Struktur - Kultur - Alltag - Erfahrung Sozialgeschichte in kuiturwissenschaftlicher Erweiterung Reinhard Sieder Welche Veränderungen kennzeichnen die Sozialgeschichte in West- und Mitteleuropa in den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg? Vier Begriffe scheinen mir Wegmarken der Entwicklung zu sein: 'Struktur', 'Kultur', 'Alltag' und 'Erfahrung'. Während der Terminus 'Struktur' schon in den 1950er Jahren vor allem über Fernand Braudel1 und Werner Conze2 in die Sozialgeschichte eingeführt und in der Folge zu einem geradezu inflationierten Begriff aller historischen Disziplinen geworden ist, zählen 'Kultur'3 'Alltag' und 'Erfahrung'4 erst seit einigen Jahren zu den Schlüsselbegriffen der Sozialgeschichte. Der Strukturfunktionalismus - wie er im deutschen Sprachraum in den 1970er und 1980er Jahren in allen Sozial Wissenschaften und auch bei den inno- 1. Fernand Braudel, »Histoire et Sciences Sociales. La Longue Durée,« in: Annales 13 (1958), 725 f f , dt. Übersetzung in H.-U. Wehler Hg, Geschichte u. Soziologie; Köln 1972, 189 ff.; abgedruckt auch in Claudia Honegger Hg, M. Bloch, F. Braudel, L. Febvre u.a., Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, Frankfurt am Main 1977, 47 ff. 2 . Vgl. v.a. Werner Conze, Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters als Aufgabe für Forschung und Unterricht, Köln u.a. 1957. 3. Der Begriff »Kultur« ist zwar nicht neu, hat aber eine Bedeutungsveränderung erfahren. Früher auf Objektivationen künstlerischen und wissenschaftlichen Schaffens begrenzt, dehnte sich das Begriffsfeld in den letzten Jahren auf alle symbolischen Ausdrücke menschlicher Tätigkeiten und Kommunikation aus. Vorläufer einer »Kulturgeschichte« mit in etwa diesem Begriff von »Kultur« finden sich schon in den letzten Jahrzehnten des 19.Jhs, etwa bei Eberhard Gothein und bei Karl Lamprecht. Für die 1930er Jahre vgl. auch die jetzt wiederentdeckten Arbeiten der Wiener Sozialhistorikerin Lucie Varga, Zeitenwende. Mentalitätshistorische Studien 1936-1939, hgg. v. Peter Schüttler, Frankfurt am Main 1919. Zur aktuellen Diskussion um »Kultur« als konzeptuellem Grundbegriff von Sozialgeschichte vgl. Willem Th. M, Frijhoff, »Kultur und Mentalität: Illusion von Eliten?« in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 2 (1991) 2, 7 ff. 4. Zur Diskussion der Begriffe »Alltag« und »Erfahrung« in der Sozialgeschichte vgl. v.a. die am Göttinger Max Planck-Institut für Geschichte entstandenen Arbeiten von Alf Lüdtke und Hans Medick, insbesondere: Alf Lüdtke, »Einleitung. Was ist und wer treibt Alltagsgeschichte?« in: ders. (Hg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt am Main u. New York 1989; ders, Alltagsgeschichte. Zur Aneignung der Verhältnisse, in: Österreichichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 2 (1991) 2, 104 ff , hier auch ausführliche Literaturangaben; Hans Medick, »Missionare im Ruderboot«? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in: Geschichte u. Gesellschaft 10 (1984), 295 f f , auch in Lüdtke (Hg.), Alltagsgeschichte, 48 ff. 70 Reinhard Sieder vationsbereiten, theoriebewußten Sozialhistorikern dominierte, rekonstruierte Strukturen als Ordnungen von Merkmalen des Sozialen, des »demographischen Verhaltens«, des Wirtschaftlichen, des Politischen etc. Dies geschah zum überwiegenden Teil unter Verwendung von numerischem Datenmaterial bzw. mittels Transformation nominaler in numerische Daten, mit denen statistische Operationen deskriptiver und analytischer Art durchgeführt wurden. In diesem Paradigma des sogenannten »Quantifizierens« konnten relevante Einsichten in die »Strukturen« vorindustrieller und industriegesellschaftlicher Familien- systeme, Einkommensverhältnisse etc. gewonnen werden. Während die Erfassung und Verarbeitung numerischer Daten einerseits - trotz aller Unscharfen und fragwürdigen Vorannahmen (z.B: »Welche Personen zählen im 18. Jahrhundert zur »Familie«?) - insgesamt zu einer höheren Sorgfalt in der Exploration von »Strukturen« beitrug, traf dies auf die Interpretation der rekonstruierten Strukturen oft weniger zu. Hier wurde in der Regel intuitiv und im Wege der Plausibilitätsannahme auf die Wirkungen oder Funktionen der Strukturen geschlossen. So heißt es beispielsweise in Jürgen Kockas 1973 veröffentlichter Arbeit über die Deutsche Gesellschaft im Ersten Weltkrieg: »Der Krieg ließ die langsame, aber stetige Verbesserung des Lebensstandards und der Arbeitsverhältnisse, wie sie während der Vorkriegsjahrzehnte für die Situation der Arbeiterschaft in ihrer Mehrheit kennzeichnend gewesen war, plötzlich abbrechen und rückläufig werden. Die Diskrepanz zwischen den Erwartungen und Ansprüchen einerseits und den realen Möglichkeiten, sie zu arfüllen, andererseits, mußte (sie!) im Gefühl und Bewußtsein der Betroffenen desto schärfer hervortreiten.«5 In Ermangelung von Daten über die Perspektiven der Subjekte (ihre Deutungen, Handlungen und Erfahrungen) wurden die Perspektiven häufig vertauscht: Die Logik der Strukturen wurde mit der Logik der Subjekte verwechselt. So liest man zum Beispiel bei Arthur E. Imhof in einem Aufsatz mit dem für die 1970er Jahre typischen Titel »Ländliche Familien- strukturen...«: »Ein malthusianischer Schock war lange vor Malthus gefürchtet; eine Übervölkerung und deren Reduktion durch positive Hemmnisse (Hunger, Seuchen, Krieg) betraf weite Bevölkerungskreise direkt und hart. Man versuchte zu allen Zeiten einer solchen Entwicklung dadurch vorzubeugen, daß die biologisch mögliche Fekundität der Frauen einge- schränkt wurde, sei dies über die Steuerung der innerehelichen Fruchtbarkeit (Ausdehnung der intergenetischen Intervalle, bzw. Senkung des Alters bei der letzten Geburt), sei es durch eine Erhöhung der Quote von dauernd Ledigen oder eine Verlängerung der Witwenschaft, oder sei es schließlich durch eine Hinaufsetzung des weiblichen Heiratsalters.