ARHIVI XXV (2002), št. 1 Žontaijev zbornik 241 UDK 930.25-051 Von der Mission des Archivars in der Gegenwart FRIEDRICH P. KAHLENBERG In memoriam memoriae Die Erinn'rung ist eine mysteriöse Macht und bildet den Menschen um. Wer das, was schön war, vergißt, wird böse. Wer das, was schlimm war, vergißt, wird dumm (Erich Kästner. 1950) Der immer wachen Neugier des Jubilars Jože Zontar begegente ich erstmals während eines dienstlichen Besuchs in Ljubljana im August des Jahres 1992. Nicht nur während der Arbeitsbesprechungen im Staatsarchiv und im Kulturministerium, an jedem Ort und zu jeder Stunde meines Aufenthaltes suchte Kollege Zontar das Gespräch über Fragen des staatlichen Archivwesens, über Rechts- und Organisationsfragen, zur Überlieferungsbildung, zu Problemen der Benutzung, des Daten- und des Persönlichkeitsschutzes, zur Archivhoheit von Selbstverwaltungskörperschaften, zur Aus- und Fortbildung der Archivare etc. etc. Im Gespräch mit dem Kulturminister Borut Suklje erläuterte er am 27. August 1992 die Grundlinien des künftigen Archivgesetzes seines Landes in luzider Sprache und überzeugender Klarheit der Gedankenführung. Mich verblüffte damals der vollendet gelungene Rollenwechsel vom nachdenklich Fragenden zum engagierten, wissenden Akteur. In Kollegen Zontar traf ich einen gebildeten Mittler der archivarischen Professionallität und selbstbewußten Interpreten der kulturellen Situation seines Landes - ein Bild, das sich bei vielen weiteren Begegnungen ergänzte. Dabei empand ich als inspirierend, daß er bewußt den Anschluß an die fachliche Diskussion in den Nachbarländern, aber auch in der internationalen Gemeinschaft der Europäischen Union, des Europa-Rates und vor allem des Internationalen Archivrates suchte. Die umfassende Überlieferungsbildung in den Archiven Sloweniens war ihm ein Herzensanli-gen, er sprach im August 1992 von der "notwendigen Sicherung und Aufbewahrung all dessen, was das Leben hinterläßt", und hatte dabei offensichtlich keine Berührungsängste. - Für die Einladung, zur Festschrift für Kollegen Zontar beizutragen, danke ich deren Herausgebern. Der Jubilar mag mir nachsehen, daß ich mich in meinem Beitrag nicht auf die aktuelle archivische Situation Sloweniens beziehen kann, sondern aus meinen Wahrnehmung der Entwicklung in Deutschland berichte. Die Veränderungen in Europa während der beiden letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts bewirkten in den Ländern Ost-, Ostmittel-, Nordost- und Südeuropas eine Reorientierung des Geschichtsbildes der lebenden Generationen. Dies gilt für Deutschland unter dem Eindruck des Falls der Mauer im November 1989 und der Einigung beider deutscher Staaten im Oktober 1990, die deutsche Geschichte der Nachkriegszeit kann seitdem wieder als Einheit begriffen werden. Bei allen Unterschieden der WendeZeiten in deren zeitlichen Ablauf wie in den Formen der politischen und wirtschaftlichen Neuordnung in den einzelnen Ländern, unverkennbar ist die Wiedergeburt des kulturellen und jeweils eigenen geschichtlichen Selbstverständnisses eine gemeinsame Erfahrung. Die Konstituierung freiheitlicher Rahmenbedingungen des politischen Lebens belebten das Selbstbewußtsein nationaler Gemeinschaften auf der Grundlage ihrer jeweils individuellen kulturellen Identität. Der Stellenwert der geschichtlichen Erinnerung im öffentlichen Bewußtsein hat sich in diesem Prozeß deutlich erhöht, das Geschichtsbild der lebenden Generationen ist ein nicht zu unterschätzender Wirkungsfaktor in der Rekonstitution neuer Zivilgesellschaften. Welche Folgerungen ergeben sich unter den neuen Bedingungen für die Aufgabenstellung des Archivars in den öffentlichen Archiven, für dessen Selbstver-ständniss seiner gesellschaftlichen Funktion, welche weiteren Entwicklungen zeichnen sich für die Funktion der Archive ab? Anzumerken habe ich, daß unter dem Sammelbegriff der "öffentlichen Archive" sowohl Staats- wie kommunale Archive