Johannes Meinhardt Das Verschwinden der ästhetischen Einstellung i Es hat seine guten Gründe, dass schon der Titel dieses Symposiums, „Was 67 heisst ,Form' in einer postmodernen Kunst?", ziemlich gewichtige Probleme aufwirft. Das beginnt damit, dass die Frage, was das Adjektiv ,postmodern' in der Zusammenstellung ,postmoderne Kunst' bedeutet, was sein theoretischer Gehalt ist, ausgesprochen umstritten ist; dazu kommt noch, dass der historisch zu- und einordnende Gebrauch von ,Postmoderne' als Epochenbegriff der Gegenwart und einer Vergangenheit, die heute auch schon mehr als 40 Jahre umfasst, mehrdeutig, zum Teil sogar widersprüchlich ist. Und damit verknüpft, also mit dem jeweiligen Begriff und Verständnis von Postmoderne eng zusammenhängend, stellt sich die Frage, ob es in der Postmoderne überhaupt noch irgendeine sinnvolle Definition von Kunst geben kann. Die Widersprüchlichkeit oder zumindest eklatante Doppeldeutigkeit des Terminus Postmoderne beruht darauf, dass vor allem im Amerikanischen ,Postmodernism' in zwei völlig unterschiedlichen Bedeutungen und Zusammenhängen gebraucht und auf zwei in ihrer theoretischen Haltung sogar unvereinbare Kunstrichtungen oder -ausrichtungen angewandt wurde. Einerseits wurde ,Postmodernism' in der amerikanischen Kunsttheorie, besonders um die Zeitschrift ,October' mit den Autoren Rosalind Krauss, Benjamin Buchloh, Craig Owens, Hal Foster herum, zur Beschreibung derjenigen Kunst benützt, die auf die Krise der Moderne und besonders auf die Krise der Leitgattung der klassischen Moderne, der abstrakten Malerei, um 1960 reagiert hatte, indem sie mit wesentlichen Grundbestimmungen der modernen Kunst brach. Dabei ging es insbesondere um den Bruch mit dem ästhetischen Idealismus der Moderne, 68 um den Bruch mit der für die moderne Kunst konstitutiven Vorstellung, es gäbe eine eigenständige, ästhetisch zugängliche immaterielle Welt, zu der die abstrakte Malerei einen besonders ausgezeichneten Zugang eröffne. Sowohl die erste, europäische Avantgarde der abstrakten Kunst, die um 1913 einsetzte, mit den Heroen Wassily Kandinsky, Piet Mondrian und Kasimir Malewitsch, als auch die zweite, vor allem amerikanische Avantgarde mit den Heroen Jackson Pollock, Barnett Newman und Mark Rothko, die um 1948 herum einsetzte, sah ihr Fundament darin, dass abstrakte Gemälde eine Wirklichkeit zu sehen gäben, die die materielle Wirklichkeit der sichtbaren Welt übersteigt; sei es eine Wirklichkeit reiner Ordnungen und Beziehungen, oder sei es eine Wirklichkeit erhabener bzw. sublimer Erfahrungen und Empfindungen. Dass die moderne Malerei, und genereller die moderne Kunst in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts in eine schwere Krise geraten war, die mit dem Zusammenbruch ihres Idealismus zusammenhing, ist unstrittig. Auch dass ein vergleichbarer Zusammenbruch des Idealismus der Moderne, ihres Glaubens an eine ästhetische Hinterwelt, schon am Ende der frühen, noch gegenständlichen Moderne stattgefunden hatte, ist offensichtlich: vor allem von Marcel Duchamp und von den Dadaisten ist der Anspruch der modernen Kunst, besonders der modernen Malerei, transzendierende Erfahrungen und Einsichten zu ermöglichen, einer radikalen und analytischen Destruktion unterzogen worden. Nur dass diese erste Krise der Moderne sich nicht durchgesetzt hatte; Duchamp und Dada erreichten weder die Museen noch eine allgemeine Rezeption, geschweige denn eine akademische Wahrnehmung, etwa durch die Kunstgeschichte. Erst in den späteren fünfziger Jahren, und in einem direkten Zusammenhang mit dem Zerfall oder der Infragestellung der abstrakten Malerei - vor allem des abstract expressionism - wurden Duchamp und Dada wiederentdeckt; oder eher: entdeckt, als Väter einer radikalen Analyse des idealistischen Scheins und Trugs, des ,Illusionismus' der Malerei. Dass sowohl die Arbeit von Jasper Johns und Robert Rauschenberg als auch die frühen Fluxuskonzerte als ,Neodada' firmierten, demonstriert diese Entdeckung. Wenn also von der neuen, nicht mehr idealistischen Kunst nach der Krise der sechziger Jahre die Rede ist, muss immer mit berücksichtigt werden, dass schon von Duchamp und den Dadaisten Einsichten und Analysen formuliert worden sind, die erst in den sechziger Jahren allgemein rezipiert wurden und sich in der Avantgarde und als Avantgarde durchsetzten. Es ist sinnvoll, die neue, nicht mehr idealistische, in einem gewissen Sinn einerseits phänomenologische, andererseits materialistische Kunst nach dieser Krise eine spätmoderne Kunst zu nennen: denn diese analytische und kriti- sehe Kunst hatte das Projekt ,Moderne' nicht aufgegeben, sondern verstärkt; sie hatte noch den schwarzen Fleck der Moderne, ihren Idealismus, der Kritik unterworfen und dadurch den traditionellen Begriff der Kunst aufgesprengt. Denn indem sie eine ästhetische Sonderwelt, ein ästhetisch-geistiges Jenseits der materiellen Welt destruiert hatte, hatte sie einen wesentlichen Teil der Definition dessen, was bis dahin als Kunstwerk wahrgenommen wurde, zerstört. Bis in die sechziger Jahre war klar gewesen, was ein Kunstwerk ist, klar bis hin zu festgelegten Gattungen, den Gattungen Malerei und Plastik. Seit dem Zusammenbruch des ästhetischen Idealismus gibt es weder Gattungen mehr, die von vornherein künstlerisch sind, noch einen von vornherein festliegenden Unterschied zwischen künstlerischen Arbeiten und anderen Typen von Gegenständen oder Artefakten. Im allgemeinen gesellschaftlichen Gebrauch, auch die Kunst betreffend, war von Postmoderne aber erst seit den späten siebziger Jahren die Rede: nämlich im Zusammenhang mit einer allgemein gesellschaftlichen Bewusstseinsveränderung. In den späten siebziger und frühen achtziger Jahren wurde die Moderne als regulative Idee und gesellschaftliche Norm innerhalb sehr kurzer Zeit aufgegeben, und mit ihr die moderne Vorstellung einer analysierbaren und bis zu einem gewissen Grad planbaren und produzierbaren Geschichte. Postmodern wurde Geschichte undenkbar und unverständlich; damit aber brach auch die Möglichkeit zusammen, das Kriterium eines analytischen oder reflexiven Fortschritts für die Kunst nutzbar zu machen. An die Stelle einer radikalisierten Moderne, der späten Moderne, die ihre analytische und kritische Tätigkeit auf die ganze Gesellschaft bzw. die Wirklichkeit ausdehnte, trat das postmoderne Archiv der historischen Stile und Gattungen, die zitiert, appropriiert, montiert, kombiniert, bearbeitet und benützt werden können. Die beiden stark auseinanderlaufenden Verständnisweisen des Epochenbegriffs ,Postmoderne' verstehen sie entweder als Radikalisierung des Projekts Moderne oder als Lossagung von der Moderne. Ich spreche von Postmoderne im ersten Sinne des Wortes, im Sinne der späten Moderne, die um 1960 einsetzte. II Entscheidend für die Beantwortung der Frage ,Was heisst „Form" in einer postmodernen Kunst?' ist, ob sich im Verständnis von dem, was künstlerisches Bild in einem weiten Sinn genannt werden kann, um 1960 Grundsätzliches verändert hat: ob der Bruch um 1960 nur eine kunstinterne, partielle Verschiebung der Begriffe Gemälde, visuelles Kunstwerk und Kunstwerk überhaupt hervorgebracht hat, oder ob diese Begriffe so in Frage gestellt wurden, 69 70 dass eine direkte Anknüpfung an sie nicht mehr möglich ist. In der sich zusehends formierenden Bildwissenschaft wird generell der Bruch in der Moderne, der erstmals um 1913 formuliert worden war, am deutlichsten von Marcel Duchamp, und der sich erst in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts allgemein durchsetzte, nur als graduelle Verschiebung und Erweiterung des traditionellen Bildes wahrgenommen. Während in der frühen und der klassischen Moderne die Gattungen der Bildenden Kunst festgelegt waren, so dass Malerei mit den Untergattungen Zeichnung und Graphik einerseits, Skulptur oder Plastik andererseits als