12-ziherl 195-214 09.01.2007 10:26 Page 195 o- GRADIVO Jerica Ziherl, Novigrad SAŠA ŠANTEL UND ANTUN MOTIKA: DIE ISTRISCHE PERIODE In Sammelschriften veröffentlichte Beiträge bringen neue Erkenntnisse auf den entsprechenden Forschungsgebieten, doch in ihnen sind auch häufig versteckte Hinweise zu finden, die dazu beitragen können, sowohl individuelle als auch allgemeine künstlerische Prozesse genauer zu erfassen. So ist die Studie des Kunsthistorikers Frano Dulibić über das Verhältnis des karikaturistischen und des malerischen Schaffens von Antun Motika ein wertvoller Beitrag zur Bewertung einer bis dahin vernachlässigten und fast unbekannten Dimension des Werkes dieses Künstlers sowie zur kroatischen Kunstgeschichte insgesamt.1 Doch Dulibićs Studie enthält auch einen etwas feineren Faden, den wir zum Anlass nehmen, (nationale) Grenzen zu überschreiten. In der einschlägigen (kroatischen) Literatur wird nämlich häufig der Einfluss des slowenischen Künstlers Saša Šantel auf die Formung von Antun Motika als Maler erwähnt. Diese Information wird jedoch meistens in Motikas Biografie untergebracht. In der slowenischen Kunstgeschichte ist die Tatsache weitgehend unbekannt und würde wohl auch weiterhin als unwesentlich behandelt, wenn unsere Nachforschungen nicht den Nachweis dazu lieferten, dass die Verbindung zwischen Šantel und Motika doch substanzieller war, als bisher angenommen.2 Diese Arbeit ist daher als Ergänzung vorhandener Erkenntnisse über das Leben und Schaffen der beiden Künstler sowie ihrer Bedeutung für ihr jeweiliges Umfeld konzipiert. Sie umfasst die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, die Saša Šantel und Antun Motika im istrischen Pazin verbrachten, einer Stadt abseits der künstlerischen Hauptströmungen, in der sie ihre unterschiedlichen Positionen entwickelten. 1 Frano Dülibic, Relations between cartoons and painting in the work of Antun Motika, Zbornik za umetnostno zgodovino, n. s. XXXIX, 2003, S. 174-197. 2 Antun Motika ist einer der bedeutendsten bildenden Künstler des 20. Jahrhunderts in Kroatien. Vgl. Antun Motika (herausgegeben und eingeleitet von Darko Glavan), Galerija Klovićevi dvori, Zagreb 2002; Jerko Denegei, Rasprava Grgo Gamulin - Vjenceslav Richter o apstraktnoj umjetnosti, Novi Kamov, II/1/1, 2002, S. 38-49. 195 e- 12-ziherl 195-214 09.01.2007 10:26 Page 196 GRADIVO Die istrische Periode Im Falle von Antun Motika und Saša Šantel beschränkte sich die traditionelle Kunstgeschichte, neben der chronologischen Fak-tographie, hauptsächlich auf die Form- und Stilanalyse ihrer Werke und suchte sie innerhalb der kroatischen (Motika) und slowenischen (Šantel) bzw. - in einer bestimmten Periode - der jugoslawischen modernen Kunst zu kontextualisieren. Diese Analysen umfassen vor allem die Zeit ihrer künstlerischen Reife. In den seltenen theoretischen Abhandlungen über diese beiden Autoren wird ihre Kunst in der Spannweite zwischen dem Hegelschen „Zeitgeist" und der Taineschen „Milieutheorie" oder, synonym, zwischen „unserem Ausdruck" (naš izraz) und der „slowenischen Kunst" (slovenska umetnost) angesiedelt. Diese „Geographie des Geistes" bezieht sich natürlich auf die kroatischen und slowenischen Gebiete bis 1945 und schließt Istrien aus. Ebenfalls ausgeschlossen werden dadurch Motikas Perioden der „malerischen Heranreifung und Formung, die fast in der Regel am schlechtesten dokumentiert sind".3 sowie das Wirken Šantels in Istrien, als er „ohne Zweifel einer der hervorragendsten Teilnehmer des Paziner Kulturlebens" war.4 Einen Schritt weiter als die chronologische Methode ging Dulibić, indem er das Verhältnis zwischen Motikas Karikaturen und seiner Malerei untersuchte, und die umfangreiche Sammelschrift über das Paziner Gymnasium enthält wertvolle Daten über Šantels Aufenthalt und Arbeit in Pazin. In Dulibićs Studie wird zum ersten Mal die früheste, istrische Periode des Künstlers systematisch interpretiert, wobei der Autor in erster Linie Motikas Karikaturen analysiert, während die Sammelschrift vor allem historische Materialien zur Wirkung Saša Šantels im Umfeld des „alten" Paziner Gymnasiums bringt. Da zwischen den beiden genannten Quellen kein kunsthistorischer Dialog stattfindet, zeigen sich kunsthistorische Interpretationen als unzureichend, um die „istrische Periode" Motikas und Šantels zu kontextualisieren. Darko Glavan bemerkt zwar richtig, dass die istrische Periode sehr wichtig für die „Entwicklung der Weltan- 3 Dülibic 2003, cit. n. 1, S. 174. 4 Josip Siklic, Saša Šantel, profesor pazinske gimnazije od 1907. do 1918. godine, Hrvatska gimnazija u Pazinu 1899.-1999., Pazin 1999, S. 383398. An dem Haus, in dem die Familie Šantel wohnte, ist eine Gedenktafel angebracht und eine der Paziner Straßen wurde nach Saša Šantel benannt. 