UDK 821.112.2(436).09:929 Roth J. "EINMAL IN DER WOCHE, AM SONNTAG, WAR ÖSTERREICH."1 Joseph Roth (1894 - 1939), österreichischer Dichter und Journalist Mira Miladinovic Zalaznik Meine zwangsläufig fragmentarischen Ausführungen zum dichterischen und journalistischen Schaffen Joseph Roths habe ich mit dem wunderschönen Satz betitelt: "Einmal in der Woche, am Sonntag, war Österreich,"2 Dies sind die Worte, die wir gegen den Schluß von Radetzkymarsch, einem der großartigsten Romane von Joseph Roth, dem österreichischen Dichter des Habsburgischen Mythos, lesen. In dem Augenblick, als er sie festlegte, stimmten sie auch, ungeachtet der Tatsache, daß bei Joseph Roth die Phantasie und Wirklichkeit oft nahtlos ineinander übergehen. Die sechseinhalb Emigrationsjahre Joseph Roths, die er überwiegend in Paris verbrachte, waren zugleich die letzten vor seinem Tode. Da kam es ihm öfter vor, als bestünde sein Leben aus Katastrophen, aus vergangenen und noch bevorstehenden. Die Welt schrumpfte zusammen, so viele von ihm bereiste und bewohnte Orte und Städte erschienen ihm, da sie ihm nicht mehr zugänglich waren, wie ausgelöscht. In dieser Untergangsstimmung, die ihn ständig zum Genuß großer Mengen Kognak und Pernod zwang, erzählte er betrübt einer ihm nahestehenden Freundin von dem Einstürmen russischer Truppen in sein heimatliches Galizien beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges und der Vernichtung ihm bekannter Ortschaften. Dieses Ge|präch beschloß er folgendermaßen: 'Alles was ich betrete, geht unter.' In einer Denkschrift, die Joseph Roth im Jahre 1930 seinem Verleger Gustav Kiepenheuer widmete, berichtet er, dem es wohl mehr an einer hübschen Fabel und ihrem Wohlklang als an der strikten Wahrheit gelegen war, von sich selbst: 'Nirgends, in keinem Kinderbuch und in keinem Gemeindekataster wurde der Tag meiner Geburt eingetragen, mein Name vermerkt... Geboren bin ich in einem winzigen Nest [...], am zweiten September 1894, im Zeichen der Jungfrau, zu der mein Vorname Joseph 1 Joseph Roth: Radetzkymarsch. Kiepenheuer und Witsch. Köln, Berlin 1971. S. 344. 2 Ebenda. 3 David Bronsen: Joseph Roth. Eine Biographie. Kiepenheuer und Witsch. Köln, 1974, S.29. 17 irgendeine vage Beziehung unterhält. Meine Mutter war eine Jüdin von kräftiger, erdnaher, slawischer Struktur, sie sang oft ukrainische Lieder, denn sie war sehr unglücklich (und die Armen sind es, die bei uns zu Hause singen, nicht die Glücklichen, wie in westlichen Ländern. Deshalb sind die östlichen Lieder schöner und wer ein Herz hat und sie hört, ist nahe dem Weinen). Sie hatte kein Geld und keinen Mann. Denn mein Vater, der sie eines Tages nach dem Westen nahm, wahrscheinlich nur, um mich zu zeugen, ließ sie in Kattowitz allein und verschwand auf Nimmerwiedersehen.' Dieser Vater war für Joseph Roth eine unerschöpfliche Quelle immer neuer Erfindungen. Von ihm berichtet er an derselben Stelle, an der von der angeblich in Kattowitz verlassenen Mutter die Rede ist: 'er muß ein merkwürdiger Mensch gewesen sein, ein Österreicher vom Schlag der Schlawiner , er verschwendete viel, trank wahrscheinlich und starb, als ich sechzehn Jahre alt war, im Wahnsinn. Seine Spezialität war die Melancholie, die ich von ihm geerbt habe. Ich habe ihn nie gesehen. Doch erinnere ich mich, daß ich als Knabe von vier, fünf Jahren einmal von einem Mann geträumt habe, der meinen Vater darstellte. Zehn oder zwölf Jahre später sah ich zum erstenmal eine Photographie meines Vaters. Ich kannte sie bereits. Es war der Herr aus meinem Traum.' Joseph Roth war ein begnadeter, liebenswürdiger Fabulierer, der allein über die Identität seines Vaters dreizehn verschiedene Versionen in Umlauf gebracht hatte. Auch seinen eigenen Geburtsort nannte er zu verschiedenen Zeiten recht unterschiedlich. Aber auch seine Freunde, wenn sie von ihm sprachen, ergingen sich in widersprüchlisten Äußerungen über ihn: 'Roth war schwermütig'; 'Er war leichtlebig'; 'Er liebte das Militär'; 'Er haßte das Militär'; 'Er war Leutnant in der k.u.k. Armee'; 'Er hatte den Rang eines Einjährig-Freiwilligen'; 'Er war ein Sozialist'; 'Er war ein Monarchist'; 'Er war Glaubensjude'; 'Er war ein eifriger Katholik'; 'Er war vereinsamt^ 'Er war der geselligste Mensch, den man sich vorstellen kann'. Joseph Roth starb am 27. 