«6 Beschrieb man Strukturen in 5. Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914-1918, 2. Aufl., Göttingen 1978, 35. 6. Arthur E. Imhof, Ländliche Familienstrukturen an einem hessischen Beispiel: Heuchelheim 1690-1900, in: Werner Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Struktur - Kultur - Alltag - Erfahrung 71 ihrer Veränderung, wurden sie häufig zu einem historischen Agens ontologisiert: Sinkende Sterblichkeitsraten »führen zu...«, »steigendes Heiratsalter bewirkt...« usw. Ich möchte die Verwechslung der Logik der Strukturen mit der Logik der Subjekte bzw. die Ausstattung von Strukturen mit subjekthaften Eigen- schaften, also die Verwechslung der Ordnungen von Merkmalen mit dem jeweils gemeinten Ausschnitt vergangener Wirklichkeit, kritisch als Strukturrealismus bezeichnen. Die Subjekte erscheinen darin meist nur als »ausführende« Positions- und Rollenträger, sozusagen als Marionetten der Strukturen. Sie sind von »objektiven« Verhältnissen »betroffen«, oder sie verändern ihre »Fekundität«, als hätten sie Malthus studiert (s.o.). Die Folge ist, daß ihre Handlungs- und Deutungsspielräume - das, was sie wissen können und in welchem Bewußtsein sie handeln - unerkannt bleibt und damit der Eigensinn der Lebenswelt verfehlt wird. Die Logik des sozialen Handelns wird durch eine systemisch-strukturelle Logik ersetzt.7 Damit aber fehlt auch - und dies ist gerade für das Erkenntnisinteresse der Geschichtswissenschaften im allgemeinen, einer emanzipatorischen Ge- schichtswissenschaft im besonderen zentral - die Möglichkeit der Einsicht in den Spielraum zur Veränderung der Verhältnisse. Die Verhältnisse verändern sich in diesem Paradigma nur insoweit, als sich Strukturen verändern. Da hier nur die 'äußeren' Merkmalsrelationen als 'Strukturen' gelten, erscheinen die Menschen als die passiven Objekte der Veränderung von ihnen gänzlich 'äußerlichen' Strukturen. Aber welchen tätigen Anteil haben sie an der Veränderung dessen, was hier in analytischer Absicht als 'Struktur' rekonstruiert worden ist? In welchem Ausmaß sind sie im sogenannten Strukturwandel'nicht nur »Betroffene«, sondern auch Akteure? Der fragliche Anteil der Subjekte an der Reproduktion bzw. an der Veränderung der sozialen, wirtschaftlichen, politischen oder kulturellen 'Verhältnisse' kann - abstrakt gesprochen - in ihren kommunikativ vermittelten Kooperationen gesehen werden. Dies gilt für sogenanntes »politisches Handelns« ebenso wie für das sogenannte »wirtschaftliche«, »religiöse«, »wissenschaftliche« oder auch für das »reproduktive« Handeln in Liebes-, Ehe - und Familienbeziehungen. Allen diesen kommunikativen Kooperationen ist gemeinsam, daß sie an kulturelle Überlieferung gebunden sind. Das bedeutet, daß es von gelingenden (oder mißlingenden) Tätigkeiten von Menschen abhängt, ob über die Prozesse der Sozialisation, der Bildung und der kollektiven Lebensformen (Modi der Reproduktion) Kontinuität und Kohärenz der kulturellen Überlieferung gewährleistet werden können oder nicht. Stuttgart 1976, 197 ff., hier 206. 7 . Zu diesen Begriffen vgl. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd 2., Frankfurt am Main 1981. 72 Reinhard Sieder In ihren kommunikativen Kooperationen produzieren Menschen die Kultur einer Gesellschaft. Kultur ist an Zeichen (Symbole) gebunden, kulturelle Praktiken sind immer symbolisch. Diese Zeichen oder Symbole stehen für die gesetzte Bedeutung, für den je gemeinten Sinn. Daher finden wir auch in der Perspektive jedes Betrachters bzw. des wissenschaftlichen Re-Konstrukteurs alle lebensrelevanten Tätigkeiten von Menschen in symbolischen Ausdrücken vor: die Produktion von Gütern und Dienstleistungen drückt sich kulturell (und also symbolisch) in der Deutung und Bedeutung der Arbeitsbeziehungen aus (z.B. zwischen Meister, Geselle und Lehrling, oder auch zwischen dem Handwerker und seinem Kunden). Die Reproduktion von Arbeitskraft drückt sich materiell und symbolisch in den Reproduktionsbeziehungen und ihren Deutungen und Bedeutungen aus (z.B. im Verhältnis von Mann und Frau, oder im Verhältnis von Eltern und Kindern). Die Herrschaft von Menschen über Menschen drückt sich kulturell in Zeichen der Herrschaft aus (z.B. in den Zeichen des Königs, in den Zeichen der Unterwerfung, welche seine Untertanen setzen usw.). Kurz, um historisch-gesellschaftlich zu existieren, bedarf es des symbolischen (zeichenhaften) Ausdrucks. Ohne diesen symbolischen Ausdruck - also ohne Kultur - existiert Gesellschaft nicht. Wenn Gesellschaft nicht ohne Kultur besteht, kann eine vergangene Gesellschaft und ihr Wandel (ihre sogenannte »Geschichte«) ohne diese kulturelle Dimension auch nicht adäquat rekonstruiert werden. Aber wie hängt diese symbolische Dimension der Kultur mit dem Sozialen, mit dem Wirtschaftlichen, mit dem Politischen etc. zusammen? Ist Kultur als symbolische Praxis nicht - wie die eben genannten Beispiele zeigen - in allen analytisch unterscheidbaren Handlungsfeldern (im Sozialen, im Ökonomi- schen, im Politischen) aufzusuchen? Läßt sich 'Kultur' in diesem Sinn überhaupt vom Sozialen, vom Wirtschaftlichen, vom Politischen etc. trennen? Und wenn wir sie in analytischer Absicht von diesen anderen Aspekten trennen, die realiter mit ihr zusammenhängen, produzieren wir dann nicht neuerlich eine Verdinglichung des Kulturellen, diesfalls sozusagen Kultur- alismus? Die Einseitigkeit eines kulturalistischen Begriffs von Gesellschaft und Geschichte wird klar, wenn wir uns vor Augen führen, was kommunikatives Handeln als die Grundoperation jeder Kultur eigentlich ist. Jürgen Habermas hat ausgeführt, daß kommunikatives Handeln nicht auf Deuten (Inter- pretieren) reduziert werden darf, denn es bedeutet immer zugleich auch Vorgänge der sozialen Integration und der Vergesellschaftung. Die kommunizierenden Menschen (Politiker, Geschäftsleute, Eheleute, Kinder etc.) schöpfen aus ihrer kulturellen Tradition, um zu deuten, zu verstehen, sich zu verständigen, und ihr Handeln zu koordinieren. Damit reproduzieren sie nicht nur ihre Kultur, sondern zugleich ihre Zugehörigkeit zu Kollektiven und - ihre eigene Identität.8 8. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, 211. Struktur - Kultur - Alltag - Erfahrung 73 Gesellschaften und ihre Subsysteme (Betrieb, Familie, Bürokratie usw.) wird klar, wenn wir uns vor Augen führen, daß der Akteur zwar unter vorgefundenen Bedingungen deutet und handelt, aber diese Bedingungen erst dann zur sozialen Wirklichkeit werden, wenn Menschen sie zu ihren eigenen machen, wenn die Bedingungen in praxi angeeignet werden. Sich die Bedingungen anzueignen kann - systematisch gesprochen - zweierlei bedeuten. Erstens, die Fortführung (Reproduktion) der Bedingungen, entweder selbstverständlich, oder im Leiden an den Verhältnissen, ohne sie verändern zu können. Zweitens, die Veränderung der Bedingungen, die überwiegend nur im Handlungszusammenhang einer Gruppe, sozialen Klasse oder der Gesellschaft gelingt. In jedem Fall ist der Mensch hier also nicht als Marionette der Bedingungen gefaßt, sondern als Akteur. Als Akteur erscheint das Subjekt hier also weder strukturell überdeterminiert, noch wird es - wie im idealistischen Denken - als »freies Individuum« gedacht. Damit stellt sich freilich sofort die Frage, welche Unterschiede es zwischen den Akteuren gibt, was die Möglichkeiten betrifft, die Verhältnisse gemäß den eigenen Interessen zu gestalten und zu verändern, wie und ob sie zu einem Bewußtsein gemeinsamer Interessen (»Klassenbewußtsein«) gelangen und welche Bündnisse sie aufgrund eines solchen Bewußtseins eingehen. Wenn das Bewußtsein der Subjekte nicht mehr wie im Strukturfunktionalismus von den Strukturen »abgeleitet« oder - wie im objektivistischen Marxismus - immer schon als ein »falsches« gewußt wird, das im Gang der Geschichte »notwendig« korrigiert werden wird, stellt sich die alte Frage neu: Kann über eine vergangene (oder präsente) Gesellschaft in Termini von »Klasse« oder »Stand« gesprochen werden? Und wie verhält sich eine solche analytisch erdachte Ordnung zur gemeinten Wirklichkeit? Wie können wir den notorischen Fehler von Sozialhistorikern und Soziologen vermeiden, die gedachte Ordnung kurzerhand mit der historischen Wirklichkeit gleich- zusetzen, also die Sache der Logik mit der Logik der Sache (K. Marx) zu verwechseln? Der französische Ethno-Soziologe Pierre Bourdieu hat vorgeschlagen, Klassen im Sinne der Logik als »Ensembles von Akteuren mit ähnlichen Stellungen (...), ähnlichen Konditionen und ähnlichen Konditionierungen (...), aller Voraussicht nach ähnlichen Dispositionen und Interessen (...), folglich auch ähnlichen Praktiken und politisch-ideologischen Positionen« herauszu- präparieren. Solche »Klassen« seien zunächst theoretischer Natur, keine realen, effektiven oder »kampfbereiten« Klassen. Andererseits lassen die genannten Ähnlichkeiten erwarten, daß unter gewissen Voraussetzungen bei den Akteuren ein Bewußtsein dieser Ähnlichkeiten entsteht. Adäquat konstruierte theoretische Klassen seien daher durchaus »wahrscheinliche 9. Pierre Bourdieu, »Sozialer Raum und 'Klassen'«, in: ders., Sozialer Raum und »Klassen«. Leçon sur ta leçon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt am Main 1985, 7 ff. 74 Reinhard Sieder Klassen«, wenn dies auch niemals »zwingend notwendig« sei.9 - Hier wird also die Differenz zwischen einer theoretischen und einer realen Klasse nicht verwischt und ein Bruch mit der marxistischen Tradition vollzogen, die konstruierte und reale Klassen gleichsetzt oder die unterschiedenen »Klassen für sich« und »Klassen an sich« zu gleichermaßen realen Phänomenen erklärt, wobei der Übergang von der einen in die andere entweder deterministisch oder voluntaristisch beschrieben wird. Die Qualität einer theoretischen Ordnung (wie »Klasse«) mißt sich daran, wie genau und komplex sie die Relationen einer praktischen Ordnung rekonstruiert. Bourdieu schlägt vor, zu diesem Zweck »Lage« und »Stellung« des einzelnen Akteurs im »sozialen Raum« möglichst genau zu bestimmen. »Lage« und »Stellung« ergeben sich dabei nicht aus der »Substanz« des Akteurs, aus seinem 'Wesen' oder dergleichen, sondern aus der Relation seiner Lage und Stellung zur Lage und Stellung aller anderen Akteure im jeweils konstruierten »Feld« des »sozialen Raumes«. Denn: »Was existiert, das ist ein Raum von Beziehungen«.10 Diese Beziehungen werden jeweils durch eine Kombination von verschiedenen Kapitalsorten bestimmt, die von den Akteuren »ins Spiel gebracht« werden: dem materiellen und/oder geistigen, magischen und/oder intellektuellen 'Eigentum' und den 'Eigenschaften' des Akteurs, aus seinem Geschlecht, welches ihn immer auf eine kultur- und klassenspezifische Weise in Relation zum anderen Geschlecht setzt, aus seiner körperlichen Attraktivität und/oder Körperkraft, die ihren symbolischen Wert wiederum nur aus der Relation zur körperlichen Attraktivität und/oder Körperkraft der anderen Akteure im selben Feld beziehen usw. Welche »Kapitalsorte« jeweils dominiert, d.h. die sozialen Relationen (soziale Ungleichheit, Machtverteilung etc.) maßgeblich bestimmt, hängt von der Spezifität des Feldes ab, das wir konstruieren (akademisches Wissen im Feld der »Wissenschaften«, Körperkraft und Geschwindigkeit im Feld des »Sports«, materielles Kapital im Feld der »Wirtschaft« usw.)11 Ich fasse zusammen: Aus der Kritik am Strukturfunktionalismus, der das Denken in der Sozialgeschichte und insbesondere in der sogenannten Historischen Sozialwissenschaft der 1970er Jahre bestimmte, und aus der Kritik an der kulturalistischen Verengung auf die Perspektiven der Akteure (wie sie zum Teil im Historismus, zum Teil aber auch in rezenten Formen der »Alltagsgeschichte« vorliegt, s.u.) plädiere ich für eine Sozialgeschichte, die 10. Ebenda, S 13. 