UDK 78:821.09 Peter Revers Institut für Komposition, Musiktheorie, Musikgeschichte und Dirigieren, Universität für Musik und darstellende Kunst Graz Inštitut za kompozicijo, glasbeno teorijo, glasbeno zgodovino in dirigiranje, Univerza za glasbo in upodabljajočo umetnost v Gradcu „Ohne Anfang, ohne Ende, ohne Mitte" - Gedanken zum Verhältnis von Sprache und Musik in Hans Zenders Shir hashirim „Brez začetka, brez konca, brez sredine" -Razmišljanja o odnosu jezika in glasbe v Shir hashirim Hansa Zenderja Ključne besede: Zender, visoka pesem, inter-tekstualnost, retorika, branje IzVLEčEK Hans Zenderjevo celovečerno delo Shir hashirim lahko označimo kot kompleks vrste izjemno diferenciranih načinov branja Visoke pesmi. Pri tem igra tekstovna in glasbena povezanost (v smislu sintaktičnih in intertekstualnih odnosov) prav tako pomembno vlogo kot njeno razbitje s pomočjo razstavljanja besedil in besed ter ekspo-niranja primarno tonske in jezikovne zvočnosti. Keywords: Zender, Hohelied, Intertextualität, Rhetorik, lecture Abstract Hans Zenders abendfüllendes Werk Shir hashirim lässt sich als ein Komplex mehrerer, außerordentlich differenzierter Lesarten des Hohe-liedes interpretieren. Dabei bilden textliche und musikalische Kohärenz (im Sinne syntaktischer und intertextueller Bezugsfelder) eine ebenso wichtige Rolle wie deren Sprengung durch die Aufsplitterung von Worten und Textteilen und die Exponierung von primär klanglicher und lautsprachlicher Sonanz. Die Frage, ob das Hohelied eine mehr oder weniger lockere Zusammenstellung von Liebesliedern ohne kohärente Disposition darstelle, oder ob ihr ein übergreifendes Konzept, ja - wie gelegentlich auch reklamiert wurde - eine konzise Dramaturgie zugrunde liege, zählt in der alttestamentlichen Exegese nach wie vor zu den nicht geklärten Fragen. Hinsichtlich der Personen, der Stimmungen und Landschaften besteht keinerlei Einheitlichkeit. Wiederholungen einerseits, Brüche andererseits, die sich unserem Verständnis von logischer Gedankenentwicklung kaum subsumieren lassen, ja selbst einer durchgängigen personalstilistischen Zuordnung oder gar einer einigermaßen einzuschränkenden Festlegung der Entstehungszeit scheint sich dieser schillernde, buntscheckige und faszinierend offene Text zu entziehen. Zu Recht beschreibt Klaus Reichert das Hohelied als vielstimmigen Klangkörper, „mit Echos von etwas, dessen Herkunft verloren ist" bzw. als „zusammengestückeltes Gefäß, in dem die Bruchstellen sichtbar sind und die fehlenden Scherben besonders vermisst werden." Vielleicht - so resümiert Reichert - „öffnet aber gerade das Nebeneinander weit auseinander liegender, zur Zeit der Niederschrift kaum mehr erreichbarer Orte und die Gleichzeitigkeit verschiedener Zeiten, öffnen die unvermittelten Abbrüche und die ebenso unvermittelten Wiederholungen den Blick für eine andere Lektüre."1 Sein Plädoyer für eine offene, vielfältige Zugänge ermöglichende Lesart entspricht in hohem Maße Zenders eigener Auffassung: „Ein großer Text" - so der Komponist -„lässt sich nicht auf die Auslegung der eigenen Zeit begrenzen, historische Entfernung wiederum ist durch keinerlei Kodifizierung aufzuheben, da sich neben allen Einzelaspekten das