Bernhard Waldenfels 69 Bernhard Waldenfels Europa ist ein hybrides Gebilde, weder ein Land mit eigener Sprache, noch ein souveräner Staat oder Staatenbund, noch ein geographisch fest umrisse- ner Kontinent, noch eine homogene Kultur. Ebensowenig steht fest, was Eu- ropäisierung bedeutet. Ist Europa eine Zwischenstation auf dem Weg von der Nation zum Weltstaat, so daß die Europäisierung lediglich einen neuen Inte- grationsschub bewirkt? Die Mehrstimmigkeit Europas, die wir im folgenden hervorheben, zielt ab auf eine Fremdheit im Innern wie nach außen, ohne die eine jede Eigenheit sich abzuflachen droht.1 »Wir guten Europäer« Die Fremdheit zeigt sich schon darin, wie wir von Europa sprechen. Be- ginnen wir mit einer Kostprobe. In Nietzsches 1886 erschienener Schrift Jenseits von Gut und Böse findet sich ein Kapitel »Völker und Vaterländer«.2 Darin wendet sich der Autor gegen die Verdummung durch den grassieren- MEHRSTIMMIGES EUROPA 1 Zur Konzeption des Fremden, die den folgenden Überlegungen zugrunde liegt, verweise ich auf meine folgenden Schriften: Der Stachel des Fremden, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1990, ³1998 (slowen. Üb.: Nova revija, Ljubljana 1998; tschech. Üb.: Ed Oikúmené, Prag 1998); Topographie des Fremden, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1997 (poln. Üb.: Oficyna Na- ukowa, Warschau 2002; ukrain. Üb.: PPS, Kyiw 2004; serb. Üb:. Stilos, Novi Sad 2005); Verfremdung der Moderne, Wallstein, Göttingen 2001 (ital. Üb.: Città Aperta, Troina 2005; slowen. Üb.: Društvo Apokalipsa, Ljubljana 2006); Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2006. 2 Vgl. zum folgenden Nietzsche, Kritische Studienausgabe. Bd. 5, G. Colli, M. Montinari (Hg.), Berlin 1980, S. 180–183, 192, 200–203. Phainomena xviii/68-69 Bernhard Waldenfels 70 den »Nationalitäts-Wahnsinn« seiner Zeit und gegen »atavistische Fälle von Vaterländerei und Schollenkleberei«. Seine Invektiven richten sich allerdings auch gegen das, was er in der »demokratischen Bewegung Europas« sich an- bahnen sieht, nämlich eine »Ausgleichung und Vermittelmässigung der Men- schen«, seine Verwandlung in ein »nützliches arbeitsames, vielfach brauch- bares und anstelliges Herdenthier Mensch«, dem er den »starken Menschen« entgegenstellt. Dämpfen wir den elitären Ton dieser Äußerungen, so bleiben die Anzeichen eines Normalisierungstrends, der »dem Fremden, dem Exoti- schen, dem Ungeheuren, dem Krummen« den Garaus macht. Der Blick des Diagnostikers läßt keinen Raum für völkische Idiosynkrasien: »Jedes Volk hat seine eigne Tartüfferie und heißt sie seine Tugenden. – Das Beste, was man ist, kennt man nicht, – kann man nicht kennen.« Selbsterkenntnis gedeiht nur in der Selbstverfremdung. Der Hinweis auf deutsch-französische Familien- fehden und das Bekenntnis eines »Mittelländlers«, der seinen Ort zwischen Norden und Süden sucht, tragen ebenso zu dieser Verfremdung bei wie die Durchforschung der eigenen Kultur. Zum »nationalen Nervenfieber« zählt Nietzsche den bis in die eigene Familie vorgedrungenen Antisemitismus, der uns vergessen läßt, wieviel Europa den Juden schuldet, darunter »Verführun- gen zum Leben, in deren Nachschimmer heute der Himmel unsrer europä- ischen Cultur, der Abend-Himmel, glüht – vielleicht verglüht«. Das Europa, das eins werden will, wartet auf »Europäer der Zukunft«, die sich nicht an das überkommene Erbe klammern wie an einen Rettungsanker, es aber auch nicht in den Wind schlagen. Ein halbes Jahrhundert später, in einem Augenblick, da einige von Nietz- sches düsteren Prognosen in Erfüllung zu gehen beginnen, nimmt Husserl die Europa-Parole auf. Kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, die auch ihn als gebürtigen Juden aus der Universität verbannte, spricht er in Wien über die »Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie«; dieser Vortrag enthält die Keimidee zu seinem 1935 in