Aleš Erjavec Einige Beobachtungen zur Postmoderne Meine ursprüngliche Absicht auf dieser Konferenz, zu der mich der Kollege Prof. Dr. Jožef Muhovič freundlicherweise eingeladen hat, war über die Deformation zu sprechen, nämlich darüber, dass sie die Voraussetzung für die Herstellung und Wirkung der künstlerischen Form sei. Dabei hatte ich natürlich die klassischen und neueren Abhandlungen über den Perspektivismus, Merleau-Pontys und Brysons Kritik der renaissancistisischen und optischen Ausgangspunkte sowie die kartesianischen und neuzeitlichen Abhandlungen über Betrachtung und Gestalt im Sinn. Hierbei wollte ich auch aufzeigen, dass Descartes kein so einfaches Ziel der philosophischen Kritik des Okularzentrismus ist, wie man oft meint, und dass zwischen ihm und z. B. Merleau-Ponty mehr gemeinsame Punkte zu finden sind, als man annehmen würde, wenn man nur vom Essay „Das Auge und der Geist" ausginge. Ferner beabsichtigte ich, von der Funktion der Deformation in der bildenden Kunst zu sprechen, insbesondere in Bezug auf die Phänomenologie der Perzeption und die modernistische Praxis, wie sie bei Cézanne, Rodin und Giacometti, und nicht zuletzt sogar auf Bildern der klassischen chinesischen Malerei zu finden ist. Die Frage der Deformation könnte natürlich auch anders gestellt werden, d. h. nicht nur vom Gesichtspunkt der Problematik der „reinen Kopie" und der wissenschaftlichen monokularen Betrachtung, sondern vom Gesichtspunkt der Aberrationen und Anamorphosen von Baltrušaitis, oder durch Behandlung der Deformation, wie sie z. B. von Gilles Deleuze am Beispiel der Malerei des Francis Bacon ausgearbeitet wurde. 135 Aber all dies sind Fragen, die ich nicht erörtern werde. Da dies eine Konferenz über die Form und die Postmoderne ist, schien es mir nämlich sinnvoller, über Letztere zu sprechen, natürlich zumindest in gewissem Masse auch im Lichte der Ersteren. 136 Mindestens drei Jahrzehnte lang - Charles Jencks veröffentlichte sein Buch The Language of Post-Modern Architecture im nunmehr weit zurückliegenden Jahr 19751 - bleibt die Postmoderne der zentrale Terminus in der Erörterung der zeitgenössischen Kunst. Charles Jencks, der erste (inzwischen aber auch schon etwas in Vergessenheit geratene) Autor, der die Diskussion über die Postmoderne in die breite angloamerikanische Fachöffentlichkeit eingebracht hatte, verfolgte zwar bescheidenere Ziele - seine Absicht war, den Charakter der damaligen Kunst und vor allem Architektur zu definieren. Insbesondere Letztere unterschied sich immer klarer und krasser von der vorangehenden Hochmoderne und dem Funktionalismus und ersetzte das Motto des internationalen Stils in der Architektur „less is more" bereits durch das Motto „less is a bore". So verfocht Jencks eine Architektur, die (erinnern wir uns, dass er später, 1987, das umfangreiche Werk Post-Modernism mit dem viel sagenden Untertitel The New Classicism in Art and Architecture veröffentlichte2) detailbewusst und ästhetisiert sein sollte. Der soziale und funktionalistische Modernismus sollte der neoklassizistischen Form, dem Ornament, der öffentlichen Skulptur und neuen öffentlichen Räumen des multinationalen Kapitalismus Platz machen. Die Architektur sollte wieder zu einer öffentlichen Kunst werden. Alle diese Ideen hatten ihre Parallelen und Vorbilder oder Anlässe natürlich in der Architektur selbst, insbesondere in der amerikanischen Architektur, sei es in der von Los Angeles oder in der von Las Vegas. Natürlich bezogen sich die befürwortenden und kritischen Standpunkte zu architektonischen Veränderungen auch auf umfassendere und auch auf politische Gesichtspunkte. So hat Tom Wolfe in seinem Buch From Bauhaus to our House3 sarkastisch angemerkt, dass sich die Arbeiter, für welche die Häuser internationalen Stils gebaut werden sollten, diese Häuser nie hätten leisten können. 1 1 Charles Jencks, The Language of Post-Modern Architecture (London, Academy Editions 1987 (fünfte Ausg.). 2 Charles Jencks, Post-Modernism. The New Classicism in Art and Architecture (London, Academy Editions 1987). 3 Tom Wolfe, From Bauhaus to our House (New York, Pocket Books 1982). Aus der heutigen geschichtlichen Distanz kann man zu folgender Feststellung kommen: Darin, dass die Diskussion über die Postmoderne in den siebziger Jahren in der Architektur begann, zeigte sich eine „List der Vernunft" besonderer Art: Die Architektur ist nämlich die öffentlichste Kunst, womit bereits ihre damalige Entwicklung Jencks' implizite These bewies, dass sich die Kunst im Allgemeinen in etwas anderes und andersartiges zu entwickeln begann und zugleich auch faktisch wesentlich von der Kommunikation mit der Öffentlichkeit und demnach auch vom Markt abhängig war. Mit anderen Worten: Die Architektur stellte ein sehr adäquates Paradigma der entstehenden Postmoderne in der Kunst als solcher dar, sei es - in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts - mit dem Roman Der Name der Rose von Umberto Eco, mit dem Theater von Pine Bausch oder mit den Filmen von David Lynch. Es stimmt zwar, dass Jencks in der Einleitung seines