rezipierende Bewusstsein unwiderruflich geändert hat."2 Die Differenz unterschiedlicher Lesarten beschränkt sich dabei nicht nur auf die Vielfalt von möglichen Interpretationsansätzen, sondern fungiert auch als kreative Herausforderung. Deutung und Schöpfung werden bei Zender zu einem übergreifenden, eng ineinander verzahnten kompositorischen Akt. In einem derart komplexen, um den zentralen Gedanken der Liebe kreisenden Textkorpus, kommt der Sprachstruktur naturgemäß besondere Bedeutung zu. Zender selbst - dies sei vorab gesagt - bekennt sich zu einer prädisponierten literarischen Form des Shir hashirim, genauer einem „freien Rondoprinzip", das sich aber dem Verständnis der Strukturen abendländischer klassischer Dichtung entziehe und in einer aus der Chaostheorie entwickelten Form zwischen den Polen freier „spontaner Ausbrüche" einerseits und refrainartigen Teilen andererseits bewege.3 Diese Affinität zum Ungeregelten, Chaotischen ist nicht zuletzt durch den hebräischen Text des Liedes selbst legitimiert. Klaus Reichert hat die „für unvermittelte Erweiterungen"4 offene parataktische Syntax des Shir hashirim betont und in der Überblendung und Vieldeutigkeit mancher Worte gar einen Bezug zu Joyces Finnegan's Wake hergestellt. Demzufolge seien die Wortgrenzen im hebräischen Text offen, entziehen sich oft einer eindeutigen Bestimmung und führen zu einem für das Hohelied signifikanten „Schweben zwischen Bedeutungen"5. Es erscheint mir an dieser Stelle angebracht, einige kurze Gedanken zum Verständnis von Text und seinen Unterschieden in der abendländischen Kultur einerseits und den antiken orientalischen Kulturen andererseits anzuführen. Dabei geht es mir nicht um philologische Details, sondern um 1 Das Hohelied Salomes - übersetzt, transkribiert und kommentiert von Klaus Reichert, Salzburg - Wien 1996, S. 10. 2 Hans Zender, Wir steigen niemals in denselben Fluß, Freiburg/Brsg. 1996, S. 79. 3 Vorwort zu CD: Hans Zender - Shir Hashirim I & II, cpo 999 486 - 2 (1997), S. 3. 4 Reichert, S. 12. 5 Ebda., S. 13. grundsätzliche Divergenzen, die m.E. in Zenders Hoheliedvertonung in besonderer Weise fruchtbar werden. Das Wort „Text" kommt bekanntlich aus dem Lateinischen: „textus verborum" bedeutet das Gewebe, den Zusammenhang der Wörter und in weiterem Umfang „den Aufbau und die Kohärenz der Rede."6 Dies bildet die wesentliche Voraussetzung für die Entstehung des für das Abendland dominierenden rhetorischen Textverständnisses. In den altorientalischen Sprachen (Hebräisch, Ägyptisch, Akkadisch) gibt es kein Äquivalent für „textus verborum": Der Unterschied zwischen Information und Mitteilung, zwischen der sprachlichen Gestalt und dem Sachverhalt, der vermittelt wird, ist in diesen Sprachen weitgehend bedeutungslos. Dem Wort kommt in den altorientalischen Sprachen also eine hohe Eigenbedeutung zu. Aus der rhetorischen Tradition entspringen letztlich auch unser philologisches Verständnis und alle damit verbundenen Implikationen wie Textkritik, Edition, Kommentar, Exegese, Übersetzung usw. Zu Recht argumentiert etwa Jan Assmann, dass man von philologischer Auslegungskultur vor allem dort spreche, „wo man es mit sprachlichen Äußerungen zu tun hat, deren Verständnis auf