Revija za geografijo - Journal for Geography, 11-2, 2016, 7-16 NEUE REALITÄT – BASIS FÜR FRAGESTELLUNGEN EINER ANGEWANDTE WIRTSCHAFTSGEOGRAPHIE? Jörg Maier Prof. Dr. Emeritus Lehrstuhl für Wirtschaftsgeographie Universität Bayreuth Universitätsstrasse 30, D – 95447 Bayreuth e-mail: liloundjoerg@gmx.de UDK: 910.1:911.3 COBISS: 1.02 Abstract Neue Realität – Basis für Fragestellungen einer angewandte Wirtschaftsgeographie? The Autor disscous the new perspectives in economic geography according to new social and economic situation in modern society. Among necessary and actual topics are poverty and social exlusion, social diferences, especially between rich and poor people and reach and poor regions. With the new approaches, the new instruments are needed, like new understanding of term space. Key words Angewandte Geographie, Raum, Cultural turn Uredništvo je članek prejelo 7.10.2016 7 Jörg Maier: Neue Realität – Basis für Fragestellungen einer angewandte … 1. Einführung: Gesellschaftliche Veränderungen und neue Fragestellungen an die angewandte Wissenschaft Diesjährige Tagung hat mit dem Thema „Neue Realität“ einen neuen Weg beschritten, ganz im Einklang mit den zahlreichen Bewegungen in der Geographie in vielen Ländern. Was bei uns in Deutschland schon Ende der 90-er Jahre des letzten Jahrhunderts mit der sozialtheoretischen Wende begann, ist gerade seit einigen Jahren unter Stichworten wie Neue Kulturgeographie oder auch Neuer Realität auf Tagungen und Workshops herausgestellt worden. Dies entspricht durchaus auch den Bewegungen in der Gesellschaft bzw. im sozialen Raum, von naiven Protestveranstaltungen bis hin zur Suche nach einer "neuen" Demokratie. Häufig nicht durch rationale lnformiertheit und dem Versuch nach Erklärungen gekennzeichnet als vielmehr durch Emotionen und Ängsten geprägt, werden Themen angesprochen, die in der Vergangenheit eher im Hintergrund blieben. Ermöglicht wurde dies neben neuen Lebens- und Arbeitsbildern vor allem durch die neuen lnformationstechnologien. Brauchte man etwa noch vor Jahren erheblich Zeit und Kosten, um mehrere tausend Menschen zu einem Treffen einzuladen, so kann dies heute über die sozialen Medien in nur wenigen Stunden realisiert werden. Als Beleg sei nur die Dynamik der Internet-Nutzung in Deutschland herangezogen, von 22,9 Mio. im Jahre 2000 auf 76,8 Mio. 2014 (Abb. 1). Wie sehr diese Entwicklung die Gesellschaft erfasst hat, zeigt Abb. 2, wonach selbst bei den über 65-Jährigen noch es 65% sind, die das Internet regelmäßig benutzen. Damit verbunden sind neue Verhaltensmuster, neue Wertvorstellungen, auch in räumlicher Sicht, und damit neue Fragestellungen für die Geographie. Abb. 1: Entwicklung der Internetnutzung in Deutschland. Quelle: Eito. Abb. 2: Internetnutzung nach Alter in Deutschland. Quelle: IDG Business Media GmbH, München. 8 Revija za geografijo - Journal for Geography, 11-2, 2016 2. Der definitorische Aspekt: Was ist unter Realität und Neuer Realität zu verstehen? Bereits der Begriff der Realität zwingt uns zu der Erkenntnis, dass es sich hierbei um eine Interpretation unseres Gehirns handelt, also individuell gestaltet und auf Erfahrung aufgebaut ist. Realität ist folglich in erster Linie subjektiv, was man bei Techniken der Geographie, etwa der Beobachtung anhand unterschiedlicher Ergebnisse unter den Teilnehmern leicht zeigen kann. Der Begriff Neue Realität begegnet uns seit Jahren im Zusammenhang mit den neuen lnformationstechniken. Viele Menschen vermuteten bei deren Entwicklung eine Art Parallelweit oder eine Virtual Reality, deren Zugang für manche erschwert erschien. Damit ergeben sich auch für die Geographie neue Herausforderungen. Sollte dies bei der Themenwahl des Konferenz angedacht gewesen sein, so kann ich dazu leider keine fundierten und weiterführenden Beitrag leisten. Deshalb habe ich meine Suche nach Erkenntnissen um die Neue Realität ausgedehnt auf das inzwischen weite Feld der Neuen (Human-) Geographie und ihren Raumkategorien. 