11. Zur Einführung in das ethnosoziologische Denken vgl. jetzt Axel Honneth, »Die zerrissene Welt der symbolischen Formen. Zum kultursoziologischen Werk Pierre Bourdieus«, in: ders., Die zerrissene Welt des Sozialen. Sozialphilosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 1990, 156 ff.; zum Konzept der »Kapitalsorten« vgl. Pierre Bourdieu, »Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital«, in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten (= Soziale Welt, Sonderband 2} Göttingen 1983, 183 ff. Struktur - Kultur - Alltag - Erfahrung 75 sich um die Dimension des Kulturellen im Weber'schen Sinne erweitert. Ihren Gegenstand bildet nicht ein Gefüge von determinierenden Strukturen (Objektivismus), und auch nicht die Perspektive der Subjekte für sich (Subjektivismus), sondern die Dialektik von Handlungsbedingungen einerseits und von Praktiken andererseits. Soziale Wirklichkeit erscheint hier als doppelt konstituiert: Zum einen aus den Gegebenheiten, die sich als Strukturen (des Sozialen, des Ökonomischen, des Politischen etc.) rekonstruieren und beschreiben lassen, und zum anderen aus dem Handeln und Deuten der Akteure, die diese Gegebenheiten fortführen (reproduzieren) bzw. verändern. Die Praktiken der Akteure werden strukturiert und wirken ihrerseits strukturierend. Da jedes soziale Handeln auf symbolischen Ausdruck bzw. auf die Decodierung der Symbole verwiesen ist, ist jede Praktik auch symbolisch und daher - unserer Definition von Kultur folgend, auch kulturell. Der Tischler, der einen Stuhl erzeugt und verkauft, setzt damit nicht nur einen wirtschaftlichen Akt. Da er seinen Stuhl auf eine bestimmte Weise (wir sagen ja auch: in einer bestimmten Tradition, in einem bestimmten Stil etc.) erzeugt und ihn auf eine bestimmte Weise an seinen Kunden verkauft, handelt er auch symbolisch, d.h. auch kulturell. Indem er Stühle erfolgreich verkauft, akkumuliert er nicht nur materielles, sondern auch symbolisches Kapital, das ihn in der zünftisch dominierten Gesellschaft einer spätmittelalterlichen Stadt zu politischem Einfluß kommen läßt. Ob wir nun an diesem Akt in analytischer Ab-Sicht (sie!) die »wirtschaftlichen«, die »sozialen«, die »politischen« oder die »kulturellen« Aspekte hervorkehren, hängt von unserer jeweiligen Fragestellung ab. Realiter (im historisch-gesellschaftlichen Wirkungsgeschehen selbst) sind diese Aspekte immer ineinander verschränkt. »Alltagsgeschichte« oder »Erfahrungsgeschichte«? Da die Deutung der Bedingungen, des Handelns und der Bedeutungen unentwegt und in allen analytisch unterscheidbaren Handlungs- und Bedeutungsfeldern (des Sozialen, des Wirtschaftlichen, des Politischen etc.) vorgenommen werden muß, verweist uns kulturelle Praxis auf den Alltag der Menschen und auf deren Erfahrungen in diesem Alltag. Sowohl der Terminus 'Alltag' als auch jener der 'Erfahrung' bezeichnen allerdings jeweils wiederum nur bestimmte Aspekte jener doppelten Konstitution von sozialer Wirklichkeit, die wir eben entwickelt haben. 'Alltag' und der daraus gebildete Terminus 'Alltagsgeschichte' verweisen auf die Permanenz der Konstitution sozialer Wirklichkeit, also darauf, daß Deutungen und Handlungen tagtäglich geschehen. Damit tritt 'Alltagsgeschichte' der Begrenzung des historischen Gegenstandes auf das besondere, herausragende Ereignis oder die besondere, herausragende Persönlichkeit entgegen. Allerdings ist mit dem Terminus 'Alltagsgeschichte' häufig das Mißverständnis verbunden, 'Alltag' sei ein konkreter 'Ort', ein 'Gegenstand'. Auch hier 76 Reinhard Sieder begegnet uns also - ähnlich wie schon bei dem Begriff 'Struktur' - die Tendenz vieler Forscherinnen zur Verdinglichung. Hier wird die Weise der Aneignung der Bedingungen im Deuten und Handeln (modus operandi) zu einem Gegenstand (opus operatum) verdinglicht, der realiter nicht existiert, denn die Aneignung ist ein unentwegter Prozeß ohne 'Zu-Stand', und also auch kein 'Gegen-stand'. Daß diese Verdinglichung nicht angemessen ist, zeigt sich auch daran, daß dieser vermeintliche Gegenstand sich nicht abgrenzen läßt. 'Alltagsgeschichte' ist daher nur ein Sigel, um umständliche Umschreibungen wie »Geschichte einer Gesellschaft unter Einschluß des täglichen Handelns und Deutens ihrer Akteure« zu vermeiden. »Alltag« im Kompositum »Alltagsgeschichte« bezeichnet keinen Gegenstand, sondern eine Perspektive des geschichtswissenschaftlichen Forschens, genauer gesagt, die Re-Konstruktion der Handlungen und Deutungen der Akteure durch den wissenschaftlichen Interpreten. »Alltagsgeschichte« meint also eine sozial- geschichtliche Forschung, die es nicht unterläßt, über die Bedingungen des Handelns und Deutens der Akteure hinaus auch die Perspektiven der Handelnden und Deutenden zu re-konstruieren. Aber auch der häufig synonym mit »Alltagsgeschichte« verwendete Begriff »Erfahrungsgeschichte« begünstigt ein Mißverständnis. Nimmt man ihn wörtlich, bezeichnet er eine Geschichte, die sich aus den Erfahrungen konstituiert. 