196 -Q- 12-ziherl 195-214 09.01.2007 10:26 Page 197 GRADIVO schauung und der einheitlichen Poetik Motikas" war und dass die mehrsprachige Umgebung seiner Kindheit ein „unwiderlegbarer Beweis seiner Multikulturalität" ist, wobei er die Rolle Saša Šantels betont.5 Glavan ließ sich jedoch nicht auf ausführlichere Forschungen ein, sondern streifte nur ein Thema oder eine Problematik, die uns von den Relikten der Kunstideologie zur Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entfernt und einen Freiraum für unterschiedliche Deutungen und parallele Erkenntnisse schafft. Ohne Einsicht in die intellektuellen, geistigen und kulturellen Zusammenhänge eines historischen Ausschnitts, ohne die Erforschung der „Familiengeschichte" und des Verhältnisses zu komplexen sozialen, politischen oder auch ökonomischen Systemen einer Epoche, können eine Zeit und ein Raum nämlich nur oberflächlich verstanden werden. Motikas und Šantels istrische Periode, die Zeitspanne vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis ungefähr 1919, ist tatsächlich nur ein geschichtlicher „Ausschnitt". Doch obwohl relativ kurz, umfasst sie eine Reihe von schnell aufeinander folgenden, chaotischen Wandlungen, die die Schicksale einzelner Personen und ganzer Familien grundlegend änderten. Die Aufgabe und das Ziel dieser Arbeit ist es daher, die Interpretation einer subjektiv dokumentierten Geschichte zu versuchen und sie in Beziehung zum „istrischen Kriegs- und Friedenschaos"6 zu setzen, jenem allgemeinen Hintergrund, aus dem die Ursprünge späterer Ereignisse und Prozesse, die sowohl Motikas als auch Šantels Weltanschauungen und ihr Schaffen bestimmen sollten, abgeleitet werden können. Der historische Kontext: Die Familien Motika und Santel, das Paziner Gymnasium Gleich zu Beginn des 20. Jahrhunderts ließen sich Motikas Eltern in Pula nieder, wo sie vier Kinder hatten.7 Zu jener Zeit war Pula (nach Zagreb) die zweitgrößte Stadt im kroatischen Teil der Österreichisch-Ungarischen Monarchie und wies, vor allem dank ihrer 5 Antun Motika 2002, cit. n. 2, S. 11-12. 6 Darko DuKovSKi, Rat i mir istarski: model povijesne prijelomnice, Pula (s. a.), S. 10. 7 Antun Motika wurde am 30. Dezember 1902 in Pula geboren. Seine Mutter Anka (Ana), geb. Blažević, stammt aus einer Seemansfamilie aus Škrljevo bei Bakar und sein Vater Antun aus einer Bauernfamilie aus dem istrischen Dorf Motiki in der Nähe von Orbanići. 197 -Q- 12-ziherl 195-214 09.01.2007 10:26 Page 19 GRADIVO 1. „Erste kroatische Ausstellung von Gemälden und Skulpturen", Paziner Volkshaus, 18. Mai bis 3. Juni 1913. Die Ausstellung, bei der er auch seine eigenen Werke vorstellte, organisierte Saša Santel. Garnison, die Merkmale einer entwickelten mitteleuropäischen Stadt auf. Die wachsende Kaufkraft der Mehrheit der Stadtbevölkerung förderte die Entwicklung von Handel und Gewerbe: Neben Schneiderwerkstätten waren Weinhandlungen am weitesten verbreitet. Gerade solch ein Geschäft führte Antun Motikas Vater, der seiner Familie dadurch zwar keine üppige, dafür aber eine anständige Existenz sicherte. Obwohl die Familie auf damaligen patriarchalisch-christlichen Grundlagen beruhte, spielte Frau Motika in ihr die entscheidende Rolle und übte den größten Einfluss aus.8 Anka Motika hatte ein ausgeprägtes nationales Bewusstsein - sie war Kroatin -, das sie konsequent und wörtlich zum Ausgangspunkt ihres moralischen Engagements nahm. Damit ist vor allem ihre erzieherische Rolle gemeint; in anderen Fällen griff sie sogar zum bürgerlichen Ungehorsam.9 Das Bewusstsein von 8 Milivoje MiHAiLović, Čežnja za svetlošću Antuna Motike, Eigenausgabe Antun Motika, Zagreb 1981. 9 „Zur Zeit der Auflösung von Österreich-Ungarn sammelte Anka Motika Unterschriften von Patrioten, die den Anschluss Istriens an das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen unterstützten, und nahm überha- 198 -Q- 12-ziherl 195-214 09.01.2007 10:26 Page 199 GRADIVO der Zugehörigkeit zum kroatischen Volk prägte die im österreichischen Reichsteil wohnende Familie als Teil einer sozialen Gruppe, die gerade zu dieser Zeit in Istrien ihre nationale Wiedergeburt erlebte. Obwohl im politischen System Österreich-Ungarns keine Volksminderheiten anerkannt wurden, konnte das von der Monarchie gepflegte Modell der Beziehungen zwischen den einzelnen Volksgruppen zumindest einen scheinbaren Frieden unter den Völkern der istrischen Halbinsel erhalten. Dennoch setzten zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Pula, und damit in ganz Istrien, jene durch zwei nationale Integrationen bedingten politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Prozesse ein, die bis zum I. Weltkrieg für einen indirekten und danach auch für einen direkten Konflikt zwischen Kroaten und Italienern sorgten. Der latente Konflikt zwischen den beiden Volksgruppen ging daraus hervor, dass die mehrheitlich kroatische Bevölkerung im ganzen 19. Jahrhundert und bis hin zur Auflösung der Doppelmonarchie im Jahr 1918 von der österreichischen (cisleithanischen) Regierung im Hinblick auf die Bereiche Wirtschaft, Kultur und Bildung vernachlässigt wurde. Da sie die kroatische und die gleichzeitig stattfindende slowenische nationale Wiedergeburt, die zwischen 1900 und 1910 in ihre Endphase eintraten, nicht ignorieren konnte, musste die österreichische Regierung nachgeben und den istrischen Kroaten und Slowenen die politische, kulturelle und soziale Gleichberechtigung mit der italienischen Volksgruppe verbürgen.10 In der kroatisch-slowenischen politischen Präsenz im System der Monarchie sahen die istrischen Italiener eine Bedrohung, so dass die kroatisch-slowenisch-italienischen Beziehungen mit der Zeit immer intoleranter wurden. Der Höhepunkt wurde nach der Auflösung Österreich-Ungarns in rücksichtslosen chauvinistischen Ausschreitungen erreicht, die bald darauf durch die italienische Okkupation Istriens Legalität erhielten. Zahlreiche upt mit großem Eifer an dieser Aktion teil. Diese ewige Rebellin, Oppositionelle und Patriotin erlebte als Istrierin eine Enttäuschung", und nach D'Annunzios Besetzung von Rijeka überquerte sie alltäglich die Grenze zwischen Rijeka und Sušak, „in ihrer langen Unterwäsche, wie sie damals getragen wurde, gegen die italienische Okkupation gerichtete Briefe und Flugblätter versteckt". Mihailqvic 1981, cit. n. 8, S. 24. 