Original scientific paper Izvirni znanstveni članek DOI: 10.32022/PHI31.2022.122-123.12 UDC: 113/119 Ortswelt und Weltraum Eugen Fink und die Philosophie des Ortes im Gespräch Annika Schlitte Universität Greifswald, Institut für Philosophie, Baderstraße 6-7, 17489 Greifswald, Deutschland annika.schlitte@uni-greifswald.de Place-World and World-Space. Eugen Fink and Philosophy of Place in Discussion Abstract The article attempts to bring Eugen Fink's understanding of space into a discussion with newer approaches in phenomenology and hermeneutics, which expressly focus on the notion of place. With regard to the observation that philosophy of place has as Phainomena 31 | 122-123 | 2022 yet only scarcely referred to Eugen Fink the question arises how could it profit from a confrontation with Fink's cosmology. Upon an introductory deliberation concerning some of the fundamentals of Edward Casey's and Jeff Malpas's philosophy of space, we elaborate the central aspects of Fink's comprehension of space, in order to accentuate the common characteristics and differences between his understanding and the recent research orientation. By contrasting in this manner Fink's cosmological thinking with the topological thinking of the philosophy of space, can with the inclusion of Fink's notion of anthropological and social spatiality a research field be outlined, which could impart onto philosophy of place a potential practical dimension. Keywords: space, place, world, cosmology, topology. Svet kraja in prostor sveta. Eugen Fink in filozofija kraja v razgovoru Povzetek Članek skuša razumevanje prostora pri Eugenu Finku pritegniti v razgovor z 266 novejšimi zastavki v fenomenologiji in hermenevtiki, ki se izrecno osredotočajo na vprašanje kraja. Na podlagi opažanja, da se je filozofija kraja doslej redko sklicevala na Finka, se zastavlja vprašanje, koliko lahko sama pridobi s spoprijemom s Finkovo kozmologijo. Po vpeljavi nekaterih temeljnih misli filozofije kraja pri Edwardu Caseyju in Jeffu Malpasu razdelamo osrednje vidike Finkovega razumevanja prostora, da bi nato lahko opozorili na skupne poteze in razlike med njegovim dojemanjem in sodobno raziskovalno usmeritvijo. S pomočjo takšnega kontrastiranja Finkovega kozmološkega mišljenja in topološkega mišljenja filozofije kraja je mogoče z vključitvijo antropološke in družbene prostorskosti pri Finku orisati raziskovalno polje, ki bi filozofijo kraja morda lahko razširilo s potencialno praktično razsežnostjo. Ključne besede: prostor, kraj, svet, kozmologija, topologija. Annika Schlitte 1. Einleitung Obwohl der Raum in Finks Kosmologie eine wichtige Rolle spielt, findet sein Denken in den interdisziplinären raumtheoretischen Debatten der letzten Jahre keine nennenswerte Beachtung. Selbst dort, wo phänomenologische Raumauffassungen thematisiert werden, sucht man Fink neben den oft genannten Bezugsautoren Heidegger und Merleau-Ponty meist vergebens (vgl. Dünne und Günzel 2006; Günzel 2013). Auch in dem Zweig der Forschung, der sich explizit mit dem Ort in Abgrenzung zum Raum beschäftigt, kommen einschlägige Textsammlungen und Sammelbände weitgehend ohne Verweise auf Fink aus (vgl. Janz 2017; Malpas 2017; außer: Botz-Bornstein 2017). Dabei zeigen sich in Finks Denken nicht nur auffällige Parallelen zur zeitgenössischen Philosophie des Ortes, sondern es eröffnen sich mit der Fokussierung auf die Welt und die Weltstellung des Menschen bei ihm auch Untersuchungsperspektiven, die eine wertvolle Erweiterung aktueller Diskussionen darstellen. Im folgenden kursorischen Durchgang durch Finks Raumdenken soll daher die Frage im Zentrum stehen, welche Impulse von einer Beschäftigung mit Fink 267 für die Ortsforschung ausgehen könnten. Zu diesem Zweck sollen in einem ersten Schritt Grundgedanken der aktuellen Philosophie des Ortes vorgestellt werden (2), um dann in einem Durchgang durch zentrale Aspekte von Finks Raumverständnis auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen seiner Auffassung und dieser aktuellen Forschungsrichtung aufmerksam zu machen. Nach einer Verortung des Raumproblems in Finks Weltdenken (3) werden die Auseinandersetzung mit der Tradition der Metaphysik (4) sowie zentrale begriffliche Unterscheidungen im Zusammenhang mit dem „Weltsinn" des Raumes (5) die Untersuchung strukturieren. Nachdem Finks kosmologisches Denken dergestalt mit dem topologischen Denken der Ortsphilosophie kontrastiert worden ist, wird mit der anthropologischen und der sozialen Räumlichkeit bei Fink (6) ein Untersuchungsfeld umrissen, das eine mögliche praktische Dimension der Philosophie des Ortes eröffnen könnte. Zum Schluss folgt ein kurzes Fazit (7). Phainomena 31 | 122-123 | 2022 2. Grundzüge einer Philosophie des Ortes bei Edward Casey und Jeff Malpas Der Begriff des Ortes ist seit den 1990er Jahren nicht nur zum Bezugspunkt einer vielfältigen interdisziplinären Forschungslandschaft geworden (vgl. Cresswell 2015), auch in der Philosophie kontinentaler Prägung haben in jüngerer Zeit mehrere Autoren den Ort („place") ins Zentrum ihres Denkens gestellt (vgl. Janz 2017) und von einem spezifisch modernen, naturwissenschaftlich orientierten Begriff des Raumes („space") abgegrenzt, der diesen als abstraktes Bezugssystem begreift.1 Dem Ort als einer konkreten, begrenzten Einheit, die lebensweltlich erfahrbar ist, wird der Raum gegenübergestellt, der als leer, homogen und isotrop charakterisiert wird. Mit dieser Kontrastierung von Ort und Raum können die betreffenden Autoren an die Differenz von geometrischem und erlebtem bzw. gelebtem Raum anknüpfen, die z. B. von Graf Karlfried von Dürckheim bereits in den 1930er Jahren entwickelt wurde (vgl. Dürckheim 2005). Dabei wird der Ausdruck 268 „Ort" bzw. „place" einerseits für den gesamten Bereich des erlebten Raumes (in Abgrenzung zum geometrischen bzw. physikalischen Raum) verwendet, andererseits steht er auch für eine begrenzte Einheit innerhalb dieses Raumes, der im geometrischen Raum der Punkt oder die Stelle („point", „site") entspricht. Wenn ich nun kurz ein paar Charakteristika von Orten in diesem Sinne skizziere, beziehe ich mich insbesondere auf Edward Caseys Buch Getting Back into Place (Casey 2009a) und Jeff Malpas' Monografien Place and Experience (Malpas 1999) sowie Heidegger and the Thinking of Place (Malpas 2012). Während Caseys Ausgangspunkt eher in der Leibphänomenologie zu finden ist, wählt Malpas eine stärker hermeneutische Perspektive. Im Folgenden soll kurz skizziert werden, was gemeint ist, wenn in diesem Zusammenhang von Orten gesprochen wird. Im Gegensatz zu Punkten in einem Koordinatensystem, Stellen in einem abstrakten Bezugsystem haben die Orte, von denen in dieser philosophischen Strömung die Rede ist, jeweils eine spezifische Erfahrungsqualität. So unterscheiden sich der Punkt 50° 1 Für eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dieser Forschungsrichtung vgl.: Schlitte, Hünefeldt, Romic und van Loon 2014; Hünefeldt und Schlitte 2018. Annika Schlitte nördlicher Breite, 14° östlicher Länge und der Punkt 48° nördlicher Breite, 2° östliche Länge quantitativ um 2 