Belgrad erschienenen Krisis-Fragment. Der Text endet mit beschwörenden Worten: »Europas größte Gefahr ist die Müdigkeit. Kämpfen wir gegen diese Gefahr der Gefahren als ›gute Europäer‹ in jener Tapferkeit, die auch einen unendlichen Kampf nicht scheut…«3 Das Pathos dieser Worte mag heute fremd klingen, doch würde das Feuer, das darin brennt, in administrativen Maßnahmen, Rechtsanpassun- gen und technischen Netzwerken ersticken, so wäre von Europa weltweit nicht mehr viel Neues zu erwarten. Nehmen wir also die Rede vom »guten Europä- 3 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die die transzendentale Phänomenologie (Husserliana VI), M. Nijhoff, Den Haag 1954, S. 348. Bernhard Waldenfels 71 er« beim Wort; die schlichte Redeweise verrät uns vieles von der Mehrstim- migkeit Europas, der unser Augenmerk gilt. Ich im Wir, Wir im Ich Wenn es bei Nietzsche heißt: »Wir guten Europäer«, so bedeutet dies eine wechselseitige Implikation von Ich und Wir. Der Philosoph spricht nicht über Europäer, ohne sich selbst darin einzubeziehen. Europa ist für ihn kein bloßer Gegenstand. Andererseits spricht Europa nicht selbst, als gäbe es unabhängige Instanzen namens Volk, Vaterland, Europa oder Menschheit. Mit der Ablö- sung des Wir von dem, der ›wir‹ sagt, verschwindet der Ort der Rede und der Widerrede in den Nebeln künstlicher Mythologien und politischer Ideologien. Mit ›dem Volk‹ oder mit ›der Kultur‹ läßt sich kein Dialog führen. Ich und Wir im Widerstreit Gehen wir statt dessen mit Norbert Elias von einer Wir-Ich-Identität aus, so schließt dies nicht aus, daß der Akzent einmal auf dem Wir, das andere Mal auf dem Ich liegt. Wird die Balance gestört, so kommt es einerseits zu einem ich- schwachen Wir, andererseits zu einem wirschwachen Ich.4 Seitdem zu Beginn der Neuzeit ein deutlicher Individualisierungsschub eingesetzt hat, entwickelt sich ein Einigungssog, der die Einigung der Nation, die Bildung einer Europäischen Union, eines Völkerbunds und der Vereinten Nationen vorantreibt. Bei den eu- ropäischen Einigungsbestrebungen hat die konfessionelle und nationale Zerris- senheit, die sich lange Zeit in kriegerischer Gewalt entlud, eine entscheidende Rolle gespielt. Polarisierende Kontraste wie die zwischen Partikularismus und Universalismus, zwischen Regionalität und Universalität und ihre Verbindung mit einer wechselnden Gewichtung der Vergangenheit und der Zukunft üben bis heute ihre Wirkung aus und prägen das politische Parteienspektrum. Doch der Einheitssog trifft auf eine Gegenströmung. Je weiter die Einheitsinstanz sich vom jeweiligen Lebenszusammenhang entfernt und – wie in Kafkas Schloß – in eine schwer zugängliche Ferne rückt, um so mehr läßt die Integrations- und Bin- dekraft des Wir nach. Konkrete Lebenshorizonte sind durch formale Gesetzes- rahmen, bürokratische Verordnungen und technologische Netzwerke nicht zu ersetzen. Elias weist darauf hin, daß – bisher wenigstens – die Aussage »Ich bin ein Franzose« oder »Ich bin ein Deutscher« einen ungleich stärkeren Gefühls- 4 Vgl. Norbert Elias, Die Gesellschaft der Individuen, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1987, S. 238 f.; ein völlig »wirloses Ich« (S. 265) ist allerdings nicht mehr als ein cartesianisches Konstrukt. Phainomena xviii/68-69 Bernhard Waldenfels 72 wert aufweist wie die Aussage »Ich bin ein englischer, französischer, deutscher Europäer«,5 ganz zu schweigen von einem Menschheits-Wir, das für die meisten von uns auf der Landkarte der Emotionen einen weißen Fleck darstellt6 oder aber im diffusen Narzißmus eines »ozeanischen Gefühls« untergeht. Die »Sinnent- leerung«, auf die Elias sich ähnlich wie Husserl beruft und die sich bis zu einem Gefühl des kollektiven Selbstverlusts steigern kann,7 hat zur Folge, daß man sich an ältere Wir-Formen anklammert oder zu ihnen zurückkehrt, da sie einen grö- ßeren Halt und mehr Wärme versprechen. Fundamentalismus