Gattungen von vornherein definierten, was als Kunstwerk wahrgenommen wurde oder eher: was ein Kunstwerk war, habe mit der Krise der Moderne in den sechziger Jahren eine Ausweitung eingesetzt, die zwar über die traditionellen Gattungen hinausgegangen sei, eine intermediale Verflüssigung der Gattungen hervorgebracht habe, grundsätzlich aber weiter mithilfe der erprobten ästhetischen Kategorien, vor allem der Kategorie ,Bild', verstanden und gedeutet werden könne. So beispielsweise Gottfried Boehm: „Jenseits von Skulptur, Relief oder Bild entstehen neue Entitäten wie Objekt, Ready-made, Montage usw. Diese Umbildungen wären wir kaum geneigt unter den Begriff einer Universalgattung zu fassen, aber ganz offensichtlich haben wir es mit einem Kontinuum sich ausbildender, flüssiger' Darstellungsformen zu tun, die beständig progredieren und expandieren."1 Dieser erweiterte Bereich der Kunst oder des künstlerischen Bildes entsteht durch eine Verschiebung der Grenzen zwischen Realität und Kunst; Kunst beginnt sich auf die Realität selbst auszudehnen, Realität künstlerisch zu formen und zu bearbeiten; in der Auseinandersetzung mit den Mitteln der künstlerischen Produktion wird zunehmend die gesamte Realität zum Material der Kunst. „Die Wirklichkeit ist voller möglicher Kunstwerke, als bedürfe es nur der Fähigkeit, sie zu erwecken, ihnen mit unkonventionellen, oft unscheinbaren Eingriffen ans Licht zu helfen. ... Konnte man in der europäischen Neuzeit (seit der Renaissance) davon sprechen, dass die weite Welt, die bestehende Kultur mit ihren wichtigsten Aspekten ins Bild einzieht, so wandern die Bilder jetzt aus und transformieren sich dabei. Wirklichkeit wird im Brennpunkt einzelner Gattungen (Portraits, Landschaften usf.) nicht länger dargestellt, sie wird von künstlerischen Aktivitäten oftmals direkt durchformt."2 (Gottfried 1 Gottfried Boehm: Bilder jenseits der Bilder. Transformationen in der Kunst des 20. Jahrhunderts, in Transform. BildObjektSkulptur im 20. Jahrhundert, Katalog, Kunstmuseum und Kunsthalle Basel, 1992, S. 21. 2 Gottfried Boehm: Bilder jenseits der Bilder. Transformationen in der Kunst des 20. Jahrhunderts, in Transform. BildObjektSkulptur im 20. Jahrhundert, Katalog, Kunstmuseum und Kunsthalle Basel, 1992, S. 15. Boehm) Für die Malerei heisst das beispielsweise, dass im Gemälde die klare Trennung zwischen den blossen Mitteln und dem Dargestellten einer Torsion unterliegt, indem die malerischen Mittel nicht mehr als blosse Mittel untergehen, sich der Wahrnehmung entziehen, sondern umgekehrt deutlich sichtbar präsentiert werden und auf diese Weise sich selbst präsentieren. „Die Dynamik dieser Moderne hat das ,Tafelbild' bzw. das ,Gemälde' (als Muster einer geschlossenen, ästhetischen Welt) aber nicht nur geöffnet, sondern insgesamt verwandelt. Transparenz bzw. Idealität der Malfläche weicht betont materiellen, opaken Trägern, denen jederzeit anzusehen ist, dass sie aus Bestandteilen der Wirklichkeit zusammengefügt sind."3(Gottfried Boehm) Die Ausweitung des Gebiets der Kunst verdankt oder schuldet sich also dem Übergreifen der Kunst auf die alltägliche Realität; indem die Realität und ihre Gegenstände und Materialien ästhetisiert werden, treten sie in den Bereich der Kunst ein. Der erste und wichtigste Künstler dieser Ausweitung ist demzufolge Marcel Duchamp, dessen Ready-mades, alltägliche, industriell hergestellte Gegenstände, im Kunstzusammenhang und in einem umstrittenen Sinn wie Kunst oder eher als Kunst gesehen und rezipiert werden. Indem er explizit die Schöpfung von Kunstwerken verweigerte, verschob er die Ausdehnung des Begriffs Kunst und damit des Bereichs von ästhetischer Wahrnehmung und ästhetischer Erfahrung auf alltägliche Gegenstände. „Was er proklamierte, war ein völlig anderes Konzept, das überhaupt nicht mehr auf die Produktion von ,Gemälden' oder ,Werken' zielte, sondern auf die Untersuchung der ästhetischen Funktion besonderer Dinge des Alltagslebens, die er bekanntlich Ready-mades nannte."4 (Gottfried Boehm) Ist der Schritt von der Moderne mit den zentralen Kategorien Werk, Autorschaft und ästhetische Erfahrung in eine späte Moderne oder Postmoderne, die eben diese Kategorien grundsätzlich in Frage stellt, für die Werk, Autorschaft und ästhetische Erfahrung als idealistische Begriffe unglaubbar und unhaltbar geworden sind, tatsächlich nur eine Ausweitung der Begriffe Kunst, Bild und Ästhetik? Ist das Konstatieren sekundärer Ästhetisierung an materiellen Gegenständen tatsächlich nur eine Abart der ästhetischen Erfahrung an Kunstwerken? Interessant ist, dass Marcel Duchamp sich mehrfach dezidiert zu dieser Frage geäussert hat. Als in den späten fünfziger Jahre des letzten Jahr- 71 3 Boehm, Gottfried: Zuwachs an Sein. Hermeneutische Reflexion und bildende Kunst, in Die Moderne und die Grenze der Vergegenständlichung, Hg. Hans-Georg Gadamer, München 1996, S. 95-125. 4 Gottfried Boehm: Paul Cézanne und die Moderne, in Cézanne und die Moderne, Katalog, Fondation Beyeler, Basel 1999, S. 11-12. 72 hunderts im Neo-Dada von Jasper Johns und Robert Rauschenberg ebenso wie in den Arbeiten der Nouveaux Realistes, besonders bei Arman, Yves Klein und Daniel Spoerri die ersten Mischformen auftraten, in denen neben traditioneller ästhetischer Komposition eine Ästhetisierung von blossen Gegenständen auftauchte, führte das unter anderem auch dazu, dass Marcel Duchamp und die Ready-mades als Vorläufer und Impulsgeber entdeckt wurden. Duchamp aber reagierte darauf ablehnend: „Als ich meine ,ready-mades' entdeckte, gedachte ich den ästhetischen Rummel zu entmutigen. Im Neo-Dada benutzen sie aber die Ready-mades, um an ihnen ,ästhetischen Wert' zu entdecken! Ich warf ihnen den Flaschentrockner und das Urinoir ins Gesicht als eine Herausforderung, und jetzt bewundern sie es als das ästhetisch Schöne."5 Die Gegenstände, die Duchamp ausgesucht hatte, sollten nicht ästhetisch wahrgenommen werden können; sie sollten sich der Ästhetisierung entziehen, sollten möglichst neutral und uninteressant sein, möglichst banal und unauffällig. Nur durch diese anästhetische Verweigerung konnten sie subversiv wirksam werden, konnten sie den ästhetischen Geschmack und Genuss unterlaufen und die Betrachter zum Denken zwingen. „Ich wollte vor allem dem ,Look' ausweichen. Es ist ja ungemein schwierig, so ein Objekt auszuwählen, weil man es meist nach zwei Wochen entweder lieb gewinnt oder plötzlich satt hat. Deshalb muss man einen Gegenstand aussuchen, der einen völlig kalt lässt und der keinerlei ästhetische Emotionen hervorruft. Die Auswahl eines Ready-mades muss also von der visuellen Indifferenz und von dem völligen Fehlen eines guten oder schlechten Geschmacks ausgehen, tatsächlich von einer vollkommenen An-Ästhesie."6 An-Ästhesie bedeutet bei Duchamp nicht Einschränkung von Sensibilität, sondern eine grundsätzliche Verschiebung der Ausrichtung der sensiblen und geistigen Tätigkeit: Verschiebung vom Geschmack und seiner Normativität hin zu einer völlig reflexiven, analytischen, kontextanalytischen und selbstreflexiven Wahrnehmungsweise. Gottfried Boehm und mit ihm die neue Bildwissenschaft erklären Duchamps An-Ästhesie, seine Verweigerung des Ästhetischen für gescheitert; seine subversive Unterminierung der ästhetischen Wahrnehmung habe nur den Bereich der Ästhetik erweitert, einer Ästhetisierung der Wirklichkeit Vorschub geleistet. „Duchamps Bildstrategie desavouierte die ästhetischen Massstäbe seiner Zeit. Die Geschichte zeigte aber, dass sie - mit wissenschaftlichen Mitteln - 5 Marcel Duchamp, in Hans Richter: Dada - Kunst und Antikunst, Köln 1964, S. 212. 