3. Aktuelle Diskussion um Herausforderungen und Inhalte von Raumkategorien in der Geographie Hilfreich war dabei eine kurzgefaßte Darstellung über Raumkonzepte im Geographie- Unterricht (Schneider 2002, 6), deren Aussagen insbesonders auf Weichhart (Weichart 2008) und Werlen (Werlen 2003) aufbauen bzw. als wesentliche Elemente einer kulturalistischen Wende das menschliche Handeln, die Transformation der Natur, die Ablehnung einer vermeintlichen objektiven Wissenschaft und die kritische Reflexion des Verhältnisses von Wissen und Macht zählen. Die Projektgruppe von Antje Schneider kommt zu der Empfehlung von vier Raumkategorien, wie sie in Abb. 3 auftreten. Während die Ersten beiden Raumsysteme den klassischen Vorstellungen von Raum entsprechen, dass dritte Bild dem Konzept der Wahrnehmungsgeographie entspricht, ist Neu im Sinne von bislang weniger analysiert der Raum als Konstruktion anzusehen, vielleicht eine Hilfe für empirische Arbeiten in unserem Forschungs-Sechseck. Abb. 3: Raumkonzept. Quelle: Schneider, A., Müller, S., Peterseim, C., Rulicke, B., Paul, T., Meerbach, K., Vogler, R., Nehrlich, T., Götz, C.: Raumkonzepte praktisch im Dialog, Dt. Gesellschaft für Geographie, 2002. 9 Jörg Maier: Neue Realität – Basis für Fragestellungen einer angewandte … 4. Konkrete Beispiele für Fragestellungen in thematischer und regionaler Sicht Versucht man das Konstrukt "Neu" - abgesehen von dieser handlungstheoretischen Sicht auf Themen zu beziehen, die in der Geographie weniger studiert, jedoch von erheblicher gesellschaftlicher Relevanz sind, etwa das wachsende Auseinanderklaffen von Reichen und Armen bei und in Deutschland, so gäbe es durchaus Felder für entsprechende Analysen auch mit erheblichen regionalen Unterschieden. Während Darstellungen zu Bevölkerungsveränderungen und zu sozioökonomischen Indikatoren in Deutschland regelmäßig vorliegen, gibt es etwa zum Thema Armut weit weniger Daten und Analysen. Dabei gelten trotz der guten Wirtschaftslage und überaus geringen Arbeitslosenzahlen viele Menschen, besonders Rentner und da wiederum Frauen, als arm. D.h., laut der Definition der EU zählen dazu Menschen, die über weniger als 60% des mittleren gesellschaftlichen Einkommens verfügen. Rechnerisch sind dies 12,5 Mio., davon rd. 3,4 Mio. Rentner. Und diese Zahl hat sich seit dem Jahr 2000 deutlich erhöht, von 12 auf rd. 16% (vgl. Abb. 4). Mecklenburg- Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Bremen sind armutspolitisch die Problemregionen in Deutschland (vgl. Abb. 5). Besonders betroffen sind danach Erwerbslose und Alleinerziehende. Es wäre deshalb ein wichtiges Thema der Sozialgeographie, diese Gruppen in ihrem wirtschaftlichen und räumlichen Verhalten zu studieren, zumal sie standörtlich häufig konzentriert in Wohngebieten mit älterem Baubestand vorhanden sind. Wie meine lnternet-Recherche ergeben hat, hat es in den 90-er Jahren des letzten Jahrhunderts einen gewissen Boom an Publikationen dazu gegeben, in Verbindung mit dem 1. Armutsbericht der Bundesregierung, bezogen meist auf große Städte in NWR und Berlin (Klagge 2005). Vergleichbares kann man für andere Ende der Sozialsituation feststellen: Die oberen 10% der Vermögenden besitzen 52% des Vermögens. Bezogen auf die Einkommenssituation ergibt sich nicht nur ein regionales Spiegelbild zu Abb. 5, sondern weist grundsätzlich auf die erheblichen regionalen Unterschiede in Gestalt der Topverdiener 2008 (vgl. Abb. 6) oder gar der Einkommensmillionäre 2007 hin (Abb. 7). Was als Anreiz für Raumanalysen und Bestimmungsgrößen dienen könnte, reduziert den Forscherwillen