Grund hohen Alters oder sonstiger interkultureller Fremdheit problematisch geworden ist, also insbesondere im Umkreis der antiken Texte."7 Jede Übersetzung, und dies gilt selbstverständlich auch für die musikalische Umsetzung, muss also im Grunde beide Seiten des jeweiligen Textverständnisses in Rechnung stellen: unser abendländisches, das auf Zusammenhang und Kontinuität der Gedankenführung ausgerichtet ist; und das orientalische, in dem sich die Eigenbedeutung des Wortes in viel stärkerem Maße dem Primat der Syntax widersetzt. Aufbrechen von uns gewohnter Textkohärenz, der das für die abendländische Sprachkultur Ungeregelte, Chaotische als gleichrangige Möglichkeit zur Seite gestellt wird, ja schließlich die Überwindung des diskursiven Denkens im Koan, dem aus dem japanischen Zen-Buddhismus entlehnten Titel des vorwiegend instrumentalen Binnensatzes zwischen den Teilen 3 und 4 von Zenders Shir hashirim: sie werden zu einem Kanon vielfältiger Erkundungen in den Möglichkeiten und Grenzbereichen von Sprache. Die für das Hohelied grundsätzliche Offenheit des Textkorpus findet in Zenders Vertonung von Anfang an Niederschlag. Bereits im Teil I, Jishaqueni - Er küsse mich, wird in den kontinuierlichen Textverlauf des 1. Kapitels ein Abschnitt des 8., nämlich die Verse 8,8 - 8,9 einmontiert. Damit stellt er einen dramaturgisch in sich schlüssigen Zusammenhang her, den das Original (^ Hohelied 1, 5-6) entbehrt: Hl 1, 5: „Schwarz bin ich, doch anmutig! Schwarz bin ich, und so schön! [....]" Hl 1, 6: „Starrt mich nicht an, dass ich so schwarz bin: mich traf ja die aufblitzende Sonne." Hl. 8,8-9: „Uns gehört eine Schwester - was tun wir mit ihr, kommt sie ins Gerede? Sie hat noch keine Brüste ... Ist sie eine Mauer, bau'n wir eine Silberzinne drauf. Ist sie eine Pforte, bau'n wir eine Zedernplanke davor." 6 Jan Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, München 2000, S. 124. 7 Ebda., S. 125. MUZIKOLOŠKI ZBORNIK • MUSICOLOGICAL ANNUAL XLII/1 (Forts. Hl. 1, 6): „Die Söhne meiner Mutter sind wutentbrannt über mich! Sie setzten mich, zu hüten den Weinberg, aber ich, meinen Weinberg, den eigenen, habe ich nicht gehütet." Die inhaltlichen Bezüge dieser Neuzusammenstellung der Textabschnitte werden vor allem dann verständlich, wenn man sich den Symbolcharakter dieser bildhaften Sprache vor Augen führt: Mauern, Zinnen, Zedernplanken sind hier als Gleichnis zu sehen, in dem es nicht zuletzt um „die Verschlossenheit gegenüber Verführungen" und die Sorge der Brüder um die „Ehre und Keuschheit"8 der Schwester geht. Das nun in der Fortsetzung von Hl 1,6 wesentliche Bild des Weinbergs ist in der Exegese des AT immer wieder in Zusammenhang mit erotischen Assoziationen gebracht worden. Das Geständnis, den „eigenen Weinberg" nicht gehütet zu haben, umgibt sie - wie Othmar Keel meint - mit einem „Hauch von Verruchtheit"9, erklärt also die Wut der um ihre Unberührtheit besorgten Brüder, deren eigentliches Ziel es war, die ethischmoralische Vormundschaft über ihre Schwester zu behaupten.10 Ohne hier zu sehr in exegetische Details zu gehen kann an diesem Beispiel ersehen werden, wie sehr Zenders Disposition durch derartige intertextuelle Vernetzungen um Stringenz der