gemeint sind. Am Kanon der archivfachlichen Aufgaben hat sich vordergründig betrachtet wenig geändert, keine der traditionellen Fuktionen ist entfallen. Die Sicherung, Bewertung, Übernahme, Erschließung und Auswertung der aus der Geschäftstätigkeit der Institutionen der jeweiligen Archivträger erwachsenen Informationen und Dokumentationen gleich welcher Materialart bleiben selbstverständliche Kernaufgaben. Insbesondere bei der Sicherung von Überlieferungen ist der Archivar in Wendezeiten in besonderem Maße gefordert. An die rechtzeitige Sicherung oder gar gezielte Abgabe von Schriftgut, von Dokumentationen, von elektronischen Datein denken Funktionäre aufgehobener, aufzulösender oder umzuwandelnder Dienststellen nur im Ausnahmefall. Im Gegenteil, die gezielte Vernichtung von Akten liegt bei der Auflösung einer Bürokratie des alten Herrschaftsapparates den 242 Žontarjev zbornik ARHIVI XXV (2002). Št. 1 scheidenden Akteuren eher näher. Dies lehren mannigfaltige Beispiele aus der Endzeit der Diktatur des Nationalsozialismus oder bei der Ablösung der SED-Herrschaft, der Einsatz von Reißwölfen zur Aktenvernichtung beschränkte sich 1989/ 1990 nicht nur auf die Dienststellen des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Von der gezielten Vernichtung von Registraturgut u. a. mit dem Ziel, Beweise für Besitz titel jeweiliger Minderheiten vor Ort zu beseitigen, wurde in den 90er Jahren wiederholt aus Bosni-en-Hercegovina, aus dem Kosovo berichtet. Bei militärischen wie paramilitärischen Formationen ist die Vernichtung eigener Unterlagen zur Vermeidung der Einsichtnahme durch den Gegner in bestimmten Situationen die Regel. Um den Verlust oder die Vernichtung der Inhalte der Informationsspeicher zu vermeiden, bedurfte es in den Wendezeiten der allgegenwärtigen Aufmerksamkeit des Archivars und nicht eben selten auch dessen couragierten Zugriffs. Für die Lösung der dabei enstandenen logistischen Probleme war der Archivar auch als entschlossener Improvisator gefragt. Inzwischen lehrt ein jüngeres Beispiel aus Deutschland freilich, daß Aktenschwund auch in Normalzeiten geschehen kann. Der von der Kommission eines Sonderermittlers im November 2001 vorgelegte Bericht über Verluste von Akten, Dateien und Registraturhilfsmitteln im Bundeskanzleramt im Oktober 1998 während des Regierungswechsels alarmiert nicht nur Archivare. Ob die neue von der Bundesregierung erlassene Registratur-Richtlinie für das Bearbeiten und Verwalten von Schriftgut vom 11. Juli 2001, die die Unterlagen der Leitungsebenen in den Ministerien gesondert anspricht, dauerhaft Abhilfe schaffen kann, bleibt zu hoffen. Die Wachsamkeit des Archivars, dessen Präsenz in den Behörden gehört indessen zu seinen Daueraufgaben. Zum Bedeutungszuwachs der Archive in der öffentlichen Wahrnehmung trugen während der beiden letzten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts die Diskussionen um die rechtlichen Voraussetzungen der Benutzung von Archivalien aus der jüngeren Vergangenheit bei. Die rasante Entwicklung der elektronischen Datenverarbeitung und deren Implementierung durch die öffentliche Verwaltung warf vielfältige neue Probleme auf. Sie ergaben sich aus den neuen technischen Möglichkeiten bei der Verarbeitung und Verknüpfung gespeicherter Daten und insbesondere durch die Gefahr deren mißbräuchlicher Manipulation für die Bürger. Solchen Gefahren zu begegnen ist selbstverständliche Verpflichtung eines demokratischen Gemeinwesens. In Deutschland reagierten die Gesetzgeber der Länder und des Bundes seit dem Jahre 1977 mit der Verabschiedung von Datenschutz-Gesetzen und mit der Beauftragung von Landes- und Bundesbeauftragten für den Datenschutz, die den jeweiligen Parlamenten unmittelbar berichtspflichtig sind. Das in der Verfassung garantierte allgemeine Persönlichkeitsrecht wurde in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Volkszählungsgesetz im Jahre 1984 mit der Feststellung des