oben erwähnten Buches aus dem Jahre 1975 eingestand, dass er den Begriff „Postmoderne" eigentlich falsch verstanden habe, da er ihn vom Literaturtheoretiker Ihab Hassan übernommen habe, der diesen Begriff zur Bezeichnung der hohen Literaturmoderne von William Burroughs und ähnlichen Autoren verwendete. So wie in zahlreichen anderen Fällen führte der Begriff von da an ein selbstständiges Leben und verkehrte sich - so wie De Tracys Wissenschaft von den Ideen, die „Ideologie", in Napoleons Tiraden gegen die Ideologen im französischen Staatsrat im Dezember 1812 - in sein Gegenteil. Statt die neueste (und vielleicht auch eine konservative) Stufe der Moderne darzustellen - diese These wurde in den folgenden Jahren sowohl von Jürgen Habermas als auch vom britischen Marxisten Nicos Calinicos vertreten -, begann die Postmoderne immer mehr das genaue Gegenteil dessen zu bedeuten. Die Postmoderne hörte allmählich auf, die höchste Form der Moderne zu sein, und die Postmodernität hörte allmählich auf, eine momentane konservative Ära des unvollendeten Projektes der Modernität zu sein; stattdessen fingen beide ihr eigenes Leben an und begannen, einen ganz spezifischen Übergang von der Quantität zur Qualität darzustellen. Gerade diese hegelsche und damit moderne Kategorie veranschaulicht die Spannung und den Widerspruch zwischen Postmoderne und Postmodernität - ein Widerspruch, den Wolfgang Welsch im Jahr 1987 sehr zutreffend mit dem Titel seines philosophischen Bucherfolgs „Unsere postmoderne Moderne" bezeichnete.4 Eine weitere wesentliche Eigenschaft der eintretenden Postmoderne und Postmodernität war die Vorherrschaft der Partikularität über die Totalität. Wie Ende der achtziger Jahre Welsch selbst äusserte, beginnt die Postmodernität 4 Wolfgang Welsch, Unsere Postmoderne Moderne (Weinheim, VCA, Acta humaniora 1991). 137 dort, wo die Totalität endet5 - eine These, die heutzutage in vervollständigter Form, nämlich im Pluralismus der Vielzahl der mathematischen Menge, bei Alain Badiou zu finden ist. Fredric Jameson bot in seinem Essay „Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism", veröffentlicht 1984 in der Zeitschrift New Left Review,6 eine hegelsch-lukacssche Auslegung der Postmoderne - nämlich der Postmoderne als neueste kulturelle Dominante des Kapitalismus. Sein einfaches anschauliches und überzeugendes Triadenschema stellte schnell die früheren willkürlichen und manchmal unnötig komplizierten Erklärungen des Postmodernismus in den Schatten. (Bei den letztgenannten habe ich insbesondere Lyotards These vom Kunstwerk im Sinn, welches zuerst postmodern und dann, nachdem es zum Bestandteil der Kunst als Institution geworden sei, modern sei.) In der bildenden Kunst bildete die Transavantgarde, die 1982 von Achille Bonito Oliva konzeptualisiert und anschliessend verfochten wurde, das Äquivalent zur Postmoderne in der Architektur.7 Unserer Aufmerksamkeit darf 138 nicht entgehen, dass (1) die Transavantgarde eine Rückkehr zur Kunstvergangenheit - vom Expressionismus bis zur Antike - ist und dass sie (2) zugleich eine Rückkehr zur nationalen Geschichte war - ebenso eine Geste, die auf der „verdunkelten" und „unteren" Seite der Modernität aufbaute, wie sie sie die nationalen Ideologien des 20. Jahrhunderts darstellten: Nazi Kunst, Strapaese und Stracittà in Italien und andere Ideologien der Rückkehr zu einer idyllischen oder mythischen Vergangenheit und einem dementsprechenden Bauerntum - Kunst- und Literaturgattungen also, die in der Zeit zwischen beiden Weltkriegen von Schweden bis Slowenien in Fülle anzutreffen sind. Um zu sehen, was im Verhältnis zur Kunstform der klassischen Moderne (wie sie z. B. von Clement Greenberg konzipiert wurde) die frühe Postmoderne bedeutete, genügt es, sich die Arbeiten anzusehen, die auf der ersten venezianischen Ausstellung „Aperto" im Jahr 1980 gezeigt wurden, deren Kuratoren Achille Bonito Oliva und der kürzlich verstorbene Harald Szeemann waren. Die dort gezeigten Werke umfassten: neue Figuralität, klassische Bildhauerkunst, mithilfe neuer Technologien geschaffene Werke, Installationen sowie spätfigurative und barocke oder manieristische Werke von Giorgio de Chirico (aus der Zeit, als dieser kein Anhänger der metaphysischen Malerei mehr war, 5 Vgl. Wolfgang Welsch, „Modernité et postmodernité", Les cahiers de Philosophie (Postmoderne. Les termes d'un usage), Nr. 6 (Herbst 1988). 6 New Left Review, Nr. 146 (Juli-August 1984). 