10 Über die historischen Verhältnisse in Istrien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts s. Božo Milanqvic, Istra u 20. stoljeću, Pazin 1992; Darko Daeqyec, Pregled istarske povijesti, Pula 1996; Düküvski, s. a., cit. n. 6. 199 -Q- 12-ziherl 195-214 09.01.2007 10:26 Page 200 GRADIVO Familien zogen weg, Kultur- und Erziehungsinstitute wurden geschlossen. Die Anhänger der kroatischen und der slowenischen Volksbewegung, „narodnjaci", wurden zur Auswanderung gezwungen, unter Hausarrest gestellt oder zu Gefängnisstrafen verurteilt, zunächst als „ slawische und kroatische Propagatoren" und später als Gegner des faschistischen Regimes, wodurch mit einem Schlag die bedingte nationale Toleranz der habsburgischen Epoche in Istrien für lange Zeit zunichte gemacht wurde. Es bedurfte einer zusammengefassten Darstellung des Geburtsorts und der frühen Umgebung Antun Motikas, um die Gründe für die häufigen Umzüge seiner Familie aufzuzeigen.11 Der Hauptgrund für den Umzug eines Teils der Familie um 1915 lag darin, dass in Pula keine Bildungsanstalt existierte, die nationale Gefühle erweckt und gepflegt hätte, oder mit anderen Worten, die der Erhaltung der Identität istrischer Kroaten verschrieben gewesen wäre. Das einzige Institut dieser Art in Istrien befand sich in Pazin. Im Schuljahr 1915/16 kam Antun Motika in die 2. Stufe des „K.-k. Staatsobergymnasiums", das er bis 1918 besuchte. Saša (Aleksandar) Šantel wurde zwar in Gorica geboren, war aber zum Teil denselben historischen Prozessen im Spannungsfeld zwischen der Freiheit und der Notwendigkeit, der Selbsterhaltung und dem Miteinander, der Gesetzmäßigkeit und dem Chaos ausgesetzt, die für das komplexe und facettenreiche, multiethnische und multikulturelle Istrien charakteristisch waren. Noch während seines Studiums in Wien bewegte er sich in Künstlerkreisen, in denen gute kroatisch-slowenische Beziehungen gepflegt wurden, und stand den Ideen der Volksbewegung nahe, obwohl er dies in seinen Memoiren nicht direkt erwähnt12. Nach dem Studium trat er in den Staatsdienst als Lehrer ein und arbeitete zwischen 1906 und 1907 in Wien und Koper. Es ist bekannt, dass er in Koper mit Vladimir Nazor befreundet war, der von 1903 bis 1906 am Paziner Gym- 11 Im Herbst 1909 zog die Familie von Pula nach Žminj. Im Jahr 1911 kehrte sie nach Pula zurück und Mitte 1914 oder 1915 zog die Mutter mit den Kindern nach Pazin. Danach zogen sie nach Sušak, wo sich ihnen später der Vater anschloss. Im Jahr 1925, als Antun Motika bereits studierte, zog die Familie nach Zagreb um. 12 Erst am Ende seiner Erinnerungen schreibt er über das „Wiedergeburtswerk" der Slowenen und der istrischen Kroaten; s. Saša Santel, Spomini V, Srce in oko, IV/37, 1992, S. 248. 200 -Q- 12-ziherl 195-214 09.01.2007 10:26 Page 201 GRADIVO nasium lehrte. Šantel fertigte Illustrationen für Nazors Epos „Veli Jože" an und lernte durch ihn die auf der istrischen Halbinsel herrschenden sozialen und politischen Verhältnisse kennen.13 Obwohl er seine Versetzung von der Lehrerschule in Koper nach Pazin (statt nach Ljubljana, wie er es gewünscht hatte) nur ungern akzeptierte, passte sich Šantel sehr schnell dem provinziellen Milieu an. Einerseits empfand er dies als seine Pflicht gegenüber dem Schulamt und andererseits konnte er dort seinen Neigungen zu den Ideen der Volksbewegung freien Lauf lassen. Mit seiner Ehefrau Ruža zog er 1907 nach Pazin, wo er seine Lehrtätigkeit am „K.-k. Staatsobergymnasium" zunächst als Vertretung und danach als Professor aufnahm und bis 1918 ausübte. Das „Kaiserlich-königliche Staatsobergymnasium" wurde 1899 gegründet und war bis zu seiner Schließung 1918 weit mehr als nur eine Bildungsanstalt, nämlich der Hauptträger soziokultureller und erzieherischer Tätigkeiten in Pazin und seiner Umgebung. Es war zugleich der Brennpunkt der Verbreitung und Förderung des nationalen Bewusstseins der Kroaten und Slowenen in Istrien.14 Die Wahl Pazins zum Standort einer kroatischen Lehranstalt war nicht zufällig; dahinter standen politische und bildungspolitische Strategien sowohl der Monarchie als auch der kroatischen Volksbewegung in Istrien. Für Wien war das eine Frage des „Gleichgewichts" in kroatisch-italienischen Beziehungen und für die Anhänger der Volksbewegung eines der wichtigsten nationalen Projekte in Istrien.15 Auf der einen Seite moralisch und finanziell von der Volksbewegung unterstützt und auf der anderen auf die gesetzlichen 13 Es ist interessant, dass die Kroatische Post 1997 eine Briefmarke mit Šantels Illustration „Jože schüttelt den Turm" (Jože drma turnjem) im Rahmen der Serie „Europa - Geschichten und Legenden" herausgegeben hat. Mehr darüber ist unter der Internetadresse www.posta.hr/ main.aspx?id=148&idmarke-235 zu lesen. 14 Zur Geschichte des Gymnasiums sowie seiner kulturellen, erzieherischen und aufklärerischen Funktion s. Hrvatska gimnazija u Pazinu 1899.1999, Pazin 1999, S. 11-600. 15 Darüber schrieb unter anderen der istrische Schriftsteller Mate Balota (Mijo Mirković). Als ehemaliger Schüler des Gymnasiums, schon zu jener Zeit literarisch sehr aktiv, beschreibt er es als eine strenge und konservative Anstalt, die er zugleich mit einem Leuchtturm vergleicht, dessen Licht, „der Öllampe eines Bauers im Zeitalter der Elektrizität ähnlich", einen großen Beitrag zur kroatischen nationalen Wiedergeburt und Volksbewegung in Istrien leistete. Vgl. Mate Balota, Stara pazinska gimnazija, Istra kroz stoljeća, s. 5, 29, 1984, S. 17-18. 