Gedankenführung bemüht ist. Wesentlich komplizierter stellt sich die Situation in jenen Abschnitten dar, in denen der syntaktische Zusammenhang der Verse selbst aufgebrochen wird, Sätze und Wörter gleichsam in ihre Bestandteile zerlegt und neu angeordnet werden, „Überblendungen von Stimmen" gleichsam, „die sich nicht mehr sinnvoll verstehend trennen lassen"11. Zender hat dies - in Kombination mit einer klangräumlichen Aufspaltung der Instrumental- und Vokalgruppen - vor allem im 3. Satz von Teil III seiner Hohelied-Vertonung unternommen. Die Gründe für diese Verfahrensweise dürften zu einem nicht geringen Teil im Textkorpus selbst begründet sein. Denn die hier vertonte Textstelle (es handelt sich um Hl 6, 4-8) ist - mit Ausnahme des letzten Verses zu großen Teilen mit Hl. 4, 1 -3 identisch. Und auch in Zenders Vertonung finden sich die entsprechenden Verse aus Hl. 4 bereits im 3. Satz von Teil II. Die folgende Übersicht möge zunächst das textuelle Netz der entsprechenden Verse verdeutlichen: Hl. 1, 15: Da, du Schöne, meine Freundinj du bist schön, mein Freundin! Deine Augen: Tauben! Hl. 4, 1 - 3: Da, du Schöne, Geliebte!] | Deine Augen. Tauben! | (Zender II/3) [...] Deine Haare: eine Ziegenherde, hochkletternd den Berg Gillad! Deine Zähne: eine Herde frisch geschorener Schafe, aufsteigend aus der Schwemme Alle zu zweit! Allein ist keiner! Deine Lippen, glutrote Bänder! Und dein Schweigen ziert dich! [...] Deine Schläfe hinter dem Vorhang: Ritz des Granatapfels .... 8 Das Hohelied, erklärt von Gerhard Maier, Wuppertaler Studienbibel, Wuppertal 1998 (2. Aufl.), S. 175f. 9 Othmar Keel, Das Hohe Lied (Zürcher Bibelkommentare; AT; 18), Zürich 1992 (2. Aufl.), S. 57. 10 Vgl. hierzu: Das Hohelied, übs. und erklärt von Hans-Peter Müller, Göttingen 1992 (4. Aufl.), S. 87. 11 Reichert, a.a.O., S. 13. Hl. 6, 4 - 8: Schön bist du, meine Freundin (Zender: III/3) [...] Deine Haare eine Herde Ziegen, aufwallend aus dem Tal, deine Zähne eine Herde Schafe, aufsteigend aus der Schwemme, alle zu zweit, allein ist keiner .... deine Schläfe Spalt des Granatapfels, hinter dem Schleier Textlich geschieht hier nichts Neues, die Notwendigkeit für sprachliches Verstehen hat also keine Priorität. Die Zersplitterung des Sprachduktus wird allerdings kompensiert durch ein hohes Maß an Musikalität der hoquetusartig verzahnten Silben und Wortteile. Dieser Aspekt des Textes wurde z.T. in der Exegese des AT beschrieben. Mit Hinblick auf den Originaltext meint etwa Gerhard Maier: „Es ist, als ob der Dichter alle seltenen und auch weniger seltenen Wörter mit s und sch samt den farbigsten Vokalen aus der hebräischen Sprache herausgesucht hätte."12 Die Klanglichkeit der Sprache verweist hier also in gewisser Weise auf sich selbst. Dabei artikuliert der auf dem Podium befindliche Chor gleichsam die zentrale Aussage („Schön bist Du, Freundin, Geliebte"), während durch die im Zuschauerraum befindlichen Seitenchöre die Aufsplitterung des Sprachsinns in primär klangliche Qualitäten Hand in Hand mit einer - erstmals hier einsetzenden - expliziten Raummusik geht. Betrachten wir nun die Situation in Teil II / Abschnitt 3 (Hl. 4, 1 - 3) so zeigt sich, dass sie zu dem erwähnten Abschnitt in Teil III