und Fanatismus gehören zu dem, was Nietzsche als reaktives Denken brandmarkt; aus der Verun- sicherung entspringt ein »katastrophales Verhalten«, das ungeordnet, wechselnd und widerspruchsvoll abläuft.8 Es ist fraglich, ob es sich um bloße Wachstums- störungen handelt und ob die jeweils höhere »Überlebenseinheit«, letzten Endes die der Menschheit, diese »Nachhinkeffekte« zu beseitigen vermag, wie Elias es für möglich hält. Eine vollendete Integration scheitert meines Erachtens an einer radikalen Fremdheit, die es nicht mit bloßer Integration und Desintegration zu tun hat, sondern mit Momenten des nicht oder nur gewaltsam Integrierbaren, die sich in dem Widerstreit von Ich und Wir bemerkbar machen. Verdoppelung des Ich Das Ich dessen, der »wir gute Europäer« sagt, fügt sich schon deshalb nicht nahtlos in das Wir ein, weil es sich selbst verdoppelt. Wie die Linguistik uns lehrt, stellt sich das Ich zwiefach dar, als Ich des Aussageereignisses (énonciati- on), das in diesem Falle sich und die Anderen unter dem Titel des Europäers zu Wort kommen läßt, und als Ich des Aussaggehaltes (énoncé), das zusammen mit den übrigen Europäern zum Gegenstand der Rede gehört. Das performa- tive Ich des Sprechereignisses bildet den sozialen Nullpunkt, dem ein Bezugs- feld entspringt, während das integrative Ich sich als Glied in die entsprechende Sozietät einfügt.9 Das sprechende Ich ist singulär, während das besprochene 5 Ibid., S. 300. 6 Ibid., S. 270. 7 Ibid., S. 296–299. 8 Dazu aus klinischer Perspektive Kurt Goldstein, Der Aufbau des Organismus, M. Nijhoff, Den Haag 1934, S. 23 f. 9 Husserl unterscheidet in ähnlichem Zusammenhang zwischen einem undeklinierbaren »Ur-Ich« und einem Ich, das sich sozusagen dekliniert und damit zu einem sozialen Glied wird. Vgl. Krisis (wie Anm. 3), S. 188. Karl Bühler rechnet das Ich zur Origo, dem Null- punkt eines Zeigfeldes, so daß das Ich sich zeigt, bevor es symbolisch bezeichnet wird. Vgl. Sprachtheorie, G. Fischer, Stuttgart – New York 1982, S. 102. Da es uns hier einzig auf die Ichverdoppelung ankommt, können wir von der Fragwürdigkeit der transzendentalen Egozentrik absehen. Bernhard Waldenfels 73 Ich, das wir mit James und Mead auch als Mich bezeichnen können, als par- tikular zu bezeichnen ist. Gemessen an der Person, dem Deutschen oder dem Europäer überhaupt ist diese Person, diese Deutsche oder dieser Europäer eine Besonderheit. Singularität in all ihren Formen bedeutet dann kein wirloses Ich, sondern die Tatsache, daß jeder von uns mehr ist als das bloße Glied einer Gruppe. Die Partikularität entspringt der Ein- oder Unterordnung, die Singu- larität der Abweichung. Eigene und fremde Stimme Wenn jemand wie Nietzsche ›ich‹ sagt, so wird darin eine Stimme laut. Das Lautwerden ist ein Sprechereignis, das im Gesagten des Wortlautes oder im Geschriebenen der Schriftzüge nicht aufgeht. Phoné bedeutet mehr als Logos, mehr also als eine Rede, die sich auf Gründe stützt und deren Resultate weiter- gegeben werden können. An dieser Stelle stoßen wir auf die Urdifferenz von Eigenem und Fremdem. Vor und in aller gesprochenen Stimme ist die Stimme gehörte Stimme. Die Verfremdung der Stimme beginnt mit der eigenen Stim- me. Wir hören uns sprechen wie durch ein Echo, in dem die eigenen Laute widerhallen. Eben deshalb ist das Individuum keine unteilbare Einheit, son- dern ein dividuum.10 Mit dem Sichsprechenhören ist dem Reden ein Keim des Fremden eingepflanzt. Die Sprache, die ich als native speaker spreche, zeigt von Anfang an Züge einer Fremdsprache, die von anderen gesprochen wird, bevor ich sie spreche. Die angebliche Reinheit der eigenen Rasse, des eigenen Volkes, der eigenen Kultur ist ein Phantasma, das sich bis zum Reinheitswahn steigern kann, mit all den politischen Folgen, die wir nur zu gut kennen. Die Singularität der eigenen Stimme beruht drauf, daß sie nicht zu erse- tzen ist. Ich