201 -Q- 12-ziherl 195-214 09.01.2007 10:26 Page 202 GRADIVO 2. Saša Santel mit seinen Schülern (wärend des ersten Weltkrieges). Regelungen gestützt, verfügte das Paziner Gymnasium über genügend Freiraum, um seine Lehrprogramme durchzusetzen. Obwohl der Lehrplan im Rahmen des habsburgischen Schulsystems, das eine klassische didaktische und methodische Struktur aufwies, umgesetzt wurde, wirkte das Paziner Gymnasium im Geiste der kroatischen nationalen Wiedergeburt16. Es wurde von Kindern kroatischer und slowenischer Familien aus ganz Istrien, vom Triester Karst und, zu einem kleineren Teil, aus anderen slowenischen Provinzen besucht, und im Schuljahr 1915/16 kamen auch die Schüler des italienischen Gymnasiums hinzu.17 Die gleiche nationale Mischung fand man auch im Kollegium des Gymnasiums wieder. Da es an kroatischen Lehrkräften mangelte, kamen die meisten Vertretungen, Lehrer und Professoren aus dem slowenischen Teil der Monarchie.18 Obwohl die Lehrer Slowenisch, Deutsch und Italienisch 16 Milivoj Čop, Carsko-kraljevska velika državna gimnazija u Pazinu od 1899. do 1918. godine, Hrvatska gimnazija u Pazinu 1899.-1999., Pazin 1999, S. 122. 17 „Ginnasio reale e Scuola reale superiore provincale in Pisino" wurde im selben Jahr wie das kroatische Gymnasium eröffnet und erhielt den Beinamen „Trotz-Gymnasium". Nachdem Italien Österreich-Ungarn den Krieg erklärt hatte, wurde es 1915 auf amtliche Verfügung hin geschlossen. 18 Slowenen machten 41,3% der gesamten Lehrkräfte aus. Vgl. das Verzeichnis der Lehrer in Danijela Jueičić-čaego, Slovenci na Hrvatskoj 202 -e- 12-ziherl 195-214 09.01.2007 10:26 Page 203 GRADIVO 3. Schulorchester unter der Leitung Saša Šantels. Abschlussball des Paziner Lehrerinnenseminars, 1916. konnten, benutzten sie sowohl in schulischen als auch in außerschulischen Aktivitäten ausschließlich Kroatisch, die „offizielle" Sprache des Gymnasiums. Dem erfolgreichen Wirken des Gymnasiums trugen Spenden und Stipendien von Seiten eines verzweigten Netzwerks verschiedener Vereine sowie einzelner kroatischer und slowenischer Patrioten bei, und die Unterstützung der lokalen Gemeinde blieb ebenfalls nicht aus. Dadurch mangelte es der Schule nicht an modernsten Unterrichtsmitteln, die Lehrer- und die Schülerbibliothek besaßen einen reichen Bücherbestand. Besondere Aufmerksamkeit wurde der Versorgung und Betreuung von Schülern aus bescheidenen Verhältnissen geschenkt. Im I. Weltkrieg wurde Pazin von Schrecken heimgesucht, die sich äußerst negativ auf das Alltagsleben auswirkten. Ungeachtet der allgemeinen Armut, des Hungers, der Uberteuerung und manch anderer Not kam das geistige Leben der Stadt gerade dank des Gymnasiums nicht zum Stillstand. Trotz zahlreicher Vertretungen und anderer Veränderungen wurde der Unterricht, obwohl nach etwas gekürztem Lehrplan, während des ganzen Krieges weitergeführt und die sozialen Aktivitäten des Gymnasiums blieben aufrechterhalten. Das Kriegsende im Oktober 1918 rief Erleichterung gimnaziji u Pazinu od 1899. do 1918., Hrvatska gimnazija u Pazinu 1899.-1999., Pazin 1999, S. 367-380. 203 -Q- 12-ziherl 195-214 09.01.2007 10:26 Page 204 GRADIVO und eine allgemeine „Volksbegeisterung" hervor. Doch schon am 4. November 1918, noch vor der Ratifizierung der Beschlüsse der Friedenskonferenz, besetzten italienische Truppen Pazin unter dem Vorwand, dies sei eine vorübergehende Maßnahme der Alliierten. Anfang November verwandelten sie das Gebäude des Gymnasiums in ein Lazarett, wodurch das „K.-k. Staatsobergymnasium" in kroatischer Sprache ohne amtliche Verfügung aufgehoben wurde.19 Künstlerporträts: Saša Šantel und Antun Motika Am Paziner Gymnasium unterrichtete Saša Šantel 11 Jahre lang die erste bis achte Stufe in den Fächern Zeichnen, Kalligraphie, Mathematik, darstellende Geometrie und Singen. Von 1912 an lehrte er ohne Entgelt auch an dem privaten Lehrerinnenseminar. Šantels Stundenplan umfasste 27 bis 30 Unterrichtsstunden in der Woche, und er war einer der beliebtesten und aktivsten Professoren in Pazin.20 Šantel war jedoch nicht nur ein hervorragender Pädagoge, der sich großer Beliebtheit und Achtung unter den Schülern und Lehrern erfreute, sondern auch ein rühriger Förderer der Musik und Kunst, was ihm ein hohes Ansehen in ganz Istrien verschaffte. Im selben Jahr, in dem Šantel nach Pazin zog, gründete das Kollegium des Gymnasiums einen „Bildungsausschuss" und eröffnete „Außenstellen des Gym- nasiums zur Volkserziehung", also Einrichtungen zur Erwachsenenbildung, durch die sich die Lehrtätigkeit der Paziner Professoren auf eine breitere Öffentlichkeit erstreckte. Fortan organisierten sie zahlreiche kulturelle Veranstaltungen in Pazin und der Umgebung.21 19 Čop 1999, cit. n. 16, S. 131. 20 In den Aufzeichnungen ehemaliger Schüler des „alten" Gymnasiums ist der am häufigsten vorkommende Name der Saša Šantels, und zwar fast ausschließlich im positiven Kontext. Mate Balota schrieb: „Dieser Mann war im wahrsten Sinne des Wortes menschlich, tiefsinnig, natürlich, unmittelbar, fröhlich, gebildet, ausgeglichen, seiner Kraft bewusst, aber deshalb nicht trotzend, gerecht, warm. Er hatte keinen großen Einfluss im Kollegium, mischte sich nicht in die Schulpolitik ein, konnte einem keine Vorteile verschaffen, ließ keinen durchfallen, drohte nicht, machte keinem etwas vor - um sich verbreitete er nur Licht und Wärme der menschlichen Seele, einer Seele, die lieb war, obwohl sie nicht an Gott glaubte." Balota 1984, cit. n. 15, S. 43. Vgl. andere Aufzeichnungen in Spomen-knjiga hrvatske gimnazije u Pazinu 1899.