6 Marcel Duchamp, in Pierre Cabanne: Gespräche mit Marcel Duchamp, 1966, Galerie Der Spiegel, Spiegelschrift 10, Köln o.J., S. 67. einer neuen ästhetischen Praxis zum Durchbruch verhalf"7 Ist Zerstörung der ästhetischen Wahrnehmung und Erfahrung, des Werks und der Autorschaft, die zum Thema der radikalsten Bewegungen der späten Moderne bzw. der Postmoderne wurde, tatsächlich nur eine Ausweitung des Ästhetischen, eine neue ästhetische Praxis? III Was sich in der Krise der Moderne in den sechziger Jahren, die, wie schon Marcel Duchamp, die Dadaisten und bis zu einem gewissen Grad der Surrealismus die idealistischen Grundlagen der Moderne in Frage stellte, grundlegend veränderte, verdankt sich vor allem dem Zusammenbruch der ästhetischen Immanen, bzw. der ästhetischen Eigenwelt mit ihrer spezifischen Wahrneh-mungs- und Erfahrungsweise. Die spezifische Weise der Wahrnehmung und der damit verknüpften Reflexion der Wahrnehmung, die von visuellen oder akustischen Kunstwerken erfordert und ermöglicht wurde, brach zusammen und verschwand. Die Postmoderne kennt keine ästhetische Wahrnehmung und Erfahrung im strengen Sinne mehr, sondern entwickelte ausgehend von der traditionell neuzeitlichen, technischen oder funktionalen Wahrnehmung von Gegenständen neue Rezeptionsweisen und Reflexionsformen. Die neuen Arbeiten geben nicht mehr auf spezifische Weise zu sehen oder zu hören, sondern sie geben auf eine spezifische Weise zu denken. Und dadurch, dass Reflexion und analytische Arbeit nicht mehr auf einer spezifischen, von der funktionalen Wahrnehmung deutlich unterschiedenen Wahrnehmungsweise beruhen, sondern auf der funktionalen Identifikation von Gegenständen, verändern sie sich grundlegend. An die Stelle ästhetischer Erfahrung tritt eine Erfahrung, die unter anderem ,allegorisch' genannt wurde. Denn unter anderem mit Hilfe der Kategorie der ,Allegorie', wie sie von Walter Benjamin entfaltet worden war, ist die neue Wirkungsweise der spätmodernen bzw. postmodernen Kunst in den achtziger Jahren erforscht worden. Der Zusammenbruch des Ästhetischen artikulierte sich interessanterweise zuerst, mit einem Vorsprung von fast zehn Jahren, in der Musik; in der Arbeit von John Cage. Seine berühmte Komposition 433" von 1952 mit der Bezeichnung „Tacet für jedes beliebige Instrument oder jede beliebige Kombination von Instrumenten" wurde von John Cage selbst als Ausweitung der Musik verstanden, so wie schon die futuristischen Musiker Luigi Russolo und Balilla 73 7 Gottfried Boehm: Zwischen Auge und Hand: Bilder als Instrumente der Erkenntnis, in Konstruktionen Sichtbarkeiten, Interventionen 8, HGK Zürich 1999, S. 218. 74 Pratella ihren Entwurf einer Geräuschmusik als Ausweitung der Musik verstanden hatten. Doch mit dieser Komposition hatte John Cage einen Bruch vollzogen, der den Begriff Musik sprengte; nach diesem Schritt gibt es keine Möglichkeit mehr, irgendeine Definition von Musik zu geben, oder Musik von allen anderen möglichen akustischen Phänomenen zu unterscheiden. In diesem Stück, in dem drei kurze Sätze lang der Interpret keine Töne oder Klänge erzeugt, sondern Pause hat, wird nicht mehr ästhetisch wahrgenommen: den Zuhörern wird alles, was in irgendeinem Sinne musikalisch artikuliert wäre, verweigert. Die ästhetische Wahrnehmung, die Beziehungen von Elementen in einem System wahrnimmt, die sich also auf Komposition, auf das Aufein-ander-Bezogen-Sein von systematisch unterschiedenen Elementen ausrichtet, bekommt nichts zu hören. Im ästhetischen Verständnis können Töne nur in Relation zu anderen Tönen, in Klängen, verstanden werden. Davon ist hier nichts zu hören; nichts, was irgendeinem musikalischen System zugehörte, was als Ton oder Vielheit von Tönen in einem eigenen ästhetischen Raum sich zu hören gäbe, dem Klangraum, der sich vom Realraum der Zuhörer abtrennt, und in einer eigenen ästhetischen Zeit, der Zeit der Komposition wie der Zeit der Aufführung, die sich von der Realzeit der Zuhörer abtrennt. Ästhetische Wahrnehmung und funktionale Wahrnehmung haben sich in der Neuzeit gegeneinander ausdifferenziert. Während im Akustischen die Wahrnehmung von Geräuschen wie jede andere Wahrnehmung in der funktionalen Einstellung auf gegenständliche Identifikation geht - auf die Identifikation der materiell verursachenden Quelle des Geräusches und den Ort der Erzeugung -, geht die ästhetische Einstellung auf das Spiel der sich differenzierenden Elemente in einem schon existierenden Feld von Beziehungen, einem ästhetischen Feld. Innerhalb dieses Feldes wird die Wahrnehmung von Quelle und Ort ausgeblendet; wahrgenommen werden nicht mehr primär materielle Qualitäten und Quantitäten, sondern Beziehungen der Elemente untereinander. Dasselbe gilt auch für visuelle Kunstwerke; auch hier stehen die funktionale Einstellung, die ihren Gegenstand und seinen Ort im Raum in einem Nu identifiziert, der ästhetischen Einstellung entgegen, die Beziehungen zwischen Elementen aktiv entfaltet und erprobt und diese Tätigkeit selbst im Prozess wahrnimmt und reflektiert. Werden nun in der Kunst ästhetische Wahrnehmung und mit ihr Werk und Autorschaft destruiert, tritt an die Stelle der ästhetischen die funktionale Wahrnehmung; nur dass diese sich bis zu einem gewissen Grad durch eine sekundäre Ästhetisierung modifiziert. Die Identifikation eines Geräusches im institutionellen Rahmen von Musik bezieht dieses nicht mehr auf ein musikalisches System; oder, insoweit sie das tut, wird das Geräusch wieder einem Ton zugeordnet bzw. unterstellt. Die futuristischen Geräuschmusiker hatten genau dies vorgeschlagen: den Hauptton von Geräuschen als Ton musikalisch zu verstehen und zu verwenden. Werden Geräusche jedoch in der Zusammenhanglosigkeit ihrer Kontingenz wahrgenommen, ohne Bezug zu einem System, ohne Beziehungen zu anderen Geräuschen, werden sie zu unvorhersehbaren, unkomponierten Ereignissen. An die Stelle der Komposition, die einen Autor voraussetzt und mit ihm Intentionalität, und die ein klar abgegrenztes Werk hervorbringt, tritt eine offene Vielzahl bloss materieller, sinnloser und zusammenhangloser Ereignisse. Genau um eine Vielzahl unzusammenhängender, unkomponierter und sinnloser Mikroereignisse im Akustischen war es John Cage in der Komposition 433'' gegangen. Die zufälligen kleinen Realgeräusche, die sich ausserhalb des Werkes, des Klangraums und der eigenen ästhetischen Zeit der Aufführung ereignen, ungeplant und unvorhersehbar, sollten durch eine wesentliche Verschiebung der Wahrnehmung hörbar werden: hörbar werden im Sinne von: in die Aufmerksamkeit rücken. Durch diese Verschiebung der Aufmerksamkeit vom Werk auf seine kontingente Umgebung, von der klar umrissenen Komposition auf die grenzenlose und ungeregelte reale Situation und auf zufällige Ereignisse, werden diese nicht zu ästhetischen Kompositionen, treten diese nicht in ästhetische Systeme ein: sie bleiben kontingente, unzusammenhängende Ereignisse und Gegebenheiten, deren Wahrnehmung von vornherein funktional-gegenständlich ist. Nur dass über die Identifikation hinaus die materiellen Qualitäten dieser Gegenstände zum Thema für einen neuen Typ von Wahrnehmung werden können. Um diesen neuen Typ von Wahrnehmung zu bezeichnen, der explizit durch Bewusstseinslenkung innerhalb der funktionalen Einstellung und der materiellen Welt entsteht, läge der Name ,didaktische Einstellung' nahe. Das Bewusstsein konstatiert die Komplexität und Vielheit von Realität, bis hin zu einem Programm der ,sensual awareness'. Robert Morris zum Beispiel, der theoretisch interessanteste der Künstler der Minimal Art, hat mehrfach darauf verwiesen, dass seine Arbeiten didaktisch, nicht ästhetisch im Sinne der modernen Kunst seien. Ausgehend von der Entdeckung der ,Silence', der ,Stille', wie John Cage das Aufmerken auf die akustischen Mikroereignisse im realen Körperraum und in der Realzeit nannte, entwickelte er in den sechziger Jahren das Projekt einer komponierten Musik, die aus lauter einzelnen, autonomen, individuell wahrgenommenen Tönen besteht; in der Töne nicht durch ihre Beziehung zu anderen Tönen hörbar werden, sondern unabhängig, als