selbst bin gefragt und kein anderer. So besteht Sokrates unent- wegt darauf, daß seine Partner sich nicht auf das hinausreden, was die Leute sagen, sondern selbst antworten. Die Singularität tritt ihrerseits im Plural auf, in wechselseitiger Abweichung und Fremdheit. Abzählbar ist nur die Stimme, die einer abgibt, nicht die Stimme, mit der jemand sich zu erkennen gibt. Sätze wie jene, daß Abgeordnete nur ihrem Gewissen verantwortlich sind, haben die ganz elementare Bedeutung, daß niemand seiner Stimme entfliehen kann. Die Eigenheit der Stimme geht nicht nur jedem Abstimmungsverfahren voraus, sondern auch der Übereinstimmung. Die Eigenstimme geht niemals darin auf wie in dem gemeinsamen Absingen der Nationalhymne. Wer einstimmt, stimmt nicht schon überein. Die praktische Frage, ob in bestimmten Gremien 10 Vgl. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, Aph. 57. Phainomena xviii/68-69 Bernhard Waldenfels 74 Einstimmigkeit verlangt wird oder die Stimmenmehrheit genügt, rühren an einen Punkt, der die politische Pragmatik sprengt. Auch in der Politik finden sich Funken des Sokratischen. Gemeint ist jener Sokrates, den Platon als Ato- pos bezeichnet, als einen Ortlosen, der auch in der Polis nie ganz und gar an seinem Ort ist. Mehrstimmigkeit besagt, daß es nicht bloß viele Stimmen gibt, sondern immerzu eine Stimme zuviel, die nicht in der allgemeinen Rechnung aufgeht. Zwischen uns Mit der Differenz von Eigenem und Fremdem betreten wir den Boden des Dialogs, der seine Bedeutung dem verdankt, was zwischen uns geschieht. An wen richtet sich Nietzsches Appell, wenn er von uns »guten Europäern« spricht, etwa an Alle und Keinen wie die Reden Zarathustras? Jedenfalls betritt auch er das Zwischenreich des Dialogs, in dem nicht einer allein und auch nicht der Autor den Ton angibt. Das Zwischen betrifft aber nicht nur den Dia-log oder den entre-tien, sondern auch das Inter, das in neuen Wortprägungen wie Inter- subjektivität, Inter-nationalität und Inter-kulturalität seinen Ausdruck findet.11 Nehmen wir die Interkulturalität, die in unserem Zusammenhang von beson- derer Bedeutung ist. Die Konzeption der Interkulturalität entfaltet ihre Stoß- kraft in zwei Richtungen. Sie richtet sich einerseits gegen einen Monokultu- ralismus, der ein einziges Zentrum ansetzt und dieses Zentrum usurpiert wie in allen Formen von Ethnozentrismus, einschließlich der aufgeklärten Form eines Eurozentrismus.12 Sie richtet sich aber auch gegen eine Multikulturalität, in der das eine Zentrum durch viele Zentren ersetzt wird. Die Annahme, daß es viele Kulturen gibt, ist ebenso wahr und trivial wie die Annahme, daß es viele Sprachen gibt.13 Die Frage ist nur, ob es angeht, mit dem Nebeneinander 11 Daß der Terminus ›Intersubjektivität‹ auf Husserl zurückgeht, ist bekannt, aber bei ihm findet sich auch schon der Hinweis auf die ›Interkulturalität‹. In einem Nachlaßtext von 1931 spricht er nicht nur von eigener und fremder »Heimwelt« und vom »Zwischenhei- matlichen«, sondern auch von »internationaler, interkultureller Erfahrung« (Zur Phäno- menologie der Intersubjektivität, 3. Teil (Husserliana XV), M. Nijhoff, Den Haag 1973). 12 Vgl. vom Verf. Topographie des Fremden (wie Anm. 1), Kap. 6: »Europa angesichts des Fremden« sowie eine großangelegte Untersuchung von: Iris Därmann, Fremde Monde der Vernunft. Die ethnologische Provokation der Philosophie, W. Fink, München 2005. 