7 Vgl. Achille Bonito Oliva, Transavantgarde International (Milano, Giancarlo Politi Editore 1982). sondern alte Meister nachzuahmen begann). Der Grund, warum auf dieser und ähnlichen Ausstellungen kein klassischer Modernismus mehr auftrat, liegt wahrscheinlich nicht im Zufall oder im persönlichen und subjektiven Geschmack, sondern in der Tatsache, dass diese Gattung der Moderne aufhörte, die kulturelle Dominante der damaligen - und damit noch immer auch der unsrigen - Ära zu sein. Dies offenbart auf symptomatische Art und Weise auch die Kunst jenes Landes, in dem sich die Moderne entwickelt hatte, nämlich die Kunst Frankreichs. Wie nämlich kürzlich der Kunstkritiker Edward Lucie-Smith feststellte: „Today the prestige of French art has never been lower, something ruefully acknowledged in France itself."8 Doch um auf die Ausstellung Aperto im Jahre 1980 zurückzukommen: Gerade das Beispiel von De Chirico war vielsagend. In Venedig stellten Bonito Oliva und Szeemann 1980 Werke des Malers aus, der zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts mit seiner metaphysischen Malerei als Avantgardist berühmt wurde. Daraufhin bestritt er jahrzehntelang seinen Lebensunterhalt durch das Kopieren ebendieser seiner Frühwerke, um dann in den vierziger und fünfziger Jahren dahin zu gelangen, dass er sich gleichzeitig bemühte, wie Rubens oder Watteau zu malen. Dieses Paradox, dass ein anerkannter Avantgardist seine eigenen avantgardistischen Werke zum Geldverdienst kopiert und zugleich für sich, zu seinem eigenen Genuss, auf traditionellste Weise malt, deutet klar darauf hin, dass in der bildenden Kunst der Mitte des 20. Jahrhunderts eine grundlegende Wende eingetreten ist, die sich vielleicht am offensichtlichsten gerade in der veränderten Stellung der Kunstavantgarde offenbart. Wie Thierry de Duve mehrmals hervorhob,9 liegt die Charakteristik einer erfolgreichen Avantgarde gerade darin, dass sie zum Bestandteil der Tradition wird. Wenn also die metaphysische Malerei von De Chirico oder Carrà zum Bestandteil der Tradition geworden ist, bedeutete dies gleichzeitig, dass die Avantgarde aufhörte, subversiv zu sein, und dass sie zum Bestandteil der Kunst als Institution wurde - sie wurde, wie sich Peter Bürger ausdrücken würde, postavantgardistisch. Dies bedeutet natürlich noch nicht, dass die traditionelle oder auch die modernistische Malerei hierbei subversiv geworden wäre - was die These einer Reihe von modernen amerikanischen Autoren ist,10 die die amerikanische 8 Edward Lucie-Smith, Zitat nach einer handschriftlichen Mitschrift des Vortrags "Art of the Mediterranean" auf dem III. Mediterranean Congress of Aesthetics (Portorož, 20.-23. 10. 2006). 9 Thierry de Duve, Kant after Duchamp (Cambridge, Mass., MIT Press 1998). 10 Vgl. z. B. Brandon Joseph, Random Order. Robert Rauschenberg and the Neo-Avant-Garde 139 140 Neoavantgarde behandeln, und zwar von Robert Rauschenberg bis hin zu Mer-ce Cunningham und John Cage. Sie gehen von der Annahme aus, dass es sich hier um eine Kunst des Widerstands (resistance and radical art) in der Art der avantgardistischen Kunst, wie sie Mitte des vergangenen Jahrhunderts von Theodor Adorno konzipiert wurde, handle. Eine gewisse Ausnahme in diesem Kreis - nennen wir ihn den Kreis der Zeitschrift October - stellte Benjamin Buchloch dar, der in einem seiner jüngsten Werke selbstkritisch feststellt, dass „one among the infinite multiplicity of functions intrinsic to aesthetic structures is in fact to provide at least an immediate and concrete illusion, if not an actual instantiation, of a universally accessible suspension of power. Thus the aesthetic structure dissolves all forms of domination, beginning with the dissolution of repression in whatever form it might have inscribed itself in codes and conventions."11 Was Szeemann und Bonito Oliva 1980 in Venedig ausstellten, war eine Kunst, welche die traditionelle modernistische Unterscheidung zwischen Avantgarde und Tradition auf den Kopf stellte. Mit dem eingetretenen Erfolg und damit auch der Traditionalisierung der Avantgarde, mit ihrer Assimilation in die institutionelle Kunst, ist die Avantgarde nunmehr zu einem Aspekt der Tradition geworden - wodurch der Weg zum postmodernen Eklektizismus eröffnet war, der Klassizismus und Konstruktivismus, Figuralität, Abstraktion und Konzeptualismus auf gleichberechtigter Ebene vereinte. Avantgardistisch sein bedeutete nun also Tradition und Konformität, traditionalistisch sein wurde, wenn schon nicht subversiv, so doch zweifellos provokativ. Wie wir später am Beispiel der Anmerkungen von Michael Fried sehen werden, wurde der klassische Modernismus greenbergschen Typs durch eine andersartige Kunst ersetzt - sei es durch postmoderne Kunst oder durch die Kunst, die die in den Hintergrund gedrängte Kunst der Ära des Modernismus darstellte. Wahrscheinlich ist gerade dies die grundlegende Wende, die als Schlüsselsymptom des Wandels vom Modernismus zur Postmoderne auftritt. Wer aber ist mein Adressat, wenn ich „provokativ" oder „konform" sage? Auf jeden Fall sind dies kunstinteressierte Menschen. Wie bereits Charles Jencks 1988 feststellte: „All the avant-gardes of the past believed that huma- (Cambridge, Mass., MIT Press 2003. Vgl. auch Ales Erjavec, "Brandon Joseph, Random Order. Robert Rauschenberg and the Neo-Avant-Garde", Modernism/Modernity, Bd. 12, Nr. 2, S. 360-362. 