Rechts eines jeden Bürgers auf dessen "informationelles Selbstbestimmung" noch einmal deutlich bekräftigt. In der Benutzungspraxis der Archive führte die Sensibilisierung durch die die Gesetzgebung begleitenden öffentlichen Diskussionen zumindest in den achtziger Jahren zu mancherlei Mißverständnissen und Irritationen. Die erforderlichen Klarstellungen lieferten die Archivgesetze der Länder und des Bundes, die zwischen den Jahren 1987 und 1997 verabschiedet wurden. Sie schufen den sachgerechten Ausgleich zwischen dem auf die Wissenschaftsfreiheit gegründeten Anspruch auf die Benutzung von Archivalien binnen angemessener Fristen und den Persönlichkeitsschutz-Interessen des einzelnen Bürgers. Doch ist damit kein Stillstand eingetreten; denn seit Herbst des Jahres 1998 wird auf politischer Ebene der Länder wie des Bundes, aber auch durch Initiativen aus Kreisen der Europäischen Union angeregt, die Diskussion um die Informationsfreiheiten des Bürgers in neuer Qualität geführt. Ein "Informationsfrei-heitsgestz" sieht die Koalitionsvereinbarung zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und Bündnis 90/Die Grünen vom 20. Oktober 1998 vor. Es soll den Bürgern weitere Informationszugangsrechte gewähren, die sich auch und gerade auf solche Vorgänge und Dateien beziehen, die in den Verwaltungen noch aktuell sind, deren Archivreife noch nicht geben ist. Die Umsetzung der in der Logik einer weiteren Demokratisierung des öffentlichen Lebens liegenden und daher auch in Mitteleuropa schon bald zu erwartenden Informationsfreiheitsgesetze fordert mit der notwendigen Entwicklung brauchbarer Instrumente und Verfahren auch den Archivar. Dessen Arbeitsfelder werden sich vor dem Hintergrund solcher Entwicklungen im "Informationszeitalter" erneut erweitern, ihm aber auch weitere Kooperationsmöglichkeiten eröffnen. In Zeiten politischer Umbrüche, in Deutschland die der Einigung vorausgegangene Zeit der Wende, erfahren die öffentlichen Archive eine starke Aufwertung nicht zuletzt durch die in breitem Strom sich ergießenden Anfragen der Bürger bei der Suche nach Unterlagen zu Restitutions- und Rehabilitierungsanliegen. Diese binnen möglichst kurzer Fristen zu bearbeiten, stellte hohe Anforderungen an die personellen Kapazitäten der Archive. Diese leisteten in der Effizienz ihres Einsatzes einen nicht zu unterschätzenden Beitrag für die innere Befriedung, sie trugen zur InformationsSicherheit der Bürger bei, die zu deren Grunderwartungen an den demokratischen Rechtsstaat zählt. Das gilt in Deutschland nicht zuletzt auch für die Überlieferungen des früheren Ministeriums für Staatssi- ARHIVI XXV (2002), št. 1 Žontaijev zbornik 243 cherheit der DDR, für deren Erhaltung sich die Bürgerbewegung in den Bezirkshauptstädten wie in Berlin im Spätherbst 1989 und im folgenden Winter nachdrücklich eingesetzt hatte. Die Zeugnisse der Überwachung, Bespitzelung und Verfolgung durch die auf allen Ebenen des öffentlichen wie privaten Lebens tätig gewesenen "Stasi" -Mitarbeiter kennenzulernen, entsprach dem Verlangen einer überwiegenden Mehrheit der DDR-Bevölkerung. Diesem trug der Einigungsvertrag durch eine Sonderregelung für die Uberlieferungen des "MfS" Rechnung, die von den allgemeinen Bestimmungen der Archivierung ausgenommen wurden. Nach einer schwierigen Aufbauphase bleibt festzuhalten, daß sich die Behörde des Bundesbeauftragen für die StasiUnterlagen als ein wichtiger Faktor im Prozess der "inneren Einigung" erwiesen hat. Bis Ende der 90er Jahre stellten fast 1,6 Millionen Bürger Anträge auf Einsichtnahme in sie betreffende Unterlagen, deren Bearbeitung bei gleichzeitig zu leistender Ordnung und Erschließung des Ge-samt-Schriftgutbestandes von 180 Regalkilometern einen Personaleinsatz erforderte, der nur durch eine entsprechend großzügig ausgestattete Sonderverwaltung erbracht werden konnte. Traditionell besteht eine seit dem 19. Jahrhundert gewachsene enge Verbindung der Archive