13 Kultur wird hier stets im weiten Sinne verstanden als das, was Menschen aus sich und aus den Dingen machen und was ihnen dabei widerfährt; darin eingeschlossen sind Politik und Technik. Die Entgegensetzung von Kultur und Zivilisation gehört selbst einer be- stimmten kulturellen Konstellation an. Zur Problematik der gegenwärtigen kulturphilo- sophischen und kulturwissenschaftlichen Konjunktur vgl. Verfremdung der Moderne (wie Anm. 1), Kap. IV. Bernhard Waldenfels 75 verschiedener Kulturen und Nationen zu beginnen, um von da aus Vergleiche anzustellen oder einen Ausgleich zu suchen. Am Anfang steht nämlich weder eine Einheit noch eine Vielheit, sondern eine Differenz. Es handelt sich um die Differenz von Heimat und Fremde, von Vaterland und Ausland, von Eigenkul- tur und Fremdkultur, die der Differenz von Muttersprache und Fremdsprache ähnelt. Differenzen dieser Art sind nicht durch einen Prozeß der Vereinigung und Vereinheitlichung aufzuheben, sie rufen vielmehr nach einer Überse- tzung, die – wie Heidegger in einem Wortspiel formuliert – sowohl ein Über- setzen wie ein Übersetzen vom fremden zum eigenen Ufer bedeutet.14 »Das Eigene muß so gelernt sein wie das Fremde,« bemerkt Hölderlin, und so gilt auch: »Wir lernen nichts schwerer als das Nationelle frei gebrauchen.«15 Das Fremde in uns und außer uns wird niemals völlig gelernt, so wie es keine völlig adäquate Übersetzung gibt. Das Zwischen ist nicht nur Ausgangspunkt jeder Fremderfahrung, sondern auch deren Medium. Das Zwischen läßt sich beschreiben als ein Geflecht, als ein Ineinander von Eigenem und Fremdem, das eine völlige Deckung ebenso ausschließt wie die völlige Disparatheit. Hören wir, was wiederum der Soziologe Norbert Elias zu sagen hat: »Es gibt in einem solchen Geflecht viele einzelne Fäden, die mitein- ander verbunden sind. Dennoch ist weder das Ganze dieses Geflechts noch die Gestalt, die der einzelne Faden darin erhält, von einem Faden allein oder auch von allen einzelnen Fäden für sich zu verstehen, sondern ausschließlich von ihrer Verbindung her, von ihrer Beziehung zueinander.«16 In einem solchen Geflecht begegnet uns ein Mehr oder Weniger an Fremdheit. Es gibt verschie- dene Grade der Verwandtschaft, wie wir dies aus dem Bereich der Sprache kennen, wo das Holländische dem Deutschen näher steht als das Slowenische und dieses dem Russischen näher als dem Französischen oder gar dem Chine- sischen. Sprachliche Verwandtschaften verweisen auf Nachbarschaftsbeziehun- gen, die geographisch, geopolitisch, aber auch historisch geprägt sind. Wie am- bivalent diese Beziehungen sind, zeigt nicht sich nur im Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland, das zeitweise zu einer Erbfeindschaft ausartete, sondern in besonderem Maße auf dem Balkan, wo Reichsgrenzen und Völker- 14 Siehe Martin Heidegger, Heraklit (GA 55), V. Klostermann, Frankfurt a. M. 1997, S. 447 f. 15 So Hölderlin in einem Brief an seinen Freund Böhlendorff vom 4. 12. 1801. 16 Vgl. Die Gesellschaft der Individuen (wie Anm. 4), S. 1987. Der Text, dem dieses Zitat ent- stammt, entstand Ende der Dreißiger Jahre in der Emigration. Darin finden sich Spuren von Husserl, bei dem Elias studiert hat; denn auch Husserl spricht von einem »Ineinander« eigener und fremder Intentionen (vgl. etwa Krisis (wie Anm. 3), S. 258 f.). Beim späten Maurice Merleau-Ponty kehrt dieses Motiv wieder als entrelacs, entrelacement, chiasma oder chiasme. Vgl. dazu vom Verf. Topographie des Fremden (wie Anm. 1), Kap. 4–5. Phainomena xviii/68-69 Bernhard Waldenfels 76 grenzen sich lange Zeit überlagerten und sich intime Feindschaften entwickel- ten, wie man sie aus Familien kennt. Selbst die Brücke über die Drina, die Ivo Andrić zum Helden seines berühmten Romans gemacht hat, verbindet nicht nur, sie trennt auch. In Europa haben sich alte Grenzverläufe längst nach innen verlagert, so wenn die Türken vor Wien durch Türken in Wien ersetzt wurden. Das institutionelle Gebäude der europäischen Union ruht also auf einem Ge- flecht, das nicht aus diskreten Einheiten besteht, sondern eine Gemengelage bildet, die sich nicht durch bloße Beschlüsse und Verträge akkommodieren läßt. Insofern sind Austauschaktionen wie der Jugendaustausch, Partnerbezie- hungen zwischen Städten, auch Studienaufenthalte und Reisekontakte von be- sonderer Bedeutung, um vorgefaßte Meinungen durch leibhaftige Erfahrung zu