Yvanka B. Raynova Verantwortung für DiE MENsCHHEiT iM 21. Jahrhundert. Zu Paul Ricreurs Verantwortungskonzept Die Verantwortungsproblematik, die Ricreur in seinen Werken immer wieder 115 angesprochen und behandelt hat, erscheint im Kontext einer phänomenolo-gisch-hermeneutischen Reflexion über das Selbst (Ricreur 1986c: 227-228), das als handelndes, leidendes und fähiges Subjekt nicht nur für seine Handlungen zuständig ist, sondern auch gegenüber den Anderen, der Gemeinschaft und der zukünftigen Generationen gewisse Pflichten zu erfüllen hat. Kennzeichnend für Ricreurs Hermeneutik des „fähigen Menschen" (l'homme capable) (Ricreur, Raynova 2004: 108-109) ist, dass sie die Verantwortung auf mehreren Ebenen thematisiert - auf der historischen, der psychologischen, der ethischen, der politischen und der rechtlichen. Diese Ebenen bilden die verschiedenen Dimensionen des Willens, die aus der Zersplitterung wieder zu einer Einheit gebracht werden müssen, um die Verantwortung als integrales Ganzes verstehen zu können.1 Ziel des folgenden Beitrags ist es diese Integralität zu erfassen und zu zeigen, dass Ri-coeurs Konzept der Verantwortung implizit zeitlich konzipiert ist und somit eine Verantwortung voraussetzt, die unser jetziges Dasein und Mitsein sowohl an die 1 Im Gegensatz zu denjenigen Autoren (siehe: Greisch 2001: 360-371), die nur eine partiale Interpretation der Verantwortung bei Ricreur unternommen haben, setzt sich der folgende Beitrag das Ziel, diese Einheit im Kontext der komplexen Entwicklung des Ricreurschen Werkes zu rekonstruieren. Vergangenheit als auch an die Zukunft bzw. an die zukünftigen Menschen bindet. 1. Von der eigenen Erfahrung zur phänomenologischen Konzeption der Verantwortung Ricœurs Behauptung, dass wir zum Bewusstsein der Verantwortung erst durch den Anderen und die Gemeinschaft gelangen (Ricœur 1950: 55), erhält eine ganz besondere Bedeutung, wenn wir sie im Kontext seines eigenen Lebensweges betrachten. In seiner „intellektuellen Autobiographie" Reflexion faite beschreibt Ricœur wie früh er schon auf die Ungerechtigkeit in der Geschichte gestoßen war: „Die vorzeitige Entdeckung - als ich gerade elf-zwölf Jahre alt war - der Ungerechtigkeit des Vertrags von Versailles hat plötzlich den Sinn des Todes meines Vaters, der 1915 an der Front getötet wurde, verdreht: dieser Tod, der den Heiligenschein des gerechten Krieges und des unbeschmutzten Sieges verloren hatte, stellte sich heraus als ein vergeblicher Tod. Zu meinem Pazifismus, der sich aus dem Grübeln über den Krieg herausbildete, kam sehr bald ein lebhaftes Gefühl der sozialen Ungerechtigkeit hinzu, welches durch meine protestantische Erziehung Ansporn und Rechtfertigung fand." (Ricœur 1995b: 18-19) 116 Im Aufsatz „La culpabilité allemande" aus dem Jahr 1949, das seine Auseinandersetzung mit der jasperschen Geschichtsphilosophie darstellt, bringt Ricœur das historische Unrecht mit der Schuldfrage und der Frage nach der Verantwortung in Verbindung. Er zeigt dort unter anderem den Unterschied zwischen Verantwortung als Verantwortlichkeit im Sinne von Handlungen, die auf moralische Begriffe wie Gut und Böse verweisen, und Verantwortung als einer politischen und juridischen Kategorie, wo die Verantwortung auf das Erleiden einer Sanktion reduziert wird (Ricœur 1991: i5off). Es ist also aus der Krise heraus, die beide Weltkriege bei ihm auslösten, dass Ricœur eine besondere Sensibilität für die Fragen der Ungerechtigkeit, des Bösen, der Schuld, der Verantwortung und des Sinns der Geschichte entwickelte. Der erste Versuch, das Problem der Verantwortung eingehender zu erörtern, wird in dem großen Werk Le volontaire et l'involontaire (1950) unternommen, bei dem es darum geht, den Menschen als Handelnden zu verstehen, was notwendigerweise zur Problematik der Zurechenbarkeit und der Entscheidung führt. Ricœur betont nun, dass das Handeln immer ein „zu machendes" Projekt wie auch ein Subjekt, welches der Urheber seiner Handlungen ist, impliziert und, dass es als Urheber diese vor anderen zu verantworten hat: Es ist hauptsächlich in meinen Beziehungen zum Anderen, d.h. in einem sozialen Kontext, das ich das Bewusstsein erlange, der Urheber meiner Handlungen in der Welt zu sein, und allgemeiner gesagt, der Urheber meiner Denkakte. Wenn jemand fragt: „Wer hat das gemacht?", dann stehe ich auf und antworte: „Ich war es". Antwort: Verantwortung (Réponse: responsabilité). „Verantwortlich zu sein, bedeutet bereit zu sein eine solche Frage zu beantworten" (Ricœur 1950: 55). Es ist also der Andere, der mir Anlass dazu gibt, der Zurechnung meiner eigenen Handlungen bewusst zu werden und sie zu enthüllen. Das Zusammensein mit dem Anderen kann jedoch auch in einem gemeinsamen Schlummer verlaufen. Ricœur führt als Beispiel dafür das anonyme heideggersche „Man" an. Das „Man" ist Niemand bzw. eine Menschenmenge in der sich jeder verstecken kann, um sich