zur historischen Forschung. Sie drückt sich in vielfältigen Formen der Zusammen arbeit mit Historischen Kommissionen, mit Instituten für Landesgeschichte, für Zeitgeschichte aus, oftmals gehören Archivare den Kommissionen auf Grund der eigenen wissenschaftlichen Arbeiten persönlich an oder sind, nicht eben selten auch kraft Amtes Mitglieder in dem wissenschaftlichen Gremien. Vielfach lehren Archivare nebenamtlich an Universitäten, vermitteln Methode und Praxis historischer Hilfswissenschaften oder pflegen sonstige Spezialdisziplinen. Breit gefächert sind die Beiträge von Archivaren zu historischen Fragestellungen nicht nur der Geschichtswissenschaften im engeren Sinne, sondern auch zu den Politischen, den Sozialwissenschaften vor allem im zeitgeschichtlichen Kontext, zur Rechtsgeschichte, zur Wirtschaftsgeschichte, zu kulturwissenschaftlichen Forschungsfeldern, die Reihe könnte weiter fortgesetzt werden. Die von staatlichen wie kommunalen Archiven herausgegebenen Veröffentlichungsreihen, Quellen-Editionen und Zeitschriften belegen den archivarischen Anteil an der historischen Forschung. Diese Tradition darf auch in der Gegenwart nicht vernachlässigt werden, so gewichtig auch die Argumente sind, die für eine Konzentration auf administrative Aufgaben und auf die notwendige "archivische Grundlagenforschung" ins Feld geführt werden. Die Auswertung der archivalischen Überlieferungen gehört zu den in der Archivgesetzgebung genannten Aufgaben der Archive mit hinzu. Sie kommt z. B. in der Edition heraus ragender Schlüsseldo- kumente aus zentralen Provenienzstellen zum Ausdruck, wobei über den unmittelbaren Informationswert solcher Editionen hinaus mit der Kommentierung zugleich auch auf die Bearbeitung korrespondierender Archivbestände hingewiesen und die Auskunftstätigkeit entlastet werden kann. Ebenso wichtig bleibt die Teilnahme des Archivars an den laufenden Diskussionen der wissenschaftlichen Disziplinen. Sie ist nach wie vor eine wichtige Voraussetzung für die unabhängige Urteil sfindung in Bewertungsfragen bei der Überlieferungsbildung durch den Archivar. Das Interesse an Geschichte hat sich im Zuge der Veränderungen während der letzten beiden Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts - davon war eingangs die Rede - weiter belebt. Ob in überkommenen Altertums-, Geschichtsvereinen und ähnlichen bürgerlichen Formen, ob in Geschichtswerkstätten oder in Arbeitskreisen zur Alltags-, Lokal- oder Ortsgeschichte, vielfach drängen mündige Bürger aller lebender Genara-tionen auf die Einsichtnahme in archivalische Überlieferungen, auf Informationen aus den primären Quellen. Dabei überwiegen insgesamt Fragestellungen zur Zeitgeschichte und zur jüngsten Vergangenheit solche zu älteren Perioden. Die zugunsten politisch verordneter Themenschwerpunkte lange unterdrückten Forschungen zur Landes-, Regional- und Lokalgeschichte haben z. B. auf dem Territorium der DDR in den wiedererstandenen Ländern seit der Einigung im Jahre 1990 eine unerwartet starke Neubelebung erfahren. Die Wiedergeburt des historisch im 19. Jahrhundert gewachsenen, während der vier Jahrzehnte der SED-Herrschaft aber unterdrückten Selbstverständnisses der staatlichen und kommunalen Archive führte zur raschen Wiederbelebung bzw. Neugründung von Zeitschriften und Schriftenreihen. Landes- und Ortsgeschichte als ein Motor und Medium der kulturellen Selbstfindung unter den neuen Bedingungen des öffentlichen Lebens fordert die Archive in einer bis zur Wende und Einigung nicht gekannten Intensität und teilweise auch in neuer Qualität der thematischen Interessen wie der Bearbeitungsformen. Ein erweitertes, differenziertes öffentliches Interesse an archivalischen Quellenüberlieferungen wie an der Arbeit der Archive bedingt die Anpassung der von den Archiven zu leistenden Öffentlichkeitsarbeit in der Gegenwart. Anders als in den vorausgegangenen Perioden erwartet heute nicht nur die wissenschaftliche