'Erfahrungen' (also die sich irgendwie vollziehende 'Auf- schichtung' von Deutungen und Handlungen und deren Reinterpretation in der Erinnerung) bilden aber - so haben wir in der These von der doppelten Konstitution der sozialen Wirklichkeit festgehalten - nur eine Seite der Medaille, und selbst diese nicht einmal ganz, unterschlägt der Begriff doch die jeder Erfahrung vorgängige Tätigkeit der Akteure. Die andere Seite der Medaille bilden die Bedingungen des Handelns und Deutens. Ohne sie zu rekonstruieren, verkürzt »Erfahrungsgeschichte« die historische Wirklichkeit auf 'Kultur' und verfährt kulturalistisch. »Erfahrungsgeschichte« und »Alltagsgeschichte« sind meines Erachtens Kampfbegriffe, die wie alle Kampfbegriffe ihre logischen Mängel haben, aber dennoch verwendet werden, um die Mißachtung oder Unterlassung der Re-Konstruktion der Perspektive der Akteure in einer objektivistischen Sozialgeschichte anzugreifen und unter diesen Fahnen in das Feld des wissenschaftlichen Bedeutungskampfes zu ziehen. Wird dieses Anliegen eines Tages allgemein anerkannt sein, und viele Anzeichen sprechen dafür, werden auch beide Kampfbegriffe nicht mehr notwendig sein. Sozialgeschichte ist dann nach ihrer 'Soziologisierung' in den 1960er und 1970er Jahren auch kulturwissenschaftlich erweitert. Die Perspektiven der Akteure wird sie dann ebenso - wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten - integrieren, wie sie schon seit längerem von 'Strukturen' spricht. Vertreter der Historischen Sozialwissenschaft haben mehrfach den Vorwurf geäußert, Alltagsgeschichte sei »theorielos« und Alltagshistoriker seien Struktur - Kultur - Alltag - Erfahrung 77 »theoriefeindlich«.12 Sicherlich: unter jenen, die die Perspektiven von Arbeitern, von Frauen, von Dienstboten usw. zu ihrem Untersuchungs- gegenstand wählen, gibt es auch solche, die behaupten, dabei ohne Theorien auszukommen. Sie wollen nur so genau wie möglich die Perspektive der jeweils gewählten Zeitgenossen beschreiben und hoffen darauf, dies garantiere eine maximale Annäherung an die »soziale Wirklichkeit«. Aber ein guter Teil der Sozialhistorikerinnen, die sich mit »Alltag« befassen, begründen dies mit der vorhin dargestellten sovrAthcoretischcn Überlegung von der doppelten Konstitution der sozialen Wirklichkeit.13 Ihre »Theoriefeindlichkeit« ist höchstens gegen eine bestimmte Art von Theorien gerichtet, die dem objektivistischen Paradigma angehören. Aus ihrer Kritik an der Einseitigkeit des Strukturfunktionalismus einerseits und der kulturalistischen Verengung andererseits entwickeln sie ein neues, durchaus theoretisches Selbstverständnis. Aus einer solchen theoretische Grundlegung müssen aber auch methodo- logische Konsequenzen gezogen werden. Die erste und grundlegende methodo- logische Konsequenz ist, daß die Re-Konstruktion der Perspektive der Akteure empirisch, durch die Exploration dieser Perspektive, d.h. in aller Regel durch re-konstruktive Methoden der Textinterpretation erfolgen muß. Dies gilt sowohl für die Interpretation überlieferter Texte (Tagebücher, Autobio- graphien, Reiseberichte, Briefe etc.) wie auch für den Umgang mit for- schungsgenerierten Texten, wie etwa den Interviewtexten der sogenannten »Oral History«. Hier muß eine Methode der Textinterpretation angewandt werden, die der Theorie von der doppelten Konstitution sozialer Wirklichkeit (s.o.) nicht »in den Rücken fällt«. Die Sozialgeschichte kann sich dazu methodologischer Angebote bedienen, die von einigen Richtungen sozial- wissenschaftlicher Hermeneutik entwickelt worden sind.14 Von zentraler strategischer Bedeutung dürfte dabei die Unterscheidung zwischen einem manifesten (vom Sprecher/Autor intendierten) und einem latenten (für den Interpreten denkbaren) Sinn jedes Textes sein. Der Text wird sozusagen als Protokoll einer Serie von Handlungsentscheidungen betrachtet. Dies stimmt mit der theoretischen Grundannahme über jedwedes soziales Handeln überein, daß die Akteure (begrenzte) Spielräume des Handelns und Deutens haben, in welchen sie sich sntscheiden und handeln müssen. 12. Vgl. v.a. Jürgen Koeka, »Zurück zur Erzählung? Plädoyer für historische Argumentation,« in: Geschichte und Gesellschaft 10 (1984), 395 ff.; ders., »Klassen oder Kultur? Durchbrüche und Sackgassen in der Arbeitergeschichte«, in: Merkur 36 {1982), 955 ff.; Klaus Tenfelde, »Schwierigkeiten mit dem Alltag«, in: Geschichte u. Gesellschaft 70(1984), 376 ff. 13. Vgl. Medick, »Missionare«. Lüdtke, Alltagsgeschichte. 14. Zu Fragen der Textinterpretation vgl. Hans-Georg Soeffner, Auslegung des Alltags - Der Alltag der Auslegung. Zur wissenssoziologischen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, Frankfurt am Main 1989; ders. (Hg.), Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften, Stuttgart 1979; Reinhard Sieder, »Text, narratives Interview und Hermeneutik in den historischen Sozialwissenschaften, in: WISDOM 4(1990) 3/4, 31 ff. 78 Reinhard Sieder Hier stellt sich unter anderem die Frage, wie Handlungen und Deutungen verstanden und erklärt werden können, wenn der Forscher/die Forscherin einer anderen Zeit, einer anderen Gesellschaft, mithin anderen Systemen des Wissens, der Gewißheiten, des Fühlens und des Glaubens angehört. Dies hat einige Sozialhistorikerinnen neugierig gemacht für eine Wissenschaft, in der diese Frage schon seit längerem diskutiert wird: für die Kulturanthropologie.15 Sozialgeschichte und Kulturanthropologie Wenn Kultur entsprechend unserer These von der doppelten Konstitution der sozialen Wirklichkeit verstanden wird, dann ist sie nicht bloß ein System von Normen, Symbolen und Werten, das gleichsam für jedes Gesellschaflsmitglied in gleicher Weise vor-gegeben ist, sondern dann wird Kultur von den Akteuren auch produziert, d.h. täglich durch das tätige Leben hervorgebracht. Jede Kultur ist daher an eine Lebenswelt gebunden, in der sie in praxi und zu praktischen Zwecken hervorgebracht wird. Wenn wir eine Lebenswelt studieren wollen, nehmen wir jedoch nolens volens den Platz eines Beobachters ein. Pierre Bourdieu hat dies unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die ethnologische Feldforschung klar formuliert: »Die Situation des Ethnologen gemahnt an das Verhältnis, das jeder Beobachter zu dem Handeln hat, das er ausspricht und analysiert: nämlich an den unumgänglichen Bruch mit dem Handeln und der Welt, mit den unmittelbaren Zwecken des kollektiven Handelns, mit der Evidenz der vertrauten Welt, den die bloße Absicht voraussetzt, die Praxis auszusprechen und vor allem, sie anders zu verstehen und verständlich zu machen als dadurch, daß er sie in praxi produziert oder reproduziert.