11 Benjamin H.D. Buchloch, Neo-Avant-Garde and Culture Industry. Essays on European and American Art from 1955 to 1975 (Cambridge, Mass., MIT Press 2000), S. xxiv-xxv. nity was going somewhere, and it was their joy and duty to discover the new land and see that people arrived there on time."12 Die Postavantgarde - ein bei Burger entliehener Begriff, der faktisch einen grossen Teil dessen bedeutet, was mit Bonito Oliva in Italien, aber auch in Frankreich und andernorts (z. B. in Slowenien) unter dem Begriff „Transavantgarde" aufzutreten begann - sollte erkennen, dass sie ein Teil der breiteren Mittelklasse ist und keine besondere geschichtliche Rolle innehat. Oder mit den Worten von Jencks selbst: Der Begriff „Postmoderne" bedeutete für ihn „the end of avant-garde extremism and the central role of communicating with the public".13 Alles soeben Gesagte bedeutet aber auch, dass die Kunst zumindest ihre geschichtliche, wenn nicht bereits auch ihre existenziale Mission verloren hat; sie ist nämlich zu einem Bestandteil der intellektuellen Unterhaltung und der Kulturindustrie bzw. der bürgerlichen Frivolität geworden - in den Werken von Jeff Koons zum Beispiel. Sie hat ihren existenzialen Kern und ihre Bedeutung verloren, sie ist nicht mehr oppositionell im weitesten Sinne des Wortes, sie hat auf ihre essenzielle humane und zivilisatorische Rolle verzichtet. Mit 141 Zufriedenheit und Freude ist sie kommerziell geworden. Diese Situation hat bereits im Jahre 1963 Adorno in „Résumé über Kulturindustrie" beschrieben, als er Folgendes behauptete: „Kultur, die dem eigenen Sinn nach nicht bloss den Menschen zu Willen war, sondern immer auch Einspruch erhob gegen die verhärteten Verhältnisse, unter denen sie leben, und die Menschen dadurch ehrte, wird, indem sie ihnen gänzlich sich angleicht, in die verhärteten Verhältnisse eingegliedert und entwürdigt die Menschen noch einmal. Geistige Gebilde kulturindustriellen Stils sind nicht länger auch Waren, sondern sind es durch und durch."14 Wenn wir die Frage des Protestes, von der Adorno spricht, ausser Acht lassen und uns auf einen anderen und vielleicht wichtigeren Gesichtspunkt der Kunst beschränken, nämlich auf die Fähigkeit zur Enthüllung instrumentalisierter und vergessener Dinge und Wesenheiten des Lebens (worauf Buchloch hinweist), ändert sich die Endbeurteilung nicht wesentlich. Denn, wie sich vor Jahren Arthur Danto ausdrückte: „The age of pluralism is upon us. It does not matter any longer what you do, which is what pluralism means. When one 12 Charles Jencks, "The Post-Avant-Garde", Art and Design. The Post-Avant-Garde. Painting in the Eighties (London, Academy Editions 1987), S. 20. 13 Jencks, The Language of Post-Modern Architecture, S. 5. 14 Theodor W. Adorno, "Résumé über Kulturindustrie", Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen - Ohne Leitbild. Gesammelte Schriften, Band 10.1 (Frankfurt/Main, Suhrkamp 1997), S. 338. 142 direction is as good as another direction, there is no concept of direction any longer to apply."15 Doch kommen wir zu der Frage zurück, wer der Adressat der Kunst ist. Wer ist also mein Adressat, wenn ich Künstler bin? In erster Linie bin natürlich ich es selbst und es sind meine Gesinnungsgenossen, es ist meine künstlerische Welt, die „art world", um den Begriff zu benutzen, den Arthur Danto 1964 aufbrachte. Zugleich aber ist es auch mein Wunsch, diese künstlerische Welt immer mehr auszuweiten, immer mehr Menschen in sie einzubeziehen. Warum aber - abgesehen von den üblichen Gründen wie Ehre, Ruhm, Geld u. Ä. - beschäftige ich mich mit der Kunst, warum kann ich nicht anders, als mich mit ihr zu beschäftigen? Weil sie mir existenziale Zufriedenheit bietet, weil sie mir eine symbolische und imaginäre Aneignung der Welt ermöglicht, weil sie mir auch Spiel und Selbstbestätigung in dieser Welt ermöglicht. Wie und warum aber erlebt der Adressat, also die Öffentlichkeit, das Kunstwerk und warum beschäftigt sie sich überhaupt mit ihr? Neben den üblichen Gründen wie Ansehen, Interessantheit, Attraktivität, Themen für Gespräche u. Ä. gibt es noch einige weitere Gründe, warum ich als Leser oder Betrachter ein Werk beurteile bzw. mich mit ihm auseinandersetze. Hierbei handelt es sich im Grunde um das so genannte Wesen der Kunst, also darum, wodurch die Kunst Kunst ist und für uns eine mehr oder weniger besondere Bedeutung hat. Persönlich kenne ich mindestens fünf Deutungen eines solchen Wesens der Kunst, von denen natürlich einige miteinander verbunden, verflochten und teilweise auch identisch sind. (1) Die Kunst kann als etwas gedeutet werden, was eine existenziale Erfahrung ermöglicht (z. B. bei Heidegger oder Merleau-Ponty). (2) Man kann in der Kunst eine geistige Welt sehen, in die wir metaphysische Werte transferiert haben, die es in der alltäglichen Welt wegen seiner Utilitarität und Instrumentalität nicht gibt (Nicolai Hartmann). (3) Zum Schlüsselwert der Kunst kann man, wie dies Boris Groys tut, die Kostbarkeit der Kunst erklären; den Umstand also, dass ein Werk (so wie ein Wort im Sprachsystem) in das System, welches „Kunst" genannt wird, integriert wird. Sobald ein Werk einmal zum Bestandteil des Systems geworden ist, stellt sich nicht mehr die Frage nach der Hierarchie zwischen den Werken, sondern ihrer Äquivalenz; alle sind, wie Danto sagen würde, völlig gleicherweise Kunst. Die Gesamtheit der Menschen, die ein solches