sondern eine breite interessierte Öffentlichkeit eine regelmäßig aktualisierte Information über neu übernommene Archivbestände, über den Stand von deren Erschließung, über den spezifischen Informationswert einzelner Quellengruppen. Die Archive reagieren auf diese Erwartungshaltung: neben den üblichen Publikationen Archivführern, Übersichten über die Bestände, Findbüchern und sachthematischen Inventaren unterrichten die 244 Žontarjev zbornik ARHIVI XXV (2002). Št. 1 Archivverwaltungen der Länder in Deutschland in eigenen Mitteilungen regelmäßig auch über organisatorische Veränderungen, über die Veröffentlichungen der einzelnen Archive, über Aus-stelungen und Sonderveranstaltungen. Die Mitteilungen erfüllen streng genommen die Funktion von Pressediensten, doch ermöglicht die inzwischen üblich gewordene Einstellung ins Internet mit der Möglichkeit der raschen Aktualisierung und Ergänzung eine kaum zu überschätzende Breitenwirkung. Besonderer Stellenwert bei der Gewinnung und Pflege der Kontakte zu einem breiteren Kreis von bislang an archivischer Arbeit weniger interessierten Teilen der Öffentlichkeit kommt den Ausstellungen zu, die seitens der Archive zu aktuellen historischen Themen, zur Vertiefung der Kenntnisse über einzelne Zeitabschnitte oder Regionen, gelegentlich auch aus Anlaß von Jubiläen veranstaltet werden. Die Themenvielfalt, aber auch die Qualität Präsentationsformen haben während der zurückliegenen zwei Jahrzehnte eine erstaunliche Entwicklung erfahren. Dazu trägt der gestiegene Anspruch des Publikums bei, der sich auf die Visualisierung und Inszenierung einzelner historischer Ereignisse oder Handlungsabläufe richtet. Wegen der als schwerig geltenden Finanzierung solcher Ausstelungspro-jekte dürfte sich die vermehrte Zusammenarbeit mit benachbarten musealen Einrichtungen, aber auch mit Institutionen der politischen Bildungsarbeit empfehlen. Doch sollte auch die Gewinnung von Sponsoren aus dem Bereich der Wirtschaft, der Industrie wie von Banken, oder die Kooperation mit Stiftungen aus dem Kulturbereich ins Auge gefaßt werden, um entsprechende Vorhaben der Archive zu realisieren. Über die in einigen westeuropäischen Ländern seit gut drei Jahrzehnten, in Deutschland aber erst in den 90er Jahren realisierte Zusammenarbeit der Archive mit den Kultus- bzw. Schulministerien kann nur Positives gesagt werden. Sie zielt auf die Abordnung von Schulpädagogen in die Archive, um dort differenzierte, auf unterschiedlich Altersgruppen und Bildungsgänge abgestimmte Konzepte für die Heranführung Jugendlicher an den Gebrauch ar-chivalischer Überlieferungen zu entwickeln. Ihnen obliegt auch die Vorbereitung von Unterrichtsmaterialien für den Gebrauch in den Schulen, die sich z. B. auf ausgewählte Quellen aus den Archiven stützen können, die die Behandlung geschichtlicher Themen in den Schulen anschaulicher, lebendiger gestalten lassen. Der Einsatz archivpädagogischer Mitarbeiter erlaubt selbstverständlich auch die Führung in Archiven unter Berücksichtigung der jeweils zu erwartenden Vorkenntnisse der Besuchergruppen, deren Wirkung sich durch gezielte Ansprache und Auswahl von Demonstrationsbeispielen steigern läßt. Inzwischen liegen auch Beispiele Lernprogrammen für Mitarbeiter benachbarter Institutio- nen vor, etwa aus dem Bereich der Denkmalpflege, der Architektur- und Kunstgeschichte, der Gesundheitspflege, bestimmter sozialer Dienste. Daß sich audiovisuelle Überlieferungen, fotografische, akustische und filmische Überlieferungen für den Einsatz in entsprechenden Unterrichtseinheiten gut eignen, muß nicht eigens unterstrichen werden. Die Zielvorstellung, jeden Jugendlichen gleich welchen Ausbildungsganges während seiner Schulzeit mit der Aufgabenstellung und Arbeitsweise und mit archivalisehen Quellen des für seine Heimat zuständigen Archivs vertraut werden zu lassen, muß keine Utopie bleiben. Der Einsatz pädagogischer Fachkräfte in den Archiven kann