«10 Und an anderer Stelle schreibt er: »Für die Anthropologie heißt das nicht nur, mit der Erfahrung der Einheimischen und deren Repräsentation dieser Erfahrung zu brechen; sie muß in einem zweiten Einschnitt auch die der Stellung des fremden Beobachters inhärenten Voraussetzungen in Frage stellen, da dieser, vorgängig dadarauf bedacht, die Praktiken zu interpretieren, dazu neigt, am Gegenstand den Grundlagen seiner eigenen Beziehung zu ihm die größte Wichtigkeit beizumessen.«17 - Mit anderen Worten: der Anthropologe ist aufgrund seiner theoretischen Absicht und seiner reflexiven Distanz zum Untersuchungsfeld unter den notorischen Verdacht des Kulturzenlrismus zu stellen. Und das gilt gewiß auch für den Sozialhistoriker, zumal die oft »Leblosen« Quellen seinen Interpretationen weniger widerstehen als lebende Kommunikationspartner. 15. Eine ausführliche und kritische Auseinandersetzung mit den diversen Ansätzen der Kulturanthropologie hat der Sozialhistoriker Hermann Rebel vorgelegt, vgl. ders, »Cultural hegemony and class experience: a critical reading of recent ethnological-historical approaches«, in: American Ethnologist / 6 (1989) 1, 117 f f , und 2, 350 ff. 16. Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt am Main 1987, 63. 17. Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1976, 142. Struktur - Kultur - Alltag - Erfahrung 79 Ist die zu erforschende Lebenswelt lebendig-gegenwärtig, vermögen wir mit ihren Teilnehmerinnen in Kommunikation zu treten, und werden so wenigstens zu virtuellen Teilnehmern an ihrer Lebcnswelt.18 Auch dies allerdings nur über langwierige Prozesse einer zweiten Sozialisation, in deren Verlauf wir die Regeln, Bedeutungen und Eigenarten einer Lebenswelt erst nach und nach »in Erfahrung bringen« müssen. Ist die gegenständliche Lebenswelt nicht lebendig-präsent, sondern vergangen, und zeugen nur mündliche Erzählungen (»Oral History«) von ihr, wächst die epistemische Kluft zwischen ihr und dem Forscher. Liegen überhaupt nur schriftliche und dingliche »Quellen« über sie vor, ist eine Kommunikation mit ihren Angehörigen gänzlich auf den imaginierten Dialog zwischem dem Sozialhistoriker und seinen »Quellen« beschränkt. Das bedeutet für Sozialhistorikerinnen, die sich auf die Interpretation fremder Lebenswelten einlassen wollen, diese Fremdheit wie die Kulturanthropologen anzuerkennen und methodische Konsequenzen daraus zu ziehen. Der italienische Sozialhistoriker Carlo Ginzburg hat daraus eine radikale Maxime entwickelt: »Das grundsätzliche Instrument ist das der Entfremdung, der Fremdmachung, die Fähigkeit, bekannte Dinge als unbegreifbar anzusehen - und nicht umgekehrt, wie es die Historiker machen. Oft wendet man sich der Vergangenheit mit einer rein retrospektiven Projektion zu, die (...) nicht das Unterschiedliche sucht und sieht - exzessive Identifikation!«19 Die Gebundenheit alles Kulturellen an Zeichen (Symbole) verweist uns methodisch darauf, diese Zeichen zu entziffern, ihnen Sinn zuzumessen. Den Zeichen Sinn zuzumessen bedeutet wissenschaftstheoretisch, hermeneutisch zu verfahren. Allerdings bringt das genannte Prinzip der Verfremdung mit sich, daß hierbei die traditionelle Hermeneutik der Geschichtswissenschaft nicht mehr adäquat ist. Die Prämisse des Historismus im 19. Jahrhundert war ja, daß es eine Geschichte der Menschheit gebe, deren Sinn sich aus den Quellen erschließe.20 Kulturanthropologen und die von ihnen in diesem Punkt lernenden Sozialhistoriker aber gehen nicht mehr davon aus, daß sie mit den Akteuren, deren Bedeutungen sie re-konstruieren, eine Welt teilen. Je mehr sie sich auf die Perspektiven der Akteure einlassen, desto deutlicher wird für sie erkennbar, daß »die Welt« in differente Lebenswelten »zerfällt«. Die Gefahren eines Kulturrelativismus sind evident. Dennoch bleibt wenigstens 18. Vgl. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, 63. 19. Carlo Ginzburg, »Geschichte und Geschichten. Über Archive, Marlene Dietrich und die Lust an der Geschichte«, in: ders., Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, Berlin 1983, 7-24, hier 22 f. 20. Zur Kritik an den erkenntnistheoretischen und geschichtsphilosophischen Grundlagen des deutschen Historismus vgl. v.a. Wolfgang Mommsen, Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus, Düsseldorf 1971; ders., »Geschichte als Historische Sozialwisscnschaft«, in: Pietro Rossi (Hg.), Theorie der modernen Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main 1987, 107 ff.; Jörn Rüsen, Zeit und Sinn. Strategien historischen Denkens, Frankfurt am Main 1990. 80 Reinhard Sieder festzuhalten: Die Kulturen, die wir studieren, waren anders als unsere eigene Lebenswelt ist. Auch wenn uns etwa die Gesellschaft Wiens zu Anfang unseres Jahrhunderts graduell weniger »fremd« erscheint als die Gesellschaft des mittelalterlichen Wien, sollten wir aus methodologischen und erkenntnistheoretischen Gründen auf ihrer »Fremdheit« beharren, oder anders gesagt, ihrer scheinbaren Vertrautheit mißtrauen. Daher können wir nicht mehr - wie dies die idealistischen Hermeneuten getan haben, auf einen gemeinsamen »Sinnhorizont« bauen von unseren eigenen lebensweltlichen Erfahrungen auf die Erfahrungen der historischen Akteure schließen Deshalb kann es uns nicht mehr genügen, ins in vergangene Situationen und Personen »hineinverzusetzen«, vergangene Abläufe nachvollzuziehen und auf unser intuitives Verstehen des Vergangenen zu vertrauen. Kritische Kultur- anthropologen lehren uns, daß dies nicht ohne unerkannt bleibende Projektionen und Übertragungen unserer Erfahrungen in die fremde Lebenswelt geschieht. An die Stelle des intuitiven Nachvollziehens setzen wir daher eine systematisch-rekonstruktiv