momentane akustische Ereignisse, isoliert wahrgenommen werden können sollen. Jeder Ton soll 75 in seiner eigenen sensuellen Wirklichkeit erlebt werden. Er besitzt dann keinen systematischen Wert mehr und dementsprechend auch keine intelligible oder subjektive Bedeutung mehr, und selbst psychischer Ausdruck löst sich auf (und diese verschiedenen Typen von ,Bedeutung' werden auch Farben üblicherweise zugeschrieben). Durch die ,Unbestimmtheit bezüglich der Ausführung' werden die Töne zu singulären Ereignissen, die sich nicht benennen und nicht erinnern lassen: statt der Erinnerung desselben Tons tritt das immer neue Ereignis eines Tons ein. „Jeder Ton ist ein eigenständiges Ereignis. Er ist mit keinem anderen Ton durch irgendeine Hierarchie verbunden. Er braucht keine Beziehung zu dem zu haben, was ihm vorausgegangen ist oder was ihm folgen wird. Er ist für sich selbst wichtig, nicht für das, was er zu einer musikalischen Linie oder einem musikalischen Verlauf beiträgt."8(Barney Childs) Um zu einer solchen kompositionslosen, sprachlosen und ereignishaften Musik zu kommen, entwickelte John Cage eine Reihe von Verfahrensweisen, deren Hauptziel es ist, den Tönen und Klängen all das auszutreiben, was sie als 76 Töne oder Klänge in einer musikalischen Komposition auszeichnet: Verfahrensweisen, die sich explizit destruktiv und auf einer anderen Ebene dekonstruktiv gegenüber dem tonalen oder atonalen europäischen System der Musik verhalten. Cage zerstört zeitliche, dynamische und rhythmische Strukturen durch stehende Klänge, die sich unmerklich verändern oder in welche ohne fassbare Motivation neue Klänge einbrechen; er zerstört das systematische Hören, also die Bezugnahme der einzelnen Töne auf ein System der Töne, indem sie unsauber, falsch, schmutzig produziert werden, in bewusster Abweichung vom richtigen, reinen Klang, so dass der Hörer primär damit beschäftigt ist, die Abweichung oder Störung zu hören, nicht einen musikalischen Zusammenhang; zur Verstärkung der Störung oder Abweichung lässt er unter anderem denselben Einsatz von mehreren, oft zwei Instrumenten zugleich spielen, der dann auf verschiedene Weise unsauber oder abweichend ist. Auf diese Weise gerät der Hörer in eine doppelte, zugleich ganz sensuelle und ganz mentale Reflexivität: er erforscht in einer gespannten Bewusstheit die sensuellen Minimaldifferenzen der Störungen und Abweichungen, der Rauheit und des Geräusches, und zugleich wird er dazu genötigt oder verführt, auf die irredu-zible Differenz und den Widerspruch zwischen der traditionellen ästhetischen, kompositionellen Einstellung und einer völlig neuen, auf das Ereignis des Geräusches gerichteten Einstellung zu reflektieren. 8 Barney Childs: Indeterminacy, in: John Vinton (Hg.): Dictionary of Contemporary Music, New York 1974, S. 336. Diese neue Einstellung lässt sich durchaus auch als eine ästhetische Einstellung bezeichnen: sie geht von qualitativen Differenzen aus, die bewusst wahrgenommen und reflektiert werden. Nur sind diese qualitativen Differenzen, von Geräuschen, aber auch von Oberflächen, Materialien, Gerüchen, Geschmacksnuancen etc. Bestandteile der materiellen Welt ohne Sprache, ohne Ordnung, ohne Struktur im strengen Sinn des Wortes. Sie bedeuten nicht, sie sprechen nicht, sie transportieren nicht, sondern sie werden erfahren, differenziert, konstatiert und reflektiert. IV Es ist kein Zufall, dass ästhetische Systeme offensichtlich mit der Struktur von Sprache verwandt sind; nur wie eng diese Verwandtschaft ist, ist umstritten. Es ist in diesem Zusammenhang nicht fruchtbar, sich darüber zu streiten, ob Kunstwerke aus Zeichen bestehen oder nicht, ob sie semiotisch verfasst sind oder nicht. Denn zum einen müssen visuelle Kunstwerke in Analogie zu sprachlichen Kunstwerken und nicht zu funktionaler Sprache gesehen werden; und dass funktionale Bilder mit klarer Zeichenfunktion existieren, ist offensichtlich; unstrittig ist auf der anderen Seite auch, dass sprachliche Kunstwerke ebenso wie visuelle Kunstwerke vieldeutig, komplex und vielschichtig sind, von einer wesentlichen Metaphorizität gespeist und mit ästhetischer Selbstreflexivi-tät begabt. Das heisst: sobald wir die bloss funktionale Sprache verlassen, wird auch in der Sprache ein Grund, der zugleich Hintergrund und Abgrund ist, ein Grund vor aller konstituierter Sprache hörbar, aus dem die sprachliche Bedeutung als Potentialität heraustritt. Dieser Grund besteht seinerseits aus einer Art von Materialität der Sprache, die beispielsweise in den sensuellen Oberflächeneffekten der Sprache - die im Strukturalismus als Metonymie analysiert worden sind - wahrnehmbar wird. Dieser Abgrund und Hintergrund der Sprache entspricht in einer irreduzibel metaphorischen Weise dem Grund des gemalten Bildes, der Bildfläche der Malerei. Dieser Grund und Abgrund wurde von Maurice Blanchot das ,Murmeln der Sprache' genannt und als Bedingung allen produktiven oder poietischen Sprachgebrauchs freigelegt: „Man bringt schöpferisch nichts hervor und spricht nicht auf schöpferische Art, ehe man sich nicht zuvor in die Nähe jener Stätte äusserster Leere versetzt hat, wo die Sprache, bevor sie in bestimmte und ausdrückliche Worte eingeht, die stillschweigende Bewegung von Beziehungen, das heisst ,die rhythmische Skandierung' des Seins ist."9 Dieser Sprachgrund, metaphorisch analog mit dem Bildgrund der Malerei, 9 Maurice Blanchot: Der Gesang der Sirenen (1959), München 1962, S. 318. 77 78 widerspricht nicht dem wesentlichen Zeichencharakter der Sprache, sondern bildet den unfassbaren, in sich gespaltenen Ursprung jeder Sprachstruktur. „Das grosse Murmeln, anders gesagt, das Sprache-Sein oder das ,Es gibt' der Sprache variiert mit jeder historischen Formation und ist trotz seiner Anonymität nicht weniger singulär, ,das rätselhafte und prekäre Sein', das man nicht von diesem oder jenem Modus ablösen kann"10(Gilles Deleuze) Jacques Derrida hat diesen sich entziehenden Ursprung, diesen Abgrund des Grundes, als irredu-zible Metaphorizität der Sprache11 beschrieben: eine wesentliche Nichtidentität des Sprachzeichens, ein Spiel der Verschiebungen und Vieldeutigkeiten, das ein Gleiten der Signifikate und Signifikanten erzeugt, welches die Bedingung jeder geregelten Struktur und festgelegten Bedeutung ist. Und umgekehrt ist jedes Bild von vornherein schon zeichenartig, so sehr es, wenn es künstlerisches oder ästhetisches Bild ist, seinen Abgrund als Ent-stehungs-, Bildungs- und Bildgrund wahrnehmbar macht; es transportiert auf jeden Fall ästhetischen Sinn. Oder anders formuliert: es gibt zu sehen, es zeigt aktiv das Auftauchen und Verschwinden von Sichtbarkeit, es macht Sichtbarkeit zu einem sich vor den Augen des Betrachters ereignenden Prozess. Es gibt zu sehen, oder: es ist etwas anderes als was es zeigt, seine materielle Existenz und das, was es zu sehen gibt, unterscheiden sich. Aber genau dieses unlösbar verknüpfte Auseinanderklaffen einer materiellen und einer geistigen Ebene ist die einfachste Definition von Zeichen: ein materieller Träger, der Signifikant, transportiert eine immaterielle Bedeutung, ein Signifikat. Visuelle Kunstwerke sind sogar Zeichen par excellence: sie zeigen ihren Zeichencharakter, sie geben das Zeigen zu sehen. Sie sind Zeichen, die aktiv und mit Emphase auf die sensuelle Materialität des Signifikanten und den Prozess der Signifikation hinweisen -und meist ist diese Fähigkeit gemeint, wenn von der Selbstreferentialität oder Selbstbezüglichkeit von Kunstwerken oder von ästhetischen Zeichen die Rede ist. Die Frage, die sich stellt, ist nicht, ob visuelle Kunstwerke, insbesondere Gemälde, Zeichen sind, sondern die, welche Art von Zeichen sie sind. Es geht um die Differenzierung unterschiedlicher Zeichentypen. V Gemälde wurden in der ganzen Neuzeit, und noch ausgeprägter in der Moderne, als zeichenartige Artikulationen von Intentionalität oder Subjektivität 10 Gilles Deleuze: Foucault (1986), Frankfurt am Main 1987, S. 80-81. 