der Verantwortung zu entziehen. Deshalb ist das „Ich", das seine Handlungen bewusst auf sich nimmt, der Gegensatz zum „Man". Durch dieses Bewusstsein oder „Gefühl" der Verantwortung, wie es Ricœur nennt, wird uns klar, dass wir uns nicht am Rande unserer Handlungen behaupten können, sondern uns nur dann verwirklichen, wenn wir uns voll engagieren: Das Gefühl der Verantwortung führt im Moment des Engagements zur höchsten Stufe der Selbstbehauptung und zur resolutesten Ausübung einer Kraft über einen Teil des Reellen für die das Selbst zuständig ist. Es beinhaltet die doppelte Betonung des Selbst und des Projekts. Das verantwortliche Wesen ist bereit bezüglich seiner 117 Handlungen Antwort zu geben, weil es die Gleichung des Willens setzt: „Ich bin diese Handlung" (ebd. 57). Jede Handlung muss also einem Entscheidungsträger zugeordnet werden können, von dem sichergestellt ist, dass er sich freiwillig entschieden hat. Wie kann man aber die Frage beantworten, warum er sich so und nicht anders entschieden hat? Ricœurs Antwort darauf ist, dass Entscheidungen getroffen werden anhand von Motiven und Werten, die uns dazu bewegen etwas zu tun, ohne uns zu zwingen. Er geht dabei von einem prä-reflexiven Handeln aus, das dem sartreschen prä-reflexiven Cogito ähnlich ist. Im prä-reflexiven willentlichen Handeln wirken die Motive, ohne dass man über sie und sich selbst als Urheber der Handlungen explizit nachdenkt. Die moralischen Handlungen hingegen werden in einem Wertehorizont vollzogen, in dem durch Bewertung des Unreflektierten Urteile gebildet werden. In einer gegebenen Situation suche ich nach Hilfe und ich finde sie normalerweise in der Totalität der bis dahin nicht verwerteten Werte, die im Zuge der Debatte mit mir selbst ihre Motivationskraft in dieser Situation zeigen. Alle anderen Werte funktionieren als ob sie einer Teilsituation angehören (...) Doch in großen Krisen, bei einer Prüfung, die mich radikalisiert oder angesichts einer Situation, die meine Letzt- 118 Begründungen in Frage stellt, beginne ich meine fixen Vorstellungen zu hinterfragen. Alles ist verändert (...) Die letzten Werte haben sich als etwas herausgestellt, das auf nichts mehr verweist... (ebd. 72) Was Ricœur mit diesem Beispiel zeigen will ist, dass es keine absoluten, ewigen und universellen Werte gibt, keine platonischen Ideen oder Wesenheiten, die sich uns in einer reinen Intuition offenbaren. Der Gedanke, seine Entscheidungen nicht begründen zu können, kann zu Verzweiflung und Angst vor dem Abgrund führen. Ricœur gibt dabei zu bedenken, dass diese Angst nicht reflexiv gelöst werden könne, denn jeder Versuch einer Letztbegründung sei zum Scheitern verurteilt. Motive und Werte seien emotional bedingt und bergen in sich ein tiefes Paradox: sie sind kein absolutes Produkt der Geschichte, sie werden auch nicht erfunden, sondern anerkannt, begrüßt, entdeckt, jedoch nur insofern wir die Fähigkeit besitzen, Geschichten zu machen und zu erfinden (ebd. 72). Die Werte - so Ricœur - steigen aus einem dunklen, unklaren und unbestimmten Grund empor, der des unreflektierten Willens und des Unwillentlichen, das mit Trieben wie Hunger, Durst u. a. verbunden ist. Die Werte motivieren zwar unsere Handlungen, sie kommen aber zugleich durch die Handlungen zum Vorschein und werden durch diese auch zum Objekt einer ethischen Bewertung. Sie bekommen einen festen Bestand nur durch die zirkuläre Bewegung von ethischer Reflexion und Handeln und verfallen sobald dieser Kreislauf unterbrochen wird (ebd. 75). Das verantwortungsvolle Handeln unterscheidet sich vom ziellosen oder gedankenlosen Agieren durch die sogenannte „Salbung der Werte", d. h. durch eine axiologische Legitimation. Diese besteht darin, das mir ein Auftrag (une mission), für den ich zuständig bin und vor dem ich mich letztlich verantworten muss, seitens einer Gemeinschaft anvertraut wird. Ich bin also „verantwortlich vor ..." der Gemeinschaft, die mich beauftragt etwas zu tun und „in dieser Rechtfertigung der Verantwortung liegt die prinzipielle Möglichkeit eines Urteils über mein Handeln, eines Tadels, einer Missbilligung, kurz einer Sank-tion„ (ebd. 79). Die ricœursche Analyse der Entscheidung impliziert also drei Momente: Das Projekt des Handelns, dessen Zurechenbarkeit zu einem handelnden Subjekt als dem verantwortlichen Urheber dieses Projekts, sowie die Motivation dieses Subjektes durch ganz bestimmte Werte, die das Projekt als solches erst rechtfertigen. In seinem Aufsatz „Liberté: responsabilité et décision" aus dem Jahr 1968 siedelt Ricœur die Verantwortungsproblematik nicht mehr auf der Ebene der Entscheidungsproblematik an, sondern bringt sie auf das Niveau der Freiheitsproblematik. Er betont nunmehr die Notwendigkeit, die Konzepte von Entscheidung, Verantwortung und Freiheit, die im ersten Augenblick als verschiedenartig erscheinen, zu einer semantischen Einheit zusammenzufügen. Dies sei