manche Parallelen aufweist. Die Basis des Chorsatzes (hier beschränkt auf Tenor und Bass) bildet eine übergreifende, in vier Segmente geteilte, isorhythmische Formel („Da, du Schöne, Geliebte!"), über der im Tenorsolo die bilderreiche Verherrlichung der Geliebten erfolgt. Der Tonvorrat der Chorstimmen bewegt sich dabei innerhalb eines Tritonusrahmens F - H, wobei er sich vom mittleren Ton As aus, symmetrisch nach beiden Seiten hin, d.h. nach oben zum H und nach unten zum F ausweitet. Das Symmetrieprinzip bestimmt in Teil II auch die rhythmische Organisation. Analysiert man daraufhin etwa die ersten 17 Takte von Abschnitt 3, so ergibt sich folgendes Bild: Da, du Schö - ne, Ge --- lieb -- te! T. 4: 9/8-Takt: 2: [5t] It 2t 31 2t 3t 3/[4/] (16-20/) T. 6: 9/8-Takt: 3t 4t 5t 4t 5t 6t 4t[5t] (31-32/) T. 9: 9/8-Takt: 51 6t 5t 4t 5t 4t 2t[3t] (31-32/) T. 13: 9/8-Takt: 41 3t 2t 3t 2t lt 2«r[ 3J"] (16-17/) T. 15: 9/8-Takt: 2t lt 2t 3t 2t 3t 3t (16/) Da, du Schö - ne, Ge --- lieb -- te! 12 Siehe Fn. 6, S. 90. Beispiel 1. Zender, Shir hashirim, Teil II, Abschnitt 3. du Beispiel 2. Zender, Shir hashirim, Teil III, Abschnitt 3. Die beiden Abschnitte II/3 und III/3 sind also, ähnlich der Textstruktur, auf vielfältige Weise miteinander in Beziehung gesetzt: so beruhen die Chorabschnitte auf einer analogen Reihenstruktur und sie artikulieren als gleichsam Unveränderliches die Idee der Schönheit der Geliebten. Deutlich werden anhand dieser Parallelen einerseits die subtilen Vernetzungen zwischen einzelnen Teilen der Komposition, andererseits aber auch der Kontinuität stiftende Prozess einer permanenten Neuordnung und Neuformulierung bereits verwendeter Materialebenen (Zender selbst hat vom „Recycling" einzelner Gestalten in Shir hashirim gesprochen). Gerade durch derartige Verfahren gelingt es, die Mehrdeutigkeit des zugrunde liegenden Textes zwischen Mitteilung, Bilderfülle und primär lautsprachlicher Sonanz hervorzuheben. Bezüge zwischen verschiedenen Textabschnitten artikulieren sich auch auf der Ebene rhetorischer Figuren. Auffällig sind etwa zahlreiche chromatisch fallende melodische Bewegungen, die häufig mit dem Bild des Hinabsteigens (also im Sinne einer Katabasis) verbunden sind, so gegen Ende des II. Teils, dem als Text der Schluss des 4. Kapitels von Hl. zugrunde liegt, jener Verse, die gemeinhin als deutlichste Beispiel 3. Zender, Shir hashirim, Teil II, Abschnitt 4, T. 149-156. Ausprägung der Liebeserfüllung13 beschrieben werden und die auch in Zenders Vertonung in eine klanglich voluminöse, gleichsam apotheotische Emphase münden. Der Text der entsprechenden Stelle lautet: „... der Quell der Gärten, der Brunnen lebendigen Wasser strömt herab vom Libanon — Komm Nord, Wach auf Süd, lass atmen meinen Garten, Es fließe sein Balsam. O kommen soll mein Geliebter in seinen Garten, genießen seine Früchte, überreichlich reich." Dieser Stelle kommt besondere Bedeutung zu, wenn man sie in einem umfassenderen Zusammenhang betrachtet. Denn nur wenige Verse zuvor, in Hl. 4,12, war vom verschlossenen Garten und vom versperrten Quell die Rede. Garten und Quelle kommt in der Sprache des Hl. eine ausgeprägte Symbolhaftigkeit zu. Der verschlossene Garten etwa, die Vulgata