11 siehe Jacques Derrida: Die weisse Mythologie. Die Metapher im philosophischen Text, in Jacques Derrida: Randgänge der Philosophie (1972), Wien 1988, S. 205-258. verstanden. Die entscheidende neue und zentrale Kategorie für die Kunst der Neuzeit war die Autorschaft: ein Autor artikuliert Wahrnehmungen, Gefühle, Erfahrungen, psychische Prozesse oder sogar Gedanken und Reflexionen in seinem visuellen Werk, ganz analog zu literarischen Werken, und schafft so ein Werk, das seine ästhetische Totalität von vornherein aus der Einheit des schöpferischen Subjekts gewinnt. In diesem Sinne wurden Gemälde in der Moderne analog zu Texten gelesen. Und dass ikonische Zeichen im Sinne von Pierce sich nicht streng von symbolischen Zeichen, von Sprachzeichen, unterscheiden lassen, ist eine Feststellung, die gerade in den letzten Jahren wichtig geworden ist. Auch icons oder ikonische Zeichen sind in einem irreduziblen Masse arbiträr und nichtmotiviert. Dieses Grundverständnis von pikturalen Kunstwerken setzt, wie bei symbols oder Sprachzeichen, deren Doppelung in einen materiellen Körper, den Signifikanten, und eine immaterielle Bedeutung voraus, die im visuellen Bereich auch als Darstellung verstanden werden kann: Darstellung ist pikturaler Sinn. Im Gegensatz zum funktionalen Bild jedoch wird im pikturalen Kunstwerk der materielle Träger nicht in die Unsichtbarkeit verdrängt: einerseits ist die sichtbare Bedeutung nicht einfach und positiv gegeben, sondern entsteht und vergeht mehrschichtig und prozessual vor den Augen des Betrachters; und andererseits, da sie aus dem Grund des Gemäldes, seinem Abgrund und Hintergrund, hervortritt, wird dieser Grund wahrnehmbar, als durchaus auch materielle Bedingung jeder Wahrnehmung und jeder Bedeutung. Der materielle Träger wird nicht, wie in allem funktionalen Zeichengebrauch, in die Unsichtbarkeit verdrängt, indem die Bedeutung sich scheinbar unmittelbar zu fassen gibt; sondern dieser Träger bietet sich als unfassbarer Grund, der sich nicht positiv identifizieren lässt, dem Blick dar. Er bietet sich dar, indem er sich entzieht; nur seine Effekte, die aus ihm entstehenden Sichtbarkeiten, werden fassbar. Das Grundverständnis von Kunstwerken als ikonischen Zeichen brach mit der Krise der Moderne in den sechziger Jahren zusammen. Das, was vorher pikturales Zeichen war, Doppelung von Signifikant und Signifikat, von materieller Welt und geistiger Welt, von materieller Fläche und von pikturaler Darstellung oder Bedeutung, schien zu implodieren: das pikturale Kunstwerk fiel in den Zustand eines blossen Objekts zurück, eines Objekts, das keine Bedeutungen mehr transportiert, das nicht mehr zu sehen gibt, nämlich anderes als sich zu sehen gibt. Die Differenz zwischen Signifikant und Signifikat, die im Kunstwerk als spezifisch ästhetische Differenz auftrat, schien zusammenzubrechen und statt der Bildfläche nur eine materielle Oberfläche zurückzu- 79 lassen. Diese gegenständliche Oberfläche aber, die in funktionaler Einstellung wahrgenommen wird, wird nur identifiziert: sie gibt nicht zu sehen, sondern existiert ebenso sprachlos wie optisch bedeutungslos. Sie gibt jedoch auf eine neue Weise zu denken. Künstler und Theoretiker dieses Zusammenbruchs haben in den sechziger Jahren auf die unterschiedlichsten Weisen versucht, die Erfahrung dieses Bruchs zu formulieren. So sehr sich die Ansätze der infragekommenden Künstler (Künstler der Minimal Art, insbesondere Robert Morris und Frank Stella) und Theoretiker (Clement Greenberg, Michael Fried, Rosalind Krauss) unterscheiden, so sehr ist deutlich, dass sie von derselben Erfahrung sprechen, einem tiefgreifenden und die Kunst in ihren Grundkategorien erschütternden Bruch. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang Clement Greenberg, der nach 1945 für mindestens 20 Jahre der wichtigste Kunstkritiker der USA war. Clement Greenberg stiess auf diesen Bruch, konstatierte ihn als Zusammenbruch der ästhetischen Differenz und versuchte ihn zu bekämpfen; 8o und diese Bewegung lässt sich in einer Reihe von Texten zwischen 1960 und 1967 gut verfolgen. Noch 1960 war Greenbergs Moderne unangefochten, ein linearer Reflexions-prozess der Malerei, der getreulich weiterschreitet. "Die wesentlichen Normen oder Konventionen der Malerei sind also die begrenzenden Bedingungen, die eine markierte Oberfläche erfüllen muss, um als ein Bild wahrgenommen zu werden. Die Moderne hat herausgefunden, dass diese Grenzbedingungen unbeschränkt zurückverlegt werden können, bevor ein Bild aufhört, ein Bild zu sein, und sich in ein willkürliches Objekt verwandelt; aber sie hat auch herausgefunden, dass diese Grenzen, je weiter sie zurück verlegt werden, desto expliziter beachtet werden müssen."12 Schon zwei Jahre später, 1962, stellte sich heraus, dass die analytisch-reduk-tive Bewegung des Flachwerdens nicht unbegrenzt weitergetrieben werden konnte. Die Drohung eines Zusammenbruchs zeigte sich da, wo im fortschreitenden Flachwerden der Malerei die ästhetische Differenz in eine bloss materielle Oberfläche zu implodieren drohte. Greenberg hatte die Vorstellung von einer infinitesimalen Annäherung der Flachheit der Bildfläche an die materielle Oberflächlichkeit des Gemäldes lange gehegt: sie liess sich augenscheinlich nicht mehr retten. "Heute scheint es anerkannt zu sein, dass das irreduzib-le Wesen der Malerei in nur zwei konstitutiven Konventionen oder Normen liegt: Flachheit und Begrenzung der Flachheit; und dass die Einhaltung auch 12 Clement Greenberg: Modernist Painting (1960), in Esthetics Contemporary, Hg. Richard Kostelanetz, Buffalo 1978, S. 202. nur dieser beiden Normen ausreicht, um ein Objekt zu schaffen, das als Bild wahrgenommen werden kann: auf diese Weise existiert eine aufgespannte oder angeheftete Leinwand schon als ein Bild - wenn auch nicht notwendigerweise als ein gelungenes. ... Die Frage, die durch ihre Kunst gestellt wird, ist nicht länger die, was Kunst bzw. die Kunst der Malerei konstituiert, sondern die, was irreduziblerweise gute Kunst als solche konstituiert."13 Ein als Bild wahrgenommenes flaches Objekt ist kein auktoriales, komponiertes Werk mehr, erfüllt aber die formalen Bedingungen für ein Gemälde; deswegen ist es ja als Bild wahrnehmbar. In der Wahrnehmung des flachen Objekts, das nur - vielleicht sekundär ästhetisierte - materielle Oberfläche ist, ist die ästhetische Differenz zusammengebrochen. Die formale Erfüllung der Wesensbedingungen der Malerei ist ausreichend, damit irgendein Objekt für den Blick zum Bild wird: "Eine monochrome Fläche, die in ihrer Ausdehnung begrenzt und von einer Wand unterschieden gesehen werden konnte, erklärt sich demzufolge automatisch zu einem Bild, zu Kunst."14 Jedoch wird diese Fläche für den Betrachter nicht zum Gemälde im ästhetisch reflektierten Sinn, sie provoziert und erlaubt keine ästhetische Einstellung oder Erfahrung, sie erzeugt keinen ästhetischen Sinn. Greenberg verwies mehrfach darauf, dass eine pikturale, nicht gegenständliche Flachheit etwas ganz anderes ist als eine materielle, zweidimensionale Oberfläche. "Die Flachheit, auf die sich moderne Malerei richtet, kann nie eine totale Flachheit sein. Die erhöhte Sensibilität der Bildfläche mag nicht länger skulpturale Illusion erlauben, oder trompe-l'oeil, aber sie erlaubt optische Illusion und muss sie erlauben." Sie schafft „eine Art Illusion einer Art dritter Dimension. Nur ist das jetzt eine strikt pikturale, strikt optische dritte Dimension."15 Die eigentümliche Unterscheidung Greenbergs zwischen einer schlechten, gegenständlichen und einer guten, optischen Dreidimensionalität bzw. einer trügerischen skulpturalen und einer wesentlich pikturalen optischen Illusion verdeckt die Unterscheidung zweier unvereinbarer Einstellungen, die nur in einem sehr weiten Sinne beide ästhetisch genannt werden können, der ästhetischen Einstellung im strengen, modernen Sinn, und der neuen, postmodernen didaktischen Einstellung. 