jedoch nicht einfach, da sie sich auf drei verschiedenen Ebenen des philosophischen Diskurses befinden. Das Konzept der Entscheidung befindet sich auf der Ebene der philosophischen Psychologie bzw. der Phänomenologie. Ihm entsprechen die klassischen Beschreibungen der subjektiven Fähigkeit, die man liberum arbi-trium bzw. Willkür genannt hat. Das Konzept der Verantwortung befindet sich auf der Ebene der ethischen und der politischen Philosophie und beschäftigt sich mit den Fragen des Zusammenhangs und der Übereinstimmung von individuellem und allgemeinem Willen. Das Konzept der Freiheit hingegen befindet sich auf der ontologischen Ebene und verweist seinerseits auf die Frage nach der Konstitution des menschlichen Seins: Wie muss der Mensch konstituiert sein damit er der psychologische und moralische Urheber seiner Handlungen sein kann? (Ricreur 1968: 155) Ricreur verlagert damit das Problem der Verantwortung auf die Ebene des „objektiven Willens" und nennt Hegel zufolge drei Bedingungen, die den Begriff der Verantwortung als objektiven Willen charakterisieren: Die erste Bedingung ist der Vertrag, welcher einen Willen mit einem anderen Willen in Verbindung setzt. Diese Verdoppelung des Willens enthält einen neuen Bezug, den man nicht aus dem Verhältnis der Wahl zu den Motiven ableiten kann. Hier findet ein Austausch statt, der eine Art gegenseitiger Anerkennung beider Willen voraussetzt, wodurch das Ich „objektiv" wird. Die zweite Bedingung ist die Selbstbegrenzung des subjektiven Willens, der zum objektiven Willen wird, indem er sich einer Norm, einem Gesetz unterordnet. Mit Kant ausgedrückt wäre dann ein verantwortlicher Wille ein Wille, der seine Rechtfertigung in der Universalität seiner Maxime findet. Doch nach Ricreur könne man Kant nicht bis zu Ende folgen, insbesondere dann nicht, wenn er die Pflicht von der Zufriedenheit und dem Glück abspaltet, denn „eine angemessene Handlung, die keinen Grund zur Zufriedenheit bietet, kann auch kein Werk des Willens im vollständigen Sinne [d. h. etwas gewolltes] sein". (ebd. 160) Die dritte Bedingung ist die Gemeinschaft, d. h. die Verankerung in bestimmten sozialen und ökonomischen Gruppierungen, in der Familie, dem Staat usw., in denen sich der Wille realisiert. Diese Bedingung bildet den Kulminationspunkt des Diskurses über die Verantwortung, wobei Ricreur die hegelsche Identifikation zwischen Staat und realisierter Freiheit verwirft. 120 Ricœur zeigt letztlich, dass nur aus der dialektischen Bewegung bzw. aus dem Übergang vom subjektiven Willen, der einen Gegenstand der Phänomenologie bildet, zum objektiven Willen, der in der Dialektik untersucht wird, der Anspruch und die Entwicklung des Verantwortungsdiskurses wirklich verstanden werden kann. 2. Die Semantische Klärung: über die politischen und rechtlichen Dimensionen der Verantwortung Der Aufsatz „Le concept de responsabilité. Essai d'analyse sémantique" aus dem Jahr 1995 bildet zweifelsohne Ricœurs umfangreichste Untersuchung über den Begriff der Verantwortung. Ricœur hebt darin hervor, dass sein Interesse am Problem der Verantwortung durch den komplexen und vieldeutigen alltagssprachlichen Gebrauch des Ausdrucks „Verantwortung" motiviert worden sei, der sich ihm als ziemlich verwirrend dargestellt hätte. Das Adjektiv verantwortlich' zieht nach sich eine Mannigfaltigkeit an Ergänzungen: Sie sind verantwortlich für die Konsequenzen ihrer Handlungen, aber auch für die Anderen, für die Sie sorgen oder für die Sie zuständig sind. (...) Sie sind vielleicht sogar für alles und alle verantwortlich. In allen diesen Fällen des unklaren Gebrauchs [des Begriffs der Verantwortung], besteht der Verweis auf die Verpflichtung (obligation); dies bedeutet gewisse Aufgaben erfüllen zu müssen, gewisse Lasten auf sich zu nehmen, gewisse Engagements einzuhalten. (Ricœur 1995: 42) Auch die Polysemie des Verbs „antworten" gibt Grund für verschiedene Deutungen des Wortes Verantwortung: es handelt sich nicht nur um das ver-antwort-lich-sein-für (répondre de), sondern auch um das antworten-auf (répondre à) eine Frage, einen Ruf usw. Ricœur macht nun den Vorschlag, die Klärung des Begriffs Verantwortung nicht mittels der Semantik des Verbs „antworten", sondern des Verbs „zurechnen" (imputer) vorzunehmen. Zurechnen heißt, nach unseren besten Wörterbüchern, jemandem eine tadelhafte Tat, einen Fehler zuzurechnen, d. h. eine Handlung mit einer vorhergehenden Verpflichtung zu konfrontieren oder mit einem Verbot, das diese Handlung verletzt hat. Die vorgeschlagene Definition zeigt wie aus der Verpflichtung oder dem Verbot einer Handlung (...) das Urteil der Zurechnung zum Urteil der Vergeltung führt, welches die Verpflichtung zu einer Gutmachung oder Erduldung einer Strafe impliziert. Doch diese Bewegung, die das Urteil der Zurechnung hin zur Vergeltung orientiert, sollte die entgegen gesetzte Bewegung nicht vergessen, die die Vergeltung (rétribution) zurück zur Zuschreibung (attribution) einer Handlung an einen Urheber führt. (ebd. 44) Die Metapher der Rechnung in der Zurechnung, d. h. „eine Handlung in Rechnung zu stellen", sei - so Ricœur - insofern interessant, als das lateinische Verb putare das Kalkulieren (comput) impliziere und somit die Idee einer Rechnungsführung mit zwei Feldern nahe lege: Einnahmen und Ausgaben, positive und negative Bilanz, Schulden und Verdienste, die moralisch gedeutet als gute und schlechte Taten, Tugend und Laster dargestellt werden können. So komme man zum juridischen Konzept der Verantwortung, das durch eine Verschiebung von der Zurechnung zur Vergeltung gekennzeichnet sei, d.h. der Pflicht einer Gutmachung oder des Erleidens einer Strafe. Im bürgerlichen Recht - betont Ricœur - sei immer noch die Rede von der Schuld, weil man auf die folgenden drei Aspekte nicht verzichten möchte: erstens, dass überhaupt ein Delikt begangen wurde; zweitens, dass der Urheber das Gesetz kannte; drittens, dass er Herr seiner Handlungen war, so dass er auch anders hätte agieren können. Die rechtliche Auffassung der Verantwortung habe sich jedoch dahingehend weiter entwickelt, dass nunmehr der Akzent vom Urheber des Schadens hin zum Opfer, das eine Entschädigung fordert, verschoben wurde. Man ist sogar so weit gegangen, eine Entschädigung auch in denjenigen Fällen vorzusehen, in welchen gar kein Schuldiger festzustellen ist. Dadurch sei die Idee einer „Verantwortung ohne Schuld" entstanden. Die Entwicklung „weg von der Schuld" könnte zwar als etwas Positives angesehen werden, doch habe sie auch negative Effekte hervorgebracht: je mehr man nämlich die Sphäre der Risiken erweitert habe, desto mehr sei es notwenig geworden Verantwortliche zu finden, d.h. Zuständige für die Entschädigung. Der Schutz gegen die Risiken, der anfangs als Solidarität mit den Opfern gedacht war, sei dann mehr und mehr in Richtung auf eine Suche nach Sicher-heitsmassnahmen ausgeufert. Damit werde aber die Problematik des Entschlusses durch diejenige des Schicksals ersetzt, also durch das genaue Gegenteil von Verantwortung, denn „das Schicksal ist Niemand, doch die Verantwortung ist Jemand" (ebd. 60). Die Frage, inwieweit man die Strafe von der Schuld trennen könne, bleibe - nach Ricœur - dabei völlig offen. Konkreter Ausdruck dieser Problematik ist der Fall „Affäre des verseuchten Blutes"2 zu der Ricœur in 1999 als Zeuge in den Gerichtssaal berufen wurde. Die 121 2 Der Fall des mit AIDS verseuchten Blutes gilt als einer der kompliziertesten und langwierigsten in der französischen juristischen Praxis. Anfang 1985 wurden Anomalien im Immunsystem von Homophilen, bei denen Bluttransfusion von französischen Spendern durchgeführt wurde, festgestellt. Zu dem Zeitpunkt, da bereits bekannt war, dass AIDS auch durch Bluttransfusion verursacht werden kann, verzögerte die französische Regierung das Gesetz für die HIV-Tests, das erst seit 1 August 1985 in Kraft trat. Der Grund dafür war die Tatsache, dass die französischen Tests noch nicht fertig gestellt waren und die amerikanischen eine Konkurrenz darstellten. Diese Verzögerung, so wie die Verhinderung von bekannte Maßnahmen für die Deaktivierung des Virus, gaben Anlass für die ersten Klagen in 1988; der Prozess wurde 1991 eröffnet und drei mal neu aufgerollt bevor er in 2004 beendet wurde (mehr dazu: Froguel, Smadja 1999). Aussage der Exministerin fur soziale Angelegenheiten Georgina Dufoix „Verantwortlich, aber nicht schuldig" zu sein, hatte eine derartig große Diskussion ausgelöst, dass Paul Ricœur ins Gericht gerufen wurde, um die Aussage zu deuten. Er nutzte diesen Anlass nicht so sehr um sein Verantwortungskonzept auszulegen, sondern vielmehr um ein kraftvolles Plädoyer fur ein neues politisches Bewusstsein und eine neue politische Ordnung zu machen. Ricœur betont in seiner Rede, dass er weder Politiker, noch Jurist sei, sondern nur „ein reflektierender Bürger", der an den Entscheidungsprozeduren „in unklaren Situationen" besonders interessiert sei (Ricœur 2001: 289). Danach schlägt er als erstes eine aus drei Sätzen bestehende Arbeitsdefinition der Verantwortung vor: 1. „Ich halte mich für verantwortlich für meine Handlungen." Dies bedeutet, dass ich der Urheber meines Handelns bin und als zurechnungsfähig Rechnung für sie trage. 