deren Entwicklung als Lernorte für die geschichtlichen Grundlagen der Organe und Institutionen des öffentlichen Lebens in der Gegenwart nur fördern. Die beiden zurückliegenden Jahrzehnte des politischen Wandels und der damit einhergehenden Veränderungen des öffentlichen Lebens haben Politiker, Historiker und nicht zuletzt auch die Archivare vor die Aufgabe gestellt, die in der vorauf gegangenen Periode verformten Grundlagen und Darstellungen des Geschichtsbildes der in den betroffenen Ländern lebenden Generationen zu rekonstituieren, neu zu gewichten und schließlich neu darzustellen. Unübersehbar gehört die Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit zu den zentralen Anliegen einer großen Mehrheit der Bevölkerung. Die Kenntnis der historischen Voraussetzungen der in der Gegenwart empfundenen Probleme ist ein wichtiges Element der Entwürfe für die nächste Zukunft. Die Rückkehr und Einbindung in die politische und kulturelle Zivilisation eines freiheitlichen Europa verlangt, ja setzt die historische Aufklärung über die jüngeren Entwicklungen voraus. Dabei gebietet der Respekt gegenüber den Leiden der Opfer die nachdrückliche Auseinadersetzung mit den Gründen und Umständen der früheren Konfrontation, Ausgrenzung und Verfolgung. Die Aufgabe des Archivars beschränkt sich in diesem Kontext nicht auf die Bereitstellung konkret nachgefragter Beweismittel und -dokumente zum Einzelfall. Von ihm wird die Verantwortung für den Nachweis, die Erschliessung und für die Bereitstellung einschlägiger Quellen und Informationen insgesamt erwartet. Im z. T. mühsamen und nicht zuletzt auch schmertzhaften Prozess der historischen Anamnese der jüngeren Vergangenheit teilt der Archivar die Verantwortung mit der Politik, der Rechtsprechung, der wissenschaftlichen Forschung wie der politischen Bildung. Dabei sollte der Archivar keine Kontakte scheuen und nicht nur die Exekutive seiner jeweiligen Trägerorganisation sondern auch deren parlamentarischen Organe mit seinen Erkenntnissen, aber auch mit den Grundanforderungen für seine Aufgabenwahrnehmung vertraut machen. Die geschichtliche Erinnerung in der Gesellschaft der Gegenwart zu pflegen und zu fördern ARHIVI XXV (2002), št. 1 Žontaijev zbornik 245 ist selbstverständlich nicht die Aufgabe archivischer Institutionen und der Archivare allein. Die an Orten des Geschehens vermehrt eingerichteten Gedenk- und Erinnerungsstätten können auf die Authentizität des Schauplatzes, der Überreste verweisen. Neueinrichtungen historischer Müssen, von "Häusern der Geschichte", von Dokumentationsstellen für konkrete Geschehens-bläufe, für die Verfolgung einzelner Opfergruppen usw. genießen in aller Regel nachhaltigeres Interesse der politischen wie der Öffenlichkeit der Medien. Nicht die Nachahmung von deren Aktivitäten kann das Ziel der Archive sein, wohl aber die engere Zusammenarbeit, um die Anliegen der archivischen Öffentlichkeitsarbeit in gemeinsamen, in arbeitsteiligen Projekten zu fördern. Die Mission des Archivars in der Gegenwart bleibt an erster Stelle die des Bewahrers der ar-chivalischen Überlieferung unter optimalen konservatorischen Bedingungen als Teil des Kulturerbes seiner Stadt, seiner Region, seines Landes. Dies muß die ausreichhende Fundierung auch für die Durchführung unausweichlicher restauratorischer und Bestands-erhaltender Maßnahmen einschließen. Ebenso muß der Gesetzgeber die Anliegen eines allgemeinen Kulturgutschutzes, auch unter den Prämissen einer intendierten Harmonisierung bei den Mitgliedern der Europäischen Union, umsetzen und die Einhaltung entsprechender Vorschriften garantieren. Mit ihren ar-chivalischen Überlieferungen sind die Archive a priori "Erinnerungsorte", von denen Pierre Nora jüngst meinte, daß sie sich "als Hebel zur Erneuerung der nationalen Geschichtsschreibung" bewährt haben. Ohne die fachlichen Kernaufgaben zu vernachlässigen, bleibt der Archivar zu einem genuinen Beitrag aufgefordert, die