Breiten- und 12 Längengrade, der Unterschied zwischen den Orten Prag und Paris lässt sich so aber nicht fassen. Auch wenn der Begriff „Ort" in der deutschen Sprache häufig mit einer Siedlung assoziiert wird (etwa in „Ortskern" oder „Ortsschild"), sind Städte wie die zuvor genannten bereits Beispiele für sehr große orthafte Einheiten und noch dazu solche, deren Grenzen als Verwaltungseinheiten relativ klar definiert sind. Insgesamt ist es für einen Ort jedoch kennzeichnend, dass er zwar begrenzt ist, aber dass seine Grenzen nicht eindeutig bestimmt sind. Wenn man von der Stadt als Verwaltungseinheit absieht, zeigt sich das auch im Fall von Prag - fängt die Stadt mit ihren Vororten an oder gehört das Umland auch dazu? Außerdem sind kleinere Orte in größeren enthalten. Innerhalb der großen Stadt Prag gibt es viele einzelne, kleinere Orte wie Stadtviertel, Plätze, Parks, Gebäude, schließlich gibt es auch Orte innerhalb dieser Gebäude, z. B. Zimmer, die selbst wieder Orte bergen wie den Platz am Kamin oder die Bank am Fenster. Wenn wir die Orte so weiterverfolgen bis hin zu ihrer kleinsten Ausprägung landen wir bei einzelnen Dingen (z. B. der Bank), die selbst 269 einen Ort (im Zimmer) haben und Ort sein können für andere Dinge (für das Kissen, das auf der Bank liegt beispielsweise). Dabei zeigt sich neben der Verschachtelung der Orte ineinander auch, dass wir den Ort normalerweise als Ort für etwas oder jemanden verstehen, das oder der an ihm verortet ist, Dinge zum Beispiel, aber eben auch andere Lebewesen und schließlich Menschen. Bei Edward Casey wird dem Ort deswegen in Anlehnung an Heidegger eine „versammelnde" Kraft zugeschrieben, die nicht nur dazu führt, dass sich Dinge und Lebewesen an ihm aufhalten, sondern auch, dass mit dem Ort Erinnerungen und symbolische Bedeutungen verknüpft werden (vgl. Casey 2009a, 74; Casey 2009b, 327-329). Casey und Malpas betrachten den Ort nun aber nicht nur als Gegenstand der Erfahrung, sondern auch als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung. Die Vorstrukturierung der Erfahrung erfolgt nach Caseys Auffassung jedoch nicht durch eine reine Denkbedingung oder eine Anschauungsform, die einem weltlosen Subjekt zukäme, sondern in Gestalt eines materialen Apriori, insofern wir als leibliche Wesen immer schon irgendwo verortet und damit in der Welt sind. So wie die Leiblichkeit eine Bedingung der Möglichkeit von Phainomena 31 | 122-123 | 2022 Erfahrung ist, die sich aber in einem konkreten Leib jeweils schon vorfindet, so ist Ort oder, wenn man so will, Örtlichkeit eine Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung, die sich in einem je konkreten Ort verwirklicht hat. Leiblichkeit und Örtlichkeit rücken daher bei ihm sehr eng zusammen. Man kann nun beobachten, wie sich die Perspektive von der Betrachtung verschiedener Orte und ihrer Spezifika zu einem Nachdenken über den Ort als solchen verschiebt. Jeff Malpas reflektiert diese Verschiebung des Blicks, wenn er den Ort nicht in erster Linie als etwas Erfahrbares bestimmt, sondern als Teil einer Struktur, die Erfahrung erst ermöglicht: „The crucial point about the connection between place and experience is not, however, that place is properly something only encountered ,in' experience, but rather that place is integral to the very structure and possibility of experience." (Malpas 1999, 31f.) Jeglicher philosophischen oder anderen theoretischen Beschäftigung mit dem Raum geht daher die Verortetheit des Selbst voraus, die Casey und Malpas als eine Konkretisierung des In-der-Welt-Seins verstehen („Our being in the world is the same as our ,being there/here'"; Malpas 2012, 15). Als derart verortete 270 Wesen finden wir uns nicht nur an Orten vor, sondern wir gestalten diese auch mit.2 Die Beziehungen zu Orten haben aber auch entscheidenden Einfluss auf unser Selbstbild, was sich etwa daran zeigt, dass sich die Biografie eines Menschen in Form einer Reise von Station zu Station darstellen lässt, oder an der Heftigkeit, mit der über Begriffe wie Heimat bis in die Gegenwart immer wieder gestritten wird. Wer wir sind, hat nach Casey viel damit zu tun, wo wir sind, aber wir vergessen das meistens und betrachten Orte oft so, als seien sie bloße Positionen oder Stellen („sites") in einem neutralen und homogenen Raum (Casey 2009a, xv). Dies führt Casey auf eine gewisse „Ortsvergessenheit" zurück, deren sich die moderne Philosophie schuldig gemacht hat und die auch unser Alltagsverständnis noch durchzieht. 2 Hier scheint es mir besonders wichtig darauf hinzuweisen, dass wir uns verschiedener Praktiken bedienen im Umgang mit Orten, die dann auch ihrerseits wieder auf die Orte einwirken, sodass man hier von einer Art Wechselwirkung ausgehen kann und nicht von einer einseitigen Determination durch den Ort, wie es dem Ortsdenken bisweilen unterstellt wird. Vgl. hierzu das Forschungsprogramm des DFG-Graduiertenkollegs „Practicing Place. Soziokulturelle Praktiken und epistemische Konfigurationen": https://practicing.place/de/. Annika Schlitte Mit der Reflexion über den Ort verbindet sich nämlich auch eine spezifische Sicht auf die Philosophiegeschichte, die diese als eine allmähliche Verdrängung des Ortes durch den Raum erzählt. Eine solche Erzählung liefert Casey in seiner groß angelegten Studie The Fate of Place. A Philosophical History (Casey 1997). Nachdem in der Antike, namentlich bei Platon und Aristoteles, noch ein Bewusstsein für die Bedeutung des Ortes und die Polarität von Ort und Raum vorhanden gewesen sei, was sich daran zeige, dass verschiedene Begriffe für Raum/Ort verwendet wurden („chora" und „topos", die aber keineswegs mit Raum und Ort gleichzusetzen sind; vgl. Malpas 1999, 24f.), habe spätestens der Siegeszug der Naturwissenschaften in der Neuzeit dazu geführt, dass sich in der Philosophie, aber auch im Alltagsverständnis die Vorstellung des leeren, homogenen und isotropen Raums auf Kosten eines gehaltvollen Ortsbegriffs durchgesetzt hat. Hier kann keine detaillierte Auseinandersetzung mit Caseys Aristoteles-Interpretation erfolgen, die diesen als „Protophänomenologen" zu verstehen sucht (Casey 1997, 57), aber es soll zumindest darauf hingewiesen werden, dass Casey dem aristotelischen topos-Begriff und insbesondere seiner Rede von der „Kraft" des Ortes große Bedeutung beimisst. Hierzu schreibt er: 271 Place indeed „has some power." It has the power to make things be somewhere and to hold and guard them once they are there. Without place, things would not only fail to be located; they would not even be things: they would have no place to be the things they are. (Casey 1997, 71.) Anders sieht es in der Neuzeit aus. Wo es früher Orte waren, gibt es jetzt nur noch Punkte in einem Koordinatensystem - so klingt es bei Casey, der zu der Diagnose kommt: „In the past three centuries in the West - the period of ,modernity' - place has come to be not only neglected but actively suppressed." (Casey 2009a, xiv.) Aber nicht nur der (physikalische) Raum habe den Ort verdrängt, eine weitere Bedrohung ergab sich auch aus der modernen Dominanz der Zeit über den Raum, die