2. „Ich bin bereit vor einer befähigten Instanz, die von mir [für meine Handlungen] Rechenschaft verlangt, mich zu verantworten." Dies heißt, dass es außer mir selbst noch Jemanden gibt „vor dem" ich mich rechtfertigen muss, dem ich Rechenschaft schuldig bin. 3. „Ich bin verpflichtet das rechtmäßige Funktionieren einer privaten oder öffentlichen Institution zu garantieren." Dieses dritte Moment bekommt, nach Meinung von Ricœur, zentrale Bedeutung, wenn jemand amtlich in eine Position der politischen Macht gelangt. Er hat dann auch für die Handlungen der Untergeordneten vor einer bestimmten Instanz Verantwortung zu tragen. So kommt zu der horizontalen Verantwortung auch eine vertikale, hierarchisch bedingte Verantwortung hinzu. Ricœur weist nun darauf hin, dass die Aussage der Exministerin ein Bekenntnis zur Verantwortung im Sinne des ersten Punktes, d. h. hinsichtlich der Frage der Zurechnung, beinhaltet. Der zweite Punkt, d. h. das sich-verantworten-vor, habe jedoch zu großen Auseinandersetzungen zwischen Juristen, Politikern und Journalisten geführt, denn es sei nicht immer klar gewesen wem man Rechenschaft schuldig sei, wofür man verantwortlich gemacht werden kann und wieweit die Verantwortung reicht und reichen soll. In der Politik könne die Verurteilung einer Person deren „politischen Tod" bedeuten; wenn sie aber rechtlich verurteilt wird, dann könne dies zum Verlust der Freiheit oder zur öffentlichen Schande führen. In vielen Fällen aber sei - so Ricœur - der unterlaufene Fehler sehr schwer zu beurteilen. Juridisch gesehen ist der Fehler individuell und damit sind dann verschiedene Sanktionen verbunden. Politisch gesehen ist es jedoch viel schwieriger die Tatsachen einer „schlechten Regierungsführung" festzustellen, denn anstatt dass die Kriterien vorhergehend bestimmt und festgesetzt wur- den, werden sie erst nach der Anklage zum Objekt einer Untersuchung und eines Prozesses des sich verantworten müssen. Ricreur betont insbesondere die Unklarheit bezüglich der Instanz, vor der man sich zu verantworten hat. Juridisch betrachtet sei es klar: diese Instanz ist der Gerichtshof. Doch politisch sei es nicht so eindeutig, obwohl seiner Meinung nach in einer repräsentativen parlamentarischen Demokratie dies das Parlament mit seinen Untersuchungskommissionen sein sollte. Und falls es im Parlament noch keine passenden Instanzen für solche Fälle gibt, so sollte man sie eben erfinden. Der Fall der Blutverseuchung datiere - erinnert Ricreur - aus dem Jahr 1985, er wurde aber erst 1991 durch die Medien aufgerollt und ist im Gerichtshof gelandet, anstatt die damit verbundenen Probleme von Anfang an im Parlament zu debattieren und dort eine Behörde zu schaffen, die eine politische Untersuchung in Gang setzt. Ricreur sieht darin ein zutiefst politisches Problem: da man die politische Dimension der Verantwortung dem Gericht überlassen habe, wurde damit verhindert, das Problem politisch anzugehen. Das breite Feld der Fehlerhaftigkeit und der Schuld infolge schlechter Regierungsführung bleibe jedoch bei dieser strafrechtlichen Verfahrung unthematisiert. Ricreur plädiert deshalb dafür, dass man alles, was infolge eines administrativen Versehens passiert, politisch und nicht strafrechtlich behandelt. Dies bedeute nicht, dass die Politiker, wenn sie ein Verbrechen begehen, ungestraft davon kommen sollten. Aber die Strafverfahren müssten seiner Meinung nach eher auf dem Niveau der großen Verbrechen, d.h. des Dekalogs (!) angesetzt werden und nicht auf diesem der Regierungsfehlern (ebd., 293). Die Schwierigkeiten, die mit den Entscheidungen und den Verantwortlichkeiten der Regierenden zusammenhängen und die mit der hierarchischen Struktur zu tun haben, sollten zwar eingehend analysiert werden, aber zu aller erst müsse das Bewusstsein geschaffen werden, dass es an politischen Instanzen, vor denen sich die Regierenden zu verantworten hätten, mangelt. Alle meine Anmerkungen über die Konflikte der Kompetenzen, der Logik, der Amtsführung, der symbolischen Referenz dienen nur zur Zuspitzung der Frage über unsere politische Kultur, die mir keine Ruhe lässt, nämlich: Welche politische Instanz ist bereit Rechenschaft über das Politische zu verlangen und anzunehmen? Ich lasse diese Frage offen und stelle mir gedanklich (...) eine Instanz vor, die sich mit widersprüchlichen Debatten beschäftigt, deren Ziel die Warnung und die Korrektur der Dysfunktion infolge schlechter Regierungsführung ist. Diese Instanz wäre etwas wie ein für die Zivilgesellschaft offener bürgerlicher Gerichtshof, der die Werte der Aufklärung geltend machen würde, nämlich: die Öffentlichkeit gegen die Undurchsichtigkeit, die Eile gegen die Verzögerung, und insbesondere die Zukunftsorientierung gegen das Beharren in einer Vergangenheit, die nie vergeht (ebd., 296). 123 Ricœur beendet sein Plädoyer mit einer Erinnerung an die Verantwortung für die Opfer. Diese bestünde erstens darin, sich ihre Klage, ihr Leid anzuhören; zweitens, im Versuch sie zu verstehen, denn sie verlangen und schreien nach Gerechtigkeit; und drittens, sie rechtmäßig zu entschädigen (ebd., 297). Er hebt jedoch hervor, dass man nicht vergessen darf, dass all diese politischen und rechtlichen Maßnahmen nie zu unfehlbaren Entscheidungen oder gar zur vollständigen Gutmachung führen können, denn es wird immer etwas irreparables in Hinsicht auf das zugefügte Leid bleiben. 