System annehmen (oder eines seiner Subsysteme oder selbstständigen Systeme), bildet 15 Arthur C. Danto, "The End of Art", in: Berel Lang (Red.), The Death of Art (New York, Haven Publications 1984), S. 34-35. eine individuelle Welt der Kunst. (4) Man kann aber auch - und das ist wahrscheinlich die Schlüsseldefinition des Zweckes der Kunst im Modernismus - erklären, dass ein Werk, wenn es wirklich künstlerisch ist, eine Wahrheit enthüllt oder schafft. So wird das Wesen des Kunstwerks sowohl von Adorno und Heidegger als auch von Viktor Šklovski oder Alain Badiou gesehen, wobei Letzterer die Wahrheit etwas anders sieht als eine einfache traditionelle Korrespondenz, und zwar sieht er sie - dies gilt in unterschiedlichem Masse auch für die anderen oben Erwählten - als althusserianische Produktion der Erkenntnis, nicht aber als Harmonie zwischen Denken und Sache.16 Vielleicht ist es symptomatisch - vielleicht aber auch nur Zufall -, dass sich Badiou gerade auf Mallarmé beruft, der zweifellos ein exemplarischer modernistischer Dichter war. Ein weiteres Beispiel des französischen Modernismus? (5) Zu guter Letzt ist auch jene ästhetische Theorie zu erwähnen, die vom Wohlbehagen ausgeht. Wie Aristoteles in der Poetik sagt, ahmen wir Menschen gerne nach, und wie Ernst Gombrich hinzufügt, finden wir Genuss in der Erkenntnis. Diese zwei Verfahren sind nicht zuletzt die Grundlage sowohl des repräsentativen Schöpfens wie auch des Erfassens bzw. Schauens, Beobachtens. 143 2 Eine allgemeine akzeptierte These - die auch im Ausgangspunkt der diesmaligen Konferenz steht - ist, dass die Postmoderne die Zersetzung der Form bedeute. Meiner Meinung nach ist bereits aus den aufgezählten Beispielen -Transavantgarde, Neoklassizismus, Figurativität und Rückkehr zum Traditionalismus in der Kunst - ersichtlich, dass ein erheblicher Teil des Postmodernismus im Grunde nicht die Zersetzung der Form befürwortete und darstellte, sondern deren Rückkehr und Stärkung bedeutete. Wenn dem nicht so wäre, könnte Jencks nicht vom neuen Klassizismus sprechen - von der Kunst, die die Bedeutung der Form ganz besonders hervorgehoben hat. Die Tendenz der avantgardistischen Kunst des 20. Jahrhunderts war, den Rahmen zu zerstören, den gerade der Formalismus in der Kunst darstellte, und die Kunst mit der Gesellschaft und der menschlichen Realität zu verbinden - sei es der Futurismus, der Dadaismus oder der Surrealismus. Diese Geste und dieser Wunsch bedeuten zweifellos eine Verneinung der Form und ihre Beseitigung oder zumindest eine Verringerung ihrer Bedeutung, natürlich aber nur innerhalb des Rahmens, den der Formalismus in der bildenden Kunst setzt. Wenn 16 Vgl. Alain Badiou, L'être et l'événement (Paris, Seuil 1988). 144 man also behauptet, dass die Postmoderne eine Verneinung und Zersetzung der Form des Formalismus in der bildenden Kunst darstellt, dann ist eine solche Behauptung natürlich zutreffend. Diese Gattung der bildenden Kunst ist allerdings Bestandteil einer viel breiteren, verzweigteren und zahlreicheren Menge von Werken, die als Modernismus bezeichnet wird. Hierbei handelt es sich um Kunst, die in Amerika und darüber hinaus von Clement Greenberg und Michael Fried vertreten wurde. Greenbergs Begriff der Flächenhaftigkeit und Frieds Betonung der Gegenständlichkeit und Form - seine Auseinandersetzung mit dem, was er im Essay „Art and Objecthood" (1967) als Literalismus der bildenden Kunst bezeichnete - vermitteln den Eindruck, dass dies die einzige Geschichte der Moderne der bildenden Kunst sei. Doch wie insbesondere Rosalind Krauss in ihrem Werk The Optical Unconscious zeigte,17 gibt es in dieser Moderne des 20. Jahrhunderts noch eine andere Richtung, die vor allem vom Surrealismus verkörpert wird, jedoch schon bei Adorno und später bei den Befürwortern der anerkannten Moderne der bildenden Kunst Gegenstand der Kritik war, bei Greenberg zum Beispiel, der die Form als Schlüsselkriterium der Kunst hervorhob. Es ist nicht meine Absicht, mich auf eine Beurteilung des Primats oder der Grössenordnung der einen und der anderen Strömung der Moderne bezüglich ihrer Bedeutung einzulassen; für diese Diskussion über die Postmoderne genügt die Bemerkung von Michael Fried in der Einleitung seiner Essaysammlung zur Kritik der bildenden Kunst aus dem Jahre 1998. In diesem Werk stellt Fried fest: „I remember feeling as early as the late 1960s, and with increasing force during the 1970s and after, that what might be called evaluative art criticism no longer mattered as it previously had. (...) [W]ith the ever growing eclipse of high modernism in the later 1960s and 1970s (and after) the role of criticism became transformed - into cultural commentary, 'oppositional' position taking, exercises in recycled French theory, and so on."18 Oder wie Fried an anderer Stelle in demselben Werk unter Anführung von Hal Foster sagt: „'Quality,' (...) exposed as an imposition of a set of norms, is displaced as a criterion by 'interest,' and art is henceforth seen to develop less by formal historicist refinement (as in 'pursue the pure, extract the extraneous') than by structural historical negation (as in 'how can I as an artist expand the aesthetic and ideological limits of the artistic paradigm that I have received?')"19 17 Rosalind Krauss, The Optical Unconscious (Cambridge, Mass., MIT Press 1994). 