ersetzen. Allerdings genügt schon eine Vorortfahrt nach Berlin-Neukölln oder in die Pariser Banlieue, um eingeborene Europäer einem gehörigen Maß an Fremdheit auszusetzen. Konkrete Begegnungen, die sich durch das inter- und intrakulturelle Gewirr ihren Weg bahnen, finden keinen Ersatz in Organi- sationen auf höherer Ebene, die lediglich Rahmenbedingungen schaffen oder symbolische Zeichen setzen. Stellvertretung Die europäische Mehrstimmigkeit tritt auf besondere Weise zutage, wenn wir uns klar machen, wie Nietzsche von »guten Europäern« spricht. Er tut dies auf deutsch, aber zugleich als jemand, der unter der Deutschtümelei seiner Zeit leidet und nicht zögert, sich unter dem Namen Nietzky polnische Vor- fahren anzudichten.17 Daß er in seine europäischen Reflexionen französische, italienische und englische Varianten einflicht, ergibt sich geradezu von selbst. Dennoch sieht er sich genötigt, als deutscher Autor von Europa zu sprechen und nicht etwa von Europe, Evropa oder dem sagenhaften Εὐρώπη. Der Name selbst gleicht einem Gesicht, das seine Züge wechseln kann, aber jeweils be- stimmte Züge annehmen muß; würden alle Züge ausgelöscht, so wäre das Ge- sicht selbst ausgelöscht (ef-facé). Die Sprechweise, die bis in die Wortwahl hinein plural angelegt ist, führt uns zu der Frage, was ein intra- oder interkultureller Dialog überhaupt besa- gen kann. Wenn wir uns von der Vorstellung lösen, Kulturen träten auf der Weltbühne auf wie Figuren im Theater, so enden wir bei einer Fürsprache und bei Fürsprechern im wörtlichen Sinne. Für andere und nicht bloß mit anderen 17 Vgl. die entsprechenden Zeugnisse in Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie. Bd. 1, dtv, München – Wien 1981, S. 26 f. Bernhard Waldenfels 77 sprechen heißt, daß man anstelle von anderen spricht.18 Die Stellvertretung oder Repräsentanz gehört ebenfalls zu den Grundelementen des Dialogs. Folg- lich sind es nicht Kulturen, die einen Dialog führen, sondern deren Vertreter. Doch bevor wir die Höhen institutioneller Repräsentationen erklimmen, sollten wir das Vorfeld erkunden, das wiederum in die Niederungen der Er- fahrung führt. Auf einer ersten Stufe begegnet uns die Verkörperung eines Kol- lektivs im Einzelnen. Das beginnt mit der kindlichen Einbettung in ein fami- liäres, nachbarschaftliches Milieu, das jederzeit kulturell durchtränkt ist. Die Anderen sprechen aus mir, bevor ich mit ihnen und über sie spreche. Darin bekundet sich die Tiefenlage eigener Tradition, die wir uns ebensowenig aussu- chen können wie den eigenen Leib oder die Vorfahren. Auf einer zweiten Stufe stoßen wir auf typische Vertreter eines Wir, so wenn jemand sich benimmt, wie wir es von einem gewöhnlichen Deutschen, Franzosen oder von einem Euro- päer erwarten. Der soziale Habitus, in dem sich eine bestimmte Kultur verkör- pert, ist bis zu einem gewissen Grad erworben und übernommen, er kann sich verändern, und wir können zeitweilig mit ihm spielen wie ein Schauspieler, der den Geizigen auf die Bühne bringt. Die Typik wird besonders auffällig, wenn jemand sich daneben benimmt und Anstoß erregt wie ein Hooligan. Auf einer dritten Stufe tritt jemand ausdrücklich als Stellvertreter in Erscheinung, indem er im Namen anderer spricht, sei es als Vormund, als Anwalt, als Abge- ordneter oder als gewählter Präsident. Solche Vertreterrollen können vererbt werden wie in traditionalen Gesellschaften, sie können usurpiert werden wie in Diktaturen, und sie können schließlich durch Wahlen legitimiert werden, wie wir es von Demokratien erwarten. Delegierte laufen ständig Gefahr, die ei- gene Stimme mit den Stimmen der von ihnen Vertretenen zu vermengen und indirekt für sich selbst zu sprechen, wenn sie für andere zu sprechen vorgeben. Wir stoßen hier wiederum auf eine Selbstverdoppelung des Ich, nämlich eine Verdoppelung in vertretendes und vertretenes Ich; als vertretenes Ich ist auch der