3. Das Versprechen: Die ethische Dimension der Verantwortung In einem Gespräch mit Jean-Christophe Aeschlimann weist Ricœur darauf hin, dass er in Gegensatz zu Lévinas die Verantwortung im ethischen Sinne nicht nur aus dem Ruf des Anderen versteht, der uns auffordert Verantwortung zu übernehmen, sondern aus der Reziprozität und insbesondere aus dem Konzept des Versprechens (Ricœur 1994: 24). Es gibt immer eine Interaktion im Sprechen und im Handeln, die zwischen zwei oder mehreren Personen stattfindet. Diese Interaktion impliziert ein Engagement, das Übernehmen einer Mission, die mit einem Versprechen zusammenhängt. Anders gesagt, jedepromissio ist eine missio (Ricœur 1969: 403). Verantwortlich zu sein - betont Ricœur - bedeutet in diesem Sinne nicht nur sich selbst als der Urheber einer begangenen Tat bezeichnen zu können, sondern als ein Wesen, das sich zu einer Effektivität verpflichtet hat, wobei die Treue des gegebenen Wortes auf die Prüfung gestellt wird (Ricœur 1994: 30-31). Ricœur beschreibt das Versprechen in Soi-même comme un autre als einen Diskursakt, in welchem jemand sich dazu verpflichtet, etwas für einen Anderen unter gegebenen Umständen zu tun (Ricœur 1990: 309). Doch dies allein erklärt nicht das moralische Problem, warum man sein Versprechen auch halten soll. Erst das Konzept der Treue (fidélité) von Gabriel Marcel, das als Disponibilität, als ein „antworten auf' den Ruf, der Bitte des Anderen verstanden wird, gibt den Schlüssel zur moralischen Klärung des Versprechens. Das Prinzip der Treue enthüllt eine gewisse Reziprozität zwischen den moralischen Subjekten: „Ich erwarte von Dir", sagt mir der Andere, „dass Du dein Wort hältst"; Dir antworte ich: „Du kannst auf mich zählen" (ebd., 312). Dieser bündige Dialog wird von Jean Greisch als Ausdruck von Nietzsches Charakterisierung des Menschen als demjenigen Wesen, das die Fähigkeit zum Versprechen besitzt, gedeutet (Greisch 2001: 372). Es scheint mir jedoch, dass Marcels Dialektik von Verrat und Treue hier gewichtiger ist. Denn es handelt sich nicht so sehr um die Fähigkeit, sondern um das Einhalten oder das Nichteinhalten des Versprechens: Das Versprechen nicht zu halten bedeutet, die Erwartung des Anderen und die Institution, welche das Vertrauen zwischen den sprechenden Subjekten vermittelt, gleichzeitig zu verraten. (...) Die Möglichkeit dieser Konflikte ist in der Struktur der Reziprozität des Versprechens enthalten. Wenn die Treue darin besteht, die Erwartung des Anderen, der auf mich zählt, zu erfüllen, so muss ich diese Erwartung als Maßstab für die Anwendung der [moralischen] Regel nehmen (Ricreur 1990: 312). Anders gesagt Ricreurs, Konzept der Reziprozität im Akt der Verantwortung verbindet in gewisser Weise die Ansätze von Marcel und Lévinas. Doch Ricreur erweitert diese Ansätze indem er eine Umdeutung des Anderen im Anschluss an das Werk von Hans Jonas Das Prinzip der Verantwortung unternimmt. Denn die Frage ist, wer ist eigentlich dieser Andere, dem ich mein Versprechen gebe? Vor wem und für wen sind wir im moralischen Sinne denn verantwortlich? Für Lévinas und Marcel handelt es sich um den anderen Mitmenschen, dem ich Angesicht zu Angesicht begegne, wie auch um das „absolute Du" (le Toi absolu) in der Figur der göttlichen Transzendenz (cf. Lévinas, Marcel). Ricreur aktikuliert mit Jonas jedoch einen ganz bestimmten Anderen: den Verletzbaren, den Schwachen, den Zerbrechlichen. Denn wenn Verantwortung notwendig ist, so ist es weil die Welt und die Menschen verletzbar sind. Ricreur betont in diesem Sinne, dass wahrhafte Verantwortung nur dort ausgeübt wird, wo etwas, das zerbrechlich ist, uns anvertraut wurde. 125 Ich bin, zum Beispiel, verantwortlich für ein Kind. Das Wort „verantwortlich" bedeutet hier etwas sehr spezifisches: es ist notwendig, dass etwas oder jemand mir anvertraut wurde, damit ich verantwortlich sein kann. Etwas oder Jemand ist unter meiner Aufsicht oder meinem Schutz. Das Modell der Verantwortung der Eltern ist offensichtlich exemplarisch. Das Kind, das ich verpflichtet bin zu schützen, großzuziehen, ist ein schwaches Wesen und meine Verantwortung besteht darin, es bis zur Volljährigkeit zu betreuen, damit es wiederum später verantwortlich werden kann und Verantwortortung für jemand anders übernehmen kann (Ricreur 1994: 25). Wir sind jedoch nicht nur für die existierenden Mitmenschen, denen man „im Angesicht zu Angesicht" begegnet (Lévinas) verantwortlich, sondern auch für solche denen man nie begegnen wird. Ricreurs Konzept des „chaqun", des Jeden, mit dem ich nur vermittels der Institutionen zu tun habe (Raynova 2003: 674; vgl. Ricreur, Raynova 2004: 89), ist hier aufschlussreich. So auch im Fall des verseuchten Blutes: die Sozialministerin und andere Funktionäre haben die Opfer, die mit Aids angesteckt wurden nicht persönlich gekannt; sie sind jedoch durch die Funktion, die sie ausgeübt haben für sie verantwortlich gewesen. Jonas folgend zeigt Ricreur inwiefern wir auch Anderen gegenüber verpflichtet sind, die