18 Michael Fried, Art and Objecthood. Essays and Reviews (Chicago, The University of Chicago Press 1998), S. 15. 19 Ibidem, S. 43. Diese Wende bzw. dieser Übergang von der Qualität (oder Schönheit) zur Interessantheit ist etwas, was bereits in den sechziger Jahren auch von Henri Lefebvre diagnostiziert und wie bei Fried kritisiert wurde.20 Beide vertraten einen modernistischen Standpunkt und beiden schien es unzulässig, dass die Kunst ihrer Zeit durch eine banalisierte und trivialisierte Form von Kunst ersetzt wird, wie sie später mit Begeisterung von Charles Jencks befürwortet wurde. Natürlich aber stellte die von Jencks vertretene Kunstgattung nur einen Aspekt der Postmoderne dar. Diese Kunst, die mit der Öffentlichkeit kommunizieren sollte - die kommerzielle und populäre Massenkultur oder einfach kurz: Massenkultur -, wurde allmählich durch eine andere ergänzt, die ihren Ausgangspunkt in Duchamps Ready-mades hatte und bald unter dem Namen „Konzeptualismus" aufzutreten begann. Nach Greenbergs Überzeugung in seinem Essay „Counter Avant-Garde" (1971) stellt Duchamp die Quelle dessen dar, was Greenberg in diesem Essay „Avantgardismus" nennt. Mit dem Avantgardismus, sagt Greenberg, wurde das Schockierende, Beunruhigende, Mystifizierende und Verblüffende als Ziel an sich proklamiert und nicht mehr nur als anfängliche Nebenwirkung des Neuen bedauert, das sich durch Domestikation abnutzen wird. Meine These, die ich hier nicht eigens darlegen kann,21 ist, dass Duchamps Tradition parallel zu beiden modernistischen - der formalistischen und dem Literalismus - entstanden ist, um Frieds Kategorien zu verwenden (z. B. Frank Stell und Man Ray, zwei Künstler, von denen jeder einer dieser Traditionen angehört), sie aber erst ab den sechziger Jahren oder sogar erst am Anfang der siebziger Jahre in ihrer ganzen Potenz an den Tag zu treten begann. Doch bei dieser Kunst und ihren Werken wird oft vergessen, dass ihr Ziel letztlich nicht ein sehr viel anderes ist, als jenes, das ein traditionelles Kunstwerk anstrebt. In der Tat sind diese Werke - Ready-mades zum Beispiel - aufgefundene Gegenstände (ein Urinal zum Beispiel), die anschliessend in einen Galerieraum gestellt werden, doch zeigt dies nur Duchamps originäre Geste, die in der Destruierung des Galerieraums und der Institution bestand. Gerade die Tatsache, dass seine „Fountain" letztendlich als Kunstwerk anerkannt wurde, beweist, dass Duchamps Versuch (obwohl heute die Meinung überwiegt, dass er weitsichtig und „erfolgreich" gewesen sei) im Grunde fehlgeschlagen ist, da seine Geste, anstatt eine Zersetzung der Kunst als Institution zu verur- 20 Vgl. Henri Lefebvre, Introduction à la modernité (Paris, Minuit 1962). 21 Hierzu siehe Ales Erjavec, Ljubezen na zadnjipogled. Avantgarda, estetika in konec umetnosti (Ljubljana, zrc sazu 2004). 145 sachen (oder zumindest dazu beizutragen), im Gegenteil zu deren Ausweitung auf bisher unbekannte und unerschlossene Territorien führte. Die „Fontäne" wies nicht auf die Willkürlichkeit der Kunst hin, sondern darauf, dass ein strukturiertes System besteht, das wir als Kunst betrachten - was natürlich nur eine Variante der institutionellen Kunsttheorie ist, die ebenso wenig auf einem ontologischen oder existenzialen Fundament gründet. Dass Duchamp die „Fontäne" mit „Mr. Mutt" signierte, kann man mit einem Lächeln hinnehmen, nicht aber die Tatsache, dass sich Duchamp verpflichtet fühlte, dem Urinal den etwas poetischen Namen „Fontäne" zu geben. Diese Tatsache zeigt nämlich, dass er offensichtlich auch selbst meinte, dass dieser banale Gegenstand öffentlicher Toiletten einen symbolischen Gehalt und ein Mehr an Semantik enthalten müsse, dass also die einfache Äquivalenz a = a, Urinal = Urinal eben nicht ausreiche. Anders ausgedrückt: Auch Duchamp konnte nicht umhin, dem Gegenstand, den er zu einem Kunstwerk bestimmte, zusätzlichen Bedeutungsgehalt hinzuzufügen, der das Werk aus 14ö dem materiellen und alltäglichen Universum in ein symbolisches und poe-tisiertes Universum versetzte. Das Gleiche gilt für seine anderen Werke mit Titeln wie z. B. „In Advance of the Broken Arm" mit seiner unmissverständlich ironischen Bedeutung. Duchamps Überzeugung, sogar den Ready-mades poetische Titel verleihen zu müssen, weist auf das tiefere Wesen der konzeptuellen Kunst hin, das nicht - wie allgemein angenommen wird - darin liegt, dass es um die Idee geht, während die anschliessende Ausführung selbst nicht von Bedeutung ist, sondern darin, dass es sich bei diesen Werken um die Enthüllung der Tatsache handelt, dass auch diese Gegenstände, Handlungen und Prozesse etwas sind, was unsere Aufmerksamkeit verdient, und zwar in ähnlichem Masse wie existenziell und existenzial offensichtlichere Ereignisse und Sachen.22 Wenn dies zutrifft, kann ein grosser Teil der konzeptuellen Kunst auch als etwas angesehen werden, was die Gegenständlichkeit, Materialität, Strukturiertheit der Realität offenbart, und nicht nur als eine Menge von willkürlich ausgewählten Gegenständen.23 Vielleicht liegt der Grund, warum die Postmoderne Gegenstand von so viel 22 Vielleicht ist allein schon die Tatsache symptomatisch, dass der Ausgangspunkt eines der ausschlaggebenden frühen und nun bereits klassischen konzeptuellen Künstler, Joseph Kosuth (z. B. in seinem bekannten Werk "One and Three Chairs", 1965), die Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins ist, die sich ebenfalls an der Grenze zweier philosophischer und weltanschaulicher Welten bewegt. 