Casey in Getting Back into Place als „Temporozentrismus" (vgl. Casey 2009a, 14) bezeichnet. Demnach befindet sich der Ort in Frontstellung gegenüber dem Raum, aber auch gegenüber der Zeit. Casey setzt eine Priorität Phainomena 31 | 122-123 | 2022 des Ortes gegenüber Zeit und Raum dagegen, die sich zunächst auf die Erfahrung bezieht, dann aber auch als ontologische Priorität bezeichnet wird. Er will zeigen, „that place is irreducible to space and that in relation to time it is, if anything, a first among equals" (Casey 2009a, xxii). Die Frontstellung des Ortes gegen die Zeit, die Casey in Getting into Place angenommen hatte, wird bei ihm jedoch unterlaufen durch zahlreiche Bemerkungen, die auf die enge Verbindung von Ort und Zeit hinweisen, die sich zum Beispiel auch in der Erinnerung, speziell im Ortsgedächtnis zeigt. Schließlich will Casey dem Ort sogar selbst eine andere Art von Zeitlichkeit zuschreiben, die ihn von den Dingen unterscheidet und eher in die Nähe eines Ereignisses rückt: Rather than being one definite sort of thing - for example physical, spiritual, cultural, social - a given place takes on the qualities of its occupants, reflecting these qualities in its own constitution and description and expressing them in its occurrence as an event: places not only are, they happen. (Casey 2009b, 330.)3 272 Doch muss das Bewusstsein für eine solche Bedeutung des Ortes erst noch zurückerobert werden. Denn nicht nur die philosophische Vernachlässigung, die mangelnde Aufmerksamkeit für das scheinbar Selbstverständliche im Alltag, sondern auch gesellschaftliche Entwicklungen wie die Globalisierung führen laut Casey dazu, dass dem spätmodernen Subjekt der Sinn für den Ort verlorengegangen ist. Das moderne Subjekt wird insgesamt als „ortloses Subjekt" verstanden, eine Entwicklung, für die Descartes und Kant verantwortlich gemacht werden (Casey 1993, 364). Erst mit der Phänomenologie (Edward Casey verweist besonders auf Husserl und Merleau-Ponty) bzw. mit Heidegger (Jeff Malpas) habe eine Wiederentdeckung des Ortes stattgefunden, an welche die betreffenden Autoren nun wieder positiv anknüpfen wollen. Bei Casey klingt das so: 3 Vgl. auch: „A place is more an event than a thing to be assimilated to known categories." (Casey 2009b, 329.) Im neuen Vorwort zu Getting Back into Place gibt er an, Ort und Zeit nun als im Ereignis vereint zu denken; vgl. Casey 2009a, xxii. Annika Schlitte I shall accord to place a position of renewed respect by specifying its power to direct and stabilize us, to memorialize and identify us, to tell us who and what we are in terms of where we are (as well as where we are not). To be in the world, to be situated at all, is to be in place. Place is the phenomenal particularization of „being-in-the world". (Casey 2009a, xv.) Dies ist der Kontext, von dem aus ich nun auf die Behandlung von Ort und Raum bei Eugen Fink blicken werde. Während Heidegger in der aktuellen Ortsdiskussion eine sehr prominente Rolle spielt, wird Fink in diesem Kontext bislang eher wenig rezipiert. Im folgenden Durchgang durch verschiedene Schauplätze von Finks Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Raum und Ort sollen einige Parallelen, aber auch wesentliche Unterschiede zur Philosophie des Ortes herausgearbeitet werden. 3. Eugen Fink: Die Frage nach dem Raum im Kontext des Weltproblems Zunächst ist festzustellen, dass Finks Hauptaugenmerk sich nicht auf den Ort oder den Raum richtet und erst recht nicht auf eine Differenz zwischen beiden, sondern auf die Welt. Das Problem der Welt hat ihn bekanntlich schon in den 1930er Jahren beschäftigt, als er noch sehr eng mit Husserl zusammenarbeitete und großes Vertrauen in die phänomenologische Methode setzte. Gerade in Bezug auf den Weltbegriff zeigt sich bei Fink nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch eine Unzufriedenheit mit den Instrumenten der Phänomenologie, die ihn auch zu einem veränderten Verständnis von Ontologie führt. Diese soll sich laut Fink nicht mehr wie in der traditionellen Metaphysik am Ding orientieren und auch nicht am Dasein wie beim frühen Heidegger, sondern sich der ontologischen Erfahrung von Welt zuwenden, um von da aus zu einer neuen Seinsinterpretation zu kommen, die auch ein verändertes Verständnis von Raum, Zeit und Bewegung einschließt.4 Da 273 4 In Sein und Mensch schreibt er dazu: „Die gesuchte Seinserfahrung ist die Erfahrung von Welt; auf eine ursprüngliche Welterfahrung ist dann eine neue Interpretation des Seins zu gründen, welche den Sinn von Sein in Zeit und Raum und seinlassender Phainomena 31 | 122-123 | 2022 Welt als die Einheit von Raum, Zeit und Bewegung beschrieben wird, hat die „Weltvergessenheit" (Fink 2018b, 46), die Fink der Metaphysik vorwirft, auch Konsequenzen für die Thematisierung des Raums. Denn so wie wir die Welt verfehlen, wenn wir vom Binnenweltlichen ausgehen und dieses auf ein höchstes Seiendes hin steigern, missverstehen wir auch den Raum, wenn wir ihn vom Binnenräumlichen her zu denken versuchen. Die Missachtung der „kosmologischen Differenz" (Fink 2016, 207) zwischen der Welt und dem binnenweltlich Seienden führt also nicht nur zu der Verwechslung der Welt mit einem binnenweltlich Seienden, sondern auch zu einem falschen Raumverständnis. Wenn wir unsere Untersuchung bei der Räumlichkeit der Dinge ansetzen, verbleiben wir nämlich stets im Rahmen eben jener Dingontologie,5 die Fink gerade überwinden will. Nach Fink müssen wir verstehen, was es heißt, „daß eben Raum und Zeit und Bewegung keine Dinge sind, obgleich alle Dinge im Raum, in der Zeit, in Bewegung sind" (Fink 2018b, 43). Oder, um es auf den Punkt zu bringen: „Das Worin der Dinge ist selbst kein Ding." (Ebd.) Raum und Zeit sind weder Dinge noch 274 Dingstrukturen, sondern „Weisen wie das Weltganze ist" (ebd., 22). In seinen Vorlesungen über die Ontologische Frühgeschichte von Raum, Zeit, Bewegung will Fink daher den „Weltsinn" dieser drei Begriffe herausarbeiten, indem er sich kritisch mit den Anfängen der metaphysischen Denktradition befasst. Seiner Darstellung der frühen griechischen Philosophie stellt Fink selbst einige methodische Überlegungen voran, in denen er sich deutlich von einem rein phänomenologischen Ansatz abgrenzt. Die Phänomenologie als Methode versage bei Raum, Zeit und Bewegung, weil diese nicht gegeben, sondern Bedingung der Möglichkeit des Gegebenen sind: Für jegliches phänomenologische Aufweisen, das an der Idee der originären Selbstgegebenheit eines Seienden orientiert bleibt, sind Raum, Zeit und Bewegung unerreichbar. Und das nicht etwa deshalb, Bewegung der Welt findet und von solcher Basis aus die Auseinandersetzung mit der an das Ding gebundenen Metaphysiktradition aufnimmt." (Fink 1977, 258.) 