noch nicht existieren: Nach diesem Autor [Hans Jonas] sind wir zuständig für die ferne Zukunft der Menschheit, weit über den beschränkten Horizont der vorhersehbaren Konsequenzen einer begangenen Tat hinaus; der Einsatz dieser fernen Zukunft ist die Weiterentwicklung der menschlichen Geschichte. Jonas entdeckt hier einen neuen Imperativ, den er folgendermaßen formuliert: „Handle so, dass eine Menschheit auch nach Dir solange als möglich existiert." Dieser Imperativ ist neu in Hinsicht auf die Idee des Respekts der Person, im Sinne, dass er eine Ethik der Nähe, die auf die Reziprozität aufbaut, überschreitet. (Ricreur 1991: 282-283). Man muss jedoch - betont Ricreur - aufpassen, dass diese Erweiterung des Bereiches der Verantwortung nicht zu weit geht und die Verantwortungen ins Unendliche ausgedehnt wird (ebd., 68). Doch man muss auch die Konsequenzen der Handlungen im technologischen Zeitalter ernsthaft in Betracht ziehen. *** Welche Schlussfolgerungen könnte man aus den vorhergehenden Analysen ziehen? Ricreurs Auslegung der Verantwortung zeigt uns vor allem, dass Verantwortung zeitlich zu denken ist. Wenn man die Verantwortung im Sinne der Zurechnung 126 in Betracht zieht, so wird klar, dass es sich um eine Prozedur handelt, durch welche ein Subjekt als der Urheber einer Handlung identifiziert wird. Diese Identifikation orientiert sich nach der Vergangenheit, d. h. nach einer begangenen Tat, die von einer rechtlichen, politischen oder moralischen Instanz festgestellt wird und für die sich der Urheber der Tat vor dieser Instanz zu verantworten hat. Dieses Konzept der Zurechnung wird erweitert, indem man die Verantwortung im Kontext der Gefahren des technologischen Zeitalters thematisiert und sie mit den Konsequenzen der Handlungen für die zukünftigen Generationen in Verbindung setzt. Da die Zurechnung sich immer auf das jeweilige Moment des Handelns bezieht, das sich bei der Feststellung zwar schon in der Vergangenheit befindet, jedoch im Moment der Vollziehung gegenwärtig ist, setzt Ricreur den Akzent auf die Gegenwart der zu tragenden Verantwortung. Die Aspekte der Zurechnung und des Versprechens ermöglichen schließlich das definieren der Verantwortung als den Willen, sich für etwas moralisch, politisch oder rechtlich einzusetzen, in dem man jemanden verspricht für ihn da zu sein und für seine Handlungen vor ihm oder/und einer befähigten Instanz Rechenschaft zu tragen. Ricœurs Konzeption der Verantwortung ist zweifelsohne eine der komplexesten sowohl in der phänomenologischen Tradition, als auch in der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Ich möchte zum Abschluss jedoch auf zwei Punkte, die mir als diskutierbar erscheinen, kurz hinweisen. Der erste Punkt betrifft die Frage, inwiefern es notwendig ist die Verantwortung mit dem Versprechen in Verbindung zu setzen? Wäre es nicht möglich verantwortungsvoll zu handeln ohne explizit ein Engagement einzugehen und ein Versprechen abzugeben? Ricœur hebt mit recht hervor, dass wenn man ein Versprechen gibt und es nicht erfüllt, dieses aufgrund der Zurechnungsfähigkeit als verantwortungslos bezeichnet werden könnte, woraus auch die Schlussfolgerung, dass man keine leichtsinnigen oder/und unerfüllbaren Versprechen machen soll. Damit ist aber das Problem der Verantwortungslosigkeit noch lange nicht geklärt. Es verweist vielmehr auf gewisse Eigenschaften des Handelnden, z. B. Schlamperei, oder auf Motive wie bewusster Betrug, Lüge, oder aber auf äußere, von ihm nicht abhängende Gründe wie ein unvorhergesehenes und unüberwindbares Hindernis. Aufgrund der konkreten Umstände und Motive für das Nichteinhalten des Versprechens wird in einem ethischen oder/und in einem rechtlichen Plan den Umfang des Vergehens festgelegt und folglich eine dementsprechende Sanktion oder Freisprechung erteilt. Die schlechte Erfahrung mit verantwortungslosen Versprechen bedeutet jedoch nicht die Unmöglichkeit der entgegengesetzten Erfahrung - das verantwortungsvolle Handeln ohne Versprechen wie z. B. die fürsorgliche Hilfe gegenüber von Schwachen und Kranken, denen sich jemand spontan annimmt, ohne dafür gebeten geworden zu sein (siehe: Mother Theresa of Calcutta 1987 und 1993). Deshalb ist es für mich bedauerlich, dass in sein Spätwerk, insbesondere in seiner „kleinen Ethik" des Soi-même comme un autre, Ricœur das Konzept der Barmherzigkeit (charité) weggelassen und durch das Konzept der Für-sorge (sollicitude) ersetzt hat. Die Fürsorge ist zweifelsohne eine unentbehrliche ethische Kategorie. Sie weist jedoch eine dialogische Struktur auf, die Ricœur als „gegenseitiger Austausch von Selbstschätzungen" definiert (Ricœur 1990: 268-269). Die Barmherzigkeit hingegen beruht auf einem selbstlosen Geben, das nicht auf Reziprozität basiert. Dass das Konzept der Fürsorge auch bezüglich des Verantwortungskonzepts nicht ausreicht, wird ersichtlich durch die Tatsache, dass Ricœur diese