Stellvertreter nur einer unter anderen. Das Wir der »guten Europäer« gewinnt seine vollen Konturen erst in der Konfrontation mit einem Ihr, das aus Vertretern einer außereuropäischen Kul- tur besteht. Dabei kommt es nicht darauf an, ob dies im eigenen Land geschieht oder im Ausland, da kulturelle Grenzen weniger denn je mit Landesgrenzen zusammenfallen. Sobald es zu einem interkulturellen Austausch kommt, ver- wandelt sich das inklusive Wir, das Nietzsche für sich in Anspruch nimmt, in 18 Vgl. ausführlicher dazu vom Verf. »An Stelle von…«, in: Kathrin Busch, Iris Därmann, »pathos«. Konturen eines kulturwissenschaftlichen Grundbegriffs, transcript, Bielefeld 2007. Phainomena xviii/68-69 Bernhard Waldenfels 78 ein exklusives Wir. Selbst dieser Austausch spielt sich in einem Zwischenfeld ab, ohne welches es keine Interkulturalität gäbe. Doch einen Dialog zwischen Kulturen oder innerhalb einer Kultur, bei dem offizielle Kulturvertreter sich ge- genübertreten wie die befugten Vertreter eines Staates oder einer Kirche, kann es strenggenommen nicht geben, da Kulturen keine offizielle Mitgliedschaft zulassen. Kulturbereiche betritt man wie Landschaften, nicht wie Territorien, an deren Grenzen Grenzwächter, Grenzsteine oder Schlagbäume stehen. Man kann eine Lebensform übernehmen und einer Lebenswelt zugehören, aber man kann nicht in sie aufgenommen werden wie in einen Verein oder in eine Bürgerschaft. So können Kulturen auch keinen Vertrag miteinander schließen, dies können nur Kulturpolitiker oder Funktionäre. Daraus folgt, daß es gelebte Kulturen gibt, die Institutionen mit Leben erfüllen, ohne selbst institutionelle Formen anzunehmen. Jede lebendige Kultur hat Züge einer culture sauvage, in der wir nicht völlig heimisch sind. Wird Europa ausschließlich auf der Ebene offizieller Kontakte und Verträge angesiedelt, so bleibt es bei einem Europa in den Köpfen, das nur kalkulierte Einsätze zuläßt. Ein leibhaftiges Europa, dem man sich auf Gedeih und Verderb zugehörig fühlt, kommt so nicht zu- stande. Daher rührt die Enttäuschung derer, die längst formaliter als Citoyen anerkennt sind, sich aber im eigenen Land als Fremde fühlen, da sie aufgrund beschränkter Lebenschancen nicht wirklich dazu gehören. Obwohl Nietzsche durchaus politische Dimensionen in seine Reflexionen einbezieht, legt er das Gewicht auf Europas Kultur. Offensichtlich neigt er dazu, die Gleichheitsidee der »demokratischen Bewegung« zu sehr mit ihren gleichmacherischen Nebeneffekten zu identifizieren, doch gewiß hat er recht, wenn er sich weigert, die Parole »wir guten Europäer« mit einer Parole wie »wir guten deutschen oder europäischen Staatsbürger« gleichzusetzen. Erst recht gilt dies für parodistische Refrains wie »wir geschickten global players« oder »wir wertbewußten share holders«. Der kulturüberschreitende Globalismus stellt uns vor Fragen, die wir nur streifen können. Es möge der Hinweis genü- gen, daß alle Drittinstanzen, seien sie politischer, rechtlicher, ökonomischer, finanzieller oder technologischer Art, nur in kulturelle und interkulturelle Er- fahrungen eingreifen, sie aber nicht in höhere Einheiten integrieren können. Auch die Universalisierung von Normen führt nicht zu einem Universum, in dem wir alle leben, sie führt höchstens zu universalen Regelungen, denen wir alle unterliegen. Die Menschheit läßt sich nicht in eine universale Institution überführen, fassen läßt sie sich nur als offener Menschheitshorizont, der die Urscheidung in Eigenes und Fremdes nicht aufhebt. Ein Horizont ist mit da als wandernde Grenzlinie, nicht als Verheißung eines Ganzen. In diesem Sinne Bernhard Waldenfels 79 bedeutet Europa keine bloße Zwischenstation auf dem Weg zu einem Welt- staat, sondern eine spezifische Antwort auf Herausforderungen, die weniger denn je an den Grenzen der eigenen Lebenswelt haltmachen. Die intrakultu- relle Mehrstimmigkeit setzt sich fort in