5 Dingontologie heißt „eine Gestalt der Seinsproblematik [...], die das Sein in der Blickbahn auf endliche Dinge denkend zu bestimmen sucht: an ihnen oder auch im Abstoß von ihnen" (Fink 1977, 227). Annika Schlitte weil sie jenseits der Phänomene lägen, sondern weil sie in allen „Phänomenen" schon vorausgesetzt sind, - weil die Phänomenalität der Phänomene wesentlich durch Raum, Zeit und Bewegung bestimmt ist. (Ebd., 16.) Raum und Zeit erscheinen nicht selbst, daher ist eine Erfahrung des Raums nicht in derselben Weise möglich wie die Erfahrung von seienden Dingen im Raum. Nach Fink kann man Raum, Zeit und Bewegung daher auch nicht einer der traditionellen Disziplinen der Philosophie oder bestimmten Wissenschaften zuordnen. Es scheint zwar vielleicht auf den ersten Blick so, als gehöre der Raum zur Natur, die Zeit zur Geschichte, und damit wären sie Gegenstand der Natur- oder der Geschichtswissenschaft. Es sei aber fraglich, ob die Einzelwissenschaften Raum, Zeit und Bewegung als solche überhaupt thematisieren können, weil diese immer von einer binnenweltlichen Perspektive bestimmt seien und sich nur für bestimmte Gegenstandsbereiche interessierten. Wenn die Phänomenologie und die Einzelwissenschaften hier nicht 275 weiterhelfen,könnte es sinnvoll erscheinen, stattdessen von unserem alltäglichen Raum- und Zeitverständnis auszugehen und daraus Differenzierungen abzuleiten. So ließen sich verschiedene Unterscheidungen wie die von objektiver und subjektiver Zeit, von erlebtem Raum und wissenschaftlichem Raum ansetzen. Doch diese Vorgehensweise wäre nach Fink „verkehrt", wenn man sich davon eine Erkenntnis über das Wesen von Raum, Zeit und Bewegung verspricht. Zwar „bieten die Weisen, wie wir dergleichen erleben, gewiß eine reiche Ausbeute an nuancierten Unterscheidungen, mit denen sich eine ganze Weile hin- und herreden läßt" (Fink 2018b, 34), so Fink. Das Problem ist jedoch, dass unser alltägliches Seinsverständnis heute noch bestimmt wird von dem, was zuvor bereits über die Struktur des Seins gedacht worden ist. Die Dinge, die uns begegnen, sind immer schon gemäß einer alltäglichen Ontologie vorinterpretiert. Das größte Hindernis für das richtige Verständnis von Raum, Zeit und Bewegung ist dabei das Subjekt-Objekt-Schema, das wir auch dann anwenden, wenn wir subjektive Zeit- oder Raumwahrnehmung der objektiven Zeit oder dem objektiven Raum gegenüberstellen. In der Verabsolutierung dieses Phainomena 31 | 122-123 | 2022 Schemas liegt die Gefahr, Zeit und Raum entweder selbst zu verdinglichen oder sie in das Subjekt zu verlegen: In Wahrheit gibt es weder einen objektiven Raum, noch eine objektive Zeit, denen subjektive Erlebnisse gleichsam gegenüberlägen. Raum und Zeit lassen sich nie zu bloßen Gegenständen herabwürdigen, so wenig ihnen andererseits damit ein höherer Charakter verliehen wird, daß sie als Erlebnisraum und Erlebniszeit in den Menschen hineinprojiziert werden. Die Frage, ob es gelingt, das übliche subjektiv-objektive Schema bei der Raum- und Zeitproblematik zu vermeiden, entscheidet darüber, ob überhaupt die philosophische Dimension berührt wird. (Ebd.) Während Räumliches und Zeitliches subjektiv oder objektiv sein können, gelte dies für Raum und Zeit selbst nicht, weil die Trennung von Subjekt und Objekt selbst schon Raum und Zeit voraussetzt (ebd., 45). Gefordert ist hier stattdessen eine ontologische Untersuchung, in dem Sinne, dass sie „nach den 276 ,Bedingungen der Möglichkeit' des Gegebenen fragt, [...] das vorgängige Sein des Seienden begrifflich faßt" (ebd., 17). Blicken wir von hier aus auf die Ortsphilosophie, lässt sich mit Fink eine Grenze der Betrachtung aufzeigen, jenseits derer die eigentlich philosophische Thematisierung von Raum erst beginnt. Die Trennung zwischen erlebtem Raum oder Ort und dem wissenschaftlichen Raum verbleibt nach dem soeben Referierten im Bereich des Binnenweltlichen, sodass eine phänomenologische Untersuchung der menschlichen Orts- oder Raumerfahrung allein keine Antwort auf die Frage liefern kann, was den Ort oder den Raum ausmacht. Auch in der Ortsphilosophie der Gegenwart zeigt sich eine Ebene, die über die verschiedenen Orte der faktischen Erfahrung hinausweist in Richtung einer ontologischen Bedeutung des Ortes. Wenn Casey den Ort in die Nähe des Ereignisses rückt und Malpas ihm eine erfahrungsermöglichende Funktion zuschreibt, wird der Bereich dessen überstiegen, das einer phänomenologischen Beschreibung zugänglich ist. Casey spricht daher nicht nur von einer phänomenologischen, sondern auch einer ontologischen Priorität des Ortes (Casey 2009a, 31). Man könnte hier also in Anlehnung an die ontologische Differenz zwischen Sein und Seiendem bei Heidegger und die Annika Schlitte kosmologische Differenz zwischen Welt und Binnenweltlichem bei Fink von einer topologischen Differenz zwischen dem Ort und den konkreten Orten sprechen (vgl. Hünefeldt und Schlitte 2018, 12). Malpas verweist bereits auf diese Parallele und streicht eine doppelte Bedeutung des Ortsbegriffs heraus: [P]lace names both that which supports and grounds the appearing of any and every place as well as the various appearances of place as such - it refers to both this place and to the very place or placedness of which this place is an instance. The distinction at issue here is, not surprisingly, an analogue of the ontological difference. (Malpas 2012, 49.) Gleichzeitig muss jedoch, wie Malpas bemerkt, eine Hypostasierung des Ortes an sich vermieden werden, so wie es auch ein Missverständnis wäre, Sein und Seiendes bei Heidegger als zwei separate Entitäten zu verstehen. Die topologische Struktur ist in den Orten und nicht etwas von ihnen Getrenntes, Jenseitiges (vgl. Malpas 2012, 40). Jeff Malpas entwickelt seine Auffassung der Topologie in einer Lektüre von Heideggers Spätphilosophie und dessen Idee 277 einer „Topologie des Seins". Der Gedanke einer Struktur, die das Erscheinen der Dinge ermöglicht, ohne selbst zu erscheinen und die hier mit dem Ort verknüpft wird, könnte von Fink her aber auch mit der Welt in Verbindung gebracht werden. Während bei Fink der Raum ein Moment der Welt darstellt, wählt Malpas den Begriff Ort als Bezeichnung für die gesamte Struktur, die bei Fink als Welt bezeichnet wird. 4. Finks Abkehr von einer metaphysischen Deutung des Raumes Sowohl Fink als auch Casey und Malpas erarbeiten ihre eigene Auffassung in einer kritischen Auseinandersetzung mit historischen Positionen, wobei im Umgang mit der Philosophiegeschichte einige Überschneidungen zu erkennen sind, auch wenn die Auswahl der Autoren nicht deckungsgleich ist. Während Jeff Malpas sein topologisches Denken im Wesentlichen im kritischen Dialog mit Heidegger entwickelt, hat Edward Casey in The Fate of Place eine ganze Philosophiegeschichte des Verhältnisses von Ort und Raum im westlichen Denken vorgelegt, das bei der Enuma Elish ansetzt und bis zur Philosophie Phainomena 31 | 122-123 | 2022 der Postmoderne reicht. Auch Eugen Fink erarbeitet seine eigene Philosophie im engen Austausch mit der Tradition - mit der antiken Metaphysik in Nachdenkliches zur ontologischen Frühgeschichte von Raum - Zeit - Bewegung; speziell mit Kant, Husserl und Heidegger in Welt und Endlichkeit. In allen Fällen ist die Bezugnahme eine kritische, die darauf zielt, auf die Vernachlässigung einer bestimmten Fragestellung aufmerksam zu machen. Während Fink eine „Weltvergessenheit" der Metaphysik beobachtet, wird bei Casey der modernen Philosophie