hat ihn mit „hortus conclusus" übersetzt, wurde zum Sinnbild der Jungfräulichkeit Marias. Die Öffnung des Gartens, das Herabfließen des Wassers: dies hat wesentlich erotische Implikationen im Sinne einer ganzheitlichen Glückserfahrung. In ähnlicher Weise begegnet die Katabasis in einem weiteren Gartenbild (Hl. 6,2): „Mein Geliebter ist hinabgestiegen in seinen Garten, auf die Balsamterrasse, zu weiden in den Gründen, zu sammeln Heilkräuter. Mein Geliebter ist mein, und ich bin sein, er, der auf Lotosblumen schwimmt." Zenders Vertonung dieser Stelle, sie findet sich am Ende des 2. Abschnittes von Teil III („Lo Jadatti - Ich erkenne nicht"), unterscheidet sich aber in einem wesentlichen Punkt vom zuvor erwähnten Gartenbild. Die emphatische Schlusssteigerung, Sinnbild der Liebeserfüllung am Ende von Kap. 4 des Hoheliedes, fehlt hier zur Gänze. Die Liebesgewissheit („mein Geliebter ist mein, und ich bin sein") bedarf hier nicht mehr der bekräftigenden Geste. Geradezu paradigmatisch ließe sich Gerhard Maiers Deutung dieses Satzes auf Zenders kompositorische Interpretation übertragen: „Was zunächst trivial klingt, entpuppt sich als Ausdruck totaler Zusammengehörigkeit. Weder Vorzüge noch einzelne Perspektiven kommen hier zur Verhandlung. Der Satz beschränkt sich auf das ,Ich' und das Du und umfasst gerade in dieser Beschränkung alles: jeweils die ganzheitliche Person ohne jeden Abzug."14 Eine m.E. völlig überzeugende Konsequenz dieser gehaltlichen Entwicklung zeichnet sich am Ende des III. Teiles ab. Auch hier wird ein Gartenbild (Hl. 6,11-12), wiederum verbunden mit der Katabasis, aufgegriffen: „In den Nussbaumgarten bin ich hinabgestiegen, zu sehn die Triebe im Talgrund des Baches, die sprossende Rebe, zu sehen die Blüten des Granatapfels ... Ich sehe nicht ... ich erkenne nicht ... lo jadatti." Wenngleich sich diese Verse einer eindeutigen Exegese entziehen, so wurde doch immer wieder ihr nachdenklicher, zum Fragmenthaften tendierender Duktus hervorgehoben. Die Sprache verlässt hier gleichsam die Ebene der Bildhaftigkeit und syntaktischen Geschlossenheit und stellt - wie Gerhard Maier dies formuliert hat - in „ihrer Bruchstückhaftigkeit" eine „monumentale Innenschau der Liebe dar"15. Sie verliert in der zunehmenden Zersplitterung des Satzes in einzelne Wörter ihre Konturen und öffnet sich dem darauf folgenden „Koan", der völligen Überwindung jeglicher rationaler Reflexion als Voraussetzung für unmittelbare ganzheitliche Erfahrung. 13 Othmar Keel etwa fasst die Verse Hl. 4,12 - 5,1 unter dem Titel „Das Paradies der Liebe" zusammen (siehe Fn. 8, S. 156-172). 14 Maier, a.a.O., S. 73. 15 Maier, S. 143. In den Nuss-bäum-gar-ten hin - ab, hin - ab - ge - stie-gen, zu sehn die Trie-he im Beispiel 4. Zender, Shir hashirim, Teil III, Abschnitt 4, T. 170-195. Den einzigen vokal ausgeführten Passus des zwischen die Teile III und IV gelagerten Abschnitts Koan bilden die bereits am Ende von Teil III erklungenen Verse Hl 6,12: „Ich erkenne nicht, ich sehe nicht, loyadatti", wobei das hebräische Wort (loyadatti) im übertragenen Sinne „ich wusste nicht" meint. In der exegetischen Literatur gilt dieser Satz als besonders problematisch in Bezug auf Deutungsversuche. Für