-1969.-1999., Pazin 1999, S. 483-496. 21 Am politischen Leben Pazins nahmen die Professoren des Gymnasiums nicht teil. Sie waren weder im Gemeinderat noch in der Politischen 204 -Q- 12-ziherl 195-214 09.01.2007 10:26 Page 205 GRADIVO Bei diesen Veranstaltungen trat Santel oft als Chorleiter (Schülerchor) oder als Interpret (Geige, Bratsche) auf. Er bildete das Schülerstreichquartett aus, stellte Repertoires und Kulturprogramme zusammen, hielt Vorträge „für das Volk", und wenn man dem seine Tätigkeit als Lehrer, Maler, Komponist und Schriftsteller hinzufügt, kann man ihn mit gutem Grund „einen der verdienstvollsten Menschen im Kulturleben der Stadt"22 nennen. Es seien hier einige seiner Aktivitäten angeführt: Er war Mitbegründer des Istrischen Museums in Pazin und veröffentlichte zu diesem Thema den Artikel „Über die kulturelle Bedeutung der Volksornamentik mit persönlichem Blick auf Is-trien"23. Als Mitglied des Bildungsausschusses hielt Santel von Projektionen und Ausstellungen begleitete Vorträge über die bildenden Kün-ste.24 Des Weiteren hielt er vier Vorträge zur Volkszählung. Im Jahr 1913 organisierte er die „erste kroatische Ausstellung von Gemälden und Skulpturen", die im Paziner Volkshaus vom 18. Mai bis zum 3. Juni gezeigt wurde und bei der auch seine Werke zu sehen waren. Von der Bedeutung dieser Ausstellung zeugen die in den Tageszeitungen und Zeitschriften Naša sloga, Edinost, Slovenac, Slovenski narod, Riječki novi list, Narodni list und Obzor erschienenen Besprechungen.25 Es versteht sich fast von selbst, dass er als Komponist und Geigenspieler das Musikleben der Stadt wesentlich mitgestaltete. Im Jahr 1912 wurde anlässlich des 100. Geburtstags Juraj Dobrilas unter anderem Santels Kantate „Dobrila zu Ehren" (Slava Dobrili) vom Streichorchester und Chor des Kroatischen Gymnasiums (insgesamt 60 Schüler) aufgeführt. Einige Jahre danach vertonte er ein Werk von Nazor zur Kantate für gemischten Chor. Santels Musikwerke hatten sowohl beim Publikum als auch bei der Kritik großen Erfolg und in seinen Konzertrepertoires waren sowohl klassische als auch zeitGesellschaft der Kroaten und Slowenen in Istrien vertreten. Vgl. Mladenka Hammer, Društveni rad profesora Hrvatske gimnazije u Pazinu (1899.1818.), Hrvatska gimnazija u Pazinu 1899.-1999., Pazin 1999, S. 303. 22 Hammer 1999, cit. n. 21, S. 331. 23 Narodna prosvjeta, 11-12, 1911, S. 236-239. 24 So hielt er im März 1911 den Vortrag „Die Malerei der Renaissance", begleitet von „Lichtbildern", und im März 1912 einen Vortrag „mit Experimenten und einer Ausstellung graphischer Werke"; vgl. Hammer 1999, cit. n. 21, S. 323. 25 Hammer 1999, cit. n. 21, S. 323. 205 -Q- 12-ziherl 195-214 09.01.2007 10:26 Page 206 GRADIVO 6. Kroatische Post, Serie „Europa -Geschichten und Legenden", S. Šantel, „Jože schüttelt den Turm", 1997 4. Antun Motika, „Otokar Keršovani", Pazin 1917, Bleistift und Kohle auf Papier, 435 x 310 mm; Kat. Nr. 925. Aus dem Nachlass des Autors, im Besitz von Duško Motika. genössische Autoren vertreten26. Als ihm bei einer Gelegenheit zum Vorwurf gemacht wurde, dass er auch „fremde" Kompositionen aufführe, antwortete er: „Wir leben immer noch in einer Epoche der Erweckung des Nationalbewußtseins, in der es ständig zu beweisen gilt, dass ,auch wir ein Kulturvolk sind', dass auch wir Konzerte ohne fremde Stücke veranstalten können. Obwohl ich vom Nutzen der Erweckung des Nationalbewußtseins überzeugt bin, glaube ich trotzdem, dass die Tonkunst nicht dadurch erniedrigt werden dürfte, dass man sie von politischen Ansichten abhängig macht. Deshalb übernehme ich gern die Verantwortung dafür, dass bei dem Konzert in der Lesehalle auch einige Stücke nichtkroatischer oder nichtslawischer Komponisten aufgeführt wurden."27 26 Šiklic 1999, cit. n. 2, S. 393-394. Während der Paziner Zeit entstanden zahlreiche Musikstücke Šantels. Für eine Liste der Werke s. šiklic 1999, cit. n. 2, S. 396-397. 27 Hammee 1999, cit. n. 21, S. 335. 206 -Q- 12-ziherl 195-214 09.01.2007 10:26 Page 207 GRADIVO 5. Antun Motika, „Konvikt", Blatt aus dem Heft „Meine Karikaturen", 1919. Das gebundene Heft im Format 236 x 163 mm enthält 52 unnummerierte Blätter mit Tuschezeichnungen. Im Besitz des Grafikkabinetts der Kroatischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Zagreb, Inv. Nr. A-I-2 4054. Seine Ansichten über die bildende Kunst waren jedoch konservativ und hielten nicht Schritt mit den Tendenzen seiner Zeit. „Um ein guter Maler zu werden, ist zweierlei erforderlich: Man muss erstens ein Künstler sein (d. h. die natürliche Begabung zum künstlerischen Schaffen besitzen) und zweitens national gesinnt sein, denn [...] mit solchen Werken vermag man den individuellen Wesenszug seines Volkes wiederzugeben und zugleich Interesse sowohl für sich selbst als auch für das eigene Volk in der fremden Welt zu wecken"28, schrieb Šantel. Diese Äußerung lässt erkennen, dass er den Grundsätzen der Wiener „Vesna-Gruppe" treu geblieben war. Einige erhaltene, in Pazin entstandene Werke zeugen davon, dass er als Maler und Grafiker eher ein Anhänger realistischer oder mimetisch-präsentativer Tendenzen in der slowenischen (kroatischen) Moderne war.29 Doch Šantels kunst- 28 Hammee 1999, cit. n. 21, S. 334. 