81 13 Clement Greenberg: After Abstract Expressionism, Art International (Paris, Lugano), Oktober 1962, S. 30. 14 Clement Greenberg: Recentness of Sculpture (1967), in Minimal Art. A Critical Anthology, Hg. Gregory Battcock, New York 1968, S.181. 15 Clement Greenberg: Modernist Painting (1960), in Esthetics Contemporary, Hg. Richard Kostelanetz, Buffalo 1978, S. 202. Damit etwas Kunst ist, muss es, für Greenberg, mit ästhetischer Wahrnehmung zu tun haben. "Seither ist es deutlicher geworden, dass jedes Ding, das wahrgenommen werden kann, ästhetisch wahrgenommen werden kann; und dass jedes Ding, das ästhetisch wahrgenommen werden kann, auch als Kunst wahrgenommen werden kann. ... Jetzt behauptet alles und jedes Zweidimensionale automatisch, Bild zu sein - ein Schlammstreifen (in Basrelief) ebenso wie eine weisse Wand oder eine leere Leinwand - und setzt sich so unmittelbar und nackt dem pikturalen Geschmack aus."16 Was Greenberg der Minimal Art und der mit ihr zusammenhängenden neuen Malerei, etwa von Frank Stelle und Robert Ryman, vorwarf, ist, interessant und neu zu sein, aber nicht mehr ästhetisch erfahrbar; eine bloss quantitative Neuheit der Überraschung im Material und in dessen Konstellation zu bieten, aber nicht die qualitative Überraschung einer unbekannten Sichtbarkeit, einer nicht vorweg durch ihren Gegenstand definierten Wahrnehmungserfahrung zu ermöglichen. Die Neuheit der Minimal Art ist Neuheit innerhalb der Gegenstandseinstellung, Neuheit der Dinge 82 und Konstellationen; die ästhetische Neuheit dagegen ist Erschütterung der Gegenstandseinstellung, ist unerschöpfliche Fremdheit und Nichtidentität des Visuellen im Gemälde, ist Ausbildung eines ästhetischen Feldes. "Man kann sich immer noch fragen, weshalb eigentlich all die phänomenale, konfigurationale und physikalische Neuheit, die in der Kunst heute überhandnimmt, so wenig genuin artistische oder ästhetische Neuheit hervorbringt - warum das meiste davon so banal, so leer, so wenig den Geschmack beanspruchend herauskommt."17 "Es gibt kaum irgendeine ästhetische Überraschung in Minimal Art, nur eine phänomenale derselben Art wie in Kunst der Neuigkeit: eine plötzliche, schnell verpuffende Überraschung. Ästhetische Überraschung bleibt fortdauernd wirksam."18 In den 60er Jahren wurde die - ontologisch oder metaphysisch formulierte -Transzendenz der Malerei, die sich visuell in einer spezifischen Bildräumlichkeit verwirklicht, als Illusionismus und Täuschung denunziert. Bildlichkeit überhaupt wurde verdächtig, als Behauptung einer transzendenten, idealistischen Hinterwelt. Die Minimal Art reagierte auf den Zusammenbruch der ästhetischen Differenz, indem sie den objektalen Charakter von Gemälden bzw. Kunstwerken demonstrativ hervorhob und alle Visualität, die nicht an Körper und deren Eigenschaften zurückgebunden ist, als Illusion, Trug und Täuschung verurteilte. Die Entgegensetzung von moderner und ,spätmoderner' oder postmoderner 16 Clement Greenberg: Counter-Avant-Garde, Art International, Mai 1971, S. 18. 17 Greenberg: Counter-Avant-Garde, S. 17. 18 Greenberg: Recentness of Sculpture, S. 184. Malerei basierte auf dem Gegensatz der Pole ästhetische Idealität (mit ,Illusi-on' übersetzt) gegen materielle Realität, visuelle Transzendenz gegen materielle Wahrnehmung und Reflexion. Die Aufmerksamkeitsverschiebung von der Bedeutung auf die Materialität und deren sensuellen Qualitäten oder von der sinnerfüllten ästhetischen Immanenz des Kunstwerks auf die kontingente und bedeutungslose Situation, in der es sich befindet, hatte vor allem zur Konsequenz, dass die Malerei, die Leitgattung der Moderne, völlig desavouiert war und weitgehend verschwand. Wenn gemalte Bilder nicht mehr grundsätzlich zu einer anderen Welt gehören als ihre Materialien, ihr Herstellungsprozess, ihre Umgebung, ihre Situation, ihr Kontext, ihre mediale Abbildung, ihre museale und institutionelle Rahmung etc., treten alle nur vorstellbaren Aspekte der Wirklichkeit, die um die Kunstwerke räumlich, zeitlich, kontextuell und institutionell herum liegen, in die Kunst ein. An die Stelle von Gemälden traten erstens Objekte und deren Konstellation in Installationen und Environments - dazu gehört auch die Erforschung und Sichtbarmachung des Ortes, der Umgebung, der Situation, des Materials, des Trägers in der Minimal Art; zweitens performative Erforschungen von Material, Verfahren, Prozess, künstlerischer Tätigkeit, institutioneller Erwartung etc. einerseits in Post Minimal Art, andererseits in Happening, Fluxus und Performance; drittens mediale Aufzeichnungen von Tätigkeiten, Materialien, Objekten etc. aller Art in Fotografien, Filmen und etwas später Video; viertens die explizite Untersuchung der institutionellen, gesellschaftlichen und historischen Situation von Kunst in Museums- und Institutionenkritik. Die neuen Kunstobjekte sind nicht mehr sprachliche oder bildliche Zeichen; trotzdem sind sie, auf eine kompliziertere, indirekte Weise noch Zeichen, da ihre Auswahl und Konstellation mit Subjektivität und Intentionalität verbunden ist und da sie zu denken geben. Die Aufmerksamkeit der Betrachter soll einerseits auf sie gelenkt werden, andererseits sollen dadurch Gegebenheiten der Realität in die Wahrnehmung gerückt werden. Diesen anderen Typ von Typ hat Rosalind Krauss als ikonische Zeichen analysiert, als icons im Sinne von Pierce: Zeichen, die im Raum und in der Zeit auf Existentes verweisen und hinweisen; Zeichen, die keine eigene Bedeutung haben, sondern Beziehungen in der materiellen Welt herstellen oder kausale, materielle Prozesse erschlies-sen. Das gilt auch für die Photographie und die anderen analogen Medien: sie besitzen keine Bedeutung im Sinne von Sprachsystemen, aber sie sind Zeichen, da sie intentional das Bewusstsein des Betrachters auf bestimmte Aspekte der materiellen Welt lenken; sie sind Zeichen, die nicht auf die mentale Sphäre der Bedeutung ausgerichtet sind, sondern auf die materielle Sphäre der bedeutungs- 83 losen Existenz. Wenn Roland Barthes die Photographie „ein Bild ohne Code"19 nennt, ist genau dieser indexikalische Charakter impliziert. In der Photographie wie in anderen Gebrauchsweisen von Indexen ist der Gegenstand, auf den verwiesen wird, der Referent des Zeichens, etwas, das „präsentiert, aber nicht kodiert werden kann,"20(Rosalind Krauss) das nicht benannt, nicht begriffen, nicht repräsentiert wird, sondern auf das der Index nur deiktisch hinweist. Zwar haben indexikalische Zeichen selbstverständlich mit Wahrnehmung zu tun, aber nicht mehr mit ästhetischer Wahrnehmung, die einen eigenen Typ von Wahrnehmungsgegenstand besitzt und eine sprachähnliche Artikulation von Elementen voraussetzt, etwa „das autonome System der Bildfläche" (Gottfried Boehm). Die Art und Weise, wie indexikalische Zeichen, die nicht selbst bedeutungsvoll sind, zu Bedeutung kommen, ist indirekt und vermittelt. Indem sie die Aufmerksamkeit lenken, appellieren sie an das Bewusstsein, das ausgehend von ihnen Aufmerksamkeit ausrichtet, Überlegungen anstellt, Assoziationen herstellt, Reflexionen betreibt. Die als Indexe wahrgenommenen 84 Gegenstände und Materialien kommunizieren oder transportieren nicht selbst einen Sinn, bilden nicht selbst eine Sprache, sondern nötigen, verführen oder leiten das Subjekt dazu, sich Gedanken zu machen. Diese Nötigung oder Verführung kann jedoch sekundär wie ein Symbol, ein Sprachzeichen erscheinen. Ebenso wie beliebige Gegenstände sekundär ästheti-siert werden können, indem sie nach reflexionsfreien ästhetischen Geschmackskriterien wahrgenommen und beurteilt werden, ohne dass sie ästhetische Einstellung und Erfahrung erlauben würden, können beliebige Gegenstände auch sekundär semantisiert werden. Die durch Ästhetisierung sich bildende in einem weiten Sinn ästhetische Wahrnehmung steht in einer problematischen, aber deutlichen Analogie zur ästhetischen Erfahrung von Kunstwerken; und ebenso steht die sekundäre Semantisierung von indexikalisch eingesetzten Gegenständen in einer problematischen, aber deutlichen Analogie zum begrifflichen Sprachzeichen oder Symbol. Dabei werden die Gegenstände wie Hinweise auf Begriffe wahrgenommen, wie Vorstellungen, die mit Begriffen verknüpft sind. Die Gegenstände besitzen so selbst keine Bedeutung, sie denotieren nicht, sie können sich aber in hohem Grade mit Konnotationen aufladen. Diese Konnotationen sind vom Kontext und vom Gebrauch der Gegenstandsbegriffe abhängig, können sich sekundär auf unterschiedlichste Ebenen historischen, gesellschaftlichen, kulturellen und individuellen Wissens beziehen, die eine Art 19 Roland Barthes: Die helle Kammer (1980), Frankfurt am Main 1985, S. 99. 