verfahrende Hermeneutik, die das Vergangene möglichst genau in seiner Vielschichtigkeit und Standort- abhängigkeit re-konstruiert. Wenn ich von Re-Konstruktion sprechen, meine ich keineswegs den Verzicht auf Interpretieren, sondern die Anstrengung, Bedeutungen und Beziehungen im jeweils untersuchten Feld möglichst systematisch in bezug auf die Standpunkte, Interessen, Handlungsweisen und Interpretationen der beteiligten Akteure zu deuten.21 So kann ich etwa im Kontext einer Rekonstruktion proletarischer Lebenswelten den Vorgang der Übergabe des Wirtschaftsgeldes durch den Arbeiter an dessen Ehefrau nur adäquat re-konstruieren, wenn ich sowohl die Perspektive des Mannes als auch die Perspektive der Frau, deren wahrscheinlich différente Deutungen und Erfahrungen desselben Vorgangs, in bezug auf ihre dahinterstehenden Interessen und Verpflichtungen re- -konstruiere; wenn ich also diese beiden Perspektiven nicht aus sich selbst vestehe, sondern auch nach ihrer (relativen) Bedingtheit durch systemische Zusammenhänge frage. Dies macht es zumindest wahrscheinlicher, daß ich den Vorgang nicht aus meiner eigenen Lebenswelt heraus, also kulturzentristisch, zu deuten versuche.22 Die Subjekte treten über einen solchen Modus der Re-Konstruktion tat-sächlich als Akteure in den Blick der Sozialhistoriker- innen, das heißt, ihre Deutungen werden nicht unabhängig von ihren Handlungen und Handlungsbedingungen rekonstruiert, wie auch umgekehrt 21. Vgl. dazu Hans Medick, »'Missionare im Ruderboot'? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte«, in: Alf Lüdtke (Hg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt u. New York 1989, 48-84, hier 61. 22. Zur näheren Ausführung dieses Falles von »Rekonstruktion« vgl. meinen Aufsatz, »'Vater, derf i aufstehn?' Kindheitserfahrungen in Wiener Arbeiterfamilien um 1900«, in: H.C. Ehalt u.a. (Hg.), »Glücklich ist, wer vergißt...« Das andere Wien um 1900, Wien u.a. 1986, 39-89. Struktur - Kultur - Alltag - Erfahrung 81 die Handlungsbedingungen nicht ohne ihre Aneignung durch die Akteure in den Blick genommen werden. Dabei ist zu bedenken, daß die Möglichkeit, über soziales Handeln die Gegebenheiten zu verändern, nur in bestimmten Fällen für den einzelnen Menschen, in der Mehrzahl der Fälle aber nur für Gruppen von Menschen besteht, die ihr Handeln zu diesem Zweck koordinieren, und aus einem gemeinsamen Interesse ein gemeinsames Ziel definieren (was nicht heißt, daß sie dieses Ziel auch immer erreichen). Wenn wir von Akteuren sprechen, meinen wir also in der Regel nicht das einsame Individuum, sondern den kommunizierenden Menschen, der in der einen oder anderen Weise kollektiv agiert; dennoch scheint es aber zweckmäßig, wo immer es möglich ist, bei der empirischen Re-konstruktion vom einzelnen Menschen als »Untersuchungsf- all« auszugehen, um einer Ontologisierung von Gruppen (z.B. »Familie«, »Hausgemeinschaft« etc.), Kollektiven (»Zunft«, »Belegschaft« etc.) oder »Klassen« (»das Proletariat«, »die Bourgeoisie« etc.), einer vorempirischen Zuschreibung kollektiver Eigenschaften und einer Einebnung iher inneren Differenzen (zwischen Männern und Frauen, Jugendlichen und Erwachsenen, Gelernten und Ungelernten etc.) vorzubeugen. Die italienischen Sozial- historiker Ginzburg und Poni haben dazu das Konzept einer Mikrogeschichte vorgeschlagen23, die am Leitfaden einer einzelnen Person (diesfalls v.a. aus den »unteren« Schichten einer Bevölkerung) möglichst viele Informationen (wirtschaftliche, soziale Daten, Beschreibungen, Aussagen vor Gericht usw.) zu einem »dichten Netz« an Informationen verknüpft. Das Resultat soll dann in etwa dem anthropologischen Postulat der »dichten Beschreibung« (C. Gcertz)24 entsprechen. Der englische Sozialhistoriker Paul Thompson hat zu dem gleichen Zweck eine Vielzahl von case studies vorgeschlagen.25 Andere Sozialhistorikerinnen versuchen durch die Re-Konstruktion eines Milieus, einer sozialen Gruppe (z.B. der Belegschaft eines Betriebs oder der Mikrogesellschaft eines Dorfes26 etc.), ein möglichst dichtes Netz an Informationen über Handlungsbedingungen und Deutungen zu knüpfen. Hier sind auch jene Untersuchungen ainzuordnen, die mit der Technik des Errinnerungsinterviews eine begrenzte Zahl von lebensgeschichtlichen »Fällen« erstellen, aus deren vergleichender Analyse eine lokale oder regionale Lebenswelt re-konstruiert werden kann (Oral history).27 Schließlich 23. Vgl. Carlo Ginzburg u. Carlo Poni, »Was ist Mikrogeschichte?« in: Geschichtswerkstatt No. 6., Göttingen 1985, 48 f f . 24. Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main 1983. 25. Vgl. Paul Thompson, The Voice of the Fast: Oral History, revised edition Oxford 1988. 26. Vgl. David Sabean, Power in the Blood. Village Discourse in Early Modern Germany, Cambridge 1985. 27. Vgl. z.B. Ingrid Bauer, »'Tschikweiber haum's uns g'nennt...' Frauenleben und Frauenarbeit an der 'Peripherie': Die Malleiner Zigarrenfabriksarbeiterinnen 1869 bis 1940.« Eine historische 82 Reinhard Sieder ist hier die sogenannte Biographieforschung zu nennen, die sich - überwiegend im interdisziplinären »Zwischenraum« von Soziologie und Sozialgeschichte - um die Rekonstruktion von einzelnen Biographien bemüht, die als Fallanalysen vergestellt werden.28 Fragen wir abschließend, was eine solche um die Aspekte des »Kulturellen« erweiterte Sozialgeschichte von anderen Konzeptionen des Faches konzeptuell unterscheidet. Dabei nehme ich hier aus Zeitgründen keine Rücksicht auf die forschungspraktische Einlösung des Konzepts der »doppelten Konstitution« sozialer Wirklichkeit in den bisher vorliegenden, unterschiedlich weit oder eng angelegten Versuchen. Ich folgere vielmehr aus der Konzeption selbst und meine im übrigen, daß ihre Umsetzung noch eher in den Anfängen stehen dürfte. 