eine „Ortsvergessenheit" attestiert (und in beiden Fällen klingt hier die „Seinsvergessenheit" nach, von der Heidegger ausgegangen war). Im Folgenden sollen zunächst einige wichtige inhaltliche Punkte von Finks Auseinandersetzung mit der Tradition der Metaphysik vorgestellt werden, bevor die Bedeutung der Philosophiegeschichte für die Philosophie des Ortes im Kontrast zu Fink kurz angedeutet werden soll. Finks Auseinandersetzung mit der antiken Metaphysik zeigt auf, inwiefern auch das Denken über den Raum massiv von der Tradition bestimmt ist, die auch die Auffassung der Welt formt. Dabei interpretiert er Parmenides als den Anfang 278 eines Denkens, das Raum, Zeit und Bewegung aus dem wahren Sein ausschließt und damit die von ihm diagnostizierte Weltvergessenheit erst entstehen lässt. Im Durchgang durch die Ansätze von Zenon, Platon und Aristoteles arbeitet Fink verschiedene Probleme an einem binnenweltlich orientierten Raumverständnis heraus, die hier nur kurz angedeutet werden sollen: • So wird erstens immer dann, wenn Raum als Ausdehnung und Zeit als Folge verstanden wird, ein binnenräumliches bzw. -zeitliches Moment zur Erklärung des Raumes bzw. der Zeit herangezogen. Es ist aber keineswegs klar, dass in den messbaren Eigenschaften das Wesen von Raum und Zeit besteht. • Sowohl in Bezug auf die Zeit als auch auf den Raum wird zweitens ein problematischer Begriff des Inseins angelegt, der ebenfalls aus dem Binnenweltlichen stammt (vgl. Fink 2018b, 122). So stellt man sich seit Zenon das Sein der Dinge im Raum ähnlich vor wie das Sein von kleineren räumlichen Dingen in einem größeren Ding, etwa einer Schachtel. Doch das Sein der Dinge in der Welt als ganzer darf man sich nicht vorstellen wie das räumliche Enthaltensein von etwas Kleinerem in etwas Größerem. Annika Schlitte • Drittens ist die durchgehende Parallelisierung von Raum und Zeit problematisch, wie Fink an der Gegenüberstellung von „Hier" und „Jetzt" verdeutlicht. Während das Hier sich auf Einzeldinge bezieht und diese voneinander trennt, umgreift das Jetzt alle und alles (vgl. ebd., 120). • Schließlich ist es viertens auch falsch, Raum und Zeit ausgehend von der Erfahrung der Bewegung der Einzeldinge als ruhend zu denken und der Bewegung entgegenzusetzen. Raum und Zeit müssen vielmehr ausgehend von der Bewegung des Raumgebens und des Zeitlassens verstanden werden: Vielleicht ist der Raum und die Zeit gerade das Eigentliche an der Bewegung. Vielleicht geschieht als Raum und als Zeit die wahrhafte Bewegung der waltenden Welt, nämlich die Raumeröffnung, das Raumgeben, wodurch alles Seiende in den Raum geräumt wird, - und die Zeiteröffnung, die Zeitigung, das Zeitlassen, das allem, was in ihr kreucht und fleucht, die Weite zumißt. (Ebd., 140.) Doch auch wenn die Metaphysik Raum, Zeit und Bewegung nicht 279 angemessen gedacht hat, präpariert Fink einige wichtige Gedanken aus der Philosophiegeschichte heraus. So schreibt er Platon zumindest die Erkenntnis zu, dass Raum und Zeit nicht als „bloße Stellensysteme" verstanden werden dürfen, sondern „als Weltprinzipien", die in einem Zusammenhang stehen (vgl. ebd., 162f.). Insofern er sieht, dass Raum und Zeit nicht selbst Momente der Dinge sind, steht Aristoteles für Fink an der Schwelle zur Erkenntnis des Welt-Raums (vgl. ebd., 180). Doch obwohl er den Ort von den Dingen abtrennt, bleibt Aristoteles in seinem Ortsverständnis zu sehr an den Einzeldingen orientiert, wie auch das Bild des Ortes als Gefäß illustriert, das er verwendet.6 In Welt und Endlichkeit setzt sich Fink im Rahmen seiner Erörterung des metaphysischen Weltbegriffs dann mit Kants Raumverständnis auseinander. Kant macht sich aus Sicht Finks einer Subjektivierung der Welt schuldig, indem 6 Fink meint, man könne hier beobachten, wie Aristoteles „im Bedenken des Raumes an eine Grenze seines dingontologischen Ansatzes kommt - aber ihn doch nicht entscheidend durchbricht" (Fink 2018b, 184). Phainomena 31 | 122-123 | 2022 er Charaktere, die eigentlich der Welt zukommen, dem Subjekt zuschreibt. Insgesamt verwandle sich bei Kant so der kosmische Begriff der Welt zu einem existenziellen, der die Weltcharaktere wie den Raum in das Subjekt verlegt (vgl. Fink 2016, 335f.). Bei Heidegger sei es nun genau umgekehrt (vgl. ebd., 336), denn am Anfang stehe bei ihm ein Weltbegriff, der Welt als etwas am Menschen versteht (ebd., 344f.), der im Spätwerk jedoch von einem kosmischen Weltbegriff abgelöst wird. Mit dem Weltbegriff aus Sein und Zeit bleibe aber auch Heidegger der Subjekt-Objekt-Spaltung verhaftet, indem er die Räumlichkeit der Dinge und die Räumlichkeit des Daseins scharf voneinander trenne und erstere der letzteren unterordnet: „Raum und Zeit als Daseinsbestimmungen sollen das Ursprünglichere' sein; Zeit und Raum der Dinge sollen in der daseinsmäßigen Räumlichkeit und Zeitlichkeit gründen, sollen daraus ,entspringen'." (Ebd., 352.) Heidegger spreche zwar von der „Bewegung des verstehenden Raumgebens" (ebd., 353f.) und treffe damit einen wesentlichen Charakter der Welt, schreibe diesen aber dem Dasein zu. Deswegen kann Fink sagen: „Diese 280 Rauminterpretation Heideggers vollendet den kantischen Subjektivismus in Ansehung des Raumes." (Ebd., 353.) Vergleicht man Finks Auseinandersetzung mit dem Weltdenken der Metaphysik mit der Darstellung der Philosophiegeschichte des Ortes bei Casey, so bemerkt man Übereinstimmung in der Ablehnung einer Tendenz zur Subjektivierung des Raumes bei Kant und beim frühen Heidegger, aber während die Weltvergessenheit für Fink schon bei Parmenides einsetzt, soll die Verkennung des Ortes erst in der Philosophie der Neuzeit begonnen haben. Hatte der Ort in der aristotelischen Kosmologie noch eine tragende Rolle gespielt (z. B. mit der Idee eines „natürlichen Ortes", zu dem die Elemente hinstreben), geht nach Casey mit dem Aufstieg der Idee eines unendlichen Universums auch die Idee des Raumes als einer leeren, homogenen Größe einher. Innerhalb dieses Raumes gibt es nun unendlich viele neutrale Stellen, die von beliebigen Dingen besetzt werden können und sich untereinander nur durch ihre Position zueinander unterscheiden. Die Idee einer „Kraft des Ortes", welche die Dinge wesentlich bestimmt, hat in dieser Raumvorstellung keinen Platz mehr. Auch wenn Casey die Wiederentdeckung des Ortes im Wesentlichen mit der (Leib-)Phänomenologie beginnen lässt und dann besonders in der Gegenwart Annika Schlitte Anhaltspunkte für eine erneute Aufmerksamkeit für den Ort findet, gibt es doch so etwas wie eine gemeinsame Front von Prä- und Postmoderne gegen das moderne Denken. Daraus ergibt sich auch die Bedeutung von Aristoteles für die Ortsphilosophie. Da für Fink die Unterteilung in Ort und Raum nicht die entscheidende ist und er sich von der abendländischen Metaphysik insgesamt distanzieren will, kann er nicht in dieser Weise an die klassische antike Philosophie anknüpfen. Eine Gemeinsamkeit besteht allerdings in der produktiven Weiterführung von Heideggers Spätphilosophie bei Fink und Malpas, z. B. in Bezug auf Heideggers Selbstkritik an der Dominanz der Zeit gegenüber dem Raum. 5. Zentrale