20 Rosalind Krauss: Anmerkungen zum Index, Teil 2, in: Rosalind Krauss: Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, Amsterdam / Dresden 2000, S. 272. semantischen Hof um sie herum bilden. Dieses Konnotieren, eine semantische Funktion, geht über den indexikalischen Verweis oder Hinweis hinaus; durch ihre konnotative Wirkungsweise können diese Gegenstände poetisch oder rhetorisch eingesetzt und verstanden werden. In den Arbeiten der Arte Povera und von Joseph Beuys kann man diese semantische Aufladung der Kunstobjekte ebenso wie eine sekundäre Ästhetisierung gut beobachten. Auf diese Weise scheint die gegenständliche Realität selbst sprachartig zu werden; sie beginnt zu sprechen, Bedeutungen zu transportieren. Die sekundäre, konnotative Aufladung bringt mit sich, dass Gegenstände der spätmodernen Kunst daraufhin befragt werden können, welche Konnotationen in ihnen wohl impliziert worden sind, auf welche Strata von Wissen oder Diskurs sie sich beziehen und welche Beziehungen die Objekte analog zu Wörtern miteinander eingehen. Sie können also, immer im Rahmen einer problematischen, aber für selbstverständlich gehaltenen Analogie, einerseits ikonographisch verstanden und analysiert werden, und andererseits als poetische oder rhetorische Zeichenketten. Dabei scheint die grundsätzliche Differenz zwischen bedeutenden Sprachzeichen und nicht denotierenden, sondern nur konnotierenden sprachlichen Indexen zu verschwimmen. VI Eine kleinere Anzahl von Malern zog um und nach 1960 aus dem Zusammenbruch des ästhetischen Idealismus der modernen Malerei andere Konsequenzen als die Künstler der Minimal Art. Sie gaben nicht wie diese die Malerei als Illusion und Täuschung auf, sondern entwickelten Verfahrensweisen, um Intentionalität und damit verknüpft Komposition - bzw. die ästhetische Immanenz des autonomen Systems der Bildfläche - aus dem Gemälde auszutreiben. Sie vollzogen die grundsätzliche Verschiebung der Wahrnehmung von der ästhetischen Bedeutung zum materiellen Objekt, von der ästhetischen Botschaft zur differentiellen Wahrnehmung mit, aber innerhalb des Gemäldes. Das heisst erstens, dass sie Bildflächen schufen, die nicht mehr ästhetisch komponiert und sinnerfüllt waren, sondern das Gemälde als einen flachen Gegenstand und damit die Materialien der Malerei selbst präsentierten. Das, was sich dem Blick in diesen Gemälden bietet, ist in einem durchaus präzisen Sinn überhaupt kein Bild mehr, sondern eine materielle Oberfläche, deren komplexe visuelle Realität differenziert und kontempliert wird. Das begann schon 1958 mit den Black Paintings von Frank Stella und wurde deutlicher in den Gemälden von Robert Ryman. In diesen präsentierte der Maler alle nur erdenklichen pikturalen Realien, ohne dass sie in irgendeine ästhetische Ord- 85 nung oder Struktur eingebunden wären. "Ich dachte, ich probiere das aus und sehe, was passiert. Ich wollte sehen, was die Farbe machen würde, wie die Pinsel funktionieren würden. ... Ich spielte nur herum. Ich hatte wirklich nichts, was ich malen wollte; ich habe nur herausgefunden, wie die Farbe funktionierte, dicke und dünne Farben, die Pinsel, Oberflächen..."21 Der Blick wird indexikalisch auf die materiellen Gegebenheiten und deren visuelle Wirkungen gelenkt, ohne dass das Gemälde selbst spräche. Dass spätmoderne, anti-idealistische und antikompositionelle Malerei mit der abstrakten Malerei der Moderne nichts mehr zu tun hat, auch wenn sie auf den ersten Blick ganz vergleichbar aussehen kann, war Malern dieser neuen Malerei früh aufgefallen. Schon Stella sagte von seinen Black Paintings: „Möglicherweise befindet sich das schon jenseits abstrakter Malerei."22 Und Marcia Haff, eine der Begründerinnen des Radikal Painting der siebziger Jahre, beklagte den Mangel einer klaren Benennung für diese Malerei. „Anstatt die übliche einfache Dualität von Realismus und Abstraktion hinzunehmen, 86 müssen wir die zeitgenössische Malerei in mindestens vier unterschiedliche Kategorien unterteilen: 1. Repräsentation der Natur; 2. Abstraktion von der Natur; 3. Abstraktion ohne Bezugnahme auf die Natur; und 4. jener Typ von Malerei, über den ich gesprochen habe - eine Kategorie, für die kein einigermassen zufriedenstellender Name existiert."23 Dieser neue, antiästhetische Einsatz der Malerei war aporetisch: die historisch entfaltete kulturelle Gewohnheit, kompositionell zu sehen (oder, bei John Cage, zu hören) bzw. eine ästhetische Einstellung einzunehmen, sobald etwas als Gemälde (oder Musik) gesehen wird, lässt sich nicht einfach beseitigen. Deswegen begannen einige Maler in den frühen sechziger Jahren, systematisch die Intentionalität der Produktion und damit Authentizität, Expressivität und Autorschaft generell im Gemälde zu destruieren und zu dekonstruieren. Am weitesten in diesem Projekt kamen Gerhard Richter und Cy Twombly, die beide Verfahren der Schichtung als stärkstes Mittel der Destruktion ikonischer Zeichenhaftigkeit einsetzen. Gerhard Richter verfuhr und verfährt in seinen abstrakten Gemälden so, dass er in immer neuen Schritten der Übermalung alle irgendwie definierten Sichtbarkeiten in der Bildfläche zerstört. Seine malerische Intention richtet sich 21 Robert Ryman, in Nancy Grimes: Robert Ryman's White Magic, Art News Nr. 185, Sommer 1986, S. 89. 22 Frank Stella, in William Rubin: Frank Stella 1970-1987, Museum of Modern Art, New York 1987, S. 149. 23 Marcia Hafif: Getting on with Painting, Art in America, April 1981, S. 132-139, S. 138. auf die Beseitigung dessen im schon existierenden Gemälde, was als malerisches Element, als Element eines Sujets, einer Komposition, eines Bildraums, einer abstrakten Bildfläche, einer expressiven Einschreibung wahrgenommen werden könnte; jedes dieser Elemente wird wieder beseitigt, übermalt, vermalt, zermalt. In einem Prozess, der potentiell nicht an ein Ende kommen kann, negiert sich die Sichtbarkeit im Gemälde immer wieder. Dem Blick wird die Möglichkeit entzogen, zu wissen, was er sieht; oder eher: zu sehen, da Sehen immer Sehen innerhalb einer Wahrnehmungsordnung ist. Was sichtbar ist, ist die Realität der Mittel und Verfahren: die Farbe, die Spuren der Übermalungen etc; aber nichts, was diese auf eine ästhetische oder sonstige Bedeutung hin transzendieren würde. Und dennoch wird das Auge in einen Prozess visueller Effekte und deren Zerstörung verwickelt, der sich nicht in irgendeiner Identifikation des zu Sehenden beruhigt. Anstelle der ästhetischen Differenz zeigt sich hier ein fortlaufender Prozess der Zerstörung ästhetischer Wahrnehmung, eine Differenz im Sinne Jacques Derridas, eine uneinholbare und sich sichtbar entziehende Verschiebung der Sichtbarkeit. Cy Twombly hatte in den sechziger Jahren die dekonstruierende Destruktion pikturaler Sichtbarkeit vor allem an der Linie und der einschreibenden Tätigkeit der Hand betrieben. In einer