Klaus Reichert etwa ist er „syntaktisch und semantisch dunkel", und es erschiene ihm falsch „einen klaren Sinn herausfiltern zu wollen"16. Auch Gerhard Maier interpretiert diese Stelle als das „Defizit oder besser gesagt die Grenze der Intelligenz" und den „Verzicht auf die Allmacht des Wissens".17 Dass damit eine ausgeprägte Affinität zum Verständnis von Koan im japanischen Zen-Buddhismus der Rinzai-Schule gegeben ist, liegt zunächst auf der Hand. Denn auch im Koan geht es letztendlich um die Zurückweisung der intellektuellen „Haltung des Verstehenwollens" als Voraussetzung der „Verwandlung des Menschen auf dem Weg zur unmittelbaren Erfassung des Undifferenzierten."18 Zenders Betitelung des auf Koan folgenden IV. Teils als Shalom - Ganzheit scheint genau jene umfassende geistige Erfahrung anzusprechen, auf die koan eigentlich abzielt. Diese Durchdringung im Grunde eigenständiger Traditionen des Denkens und Erfahrens wie sie in der Zusammenstellung von Hohelied und Koan auf äußerst plausible Weise erfolgt, repräsentiert - wie ich meine - eine übergeordnete geistige Größe von Zenders Polyphonieverständnis, das Wilfried Gruhn beschrieben hat als ein „Denken in gleichzeitig verlaufenden musikalischen Prozessen, die aufeinander einwirken und aufeinander Bezug nehmen, die aber eine selbständige interne 16 Reichert, S. 118. 17 Maier, S. 143. 18 Toshihiko Izutsu, Philosophie des Zen-Buddhismus, Reinbek bei Hamburg 1979, S. 12. Beispiel 5. Zender, Shir hashirim, Teil III, Abschnitt 2, T. 105-111. Organisationsform bewahren."19 Das emphatische Bekenntnis der Geliebten am Ende von Shir hashirim, „da bin ich geworden in seinen Augen zu einer, die erlangt hat Ganzheit" (Hl. 8,10) - dessen Ausdruck nach Zender „mit aller Kraft" erfolgen soll -zeigt ein letztes Mal die Figur der katabasis, aber wiederum in einem neuartigen Kontext. Ihre Aussage ist integriert in einen - so Zender - vom Chor „rituell gesprochenen" hebräischen Text. Kollektives Ritual aber meint Einfügung in eine überpersonale Ordnung: ihr wesentlichstes Charakteristikum ist die gemeinsame Handlung, die über das Ich und seine Grenzen hinausgeht. Betrachtet man die Stationen dieses Weges, die Erfüllung der Liebe am Ende des II. Teiles, die Liebesgewissheit und die Überwindung der sprachlichen Erfassung der Liebe im III., und die Integration der Liebe in eine überpersonale Ordnung am Ende des IV. Teiles, so lassen sich durchaus Stationen erkennen, in denen eine zentrale Idee in immer neuer und anderer Weise Profil gewinnt. Dieses Gemeinsame artikuliert sich - wie ich meine - auch in musikalisch-struktureller Hinsicht, etwa in der Figur der katabasis, die als sinnstiftendes sprachliches Moment in der Fülle der Bilderwelten eines der bewahrenden Elemente bildet, freilich in stets neuen, gewandelten Formen. 19 Wilfried Gruhn, Art. Hans Zender, in: Hanns-Werner Heister / Walter-Wolfgang Sparrer (Hrsg.), Komponisten der Gegenwart, 12. Nlfg, S. 12. Šha - lom! Beispiel 6. Zender, Shir hashirim, Teil IV, Abschnitt 4, T. 170ff. „Ohne Anfang, ohne Ende, ohne Mitte. [...] Mit einer Intensität im Einmaligen, zu der jede Dauer im Widerspruch stünde, nur zusammengehalten durch ein formtreibendes untergründiges Po