29 Zur Malerei Saša Šantels s. Ida Tomše, Saša Šantel: 1883-1945 (Ausstellungskatalog), Narodna Galerija, Ljubljana 1983; Tina Füelan, Oris 207 -e- 12-ziherl 195-214 09.01.2007 10:26 Page 208 GRADIVO 7. Saša Šantel, „Stadt Pazin", Zeichnung, 1912. pädagogische Arbeit war deutlich liberaler und - in gewissem Sinne -bedeutender. Nicht nur darum, weil er es verstand, seinen Schülern die Welt der Kunst näher zu bringen, sondern auch wegen der großen Aufmerksamkeit, die er der Arbeit mit den begabten unter ihnen widmete. Einer dieser Schüler war Antun Motika. Šantel beeinflusste Motika vor allem als vorzüglicher Pädagoge, der seine künstlerischen Neigungen ermutigte, förderte und lenkte, ohne dabei die Entfaltung seiner schöpferischen Persönlichkeit zu hemmen.30 Es sind nur einige wenige in Pazin entstandene Werke Motikas erhalten geblieben, doch aus ihnen ist ersichtlich, dass er weder Šantels malerische Morphologie noch seine slikarske družine Šantel, Novo Mesto 2000 (Univerza v Ljubljani, Filozofska fakulteta, Magisterarbeit). Vgl. die Liste der in Pazin entstandenen Kunstwerke bei Siklic 1999, cit. n. 2, S. 396. 30 In seinem Brief anlässlich des 100. Jahrestages des Paziner Gymnasiums 1980 schreibt Motika: „Ab und zu trat Šantel in das Klassenzimmer ein, und jedes Mal waren wir von seiner Erscheinung beeindruckt: Er hatte das Gesicht eines Heiligen, war immer zugänglich, väterlich im Umgang mit seinen Schülern. Wir haben ihn vergöttert. Als Pädagoge vertrat er moderne Ansichten." Spomen-knjiga hrvatske gimnazije u Pazinu 1899.-1969.-1999., Pazin 1999, S. 496-497. 208 -Q- 12-ziherl 195-214 09.01.2007 10:26 Page 209 GRADIVO Syntax übernahm - sie lassen vielmehr eine individuelle Handschrift und, weitaus deutlicher als in Santels Werken, den Einfluss neuer Medien erkennen. Das trifft vor allem auf Motikas in der Schülerzeitung Vinko Lozić erschienenen Karikaturen zu sowie auf die illustrierten Hefte Meine Karikaturen, Rotbart und Reise zum Mond (Moje karikature, Crvena brada, Put na mjesec), die Elemente des Comicstrips, des Films und der Science-Fiction enthalten. Obwohl diese Arbeiten Motikas nicht unbedingt als Kunstwerke einzustufen sind, geben sie als Zeugnisse seiner frühesten Phase genügend Aufschluss über seine künstlerischen Fähigkeiten und kündigen in bestimmten Elementen auch die grundlegenden Eigenschaften seines zukünftigen Stils an. Neben dem regulären Unterricht nahm Motika am „Kunstlehrgang" teil, den Santel in seinem Atelier hielt, wo Otokar Keršovani häufig Modell saß.31 Ihre Beziehung ist durch ein von Motika gezeichnetes Porträt Keršovanis dokumentiert. Am Rande des Blatts steht: „Privatschule im Atelier von Prof. Santel, 3. Stufe, I. Kurs, 1917 - nach der Natur"32. Doch dieses Werk liefert nicht den einzigen Nachweis, dass die beiden bekannt, wenn nicht gar befreundet waren. Wenn man die illustrierten „politischen" Kommentare Motikas betrachtet, in denen er sich zur Vereinigung Istriens mit Kroatien (Jugoslawien) bekennt und seiner Skepsis gegenüber der nach dem Weltkrieg neu gezeichneten geopolitisc-hen Karte Europas Ausdruck verleiht, hat man einigen Grund anzunehmen, dass sowohl Otokar Keršovani als auch ihr gemeinsamer Lehrer, Santel, bis zu einem gewissen Grad die Weltanschauung Motikas beeinflusst haben. Zumindest waren ihre politischen Ansichten in diesen frühen Paziner Tagen ähnlich. Doch ungeachtet der eigentlichen Natur der Beziehung zwischen Motika und Keršovani hat das Porträt des letzteren insofern eine Bedeutung, als es zu den ersten Werken in Motikas 31 „Er war scheinbar schweigsam, aber lebhaft in der Polemik. Oftmals führten wir Gespräche über Kunst und Literatur. Er war klug und für sein Alter allseitig gebildet", schrieb Motika in einem Brief. 32 Das Porträt wurde bei der Ausstellung Antun Motika in der Galerie Alvona in Labin im September 2002 gezeigt (435 x 310 mm, Bleistift und Kohle auf Papier; im Privatbesitz von Duško Motika, Kat. Nr. 953, Mappe 30). In der Tageszeitung Vjesnik, XXVI, Nr. 6475, vom 27. 3. 1965 ist über das Porträt ein Artikel unter dem Titel „Motika * Keršovani" erschienen. Der Verfasser des mit den Initialen M. P. gezeichneten Artikels ist wahrscheinlich Matko Peić. 209 -Q- 12-ziherl 195-214 09.01.2007 10:26 Page 210 GRADIVO außerordentlich umfangreichem Opus gehört und, neben anderen erhaltenen Paziner Arbeiten, die von Darko Glavan vorgetragene These, in dieser Periode seien „Zeichnen und Malen für Antun Motika eine Form des Selbstausdrucks"33 gewesen, untermauert. Glavans These trifft im Hinblick auf Motikas Malerei zweifellos zu, doch sind wir der Meinung, dass die eigentliche künstlerische Form seines Selbstausdrucks, seine ursprüngliche Technik gerade das Zeichnen war, das er bei Saša Šantel lernte und erlernte. Darüber schreibt Motika: „Professor Saša Šantel war mein Zeichenlehrer. Für mich und meine Kameraden war die Zeichenstunde ein großes Fest." Danach erfährt man zwischen den Zeilen, dass Motika zu den jüngsten Schülern in Šantels Atelier gehörte, die „gezeichnet haben, während die älteren schon mit Ölfarben arbeiten durften"34. Und dass das Zeichnen nicht bloß eine anfängliche, jugendliche Aufgabe war, die das Meistern des Zweidimensionalen zum Ziel hatte, davon Zeugen tausende von Motikas Zeichnungen aus allen seinen Schaffensphasen.35 Übrigens besteht die Ausstellung Motikas, die die größte Aufmerksamkeit überhaupt erregte, „Archaischer Surrealismus" von 1952, gerade aus Zeichnungen.36 Motika war zwar eine komplexe künstlerische Persönlichkeit, doch die Technik, die er am besten gehandhabt, die er gemeistert hat und, was am wichtigsten ist, der er zeitlebens treu blieb, war sicherlich die Zeichnung. „Zeichnungen sind das gelesene Buch seines Schicksals"37, schrieb Darko Schneider. 