Unterscheidungen: Dingraum, Ortsraum, Weltraum Bei den philosophiehistorischen Untersuchungen hat sich gezeigt, dass Ort/ Raum für die Philosophie des Ortes die Leitdifferenz darstellt. Diese Differenz steht bei Fink nicht im Vordergrund, jedoch unterscheidet er in Bezug auf den Raum zwischen Dingraum, Ortsraum und Weltraum.7 Bei den nun folgenden 2g] Erläuterungen der drei Raumformen ist zu beachten, dass „Ort" in „Ortsraum" hier nicht dasselbe meint wie der Ortsbegriff in der Philosophie des Ortes. Der Dingraum als erste Raumform ist derjenige „Raum, der dem Ding selbst gehört, den es einnimmt, in welchem es sich breitet und dehnt" (Fink 2016, 389), der also mit der Raumgestalt der Dinge zusammenfällt. Von diesem Raum sagt Fink an anderer Stelle, dass er das Vorbild abgibt für den Euklidischen Raum. Der Dingraum ist geradezu welt-los, er ist nirgends: „Dingraum [...] ist eine abstrakte und fundierte Schicht der Räumlichkeit." (Fink 1985, 107.) Wenn man die Bewegung der Dinge berücksichtigt, wird der Dingraum zum Ortsraum als einer „Mannigfaltigkeit von Orten, die von Dingen wechselnd besetzt werden können, sofern sie jeweils in ausgedehnten Gestalten vorkommen" (Fink 2016, 390). Hier ist die Anlehnung an Aristoteles deutlich zu erkennen. Wenngleich der Ortsraum als homogenes Bezugssystem erscheint 7 Auch wenn Fink diese Begriffe schon in der Vorlesung Einleitung in die Philosophie von 1946 verwendet, stütze ich mich hier vor allem auf Welt und Endlichkeit, wo die Unterscheidungen meines Erachtens klarer herausgearbeitet werden. Phainomena 31 | 122-123 | 2022 (womit er eben nicht dem Ortsbegriff der Philosophie des Ortes entspricht), ist er faktisch doch immer schon orientiert und erscheint als „Umgebung" (vgl. ebd., 390), insofern er für uns vom Standpunkt unseres Leibes als „Nullpunkt dieser Umgebung" (ebd.) sich ausbreitet. Hier entwickelt Fink also Gedanken, die sich ähnlich schon bei Husserl finden und auf die auch Casey zurückgreift. Auch wenn Fink Orientierung als ein „Urphänomen" (Fink 1985, 101) bezeichnet, ist für ihn vor allem die Frage relevant, ob man von diesem um den Leib herum strukturierten Raum aus zum Wesen des Raumes selbst vordringen kann. Zwar lässt sich auch dieser am Leib orientierte Raum in der Vorstellung immer weiter ausdehnen, bis man zur Vorstellung eines unendlichen Raumes kommt, dieser „unaufhörlich erweiterte Ortsraum" (Fink 2016, 391) bleibt aber laut Fink immer noch binnenweltlich. Der Ortsraum bildet also auch noch nicht den Weltraum, der nicht einfach eine Ausweitung der binnenweltlichen Räumlichkeit sein kann. Die Orientiertheit des Ortsraumes wird nämlich erst möglich durch die Welt, wie Fink in der Einleitung in die Philosophie sagt. „Nicht weil es Orientierung gibt, 282 gibt es Welt, sondern umgekehrt, weil es Welt gibt, gibt es eine binnenweltliche und auf den Menschen hin orientierte Sphäre von Seiendem." (Fink 1985, 100.) Das Hier des Menschen ist nur möglich, weil es den Weltraum gibt, der Menschen und Dingen schon Raum gegeben hat. Im Weltraum befindet sich das gesehene Ding, aber in ihm vollzieht sich auch der Prozess des Sehens. Der Weltraum ermöglicht es also den Dingen erst, zu erscheinen, und dem Menschen, sich ausgehend vom Standort seines Leibes auf die Dinge zu beziehen.8 Damit liegt er jeder Unterscheidung von objektivem und subjektivem Raum schon voraus und es genügt nicht, einen neutralen Raum der Dinge von einem orientierten Raum des Menschen zu unterscheiden. Vielmehr muss reflektiert werden, dass sowohl die wahrgenommenen Dinge als auch die menschliche Wahrnehmung im Raum stattfinden. In dem Text Bewußtseinsanalytik und Weltproblem fasst Fink die Beziehungen zwischen Dingraum, Ortsraum und Weltraum wie folgt zusammen: 8 Der Weltraum, so Fink, „schwingt gleichsam zwischen dem Hier, je dem Hier meines Leibes und dem denkbar äußersten Dort der offenen Endlosigkeit, so aber, daß aus seinem Horizont her Hier und Dort entspringen" (Fink 1985, 104). Annika Schlitte Und ebenso ist der Raum, nicht als Ortsraum, worin die Dinge wechseln und ihre Plätze tauschen, auch nicht als extensionale Figur der Dinge, die in ihren Umriß eingeschlossen sind, vielmehr als Weltraum weder ein objektiver, noch ein subjektiver Raum, sondern in ihm ist der Menschengeist in tausend Intentionalitäten dem erscheinenden Seienden aufgetan. (Fink 1969, 15.) Was heißt es dann aber, dass etwas im Raum ist, wenn man Raum nicht von den Dingen und ihren Beziehungen untereinander verstehen darf? Fink diskutiert zunächst das Bild eines mit Wasser gefüllten Kruges, das schon Aristoteles für den Ort verwendet hatte. Hier besteht aber das Problem, dass der durch den Krug eröffnete Raum stets begrenzt ist, der Weltraum die Dinge aber nicht begrenzend einschließt, sondern ihr Erscheinen ermöglicht. Fink verweist daher in Bezug auf die Welt auf räumliche „Enthaltungsformen", die ohne Einschließung und Begrenzung auskommen, etwa die Helle und die Stille, in die etwas eingetaucht sein kann, ohne dass es als Teil in ihr enthalten wäre. 283 Es hat sich also gezeigt, dass der Blick auf das Binnenweltliche, auf räumliche und zeitliche Dinge uns nie „zu einem ursprungsechten Begriff von Raum und Zeit führen" (Fink 2016, 393) wird. Dies liegt nicht nur an den Vorurteilen, welche die Metaphysik seit Jahrhunderten in unserem Denken etabliert hat, sondern auch an einer Tendenz der Welt selbst, sich dem Zugriff zu entziehen, die sich eben auch auf Zeit und Raum erstreckt (vgl. ebd., 213). Raum und Zeit verdecken sich nach Finks Auffassung wie die Welt im Binnenräumlichen und Binnenzeitlichen, was verhindert, dass wir zur Weltzeit und zum Weltraum vordringen: Der Weltraum und die Weltzeit leuchten nicht auf, wo der eingeräumte Raum und die gezeitigte Zeit, der Raum und die Zeit der Dinge, bedacht und in ihrem Problemgehalt entfaltet werden. Denn dort hat sich das ursprüngliche Wesen von Raum und Zeit schon selbst verdeckt. (Ebd., 393.) Das ursprüngliche Wesen von Raum und Zeit, von dem hier die Rede ist, ist aber ihr Status als Charaktere der Welt. Fink spricht auch von der „Dreifaltigkeit Phainomena 31 | 122-123 | 2022 von Raum, Zeit und Erscheinen, welches das Wesen der Welt ausmacht" (ebd., 272), womit deutlich wird, dass wir es hier nicht mit getrennten Problemen zu tun haben, sondern mit einer Konstellation.9 Wer über den Raum sprechen will, kann also über die Zeit und die Welt nicht schweigen. Was aber Raum und Zeit als Weltcharaktere ausmacht, wird von Fink bei dem Versuch, einen nicht-metaphysischen Weltbegriff zu entwickeln, allenfalls angedeutet. Dies liegt auch daran, dass wir in der Sprache an Grenzen stoßen, wenn wir über die Welt als „Ur-Ereignis", als „Aufgehen des Seins" (ebd., 397) sprechen, „das allen Dingen und Begebenheiten erst den Spielraum gewährt" (ebd.). Was sich dabei ereignet, wird von ihm auch beschrieben als „das Sichereignenkönnen von Ereignissen" (ebd.). Raum, Zeit und Erscheinung machen dieses Ur-Ereignis aus, weshalb Fink hier auch davon spricht, dass der Raum „geschieht" (ebd.). Bei seinen Versuchen der sprachlichen Annäherung