Bewegung des Rückgangs, die keine Reduktion ist, da dieser Rückgang darum weiss, dass er auf kein Wesen oder keinen Ursprung stossen wird, gingen seine Grapheme oder Kritzeleien vor jede Festlegung der Linie zurück, in einen Bereich, in dem die Linie noch nichts ist; noch nicht innerhalb einer Wahrnehmungsordnung festgelegt ist. Seine Grapheme sind noch nicht Konturen, noch nicht Formen, noch nicht Schrift, noch nicht Zahlzeichen, noch nicht kompositionelle oder expressive oder geometrische Linien; sie sind eine Art Leerlaufen der Hand, das alle diese Zeichenwerdungen als immer wieder präzise angedeutete Potentialität enthält, sich aber aller Festlegung enthält. Diese Linien, krakelige Spuren der Hand, bleiben ganz nahe an einer nichtintentionalen Tätigkeit der Hand, sind „Fast Nichts"; zugleich aber ist diese Nichtentscheidbarkeit und offene, vieldeutige Potentialität ein extrem artifizieller Zustand der Linie, eine aktive, destruktive Arbeit an der Zerstörung der Sichtbarkeit. Deswegen kommt der unaufmerksame Beobachter sowohl bei abstrakten Gemälden Richters wie bei Zeichnungen Twomblys zu der Ansicht, das was er sehe, sei nicht. Es sei nichts im Sinne von: er weiss nicht, was hier zu sehen wäre; oder im Sinne von: hier ist nichts, was als Kunst erkennbar wäre; oder: das ist nicht gekonnt, an diesen Gemälden ist keine Intention abzulesen. Diese Gemälde sagen und zeigen nicht nur nichts, sondern sie demonstrieren den Entzug der Sichtbarkeit; und damit geben sie 87 88 auf eine radikale Weise zu denken, zu denken vor allem über Wahrnehmung überhaupt und die historische Ausprägung von Wahrnehmungsordnungen. VII Besonders erhellend zum Verständnis der grundlegenden Verschiebung, die von der Moderne zur Postmoderne stattgefunden und die einen Bruch umfasst hat, war der Versuch, sie als Übergang von einem symbolischen zu einem allegorischen Modus des Bedeutens zu verstehen. Zwar hatte Walter Benjamin, auf dessen Allegorietheorie dieser Versuch gründete, den Begriff der Allegorie im Zusammenhang mit der Kunst der Moderne entfaltet; doch waren für Benjamin die beiden Paradigmata für die Avantgarde Dada und Surrealismus, also Bewegungen, die die erste Krise der Moderne prägten. Es ist einleuchtend, dass Benjamin für das hier verwendete Verständnis von Postmoderne ein zentraler Autor wurde; er verfasste eine Reihe von Analysen, die erst für die Kunst der sechziger Jahre umfassend aktuell wurden. In diesem Sinne ist Benjamin ein Theoretiker der späten Moderne avant la lettre. Entscheidend für die Fruchtbarkeit des Begriffs der Allegorie in diesem Zusammenhang ist die grundsätzlich andere Haltung, die der spätmoderne Al-legoriker im Verhältnis zum modernen Künstler und Denker einnimmt. Der Moderne geht von einer bewusstseinstheoretischen Grundhaltung aus, von der aus die Bedeutung von Kunstwerken von vornherein sicher gestellt ist, da sie von Subjektivität und Intentionalität durchtränkt sind: Kunstwerke werden von ihrem Autor aus gedacht, der subjektiven oder reflexiven oder psychischen Sinn in ihnen artikuliert. Da Kunstwerke von vornherein, durch ihren Schöpfer, sinnerfüllt sind, sind sie ,Symbole' im Sinne Benjamins. Zugehörig zur Sphäre des Sinns oder des Geistes, als geistige Gegenstände eines spezifischen Teilbereichs des Geistes, der ästhetischen Welt, ermöglichen sie spezifische, nämlich ästhetische Wahrnehmungen und Erfahrungen. Die ihnen am meisten angemessene Weise der Befragung ist deswegen die Hermeneutik: die sich als Rekonstruktion verstehende Konstruktion eines ursprünglichen Sinns. Auch die Weise der Selbstbefragung und Selbstanalyse, welche die Moderne als Erbin der Aufklärung entfaltet hat, ihre Selbstkritik und ihre Autoreflexivität, werden verstanden nach dem Modell des sich selbst reflektierenden und analysierenden Subjekts. Demgegenüber hat die Postmoderne im hier verstandenen Sinne die bewusstseinstheoretischen Grundlagen aufgegeben: sie analysiert künstlerische Objekte strukturalistisch und poststrukturalistisch. Objekte, auch wenn sie von Künstlern ausgewählt und montiert oder zusammengestellt worden sind, besitzen nicht von selbst Sinn, können nicht einfach gedeutet oder interpretiert werden, sondern müssen von aussen befragt werden: analytisch, strukturell, dekonstruktiv. Sie sprechen nicht, transportieren keinen Sinn, sondern können höchstens in ihrer Konstellation befragt und aussagekräftig werden. Indem ihre Intransparenz oder Opazität nicht in Frage gestellt wird, werden die Implikationen, die sich aus ihrer Auswahl, ihrem Einsatz, ihrem Gebrauch erschliessen lassen, freigelegt und analytisch formuliert. „Dieser dekonstruktive Impuls ist charakteristisch für postmoderne Kunst ganz allgemein und muss von der selbstkritischen Tendenz der Moderne unterschieden werden. ... Die Postmoderne klammert den Referenten weder ein noch verschiebt sie ihn, sondern sie arbeitet daran, die Arbeitsweise der Referenz zu problematisieren."24(Craig Owens) Der allegorische Denker glaubt nicht mehr an eine intentionale Bedeutung in dem, was sich seinem Blick bietet; er weiss, dass es von seiner Fragestellung und Frageweise abhängt, welche Einsichten sich ihm in der Konstellation der Arbeiten oder Objekte erschliessen. Er weiss auch um die Beschränktheit und Fragwürdigkeit, ja sogar Willkürlichkeit dieser Befragungen. „Der Allegoriker greift bald da bald dort aus dem wüsten Fundus, den sein Wissen ihm zur Verfügung stellt, ein Stück heraus, hält es neben ein anderes und versucht, ob sie zueinander passen; jene Bedeutung zu diesem Bild oder dieses Bild zu jener Bedeutung. Vorhersagen lässt das Ergebnis sich nie; denn es gibt keine natürliche Vermittlung zwischen den beiden."25(Walter Benjamin) Der Allegoriker benützt die Gegenstände also gewissermassen als Indexe und wie Indexe: sie sprechen nicht selbst, sondern weisen ihn auf Gegebenheiten der Realität hin, vor allem der gesellschaftlichen Realität. Was er aus diesem Hinweis macht, liegt bei ihm selbst. Er befragt nur schon Vorgefundenes; er befragt die Welt, nicht intentionale Äusserungen. „Der Allegorist erfindet keine Bilder, sondern erbeutet sie. ... Er stellt nicht eine ursprüngliche Bedeutung wieder her, die verloren gegangen oder dunkel geworden sein mag; Allegorie ist nicht Hermeneutik. Eher fügt er dem Bild eine andere Bedeutung hinzu."26 (Craig Owens) Dem postmodernen Allegoriker begegnet deswegen keine ästhetische Sonderwelt, keine eigenständige ästhetische Weise der Wahrnehmung und der Erfahrung, die einen spezifischen Sinn, ästhetischen Sinn, artikulierten, sondern er trägt an die Objekte Diskurse heran, Fragen, die die Objekte in diskursive Kontexte 24 Craig Owens: The Allegorical Impulse. Towards a Theory of Postmodernism, in Art after Modernism. Rethinking Representation, Hg. Brian Wallis, Boston - New York 1984, S. 235 25 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, in Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Band V. 1, Frankfurt am Main 1982, S. 466. 26 Craig Owens: The Allegorical Impulse. Towards a Theory of Postmodernism, in Art after Modernism. Rethinking Representation, Hg. Brian Wallis, Boston - New York 1984, S. 205. 89 einbetten und so analysieren. „Der allegorische Impuls, der die Postmoderne charakterisiert, ... führt Werke aus, die unsere Erfahrung der Kunst von einem visuellen zu einem textuellen Zusammentreffen transformieren."27(Craig Owens) Die Objekte aber antworten nicht, vor allem nicht aus eigener Bedeutungsfülle: eingebettet in diskursive Kontexte, liefern sie Verweise, die selbst wieder diskursiv bzw. textuell bearbeitet werden müssen. Sie zeigen nicht, sie sprechen nicht einmal; aber sie geben zu denken. 90 27 Craig Owens: The Allegorical Impulse. Towards a Theory of Postmodernism, in Art after Modernism. Rethinking Representation, Hg. Brian Wallis, Boston - New York 1984, S. 223.