33 Antun Motika 2002, cit. n. 2, S. 13. 34 Spomen-knjiga Hrvatske gimnazije u Pazinu 1899.-1969.-1999., Pazin 1999, S. 496-497. 35 Die Werke und Dokumente aus Motikas Nachlass werden im Zagreber Mimara Museum aufbewahrt. Das Dokument mit dem Titel „Schlussbericht und Vorschlag zur Schenkung der Sammlung des akademischen Malers Antun Motika" (Zagreb, 10. 4. 1990, gezeichnet von Darko Glavan, Oberkurator des MGC, und Antun Motika, akademischer Maler) nennt 4.175 Zeichnungen größeren Formats und 53 Zeichenmappen mit insgesamt 10.956 Bogen. Dies sind die amtlich festgehaltenen Zahlen, aber in Wirklichkeit dürften sie bedeutend höher liegen. Da sich die Zeichnungen jedoch an vielen unterschiedlichen Orten befinden, wurden sie bisher nicht systematisiert. 36 Jerica Ziheel, Strah i bijeg od realnosti dekadentnih zapadnjaka, Život umjetnosti, XXXVIII, 71/72, 2004, S. 50-61. 37 Darko Schneidee, Antun Motika, Ptica u logu (izbor crteža 1930-1940), Zagreb 1989, S. 10. 210 -e- 12-ziherl 195-214 09.01.2007 10:26 Page 211 GRADIVO Motika zeigte auch Talent zur Bildhauerei. Darin konnte er ebenfalls mit der Unterstützung seines Professors rechnen. Genauer gesagt, es war gerade Saša Šantel, der die Entscheidung über Motikas zukünftigen Beruf fällte. Als Motika sich nicht entscheiden konnte, welches Studium er wählen sollte, „durchschlug Professor Šantel schließlich den gordischen Knoten: Er soll Bildhauer werden!"38 Šantel war nämlich Motikas Lehrer auch am Gymnasium in Sušak, wohin beide nach der Schließung des Paziner Gymnasiums bzw. der Okkupation Istriens durch Italien umgezogen waren.39 Sie pflegten freundschaftlichen Umgang auch außerhalb des Unterrichts. Der junge Antun, der ein wachsendes Interesse für die Bildhauerei zeigte, besuchte auf Šantels Empfehlung auch die „Bildhauer- und Steinmetzwerkstatt" von Rude Matković.40 Obwohl Matković vorwiegend herkömmliche Grabsteine herstellte, bot sich Motika dort die Gelegenheit, auch in Ton zu modellieren und die Grundlagen der Bildhauerkunst zu erlernen. Seine letzte und keineswegs geringe Rolle spielte Saša Šantel bei Motikas Studi-enwahl.41 Trotz der schwierigen finanziellen Verhältnisse der Familie 38 Mihailović 1981, cit. n. 8, S. 26. 39 In der zweiten Hälfte des Jahres 1918 wurde Saša Šantel an das Gymnasium in Sušak versetzt, wo er bis 1920 unterrichtete. Neben seiner kunstpädagogischen Tätigkeit leitete er den Frauenchor und das Streichorchester. Vgl. Janez Močnik, Saša Šantel, ob pedesetletnici smrti, Mohorjev kolendar 1995, Celje 1995, S. 137-141. Antun Motika besuchte das Gymnasium in Sušak 1919-1921. Dort wohnte er mit seiner Mutter, während sein Vater in Pula geblieben war. 40 Matković unterhielt seine Werkstatt in Sušak seit 1904. Vgl. Daina Glavočić, Kiparska i klesarska radionica Rude Matković, Sušačka revija, II, 8, 1994, S. 35-39. 41 Darüber schreibt Motika: „Anfang 1918 wurde Saša Šantel an das Realgymnasium in Sušak versetzt. Dort hatte er eine große Ausstellung, bevor er nach Ljubljana zog, um an der Schule für Kunst und Gewerbe zu unterrichten. Ende 1918 verlasse ich Pazin mit meinen Eltern und besuche das Gymnasium in Sušak, wo ich meinen lieben und unvergesslichen Professor Saša Šantel vorfinde. Im Klassischen Gymnasium gibt es keinen Zeichenunterricht, weswegen mich Šantel in die Werkstatt des Steinmetzmeisters Matković schickt, dessen Sohn ein bekannter Bildhauer in Sušak war. In dieser Werkstatt modellierte ich das Porträt meines Bruders. Auf Grund dieser Arbeit geben mir meine Professoren, allen voran der gute Lehrer, Maler, Grafiker und Musiker Saša Šantel, eine Empfehlung für die Zagreber Kunstakademie, wo ich in die Skulpturabteilung des Bildhauers Valdec komme." In: Spomen-knjiga Hrvatske gimnazije u Pazinu 1899.-1969.-1999., Pazin 1999, S. 497. 211 -Q- 12-ziherl 195-214 09.01.2007 10:26 Page 212 GRADIVO entschloss sich Motika, auf Santels Ratschlag hin und mit Zustimmung seiner Eltern (vor allem seiner Mutter Anka), Bildhauer zu werden. Mit der Hilfe von Saša Santel und Marko Krema wurde er an der Skulpturabteilung der „Vorbereitungsschule" der Zagreber Kunstakademie zugelassen und 1922/23 als ordentlicher Student immatrikuliert.42 Damit trennten sich die Lebenswege von Saša Santel und Antun Motika. Historische Quellen geben keinen Aufschluss darüber, ob sie sich danach je wieder trafen. Motika nahm zwar 1932 an der Ausstellung der „Dreiergruppe" in Ljubljana teil, und es ist anzunehmen, dass bei dieser Gelegenheit ein Treffen zwischen dem Lehrer und dem Schüler stattfand. Es ist jedoch fraglich, ob solch ein Treffen von größerer Bedeutung gewesen wäre, da ihre Rollen in Pazin und Sušak bereits gespielt waren. Fazit Dieser Aufsatz über Santels und Motikas „istrische Periode" ist als eine notwendige Vervollständigung der bisherigen Erkenntnisse über das Leben und das Werk der beiden Künstler gedacht. Unter Hinweis auf den weiteren historischen Kontext wurde hier der Versuch unternommen, die für die Weiterentwicklung der beiden Autoren bestimmenden Einflüsse und Berührungen aufzuzeigen und die Ergebnisse dieses Prozesses zu bewerten. Der Schwerpunkt lag dabei auf neuen Einsichten, die sich jedoch nicht ausschließlich auf ihre Kunst beziehen. Ein ganzheitliches Bild vom Lebensweg eines Künstlers kann man nur gewinnen, indem man die Umstände seiner Geburt, seiner Ausbildung und seines Wirkens beleuchtet, oder um es mit Franz Grillparzer zu sagen, es kann das Große nicht verstehen, wer das Kleine nicht erlebt hat. Abgesehen davon hat diese Arbeit keine andere Ambition, als zur weiteren Erforschung der künstlerischen Wege von Saša Santel und Antun Motika sowie der Kunstgeschichte und verwandter Disziplinen überhaupt anzuspornen. 