an ein ursprüngliches Sich-Eröffnen des Seins führt Fink nun Welt und Raum (und auch die Zeit, dies soll hier aber nicht im Zentrum stehen) sogar so weit zusammen, dass 284 schließlich die Welt selbst als „ursprünglicher Raum" bezeichnet wird. Damit weist der Weltraum letztlich auf Finks Weltverständnis zurück, von dem er abhängig bleibt: Welt gibt allem Seienden Raum und läßt allem Seienden erst Zeit. Raumgeben und Zeitlassen ist das Wesen der Welt. Als das Raumgebende und Zeitlassende ist sie selbst nicht im Raume und nicht in der Zeit. Sie ist gerade der ursprüngliche Raum und die ursprüngliche Zeit. (Fink 1985, 109.) Der Verweis auf eine Art Ureignis, den Aufgang der Welt, der Raum gibt und Zeit lässt, findet in der Ortsphilosophie eine Entsprechung in der bereits zitierten Aussage Caseys, dass Orte sich ereignen („places happen"). Auch Malpas bringt die von ihm beschriebene topologische Struktur mit dem ursprünglichen Geschehen des Erscheinens der Dinge zusammen und kommt damit Finks Position nahe. So wie die Orte, die wir aus der Erfahrung kennen, 9 Hans Rainer Sepp spricht von einem „Gefüge"; vgl. Sepp 2006, 159. Annika Schlitte Dinge und Menschen versammeln, so öffnet sich in diesem ursprünglichen Geschehen der Bereich, in dem Dinge und Menschen sich aufhalten können: [T]his happening of presence or disclosedness is always the happening of a certain open realm in which, not only things, but we ourselves are disclosed and come to presence - in which we are gathered together with the things around us. (Malpas 2006, 15.) Malpas bestimmt an anderer Stelle den Ort selbst als „open and yet bounded realm within which the things of the world can appear and within which events can ,take place'" (Malpas 1999, 33). Dieses Geschehen, das Malpas hier mit Bezug auf Heidegger herausarbeitet, erinnert stark an das Geschehen der Welt bei Fink. Ein Aspekt, der für die Welt bei Fink zentral ist, in der Philosophie des Ortes aber keine große Rolle spielt, ist das negative Moment des Entzugs und der Verbergung. Zudem wird die Welt von Fink nicht nur mit dem Sein, sondern auch mit dem Nichts verbunden. So ist Welt „als zeitigende Zeit und raumgebender Raum nicht nur der Spielraum und die Spielzeit für alle Dinge, 285 sondern auch der Spielraum der Vermischung von Sein und Nichts" (Fink 2016, 399). Hier zeigt sich auf jeden Fall eine Grenze der Vergleichbarkeit beider Ansätze.10 6. Die räumliche Stellung des Menschen in der Welt und die Gemeinschaft Nachdem Fink herausgearbeitet hat, inwiefern der Raum als Weltcharakter nicht vom Binnenräumlichen und auch nicht von der menschlichen Raumerfahrung aus erschlossen werden kann und die Welt als Konstellation von Raum, Zeit und Erscheinen beschrieben hat, finden der Raum des menschlichen Daseins und die soziale Räumlichkeit in seinen Schriften zur Anthropologie und Sozialphilosophie später dann doch einige Beachtung. Raum- und Zeitbegriffe haben auch für die Anthropologie eine zentrale Bedeutung (vgl. Fink 1979, 56), 10 Vgl. zu diesem Aspekt von Finks Weltverständnis und dessen Auswirkungen auf seinen Begriff des Raumes auch den Beitrag von Karel Novotny in diesem Band. Phainomena 31 | 122-123 | 2022 schließlich liegt „in jedem Selbstverständnis des Daseins [...] ein Verstehen seiner Situation, ein Verstehen seines ,Da, seines Hierseins und Jetztseins" (ebd., 67). Es wäre aber falsch, diese Räumlichkeit des Daseins mit dem Raum als solchem gleichzusetzen. Während er auf der Suche nach einem nichtmetaphysischen Weltbegriffbetont hatte, dass der Weltraum der Differenzierung von subjektivem und objektivem Raum vorausliegt, unterscheidet Fink hier nun „zwischen objektivem Raum (als Stellensystem, als Mannigfaltigkeit von Orten) und dem orientierten Erlebnisraum eines im Ichsagenden sich selbst setzenden Wesens, also den um ein ,Hier' herum zentrierten Um-Raum" (ebd., 58). An dieser Stelle taucht also mit etwas anderer Terminologie die Unterscheidung zwischen dem homogenen, neutralen Ding- oder Ortsraum und einem orientierten Ortsraum auf, den Fink in den früheren Vorlesungen als Umgebung eines leiblichen Hier beschrieben hatte. Die hier folgende Unterscheidung zwischen der Räumlichkeit der Dinge und dem menschlichen Im-Raum-Sein, das durch das Hier strukturiert ist, ähnelt in vielen Punkten Caseys Beschreibung des Verhältnisses zwischen dem wissenschaftlich-abstrakten Raumverständnis 286 und einem lebensweltlichen Ortsbezug. Allerdings setzt auch dieses räumliche (oder bei Casey: örtliche) Erleben nach Fink bereits voraus, dass die Welt den Dingen und uns Raum gegeben hat. Mit Finks Weltverständnis sind aber auch eine Anthropologie und eine Sozialphilosophie verbunden. Es gehört für ihn schließlich wesentlich zum Menschen, in Gemeinschaft zu sein, und auch darin zeigt sich eine räumliche Dimension.11 Diese ist in Caseys Phänomenologie des Ortes, bedingt durch den Ansatz bei der individuellen Erfahrung, bisher eher wenig ausgearbeitet worden, weshalb ein Blick auf Fink sich hier durchaus lohnt. In Existenz und Coexistenz unternimmt dieser „eine phänomenologische Analyse des Phänomens Sozialität', um daran die Basis für die ontologische Bestimmung der menschlichen Gemeinschaft zu gewinnen" (Fink 2018a, 50) und arbeitet dabei auch mit einem raumtheoretischen Ansatz. 11 „Der Mensch lebt in Gemeinschaft, in Gemeinschaften der verschiedensten und mannigfaltigsten Art, keiner lebt ,allein' im Sinne von ,unbezüglich'; sofern ein Mensch überhaupt ist, ist er schon aufgetan und aufgebrochen für das Mitdasein der Mitmenschen; er ist nie und niemals ein in sich verschlossenes, abgekapseltes ,Subjekt'." (Fink 2018a, 30.) Annika Schlitte Angesichts der Frage: „Was meinen wir denn wirklich, wenn wir von Miteinandersein sprechen?" (ebd., 66) diskutiert er verschiedene Formen des räumlichen Beieinanderseins. So komme den einzelnen Steinen in einer Geröllhalde, die sich unter einem Berggipfel durch Erosion gebildet hat, durchaus ein „gewisses Miteinandersein" zu, insofern sie von demselben Gipfel abgebrochen sind. Untereinander stehen sie aber nicht in einer aktiven Verbindung. Etwas anders sieht es bei der Baumgruppe aus, die über die Verflechtung ihrer Wurzeln auch eine „Lebensverbindung" unterhält. Bei den Vögeln in einem Vogelschwarm handelt es sich dagegen schon um ein „Mitleben" (vgl. ebd., 65f.), dass sich dennoch vom menschlichen Miteinandersein unterscheidet. Miteinandersein des Menschen ist nach Fink jedenfalls kein bloßes Nebeneinandersein, sondern impliziert ein Verhalten. Menschen sind daher in einer ganz anderen Weise miteinander, indem sie nicht nur zu sich selbst, sondern auch zu anderen Menschen und zur Welt in einem Verhältnis stehen: „Menschen sind miteinander: und dies ist etwas grundsätzlich anderes als das Beieinander von Steinen in einer Geröllhalde oder von Bäumen in einer Baumgruppe oder von Krähen in einem Schwarm." 