23 Ein wesentlicher Teil des Verdienstes für die Vielzahl solcher Werke und ihre häufige Bedeutungslosigkeit ist auch in der enormen Tätigkeit und Macht der staatlichen Kunstinstitutionen zu suchen, unter denen die europäischen stark führend sind. Kritik ist, darin, dass sie nicht nur eine Zersetzung der Werte des Modernismus bedeutet, sondern zugleich auch eine Zersetzung und Verringerung der Bedeutung der Kunst als einer der zentralen Werte der Neuzeit? „Künstlerisch" setzten wir ja häufig mit „Form" gleich. Bereits Fredric Jameson stellte fest, dass nach Hegels Ankündigung, dass die geschichtliche Rolle der Kunst noch im Laufe seiner Lebenszeit, also zu Beginn des 19. Jahrhunderts, ein Ende finden werde, zu einem unvorhergesehenen Aufstieg und neuen Höhepunkt der Kunst in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gekommen ist, die wir „Moderne" nennen. Gerade im Vergleich mit der Moderne stellt die Postmoderne eine Verwässerung und Verringerung der Rolle, der Bedeutung und der Mission der Kunst, des Künstlers und des Kunstwerks dar. Überraschend ist hierbei vielleicht, dass diese Einschätzung nicht uniform für die ganze Welt gilt. In Lateinamerika, in Teilen Asiens (insbesondere im Südosten und in Indien) und sogar in den USA spielt die Kunst zweifellos sowohl intim als auch in der breiteren Öffentlichkeit noch immer eine bedeutende Rolle, die auf jeden Fall die Rolle der Kunst in Europa übersteigt. Ich spreche natürlich von der Rolle der zeitgenössischen Kunst und nicht von derjenigen, die wir aus der Vergangenheit geerbt haben und deren Bedeutung sich nicht sonderlich verringert hat, vielleicht eher umgekehrt. In Asien ist die Relevanz der Kunst auch mit ihrem unlängst begonnenen Prozess der neuerlichen Bewertung ihrer eigenen Tradition und mit der Margi-nalisierung des in der kolonialen und frühen postkolonialen Ära aufgestellten Kunstkanons verbunden. So kommt es zu lokalen Kunstgeschichten und zur gleichzeitigen „Provinzialisierung Europas",24 welche wohl Mitte des vergangenen Jahrhunderts ihren Anfang nahm. Ungeachtet dessen ist es zutreffend, dass das Konzept der Kunstgeschichte, so wie das Konzept der Philosophie, in erster Linie europäische Konzepte bleiben - und zwar trotz einiger Versuche der Kritik auch an diesen Konzepten, einschliesslich am Begriff der Ästhetik. Bei der zeitgenössischen Kunst ist es geradezu erstaunlich, wie sich die exis-tenziale Erfahrung aus dem Bereich der Kunst - von der sowohl Heidegger, Merleau-Ponty und Adorno als auch Nicolai Hartmann und Lukacs sowie Ernst Bloch sprechen - in die Sphären des Privatlebens übertragen hat, die so wie bei Agamben keine öffentliche Legitimierung und keinen Ort für eine öffentliche Präsenz finden, obwohl sie ihre eigenen Zeitkontinua herstellen. Meiner Meinung nach ist die heutige Kunst - man kann sie als Postmoderne bezeichnen - also nicht wesentlich anders als die jüngst vergangene; zutreffend 24 Vgl. Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference (Princeton, Princeton University Press 2000). 147 ist aber auch, dass ihre gesellschaftliche Stellung aus einer Reihe von bekannten Gründen an Bedeutung verloren hat und ihre existenziale Funktion geringer ist als vor einigen Jahrzehnten. Hierbei darf man nicht vergessen, dass die Massenkultur damals wie heute existierte und dass sie ihren grössten Kritiker damals - und nicht heute - in Adorno fand; und dass die simple Tatsache, dass wir hierüber heute nicht mehr diskutieren, nicht bedeutet, dass es von alledem vor Jahrzehnten weniger gab. Natürlich hatte der Übergang zur Postmoderne ausserordentliche Folgen insbesondere für die bildende Kunst - diese zeigen sich nicht nur im Verschwinden der Form auf Kosten einer Amorphität und Formlosigkeit der Kunstwerke, sondern auch im Übergang von der bildenden Kunst zur visuellen Kunst sowie im bisher relativ erfolglosen Versuch, die Kunstgeschichte auf der einen Seite sowie die Theorie der visuellen Kultur und Kulturstudien auf der anderen Seite miteinander zu vernetzen. Es ist so, als lebte die Kunst in unserer Vorstellung weiterhin in der Gestalt, die Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik vorstellte, während ihr tatsächliches 148 Leben bereits ganz woanders ist. Doch muss bei dieser Diskussion über die Postmoderne unbedingt zweierlei erwähnt werden. Zuerst einmal ist zu unterstreichen, dass die Postmoderne, über die ich soeben