schnell aufgrund der Schwierigkeiten bei empirischem Vorgehen. Die Internet-Recherche hat dazu ergeben, dass dieses bislang nicht allzu häufig behandelte Thema kleinräumlich am Beispiel etwa von Berlin im Rahmen eines studentischen Projektseminares diskutiert wurde (Burk-Matsunami 2005), umfassend für Deutschland anhand einer vergleichenden Darstellung von reichen und armen Regionen analysiert wurde (Eichhorn-Huter-Ergibt 2010). Während die erstgenannte Studie anhand von Indikatoren, etwa des “Luxus" versucht, das Phänomen zu erhellen, beschränken sich die drei Autoren der zweiten Untersuchung auf offizielle statistische Angaben. ln beiden Fällen gelingt es jedoch nur teilweise, spezifische Raummuster des Verhaltens zu ermitteln. Die Quoten zur Armut in Deutschland im Vergleich zu Hartz IV und Arbeitslosigkeit 10 Revija za geografijo - Journal for Geography, 11-2, 2016 Abb. 4: Armut und Arbeitslosigkeit. Quelle: Statistisches Bundesamt, Agentur für Arbeit. Abb. 5: So viele Deutsche sind von Armut betroffen (in Prozent für 2014). Quelle: Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland des Paritätischen Gesamtverbands. 11 Jörg Maier: Neue Realität – Basis für Fragestellungen einer angewandte … Abb. 6: Anteil der Topverdiener in Deutschland 2008. Quelle: Gfk GeoMarketing. 5. Kurzes Fazit Zum Schluss möchte ich noch einmal auf die Aspekte „Cultural Turn“ bzw. „Neue Kulturgeographie“ eingehen. Diese theoretisch-konzeptionelle Herangehensweise ist, mit Anregungen aus dem englisch-sprachigen Raum, seit Ende der 90-er Jahre des letzten Jahrhunderts in Deutschland in der Diskussion. Mit dem Deutschen Geographentag in Leipzig 2001 wurde sie breit thematisiert und findet alljährlich institutionalisiert bei umfangreichen Tagungen, in diesem Frühjahr etwa in Graz statt. Dabei liegt kein geschlossenes Bild vor, sondern es bestehen struktur- und handlungstheoretische sowie systemtheoretische Betrachtungsweisen, auch die Inhalte sind vielfältig, wenngleich als Grundlage wohl gilt, dass Wissen und Macht untrennbar miteinander verbunden sind. Um es etwas konkreter zu formulieren, soll auf einige Forschungsperspektiven des “Cultural Turn“ (nach Sahr 2001) zurückgegriffen werden (vgl. Abb. 8): • Untersuchungen sozialer Beziehungen in kultureller Hinsicht (u.a. Identität und Lebensformen), 12 Revija za geografijo - Journal for Geography, 11-2, 2016 • Semiotische und sozialpolitische Interpretation kultureller Repräsentationen (u.a. Eliten und Massenkultur), • Untersuchungen von Alltagspraktiken als kulturelle Ausdrucksform, • Semiotische Gestaltung von Landschaften, Städten und Konsumwelten, • Konstruktion von 2 imaginären Geographien, etwa als Produkt des Kolonialismus, • Analyse des Zusammenhangs zwischen Kapitalismus, Spät-bzw. Postmoderne und Kultur. Abb. 7: Einkommensmillionäre in deutschen Städten und Gemeinden. So anregend diese Themenwahl für weitere Untersuchungen erscheint, bei der Eingangs gestellten Frage nach der Bedeutung für eine angewandte Geographie muß festgestellt werden, dass sie angesichts häufiger Einbindung in Machtstrukturen grundsätzlich für die Neue Kulturgeographie problematisch erscheint, es sei denn in einer systemkritischen Position. Ich hoffe, diese Anregungen tragen dazu bei, die Diskussionen um neue Wege der Geographie im Forschungs-Sechseck zu forcieren. 