluss des Hugo van der Goes zurückzuführen sein, denn dessen Bestandteile, die z. T. auch bei Schongauer wiederkehren, sind sämtlich älteren Ursprungs; so auch der an der unteren Bettkante sitzende Apostel mit dem Buch, der übrigens ebenso in einem Gemälde aus Ossiach in Klagenfurt, Landesmuseum, von ca. 1500 vorkommt (Janez Höfler, Die Tafelmalerei der Dürerzeit in Kärnten 1500-1530, Klagenfurt 1998, S. 165 ff., Nr. 39; die dortigen Ausführungen sind in diesem Sinne zu präzisieren). Das gleiche gilt für die anderen von Sterling zitierten Beispiele; wenn der Autor dort von der Einwirkung des Brügger Bildes spricht, so tut er es, weil er mit Pächt an dessen Frühdatierung festhält. 83 -Q- 05-Hofer 77-91 09.01.2007 10:29 Page 84 O RAZPRAVE IN ČLANKI Abb. 7 Meister E. S., Hl. Matthias (Kupferstich L. 122) 84 O 05-Hofer 77-91 09.01.2007 10:29 Page 85 RAZPRAVE IN ČLANKI Im Gegensatz zu Schongauer ist im Œuvre des Meisters E. S. keine selbständige Darstellung des Marientodes überliefert und es wäre kaum zu erwarten, dass ein eventuell verlorenes Blatt dieses Bildthemas aus seinem Stichel in einer solch menschlichen Dimension aufgefasst wäre.10 Dennoch wird man auf diesen Meister aufmerksam, betrachtet man die beiden oben apostrophierten vorderen Apostel in ihrer Sitzposition auf dem Boden mit den halb ausgestreckten Beinen näher. Man braucht den Œuvrekatalog des Monogrammisten nicht lange durchzublättern, um auf solche Figuren zu stoßen. Es sind dies die sitzenden Apostel L. 112-123, konkret etwa der hl. Jakobus der Jüngere (L. 117) (Abb. 5) oder Johannes Evangelist (L. 116) (Abb. 6), die Parallelen für die Stellung der Beine mit entblößten Füßen bieten, oder der hl. Matthias (L. 122) (Abb. 7), der den Maler zur Stellung von Kopf und linkem Arm des linken Apostels angeregt haben dürfte. Es sei zugegeben, dass in dessen mutmaßlicher erster Version des Marientodes, die nur in einigen Kopien überliefert ist (hier die Fassung in Berlin, Gemäldegalerie; Abb. 8),11 diese Motive in so klarer Anlehnung an den Meister E. S. noch nicht vorkommen, obwohl man sich bei der Art und Weise, wie die Apostel in schwere, unordentliche und dicke Falten bildende Mäntel gehüllt sind, an den Faltenstil dieses Meisters erinnert fühlt. Der linke vordere, kahlköpfige Apostel im Berliner Bild, dessen Haltung sich z. T. mit der des in Brügge angesprochenen deckt, wirft allerdings die Frage auf, ob dieses Bild in seinem Entwurf wirklich auf Goes zurückgeht und ob das verschollene Original - falls es ein solches gegeben hat - überhaupt früher als das Brügger Gemälde entstanden sein könnte. Während die Figur in Brügge sich im Ganzen an den Meister E. S. anlehnt, sind bei der anderen nur der Kopf und der linke Arm im Sinne der Vorlage wiedergegeben, was eher für eine spätere Bearbeitung des von Goes formulierten Musters spricht. Dass diese Figur zwei unterschiedliche Teile kombiniert, bestätigt ihr Pendant in der schönen Werkstattzeichnung in 10 Die einzig bekannte Darstellung des Marientodes des Meisters E. S. findet sich in einem Medaillon des Blattes L. 193 und ist herkömmlich und sehr reduziert wiedergegeben. 11 Winklee (wie Anm. 2), S. 134-141. Zur fortuna critica dieses Bildes, dessen Londoner Version zunächst dem Meister von Flémalle zugeschrieben wurde, siehe nun Felix Thüelemann, Robert Campin: eine Monographie mit Werkkatalog, München usw. 2002, S. 295 f., Nr. II.4. 85 -Q- 05-Hofer 77-91 09.01.2007 10:29 Page 86 O RAZPRAVE IN ČLANKI Abb. 8 Nach Hugo van der Goes, Tod Mariens (Ausschnitt). Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Gemäldegalerie Braunschweig, Herzog-Anton-Ulrich-Museum12 (Abb. 9), dem der Unterkörper mit den angewinkelten Beinen - zwar nicht ganz geschickt - entnommen zu sein scheint. Die Serie der sitzenden Apostel wie auch die übrigen Apostelzyklen des Meisters E. S. bedeuten eine merkwürdige Episode in der Darstellung der Jünger Jesu. Allgemein gesehen, werden sie hier zum ersten Mal ihrer biblischen Dignität enthoben und als Alltagsgestalten mit oft humorvoll karikierten Zügen vorgeführt. An einigen Beispielen, 12 Winkler (wie Anm. 2), S. 215-218, der die Zeichnung, die ohne Zweifel auf ein verschollenes Original des Hugo van der Goes zurückgeht, für die zweite und das Brügger Gemälde für die letzte und reifste Version dieses Themas hält. Auch Dhanens (wie Anm. 1), S. 345, setzt eine frühere Goessche Version des Marientodes voraus, von der sie die Berliner Kopie samt der anderen zwei in Prag und London abhängig macht. 86 O 05-Hofer 77-91 09.01.2007 10:29 Page 87 RAZPRAVE IN ČLANKI Abb. 9 Nach Hugo van der Goes, Tod Mariens (Ausschnitt). Braunschweig, HerzogAnton-Ulrich-Museum etwa den stehenden Aposteln Philippus (L. 131) und Simon (L. 135),13 kommt diese heitere Seite des Monogrammisten voll zur Geltung. Bei den sitzenden Aposteln gesellt sich dazu noch seine Experimentierfreudigkeit. Soweit bekannt, hat bis dahin das Motiv der Sitzfigur nie einen solchen Reichtum an Einfällen erfahren, die sogar vor der Position eines Stuhls in Rückansicht nicht Halt machten.14 Der Typus des sitzenden Apostels lässt sich wohl gut bis auf die franko-flämische Buchmalerei zurückverfolgen: Die Propheten und Apostel des berühmten Psalters des Herzogs Jean de Berry aus den achtziger Jahren des 14. 13 Eine leichter zugängliche Gesamtausgabe der Stiche: Horst Appühn, Meister E. S. (= Die bibliophilen Taschenbücher Nr. 567), Dortmund 1989, die genannten Blätter dort Abb. 123 und 124. 14 Bartholomäus L. 120, Judas Thaddäus L. 118; Appühn (wie Anm. 13), Abb. 105 und 107. 87 -Q- 05-Hofer 77-91 09.01.2007 10:29 Page O RAZPRAVE IN ČLANKI Jahrhunderts15 stehen bekanntlich am Anfang einer Kette, die von unzähligen anderen Beispielen der Internationalen Gotik über das Propheten- und Apostelantependium des sogenannten Burgundischen Para-mentenschatzes in Wien bis zu den Bortenfiguren des dortigen Marienmantels reicht, die bereits als eine unmittelbare Parallele, wenn schon nicht Quelle für den Meister E. S. in Frage kommen könnten.16 Sprechen wir von der Sitzfigur in der frühen niederländischen Malerei, so kommen wir freilich nicht an den Aposteln des Jüngsten Gerichts von Rogier van der Weyden in Beaune vorbei. Aber eben diese ruhigen, in sich geschlossenen Gestalten zeigen deutlich, wie wenig - im Gegensatz zum Meister E. S. - die klassische niederländische Überlieferung unserem Maler in diesem Punkt zu bieten hatte. Heute können wir uns schwer vergegenwärtigen, wie stark der Einfluss war, den der Meister E. S. mit seinen sitzenden Aposteln auf die europäische Kunst seiner Zeit ausüben konnte. Bekannt ist die Verwendung einiger Figuren in der Kupferstichserie der Propheten und Sibyllen, die Baccio Baldini in den siebziger Jahren in Florenz hervorgebracht hat.17 Es ist nicht leicht zu entscheiden, ob Baldini in der Absicht, seinen Figuren einen Hauch von alttestamentarischer Exotik zu verleihen nach diesen Blättern griff, oder ob er sich dabei wirklich ihrer neuartigen Form bewusst war, die in schlagendem Kontrast zu der klassischen Florentiner Überlieferung stand.18 Jedenfalls war es das Experimentieren mit der Haltung der Arme und vor allem 15 Millard Meiss, French Painting in the Time of Jean der Berry. The Late Fourteenth Century und the Patronage of the Duke, London - New York 1966, I, S. 135 ff., II, Abb. 51-74. 