42 Dank der Unterstützung von Santel, Krema und Rikard Katalinić-Je-retov erhielt Motika das Stipendium der Matrix croatica, vgl. Darko Schneider, Antun Motika 1927-1974., Zagreb, Moderna galerija, Zagreb 1974-75. 212 O 12-ziherl 195-214 09.01.2007 10:26 Page 213 GRADIVO Der großartige Pädagoge, Kulturförderer und Maler Saša Santel bewahrte sein Selbstbewusstsein und seine Freiheit als Künstler und Intellektueller. Deshalb ließ seine istrische Umgebung nicht leichtfertig zu, dass sein Andenken ihrem kulturellen Gedächtnis entfällt. Dies umso mehr, als Saša Santel einen bedeutenden Bestandteil des istrischen kulturellen Selbstbewusstseins darstellt. Was Motika betrifft, so hatte er in Santel den richtigen Lehrer und Mentor. Wie so oft, übertraf der Schüler den Lehrer - was nur bedeuten kann, dass er einen guten Lehrer hatte. Nach der „istrischen Periode" entwickelte sich die Kunst Antun Motikas in steil aufsteigender Kurve. Sie vertrat keine kollektiven und allgemein akzeptablen Tugenden, sondern strebte vielmehr einen Zustand an, in dem der Künstler als Individuum, dank seiner eigenen Verstandeskraft und Kreativität, einen nach diesem seinen Vermögen bemessenen Freiraum schafft, in dem eben er, und nicht jemand anders, der Grund allen Handelns und der Maßstab aller Werte ist. Und während die expansiven, sozial ausgerichteten Avantgardebewegungen danach trachteten, die Welt nach ihren ideologischen Vorstellungen umzuwandeln, arbeitete Motika einsiedlerisch an seiner inneren Umwandlung. Er hat die Kunst um keines anderen Ideals willen vernachlässigt und dadurch schließlich ein Ergebnis erreicht, das sich im geschichtlichen Kontext sehen lassen kann. Bildernachweis: Übernommen aus dem Erinnerungsbuch des kroatischen Gymnasiums in Pazin, 1999, (1, 2, 3, 7), Aus dem Nachlass des Autors, im Besitz von Duško Motika (4), Grafikkabinetts der Krotischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Zagreb, Inv, Nr. A-I-2 4054 (5), www.posta.hr/main.aspx?id=148&idmarke=235 (6). 213 -Q- 12-ziherl 195-214 09.01.2007 10:26 Page 214 GRADIVO UDK 75.036:929 Šantel S., 75.036:929 Motika A. izvirni znanstveni članek - original scientific paper SAŠA ŠANTEL IN ANTUN MOTIKA: ISTRSKO OBDOBJE Članek obravnava prva desetletja 20. stoletja, ko sta umetnika Saša Šantel in Antun Motika, prvi slovenskega, drugi hrvaškega rodu, prebivala v istrskem mestu Pazin (do konca prve svetovne vojne v okviru Avstro-Ogrske, zatem v Italiji). Četudi je to okolje ležalo stran od glavnih umetnostnih tokov in je bilo poleg tega obremenjeno s kompleksnimi socialnimi, političnimi in gospodarskimi razmerami, je ponujalo dovolj spodbud tako za Šantolovo pedagoško, kulturno in umetniško delovanje kot tudi za umetniško rast in zorenje Antuna Motike, enega najpomembnejših hrvaških likovnih ustvarjalcev 20. stoletja. Veliko vlogo pri umetniškem izoblikovanju mladega Motike je odigral prav Šantel, v letih 1915 do 1921 njegov učitelj in mentor v Pazinu in na Sušaku. Šantel je na Motiko vplival predvsem kot odličen pedagog. Odkrival je njegova umetniška nagnenja in ga pri tem spodbujal in usmerjal, ne da bi zaviral razvoj njegove ustvarjalske osebnosti. Na drugi strani je imel Motika dovolj svobode, da je razvil svoje lastne nazore in poetiko. Prav v tem istrskem obdobju so nastala dela, ki jih sicer še ne moremo označiti kot umetnost, a sodijo v prvo zgodovino hrvaške karikature, komičnega stripa in znanstvene fantastike. Zato si je avtorica članka zadala nalogo, da interpretira subjektivno dokumentirano zgodovino in jo postavi v kontekst »istrskega kaosa vojne in miru«, občega ozadja, iz katerega je mogoče izpeljati izvor poznejšega dogajanja in procesov, ki so odločali tako v Šantlovem ustvarjanju kot v ustvarjanju Motike. Za njuno istrsko okolje ostajata umetnika pomembna sestavina kulturne samozavesti. Slikovno gradivo: 1. »Prva hrvaška umetniška razstava slik in kipov«, Narodni dom Pazin, 18. V. - 3. VI. 1913. Razstavo je pripravil Saša Šantel in na njej razstavil tudi svoja dela. 2. Saša Šantel z učenci (v času prve svetovne vojne) 3. Gimnazijski orkester pod vodstvom Saše Šantla. Maturitetni ples ženskega učiteljišča, Pazin 1916. 4. Antun Motika, »Otokar Keršovani«, Pazin 1917, svinčnik in oglje na papirju, 435 x 310 mm ; kat. št. 925. Shranjeno v zasebni zapuščini Duška Motike. 5. Antun Motika, »Konvikt«, list iz zvezka »Moje karikature«, 1919. Zvezek ima format 236 x 163 mm, sešit s sukancem. Vsebuje 52 listov risb s tušem, brez paginacije. Shranjeno v Grafičnem kabinetu HAZU v Zagrebu pod inventarno številko A-I-2 4054. 6. Hrvatske pošte, serija »Europa-priče i legende«, S. Šantel »Jože drma turnjem«, 1997. 7. Saša Šantel, Mesto Pazin, risba iz leta 1912. 214 -e-