gesprochen habe, insbesondere die frühe Postmoderne ist, also jene der späten siebziger und der achtziger Jahre. Heute ist alles viel komplizierter, insbesondere wegen der Globalisierung und Glokalisierung. Zur Biennale in Venedig gesellen sich heute Biennalen in Johannesburg, Istanbul und sogar Tirana, geplant ist eine weitere in Neu-Delhi. Kunst und Kultur werden, wenn auch über lokale Künste - vor einem Jahrzehnt war es die russische, heute ist es die chinesische Kunst, dezentralisiert und globalisiert. Als Zweites ist hervorzuheben, dass der Begriff „Postmoderne" im Zentrum etwas anders bedeutet als in der Peripherie. Im Modernismus war z. B. Frankreich ein solches Zentrum und Slowenien eine solche Peripherie. So haben wir Slowenen unsere eigenen „Impressionisten" zu Beginn des 20. Jahrhunderts und nicht in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts bekommen. Unser romantischer Dichter France Prešeren lebte und dichtete nicht Ende des 18. oder zu Beginn des 19. Jahrhunderts, sondern wurde erst im Jahre 1800 geboren und starb 1849. Das Gleiche war in vielen anderen Ländern des Balkans, Osteuropas und der ganzen Welt der Fall: So trifft man den Futurismus im Jahre 1919 - bereits zur Zeit des so genannten „zweiten Futurismus" - nicht nur in Italien und Russland, sondern auch in der Ukraine und in Japan an. Den Kubismus finden wir nicht nur in Paris, sondern auch in Slowenien (z. B. bei Milan Butina) oder in Uruguay (in den Werken von Carlos Paez Vilaro) -, in den zwei letztgenannten Fällen allerdings nicht im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, sondern erst in den fünfziger Jahren. Was sich mit dem postmodernistischen Eklektizismus radikal verändert, ist, dass die Methode der Aneignung, die diese Rand- oder Kleinkulturen (wo Herders Auffassung der Kultur auch heute noch lebendig ist) durch die Jahrzehnte und Jahrhunderte spontan anwendeten, mit der Postmoderne zu einer legitimen kreativen Methode geworden ist. Mehr sogar, die Hybridisierung und der Eklektizismus sind zu einem Vorteil geworden und haben es zugleich - insbesondere in den ehemaligen sozialistischen Ländern in den achtziger Jahren - ermöglicht, die Steifheit des abstrakt aufgefassten westlichen Modernismus und die Begrenzungen der dortigen offiziellen Kunst zu überwinden. Die Postmoderne stellte mancherorts zwar einen „Eklektizismus der Verzweiflung" dar, wie Luis Camnitzer es im Zusammenhang mit der lateinamerikanischen Kunst der achtziger Jahre bezeichnete, doch war sie deshalb keineswegs weniger produktiv, kreativ und im In- und Ausland beachtet. Deshalb muss man, wenn man von der Postmoderne spricht, auch diejenigen Formen und Varianten der Postmoderne berücksichtigen, die ausserhalb der etablierten internationalen Zentren entstehen - was nicht zuletzt heute mit der chinesischen Kunst geschieht. Gerade die Postmoderne hat gezeigt, dass die Vorherrschaft der Partikula-rität, von der Wolfgang Welsch 1988 sprach, nicht nur für Europa, sondern für die globale Welt charakteristisch ist - und dass Europa eben nur eine dieser Partikularitäten ist, und zwar auch dann, wenn es sich um Kunst und Kultur handelt. Vielleicht muss hinzugefügt werden, dass, obwohl Europa und die USA einen Untergang des Modernismus im Sinne des Formalismus in der bildenden Kunst erlebte, dies nicht bedeutet, dass seine Einflüsse in der Welt nicht weiterleben, natürlich nicht in reiner Form, sondern als Teilmenge von Einflüssen und Elementen, die zusammengenommen die entstehenden lokalen Traditionen darstellen. Es stimmt allerdings, dass die Kunst der Moderne greenbergschen Typs auch in diesen Ländern wenig präsent ist, nicht zuletzt deshalb, weil sie in diesen lokalen Gegebenheiten - die in den letzten Jahrhunderten kulturell zuerst von den Kulturen der kolonisierenden Länder und heute von der globalisierten Kultur und Kunst abhängig waren - nie richtig auflebte. So macht die indische Künstlerin Pushpamala N ihre fotografischen Selbstporträts in fiktiven kolonialen Rollen, die einerseits stark an ähnliche Werke von Cindy Sherman erinnern und andererseits ausgesprochen indisch 149 sind. Ähnlich führt Tania Bruguera aus Havanna Performances auf, die stark an die von Marina Abramovic (die auch heute noch aufgeführt werden) erinnern, zugleich aber in Bezug auf ihr Milieu ausgesprochen karibisch sind. Auf ähnliche Weise wollten brasilianische Künstler Mitte des vergangenen Jahrhunderts europäisch und zeitgemäss sein, als sie den europäischen und amerikanischen Minimalismus nachahmten. Da sie ihn aber falsch verstanden und schlecht nachahmten, wurden ihre Werke weltweit als sehr originäre Variante des Minimalismus erkannt und stellen heute den brasilianischen Beitrag zu dieser Kunstrichtung dar. Vielleicht ist dies keine Postmoderne, wohl aber ein postmodern eklektisches Verfahren. Der Eklektizismus in diesen Kulturen und ähnlichen Ländern ist also nichts Neues, sondern eine etablierte Praxis der Vergangenheit und Gegenwart, was unsere heutigen - europäischen - Diskussionen über die Postmoderne etwas relativiert. 150