16 Siehe dazu Lilli Fischel, Nikolaus Gerhaert und die Bildhauer der deutschen Spätgotik, München 1944, S. 29 ff., mit willkürlichen Schlüssen auf einen verschollenen Gerhaert'schen Altar mit der Anna-Selbdritt-Gruppe in Berlin in der Mitte. 17 Max Lehes, Italienische Kopien nach deutschen Kupferstichen des XV. Jahrhunderts, Jahrbuch der Königlich preußischen Kunstsammlungen, XII, 1891, S. 125-136; Arthur M. Hind, Early Italian Engraving. Bd. I, London 1938, S. 163 ff.; The Illustrated Bartsch (hrsg. von Walter L. Strauss), Bd. 24, New York 1980, Taf. 226-249, und Kommentar Bd. 24,1, New York 1993, S. 159 ff. (Mark Zucker). 18 Siehe dazu Janez Höflee, Some Observations on the Reception of Early Northern Engravings in Florence, Klovicev zbornik: Minijatura - crtež -grafika 1450.-1700. (hrsg. von Milan Pelc), Zagreb 2001, S. 127-135. 88 -Q- 05-Hofer 77-91 09.01.2007 10:29 Page RAZPRAVE IN ČLANKI der Beine einer Sitzfigur und der daraus resultierenden Faltenanordnung des Mantels, was die Stiche des Meisters E. S. künstlerisch so attraktiv machte. So scheint es, dass Michael Pacher die bahnbrechende Gestaltung seiner frühen, schon vor 1464 entstandenen Schreinmadonna in St. Lorenzen eben diesen Blättern zu verdanken hatte. Wie ich auf dem Pacher-Symposium 1998 in Bruneck zeigen konnte, ist dies das erste Anzeichen der ausschlaggebenden Wirkung des Meisters E. S. auf die Ausbildung seines Schnitzstils.19 Mit dem Verweis auf die Apostel des Brügger Marientodes ist die Frage nach dem Einfluss des Meisters E. S. auf Hugo van der Goes sicherlich nicht erschöpft. Man könnte auf den Wiener Sündenfall und das entsprechende Blatt L. 1 des Monogrammisten20 aufmerksam machen. Bei der Gottvaterfigur des Edinburgher Gnadenstuhls mit dem parallel zum Körper verlaufenden Stück des Mantels auf ihrer rechten Seite fühlt man sich an den sitzenden Evangelisten Matthäus L. 88 erin-nert;21 möglicherweise hatte auch Hans Memling eine derartige Figur vor Augen, als er den Johannes auf Patmos in Brügge, JohannesHospital, schuf. Wie weit Memlings zahlreiche thronende Madonnen trotz einer längeren einheimischen Bildüberlieferung durch die E.-S.-Stiche beeinflusst worden sein könnten,22 bleibt noch zu erörtern. Es waren in erster Linie formale Eigenschaften dieser Blätter, die die Künstler zu Übernahmen und Paraphrasen angeregt haben. Hingegen kann man sich bei Goes angesichts seiner psychischen Verfassung in den letzten Lebensjahren schwer den Mutmaßungen widersetzen, dass die im Gegensatz zur Tradition irgendwie unbeholfen einfachen, fast bäuerlich anmutenden Apostel des Meisters E. S. bei ihm auf eine innige Resonanz gestoßen wären; nur aus der sogenannten Devotio moderna und speziell der Rolle, die zu dieser Zeit den Aposteln als 19 Janez Höflee, Michael Pacher und die frühe Druckgraphik, Michael Pacher und sein Kreis / e la sua cerchia, Vorträge des Symposiums Bruneck 1998 (hrsg. von Artur Rosenauer), Bozen 1999, S. 69-75. 20 ÄPPÜHN (wie Anm. 13), Abb. 1. 21 ÄPPÜHN (wie Anm. 13), Abb. 133. 22 Auf diesen Gedanken bringen die streng frontalen Positionen dieser Madonnen mit charakteristisch angeordneten Mantelstücken um die Knie und am Boden; vgl. z. B. die Blätter L. 81 und 82, äppühn (wie Anm. 13), Abb. 78 und 77. 