1. Eine kulturwissenschaftlich erweiterte Sozialgeschichte, die das hier skizzierte Programm zu realisieren versucht, wird nicht kulturzcntristisch verfahren, sondern anerkennt die Pluralität der Kulturen und die in ihnen produzierten diversen sozialen Logiken. Sie wird nicht scheinbar »geschlechts- neutral« verfahren, sondern die Geschlechterbeziehungen in ihrem jeweiligen Untersuchungsfeld thematisieren, wie sie auch für die Einwirkungen des Geschlechts der Forscherin oder des Forschers auf den Prozeß des Explorierens und des Interpretierens sensibler wird. 2. Für sie gibt es daher nicht eine Menschheitsgeschichte, sondern eine Mehrzahl von »Geschichten«. Indem eine solche Sozialgeschichte die Standpunkt- und Interessengebundenheit der historischen Aktcure re- -konstruiert, bricht sie auch mit den universalistischen Kategorien (»der Mensch«, »die Welt« usw.) einer idealistischen, dominant männlichen Geschichtswissenschaft. Sie macht bewußt, daß es kein soziales Handeln gibt, das unabhängig vom Geschlecht des Handelnden, unabhängig von sozialer Fallstudie auf der Basis lebensgeschichtlicher Interviews ( = Materialen zur Arbeiterbewegung SO), Wien 1988; vgl. auch die Arbeiten Lutz Niethammers und seiner Mitarbeiterinnen, u.a. ders. (Hg.), »Die Jahre weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll«. Faschismus-Erfahrungen im Ruhrgebiet, Bonn 1983; ders. u. Alexander von Plato (Hg.), »Wir kriegen jetzt andere Zeiten«, Bonn 1985; Lutz Niethammer, Lebensgeschichtliche Befragungen in der DDR, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 1 (1988), 19 ff. 28. Zur Biographieforschung im Themenfeld des »Dritten Reichs« vgl. Gabriele Rosenthal (Hg.), Die Hitlerjugend-Generation. Biographische Thematisierung als Vergangenheitsbewältigung. Essen 1986; dies., »'Als der Krieg kam, hatte ich mit Hitler nichts mehr zu tun.* Zur Gegenwärtigkeit des 'Dritten Reiches'« in Biographien, Opladen 1990; dies., »Wenn alles in Scherben fällt. ...« Von Leben und Sinnwelt der Kriegsgeneration, Opladen 1987; dies., »Geschichte in der Lebensgeschichte«, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 2 (1988), 3 ff.; Bernhard Haupert u. Franz Josef Schäfer, »Jugend zwischen Kreuz und Hakenkreuz. Biographische Rekonstruktion als Alltagsgeschichte des Faschismus«, Frankfurt am Main 1991. Eine Bibliographie zur Biographieforschung in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History, 1 (1988) 121 ff. und 2 (1988), 103 ff. Struktur - Kultur - Alltag - Erfahrung 83 Lage und Stellung des Akteurs, oder unabhängig vom Standpunkt des wissenschaftlichen Interpreten interpretierbar wäre. An die Stelle eines allgemeinen Postulats der »Objektivität« setzt sie - wie schon die Historische Sozialwissenschaft der 1970er Jahre29 - das Postulat der intersubjektiven Überprüfbarkeit; das heißt, ihre Maxime ist, das Verhältnis zwischen ihren Daten und Texten und ihren Interpretationen so weit als irgend möglich offenzulegen und damit ihr »Ergebnis« - wenn auch nicht im Sinn des wiederholbaren naturwissenschaftlichen Experiments, so doch neuerlich im Wege einer systematischen Interpretation - überprüfbar zu machen. 3. Über den skizzierten »praxeologischen Ansatz« (Bourdieu), der die Einseitigkeiten objektivistischer wie auch subjektivistischer Erkenntnisweisen aufheben soll, könnte Sozialgeschichte tendenziell auch das »sektoralisierende Denken« (in Apsekten der »Wirtschaft«, der »Politik«, der »Kultur« usw.) überwinden. Traditionelle »Großtheorien«, die die Zusammenhänge entlang analytischer Schneisen in solche Sektoren Zerfällen, könnten ihre Wirkung als Korsette des Denkens verlieren. 4. Eine solche Sozialgeschichte wird nicht - metaphorisch gesprochen - über die Köpfe hinweggehen. Indem sie Bedingungen und Bedeutungen, also auch die Perspektive der Akteure re-konstruiert, überwindet sie den Reduktio- nismus des Strukturfunktionalismus. Die Subjekte sieht sie zwar in ihrem Handeln und Deuten durch die Bedingungen des Handelns und Deutens bestimmt, aber erst indem sie agieren, entsteht sozial-historische Wirklichkeit. Damit werden die menschenleeren Hallen objektivistischer »Struktur- geschichte« wieder von Menschen besiedelt werden. Indem sie deren Deutungen und Handlungen, Erfahrungen und Erinnerungen zur Sprache bringt, dürfte die Chance steigen, daß sich ein breiteres Publikum mit den publizierten Produkten einer solchen Sozialgeschichte auseinandersetzt, auch wenn es sich darin - was unvermeidlich ist - hin und wieder »falsch«, »ungerecht« oder »verzerrt« dargestellt findet. Eine neue Chance für eine Geschichtswissenschaft, die zur Orientierung in der Gegenwart beitragen will? 5. Kulturwissenschaftlich erweitere Sozialgeschichte, oder, um den Kampf- begriff zu verwenden, »Alltagsgeschichte«, ist nicht - wie ihre Gegner oft meinen - ein Gegenkonzept zur »Historischen Sozialwissenschaft«, weil sie, wie ihre Gegner behaupten, an die Stelle von »Strukturen« »Perspektiven« und an die Stelle von »Fakten« »Erfahrungen« der Subjekte setzen würde. Sie ist selbst eine historische Sozialwissenschaft in emanzipatorischer Absicht, allerdings eine, die ihren Gegenstand weder auf die Handlungs- und Deutungsbedingungen verkürzt, noch auf 'gelebte Erfahrung' reduziert. Als eine empirische historische Wissenschaft fragt sie - wie ich zu zeigen 29. Vgl. Jürgen Kocka, Sozialgeschichte. Begriff - Entwicklung - Probleme, 2. erweiterte Aufl. Göttingen 1986, 40 ff. 84 Reinhard Sieder versuchte - nach dem dialektischen Zusammenhang von strukturierter Handlungsbedingung und Praktik, die strukturiert ist und ihrerseits strukturiert. Sie könnte sich daher ebenso gut wie die Historische Sozialwissenschaft der 1970er Jahre auf Max Weber berufen, nimmt sie doch ernst, was dieser als den zentralen Gegenstand einer »verstehenden« und »historischen« Soziologie angesehen hat: die Eigenart des sozialen Handelns.