einer interkulturellen Mehrstimmig- keit, die sich nur um den Preis einer globalen Monotonie in eine Welteinheit überführen läßt. Alte und neue Herausforderungen Wenn Nietzsche von uns »guten Europäern« spricht, so bekennt er sich zu einem Europa von besonderer Qualität. Diese Qualität läßt sich nicht eindeutig und definitiv bestimmen, ohne daß die Vertreter einer Kultur sich jene Selbst- erkenntnis anmaßen, die Nietzsche ausdrücklich in Frage stellt. Also bleiben nur Präferenzen, wie sie jede Kultur auf ihre Weise hervorbringt. Nietzsche bekennt sich zu einer Freiheit, die nicht am Eigenen und Gewohnten klebt. So heißt es in der Vorrede zu Jenseits von Gut und Böse: »… wir guten Europäer und freien, sehr freien Geister – wir haben sie noch, die ganze Noth des Geistes und die ganze Spannung seines Bogens!« Was aus diesen Zeilen spricht, ist eine Intensivierung des Lebens, die ihr Ziel sucht, nicht schon hat. Darin liegt der Appell, auf Herausforderungen zu antworten, ohne in Ideale zu fliehen oder sich vorgegebenen Trends anzupassen. Auch wir leben in einer Übergangszeit, wo sich vieles nicht mehr von selbst versteht. Die Mehrstimmigkeit Europas ist und war nie frei von Kakophonien. Wer von Dialog spricht, kann nicht umhin, auch von Gewalt zu sprechen. Es stellt sich die Frage nach dem Umschlag von Fremdheit in Feindschaft, und auch sie stellt sich für Europa auf spezifische Weise.19 Die Verquickung der eigenen Kultur mit einem transkulturellen Allgemeinen, sei es die wahre Natur, der wahre Glaube, die rechte Vernunft oder einfach die Zivilisation, hatte immer wieder zur Folge, daß alles, was sich der eigenen Kultur nicht assimilieren ließ, als barbarisch, heidnisch, unvernünftig ausgeschieden, an den Rand gedrängt und oftmals auch ausgetilgt wurde. Religiöse und ideologische Kreuzzüge, Po- grome sowie die Kolonialisierung und Versklavung ganzer Kontinente gehö- ren zur Hypothek Europas. Eine Vernunft ohne die Schatten der Fremdheit ten- diert dazu, Fremdheit in Feindschaft zu verwandeln, in eine Fremdheit also, 19 Vgl. dazu vom Verf. »Fremdheit, Gastfreundschaft und Feindschaft«, in: links (Pisa, Rom), V (2005), S. 31–40. Ital. Üb.: »Estraneità, ospitalità e ostilità«, in: M. Ponzi, V. Borsò (Hg.), Topografia dell’estraneo, B. Mondadori, Mailand 2006. Der Prozeß einer Verwandlung von Fremdheit in Feindschaft wird verdunkelt, wenn man von einem allgemeinen clash of civilizations ausgeht. Phainomena xviii/68-69 Bernhard Waldenfels 80 der keine eigene Stimme vergönnt ist und die verstummt. Reaktionen lassen nicht auf sich warten; sie unterliegen oft dem erwähnten »Nachhinkeffekt«. Eine mögliche Reaktion besteht in einer aggressiven Form von Fremdheit ohne das Licht der Vernunft. Vernunft gegen Terror, Terror gegen Vernunft, Ver- nunft infiziert vom Terror, all dies gehört nicht nur zur Geschichte Europas, sondern auch zu unserer Gegenwart. Die Geschichte Europas kennt aber auch die Auflehnung gegen einen soziokulturellen Manichäismus, der die Feind- schaft in die Dinge selbst verlegt. Vielfach hat Europa sich zusammengefunden in der Abwehr einer gemeinsamen Bedrohung, die zumeist aus dem Osten kam. Daraus resultiert ein militantes Abendland, das sich in der Reaktion auf wirkliche oder eingebildete Gefahren als »Überlebenseinheit« etabliert. Es fragt sich, wie Herausforderungen aussehen könnten, die nicht bloß Abwehr- kräfte wachrufen, sondern kreative Kräfte eines gesellschaftlichen Imaginären wecken.20 Nietzsche denkt beim »Europäer der Zukunft« an Menschen wie Napoleon, Goethe, Beethoven, Stendhal, Heinrich Heine, Schopenhauer und Richard Wagner. Doch es geht nicht darum, ein neues europäisches Walhalla zu errichten, sondern sich durch den Geist der Fremdheit anstacheln und an- stecken zu lassen, von wo er auch kommen mag. 20 Das »gesellschaftliche Imaginäre« wird hier im Sinne von Cornelius Castoriadis verstan- den.