287 (Ebd., 77.) Doch das Gemeinsame, das sich in diesem Miteinander zeigt, ist der Weltbezug. Wir teilen die Dinge, weil wir Welt teilen. „Menschliche Gemeinschaft, wie immer sie auch von der konkreten Gestalt unserer eigenen Sozialität verschieden sein mag, ist wesenhaft und notwendig immer ein Mit-Teilen als Miteinanderteilen von ,Welt'." (Ebd., 142.) Wenn wir uns als Menschen einander durch sprachliche Äußerungen mitteilen, steckt darin immer auch ein gemeinsamer Bezug auf die Welt. An anderer Stelle in Existenz und Coexistenz beschreibt Fink speziell die antike polis als eine Art geteilter Weltinterpretation. Dabei kommt er zu der Überlegung, dass das Selbstverhältnis, das den Menschen auszeichnet, sich gerade in Gemeinschaft ausbildet, die die Welt gemeinsam bewohnt und in der sich immer schon ein Verständnis des menschlichen Daseins ausgebildet hat: Das Selbstverhältnis ist überhaupt nicht primär ein Zug des vereinzelten Menschen, sondern es ist „Lehre", ist ein Wohnen in einer Sinnhaftigkeit, in einer gemeinsamen und doch geteilten, aber nicht Phainomena 31 | 122-123 | 2022 aufgeteilten Interpretation des Daseins, als welche eine Stadt, eine Polis, ein Staat „ist". (Fink 2018a, 63f.) Nicht zuletzt ist mit dem Begriff des Wohnens selbst natürlich schon ein Raumbezug verbunden.12 Wir sind, wir leben die Interpretation des Menschseins auch in den Formen des räumlichen Zusammenlebens -damit lenkt Fink den Blick nicht nur auf Überlegungen zu Architektur und Stadtplanung, er führt auch eine wichtige soziale Dimension von Räumlichkeit ein, die in der aktuellen Philosophie des Ortes noch wenig entfaltet worden ist.13 7. Schlussbetrachtung Der notwendigerweise unvollständige Rundgang durch Finks Überlegungen zu Ort und Raum soll an dieser Stelle nicht weiter fortgeführt werden. Wie deutlich geworden sein sollte, gibt es eine Reihe von strukturellen Parallelen 288 zwischen der Philosophie des Ortes und Finks Weltdenken, die sich zum Teil sicherlich aus dem gemeinsamen Bezug auf die phänomenologische Tradition und auf Heidegger speisen. So fand sich etwa die Interpretation der Philosophiegeschichte als Erzählung einer fundamentalen Verkennung - die bei Fink als Weltvergessenheit und bei Casey und Malpas als Ortsvergessenheit gekennzeichnet wird -, sowie der Hinweis auf eine kosmologische bzw. topologische Differenz - als Differenz zwischen Binnenweltlichem und Welt, 12 Zur Bedeutung des Wohnens vgl. den Band: Nielsen und Sepp 2019. 13 Eine solche Untersuchung könnte aber zum Beispiel an Hannah Arendts Weltbegriff aus der Vita activa anknüpfen. Arendt und Fink pochen beide darauf, dass der Mensch im Plural existiert. Bei Arendt bildet sich Welt nicht zuletzt aus der Vielfalt der Perspektiven und Standorte, aus dem Zwischen, weswegen der Raum auch in ihrer Theorie eine zentrale Position einnimmt. Blicke ich auf den einzelnen Menschen, hat jeder sein eigenes „Hier", dem das jeweilige „Dort" der anderen gegenübersteht. Nehme ich stattdessen die Beziehung zwischen Menschen in den Blick, ergibt sich zumindest ein Netz, ein Geflecht von unterschiedlichen für einen Menschen als „Hier" identifizierbaren Orten. Wir können uns aber auch die Vorstellung eines gemeinsamen „Hier" machen, das von verschiedenen Menschen gemeinsam bewohnt wird. Heute wären wir vielleicht auch geneigt, Tiere und Pflanzen in ein solches gemeinsames Hier einzubeziehen. Eine solche Ausarbeitung der Örtlichkeit des Sozialen ist aber bisher nicht unternommen worden. Annika Schlitte zwischen den erfahrbaren Orten und dem Ort als erfahrungsermöglichender Struktur. Mit Fink ließ sich insgesamt also der Gedanke stützen, dass eine Raumoder Ortsphilosophie sich nicht auf eine Untersuchung der subjektiven Raumoder Ortserfahrung beschränken sollte. Mit dem Verweis auf Fink kann man daher nicht nur das Spektrum der Bezugsautor*innen erweitern, sondern auch die Hoffnung verbinden, dadurch dem im interdisziplinären Kontext verbreiteten Missverständnis entgegenzutreten, dass phänomenologische und hermeneutische Zugänge mit einer Subjektivierung des Raumes bzw. Ortes gleichzusetzen sind. Fink betont, dass der Raum seinen eigentlichen Sinn erst dann erhält, wenn man ihn als Weltcharakter begreift. Seine konsequente Thematisierung des Raumes im Zusammenhang mit dem Weltproblem weist auf eine Ebene der Ortsphilosophie hin, die über die lebensweltliche Bedeutung von Orten hinausweist. Insbesondere Jeff Malpas spricht in ähnlicher Weise immer wieder von einer erfahrungsermöglichenden topologischen Struktur, die nicht im Subjekt liegt, sondern mit der Subjekt und Objekt erst gesetzt werden. Als 289 eine solche Struktur, die das Erscheinen der Dinge erst ermöglicht, erscheint sie selbst nicht, sondern bildet die ursprüngliche Zugänglichkeit, die Offenheit, in der überhaupt erst etwas erscheinen kann. Doch während Fink betont, dass der Raum nur im Rahmen des Weltproblems wirklich verstanden werden kann, hebt Malpas hervor, dass man die Welt nur dann begreift, wenn man sie mit dem Raum zusammendenkt.14 Angesichts dieses Zusammentreffens der beiden Ansätze erscheint es fruchtbar, Welt und Raum als Elemente einer Konstellation zu denken, der man sich von verschiedenen Ausgangspunkten aus nähern kann. Dabei wäre die Zeit unbedingt mitzudenken, auf die in diesem Text leider nicht 14 „Space and spatiality cannot be understood as derivative of any other structure - and certainly neither of ,practice' nor of temporality. Moreover, any attempt to investigate the concept of world cannot neglect spatiality. This is not simply because the world encompasses both space and time, but because the very structure of the world can only be articulated and understood through an essential spatialization." (Malpas 2012, 134.) Eine ähnliche Bedeutung des Raumes für die Phänomenologie hat in jüngerer Zeit auch Günter Figal hervorgehoben; vgl. Figal 2015. Phainomena 31 | 122-123 | 2022 weiter eingegangen werden konnte. Hinweise, wie man die Frontstellung der Ortsphilosophie gegen den „Temporozentrismus" überwinden kann, liefern die betreffenden Autoren selbst zur Genüge. Angesichts von Finks bereits zitierter Bemerkung, dass der Raum „geschieht", kann man sich etwa fragen, ob Caseys Sprechen von dem Geschehen der Orte nicht in eine solche Richtung weist. Indem Fink den Menschen schließlich „als Weltverhältnis" denkt und auch die Koexistenz mit anderen als wesentlich durch das Teilen von Welt bestimmt begreift, gelingt es ihm, das Soziale in einer Weise in sein Weltdenken zu integrieren, die auch für die Ortsphilosophie interessant ist, die zumindest in ihren Anfängen sehr stark auf die Wahrnehmung eines einzelnen leiblichen Subjekts konzentriert blieb. Dieser Einseitigkeit beugt Fink durch die Einbindung in die Weltproblematik vor. Insofern ist ihm durchaus zuzustimmen, wenn er schreibt: „Nach der Welt fragen, das fordert in einem radikalen und ursprünglichen Sinne, nach Raum und Zeit zu fragen und den Bezug von Raum und Zeit zum Sein zu denken." (Fink 2016, 203.) 290 Bibliographie | Bibliografija Botz-Bornstein, Thorsten. 1997. „Hermeneutics of Play - Hermeneutics of Place: On Play, Style, and Dream." In Place, Space, and Hermeneutics. Contributions to Hermeneutics 5, hrsg. von Bruce Janz, 97-114. 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