89 -Q- 05-Hofer 77-91 09.01.2007 10:29 Page 86 O RAZPRAVE IN ČLANKI Vorbild für Klostergemeinschaften in den Niederlanden zukam,23 lässt sich dies wohl nicht erklären. Wie schon lange - meiner Meinung nach richtig - festgestellt wurde, fällt der Tod Mariens von Hugo van der Goes in Brügge in den letzten Lebensabschnitt des Künstlers, der laut authentischer Quellen von schweren psychischen Störungen gekennzeichnet war.24 Der bereits von allen Seiten hoch gepriesene Maler musste sich bald nach 1475 als Konversbruder in das Kloster Roodendaele bei Brüssel zurückziehen, wo er 1482 auch starb. Nur noch selten, aber mit kaum verminderter künstlerischer Kraft, griff er zum Pinsel. Obwohl all die Typen, die er in seinem Spätwerk hervorgebracht hat, nicht auf den Monogrammisten zurückzuführen sind, hat er in eben diesen Jahren eine merkwürdig imaginäre Menschenwelt geschaffen, in der die Begegnung mit den Aposteln des Meisters E.-S. wohl nicht eine bloß zufällige Episode gewesen sein kann. Bildernachweis: Graphische Sammlung Albertina, Wien: Abb. 5, 6, 7 - Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Berlin: Abb. 8 - Herzog-Anton-Ulrich-Museum, Braunschweig: Abb. 9 -Abteilung für Kunstgeschichte der Philosophischen Fakultät der Universität Ljubljana, Photothek: Abb. 1, 2, 3, 4. 23 Zum Zusammenhang zwischen von van Goes' Spätstil und seiner psychischen Verfassung siehe PANofSKy (wie Anm. 2), S. 336-337, ablehnend Susan Koslow, The Impact of Hugo van der Goes' Mental Illness and Late-Medieval Religious Attitudes on the Death of the Virgin, Healing and History. Essays for George Rosen (hrsg. von Charles E. Rosenberg), Dawson 1979, S. 27-50; zu Devotio moderna bei Hugo van der Goes ferner vor allem Bernhard Ridderbos, Die Geburt Christi des Hugo van der Goes. Form, Inhalt, Funktion, Jahrbuch der Berliner Museen, 32, 1990, S. 137-152, und im Allgemeinen Bernhard Ridderbos, De melancholie van de kustenaar: Hugo van der Goes en de oudnederlandse schilderkunst, s'Gravenhage 1991. 24 Siehe zuletzt Nevet Dolev, Gaspar Ofhuys' Chronicle and Hugo van der Goes, Assaph/B, IV, 1999, S. 125-137. 90 O 05-Hofer 77-91 09.01.2007 10:29 Page 87 RAZPRAVE IN ČLANKI UDK 75(492+493)"14" izvirni znanstveni članek - original scientific paper O VPLIVU MOJSTRA E. S. NA NIZOZEMSKO SLIKARSTVO: MARIJINA SMRT HUGA VAN DER GOESA V BRÜGGEJU Po avtorjevih ugotovitvah se vpliv grafičnih listov Mojstra E. S. kaže tudi v delu nizozemskega slikarja Huga van der Goesa, in sicer gre za sprednja dva apostola na sliki Marijine smrti v Muzeju Groeninge v Brüggeju. Položaj nog, deloma pa tudi rok in glave levega apostola je slikar povzel po listih iz serije sedečih apostolov Mojstra E. S. Ta serija uvaja v primerjavi z običajnimi tipi sedeče figure - tudi kar zadeva nizozemsko slikarstvo - nekatere nenavadne novosti, ki so Huga van der Goesa očitno pritegnile, pri čemer bi bilo mogoče upoštevati tudi okoliščine, ki so spremljale slikarja v zadnjih letih njegovega življenja. Poleg tega avtor navaja še nekatere druge primere, ki dokazujejo pomen te serije, in nakazuje, v katerih Goesovih delih in delih Hansa Memlinga je še mogoče predvidevati zgledovanje po Mojstru E. S. Slikovno gradivo: 1. Hugo van der Goes, Marijina smrt, Brügge, Groeningemuseum 2. Martin Schongauer, Marijina smrt (bakrorez B. 33 / L. 16). 3. Michael Pacher, Marijina smrt, St. Wolfgang am Abersee, glavni oltar 4. Kot sl. 1, izrez 5. Mojster E. S., Sv. Jakob mlajši (bakrorez L. 117) 6. Mojster E. S., Sv. Janez Evangelist (bakrorez L. 116) 7. Mojster E. S., Sv. Matija (bakrorez L. 122) 8. Po Hugu van der Goesu, Marijina smrt, Berlin, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Gemäldegalerie 9. Po Hugu van der Goesu, Marijina smrt, Braunschweig, Herzog-Anton-Ulrich-Museum 91 -Q-