geschichtliche Erinnerung in der Gegenwart als eines der Elemente des Selbstverständnisses einer aufgeklärten, einer fordauernd kritisch reflektierenden Zivilgesellschaft im freiheitlichen Europa zu pflegen. Seine Mission ist auch in der Gegenwart primär die des der Überlieferungsbildung, -bewahrung und Nutzung verpflichteten Archivars. Darüber hinaus ist er aber auch gefordert als die des Partners in den laufenden Diskussionen über wissenschaftliche Fragestellungen der Historiker und der Nachbardisziplinen, vor allem wenn diese sich aus der archivalisehen Überlieferung ergeben. Seine Mission ist zugleich die des Mittlers von Bausteinen für die Orientierung über ein Geschichtsbild, das sich nachwachsende Generationen in eigener Zuständigkeit machen werden. Eine Gesellschaft als Ganzes entbehrt der Gabe der Erinnerung, die konkrete historische Vergewisserung verlangt stets die individuelle Wertung und historiographische Interpretation, die sich nicht zuletzt auf die Auswertung der archivalischen Überlieferung stützt. Zur Mission des Archivars in der Gegenwart gehört aber nicht zuletzt auch die Vermittlung, das Wachhalten über das schuldhaft gesuchte oder nachlässig geduldete Vergessen einzelner Teilbereiche der jüngsten Vergangenheit. In einem Essay über "Erinnerung und politische Realität" zitierte Michael Naumann im Frühjahr des Jahres 1999 ein Wort von Eric Voegelin, das diese Betrachtung beschließen soll: "Wir erinnern das Vergessene -manchmal mit erheblicher Mühe - weil es nicht vergessen bleiben sollte. Das schuldhaft Vergessene wird durch Erinnerung zur Präsenz des Wissens gebracht; und in der Spannung zum Wissen enthüllt sich die Vergessenheit als der Zustand des Nichtwissens, der agnoia der Seele im Platonischen Sinne. Wissen und Nichtwissen sind Zustände existentieller Ordnung und Unordnung." SUMAMRY ARCHIVIST'S MISSION TODAY The changes that shook Europe in the last two decades of the 20lh century precipitated the renaissance of the cultural and historical self-understanding of the countries of eastern, northeastern, southeastern, and central Europe. The historical memory played an important role in the collective consciousness. What are the consequences of these changes for the archivist's mission? The core tasks remain unchanged. However, the preparation of the legislation regarding the protection of data and archives has gained more weight. The duty to inform contributed to the internal strengthening and the archivist's independent research work has been emphasised. An increased interest in the use of archival material has compelled the archivists to explore new ways of communication with the public. The formation of archival pedagogues offers numerous possibilities and enriches the archival activity. Contemporary history puts a greater strain on the archivist. Intentionally or accidentally, the latter is also responsible for the forgetting of the recent past. POVZETEK O POSLANSTVU ARHIVISTA V SODOBNOSTI Spremembe, ki jih je doživela Evropa v zadnjih dveh desetletjih 20. stoletja, so povzročile preporod kulturnega in zgodovinskega samorazumevanja držav vzhodne, severovzhodne, jugovzhodne in srednjevzhodne Evrope. Zgodovinski spomin je zaigral v skupni zavesti pomembnejšo vlogo. Kakšne posledice ima vse to za naloge arhivarja? Bistvene naloge ostajajo načeloma nespremenjene. Povečal pa se je pomen priprave zakonodaje na področju varstva podatkov in arhivov. Naloga obveščanja je prispevala k notranji krepitvi. Večji poudarek je dobilo samostojno raziskovalno delo arhivarja. Znatno povečan interes za uporabo arhivalij je arhivatje primoral, da so pričeli razvijati nove oblike stikov z javnostjo. Možnosti, kijih nudi uvajanje arhivskih pedagogov, oplajajo arhivske dejavnosti. Ukvarjanje z bližnjo preteklostjo zahteva aktivnejšo vlogo arhivarja, ki je odgovoren tudi za pozabljanje bližnje preteklosti, najsibo namerno ali iz malomarnosti.