Kategorie durch andere Begriffe wie Großherzigkeit, Rücksicht und Mit-leiden zu erweitern versucht hat (ebd., 269). Man kann, selbstverständlich, auch ohne Mitleid und Solidarität, einfach aus reinem Pflichtgefühl Verantwortung für den Anderen übernehmen; es handelt sich jedoch um einen anderen Willen. Denn es ist ein Unterschied, ob ich etwas aus ganzem Herzen will, oder meinem Willen der „charge" im Sinne von einer Last unterordne. Das wusste der 127 junge Ricreur sehr wohl, als er gegen Kants Pflichtmoral argumentierte. Was er später verkannte als er die Begriffe der Barmherzigkeit und des Nächsten ausließ, welche in sein Frühwerk durch die Figur des Samariters (Ricreur 1955, 100-102), des unbekannten Fremden als Wohltäter, veranschaulicht wurden, ist, dass ich verantwortlich handeln kann auch ohne ein Versprechen abzugeben - unentgeltlich und selbstlos. 128 Der zweite diskutierbare Punkt, der für uns hier gewichtiger ist, betrifft die Frage, ob administrative Versehen und Regierungsfehler ausschließlich auf dem Niveau des Politischen zu behandeln sind? Ricœur artikuliert und beklagt zwar ganz richtig im Fall des verseuchten Blutes den Mangel an politischen Debatten über die Verantwortung der Regierenden und fordert berechtigterweise eine Erläuterung der Kriterien für die Bestimmung der politischen Verantwortlichkeit sowie die Gründung von parlamentarischen und außerparlamentarischen Kontrollorganen. Doch inwiefern ist es berechtigt zu fordern, dass Fehler durch administrative Versehen politisch und nicht strafrechtlich behandelt werden? Die Entwicklungen der Affäre des verseuchten Blutes nach 1991 zeigen, meines Erachtens, dass Ricœur in diesem Fall gewisse Aspekte der Verantwortungsproblematik unterschätzt hat. Zum Beispiel, obwohl die Opfer materielle Entschädigung erhielten, blieben sie weiterhin unzufrieden über die Tatsache, dass nur zwei Ärzte und einer von dreißig angeklagten Minister verurteilt wurden (siehe: Pracontal 2003). Aus diesem Grund wurde der Prozess drei mal erneut aufgerollt bis er dann 2003 endgültig geschlossen wurde. Ricœurs Forderung, den Prozess zu beenden und ihn in der Sphäre des Politischen weiterzuführen verkennt eigentlich die dringende Notwendigkeit von Reformen im Rechtssystem sowie im Bereich der Medizin. Hinzugefügt sei, dass Ricœur nicht der einzige war, der diese Position vertrat; auch die Philosophin Blandine Kriegel und der Rechtsprofessor Olivier Beaud waren der Meinung, man solle die politischen Handlungen nicht kriminalisieren, denn dass führt zu Vereinnahmung der parlamentarischen Macht durch die juridische, wobei die Probleme der politischen Verantwortung und der sozialen Dysfunktion ungelöst bleiben (vgl. Kriegel 1999 und Beaud 1999). Man kann sich zwar die Frage ersparen, ob die „großen Verbrechen" nach dem Dekalog zu messen sind oder ob es sich bei allen zehn Geboten wirklich um große Verbrechen handelt, aber man kann sich der Frage nicht entziehen, ob die Regierungsfehler tatsächlich von vornherein, d. h. a priori als „kleine" zu gelten haben und daher - wie Ricœur meint - keinem Strafverfahren unterliegen sollten. Dürfte es stimmen z. B., dass Michel Garretta, Exdirektor des Nationalen Zentrums für Bluttransfusion, einen Fehler oder gar Betrug bezüglich der Qualität eines medizinischen Produkts begangen hätte oder, dass Edmond Hervé, ehemaliger Staatssekretär für Gesundheitsahngelegenheiten, unwillentlich den Tod von Men- sehen verursacht habe, dann fragt sich, warum sollten sie nur von einer politischen Instanz und nicht auch vom Gerieht zur Verantwortung gezogen werden? Meines Erachtens, gerade die Weiterführung und die Langwierigkeit der Affäre des verseuchten Blutes ermöglichten in Frankreich die Verbesserung der Gesetzesregelung durch genauere rechtliche und ethisch-medizinische Bestimmungen der Verantwortung. Der neue Code pénal vom Jahr 2000 wurde durch mehrere Artikel ergänzt, welche die Verantwortung und die daraus folgenden rechtlichen Konsequenzen in verschiedenen Fällen wie z. B. dem in Gefahr bringen einer Person (Art. 121-3 und 223-1), der Vergiftung (Art. 221-5), der unwillentlichen Verletzung (Art. 222-19 und 222-20) oder unwillentlichen Tötung (Art. 221-6) genauer festlegen und es den Opfern ermöglichen Klage zu erheben.3 Um solche Probleme in Zukunft besser in den Griff zu kriegen und eine tatsächliche Verantwortung für die Menschheit im 21. Jahrhundert übernehmen zu können, sollten solche Debatten und Klarstellungen der Verantwortlichkeiten der Einzelpersonen und der Amtierenden also nicht nur in einem Gebiet, sondern parallel in mehreren (Politik, Recht, Medizin, Ethik, Axiologie usw.) stattfinden und, folglich, immer wenn notwendig Korrekturen der bestehenden Gesetzgebung vorgenommen werden. 129 Literatur Beaud, Olivier (1999): Le sang contaminé, Paris: Presses Universitaires de France. 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