13 Jörg Maier: Neue Realität – Basis für Fragestellungen einer angewandte … Abb. 8: Einige Forschungsperspektiven des „Cultural Turn“ (nach Sahr 2001). References Burk-Matsunami, Th., Byland, J.R., Forster, K., Gebhardt, D., Neumann, M. 2005: Sozialgeographie des Reichtums in Berlin, H. 110 d. Arbeitsberichte d. Geographischen Instituts d. Humboldt Universität zu Berlin. Berlin. Eichhorn, L., Huber, J., Ebigt, S. 2010: Reiche und Arme Regionen, Reichtum und Armut in den Regionen - Zur sozialen Geographie Deutschlands, in Statist. Monatsberichte Niedersachsen, Hannover 2010, H. 6, S. 206 – 304. Gebhardt, H., Reuber, P., Wolkenstorfer, G. 2003: Kulturgeographie. Aktuelle Analyse und Entwicklungen, Heidelberg – Berlin. Klagge, B. 2005: Armut in westdeutschen Städten, Stuttgart. Sahr., W.D. 2001: New Cultural Geography, im Lexikon der Geographie, Bd. 2, Heidelberg. Schneider, A. 2002: Raumkonzepte praktisch im Dialog, Deutsche Gesellschaft für Geographie, S. 3 – 6. Weichhardt, P. 2008: Entwicklungslinien der Sozialgeographie. Von Hans Bobek bis Benno Werlen, Franz Steiner Verlag, Stuttgart. Werlen, B. 2003: Cultural Turn in den Humanwissenschaften und Geographie, in Berichte zur Deutschen Landeskunde, H. 1, S. 35 – 52. 14 Revija za geografijo - Journal for Geography, 11-2, 2016 NEUE REALITÄT – BASIS FÜR FRAGESTELLUNGEN EINER ANGEWANDTE WIRTSCHAFTSGEOGRAPHIE? Zusammenfassung Der Begriff Neue Realität begegnet uns seit Jahren im Zusammenhang mit den neuen lnformationstechniken. Viele Menschen vermuteten bei deren Entwicklung eine Art Parallelweit oder eine Virtual Reality, deren Zugang für manche erschwert erschien. Damit ergeben sich auch für die Geographie neue Herausforderungen. Als wesentliche Elemente einer kulturalistischen Wende das menschliche Handeln, zählen die Transformation der Natur, die Ablehnung einer vermeintlichen objektiven Wissenschaft und die kritische Reflexion des Verhältnisses von Wissen und Macht. Die Projektgruppe von Antje Schneider kommt zu der Empfehlung von vier Raumkategorien, wie sie in Abb. 3 auftreten. Während die Ersten beiden Raumsysteme den klassischen Vorstellungen von Raum entsprechen, dass dritte Bild dem Konzept der Wahrnehmungsgeographie entspricht. Während Darstellungen zu Bevölkerungsveränderungen und zu sozioökonomischen Indikatoren in Deutschland regelmäßig vorliegen, gibt es etwa zum Thema Armut weit weniger Daten und Analysen. Dabei gelten trotz der guten Wirtschaftslage und überaus geringen Arbeitslosenzahlen viele Menschen, besonders Rentner und da wiederum Frauen, als arm. D.h., laut der Definition der EU zählen dazu Menschen, die über weniger als 60% des mittleren gesellschaftlichen Einkommens verfügen. Rechnerisch sind dies 12,5 Mio., davon rd.3,4 Mio. Rentner. Und diese Zahl hat sich seit dem Jahr 2000 deutlich erhöht, von 12 auf rd. 16% (vgl. Abb. 4). Besonders betroffen sind danach Erwerbslose und Alleinerziehende. Es wäre deshalb ein wichtiges Thema der Sozialgeographie, diese Gruppen in ihrem wirtschaftlichen und räumlichen Verhalten zu studieren, zumal sie standörtlich häufig konzentriert in Wohngebieten mit älterem Baubestand vorhanden sind. Vergleichbares kann man für andere Ende der Sozialsituation feststellen: Die oberen 10 % der Vermögenden besitzen 52% des Vermögens. Bezogen auf die Einkommenssituation ergibt sich nicht nur ein regionales Spiegelbild zu Karte 1, sondern weist grundsätzlich auf die erheblichen regionalen Unterschiede in Gestalt der Topverdiener 2008 (vgl. Karte 2) oder gar der Einkommensmillionäre 2007 hin. Es soll auf einige Forschungsperspektiven des “Cultural Turn“ zurückgegriffen werden: • Untersuchungen sozialer Beziehungen in kultureller Hinsicht (u.a. Identität und Lebensformen), • Semiotische und sozialpolitische Interpretation kultureller Repräsentationen (u.a. Eliten und Massenkultur), • Untersuchungen von Alltagspraktiken als kulturelle Ausdrucksform, • Semiotische Gestaltung von Landschaften, Städten und Konsumwelten, • Konstruktion von 2 imaginären“ Geographien, etwa als Produkt des Kolonialismus, • Analyse des Zusammenhangs zwischen Kapitalismus, Spät-bzw. Postmoderne und Kultur. 15 Jörg Maier: Neue Realität – Basis für Fragestellungen einer angewandte … 16