5. 1939 in einem Armenkrankenhaus von Paris, noch nicht ganz fünfundvierzigjährig. Die letzten Monate, die er mit Verfassen von Exilgesuchen für seine Mitmenschen, die des Französischen unkundig und der Beamten ungewohnt waren, zubrachte, lebte er praktisch nur mehr von gekochten Eiern und Alkohol8. An seinem Begräbnis nahmen unter anderem Monarchisten 4 Ebenda, S. 30-31. 5 pfiffiger, durchtriebener Kerl [< Slowene, nach den slowenischen Hausierern, die als sehr geschäftstüchtig galten.] 6 Ebenda, S. 33 - 34. 7 Ebenda, S. 12-13. 18 und Kommunisten, Katholiken und Juden, Vertreter der Liga für das Geistige Österreich, ein Gesandter Otto von Habsburgs, des Sohnes des letzten österreichischen Kaisers, drei Freundinnen Roths, die schöne Mulattin Andrea Manga Bell, die Schauspielerin Sybil Rares und die Litauerin Sonja Rosenblum, amtierende Geistliche und eine Schar Ostjuden aus Roths Galizien teil. Anläßlich der am 5. Juni 1939 in Paris abgehaltenen Trauerfeier des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller wurde im Namen der Liga für das Geistige Österreich eine von Franz Werfel und E.A. Reinhardt unterzeichnete abschiednehmende Anerkennung Joseph Roths verlesen: 'Als wir im Herbst 1938 die Gründung der Liga für das Geistige Österreich vorbereiteten, war JOSEPH ROTH vom ersten Augenblick mit Rat und Tat bei uns. Er hat unseren ersten Aufruf unterzeichnet, hat mit uns für unsere Sache geworben und, wann immer es nötig war, seine ganze Kraft in ihren Dienst gestellt. Denn unsere österreichische Sache war seiner Natur und Geistesart nach die seine... Noch ist der Verlust zu nahe, als daß wir ruhig beurteilen könnten, wieviel das österreichische Schaffen durch seinen Tod verloren hat. Noch tut der Blick auf sein mächtiges Werk zu weh, als daß wir umreißen dürften, wie sehr er an dem Weiterbau unserer österreichischen Kultur mitgeschaffen hat. Wir alle, die noch zu tief bewegt heute seiner gedenken, der uns 45-jährig hinweggestorben ist, wissen, daß er in uns weiterleben wird, als eines der schönsten Geschenke, die der Genius einer Nation seiner Epoche machen kann... Joseph Roth ist als guter Österreicher gestorben, zerbrochen vom Schicksal der Heimat. Und als den treuen Österreicher grüßen wir ihn jetzt, als den guten Kameraden und Kampfgenossen, der in unserem Herzen immer weiterleben wird.'9 Fast am Schluß seines Romans Radetzkymarsch (1932) schreibt Joseph Roth folgende Sätze: Das war das Ende des Leutnants Carl Joseph Freiherrn von Trotta. So einfach und zur Behandlung in Lesebüchern für die kaiser- und königlichen österreichischen Volks- und Bürgerschulen ungeeignet war das Ende des Enkels des Helden von Solferino. Der Leutnant Trotta starb nicht mit der Waffe, sondern mit zwei Wassereimern in der Hand. In der Tat, das Ende des Enkels des legendären Helden von Solferino (die Schlacht fand 1859 statt), eines Leutnants der Infanterie, dem es beschieden war, 8 Während eines am 18.02.2000 im Umkreis der Mitarbeiter der Zeitschrift Nova revija stattgefundenen Gespräches mit Otto von Habsburg sagte dieser mir gegenüber, er hätte es Joseph Roth auf Anraten seines Arztes "befohlen", das Trinken zu unterlassen. Joseph Roth habe es ihm auch versprochen, aber es sei bereits zu spät gewesen. 9 Ebenda, S. 606. 10 Joseph Roth: Radetzkymarsch. A.a.O., S. 368. 19 dem damals jungen Kaiser Franz Joseph das Leben zu retten, war völlig unheldenhaft, ja geradezu prosaisch. Eigentlich ganz so wie einst die kaiserliche Rettung durch den slowenischen Leutnant selbst: Der Feind machte eine Pause... Da erschien zwischen dem Leutnant und den Rücken der Soldaten der Kaiser mit zwei Offizieren des Generalstabs. Er wollte gerade einen Feldstecher, den ihm einer der Begleiter reichte, an die Augen führen. Trotta wußte, was das bedeutete: selbst wenn man annahm, daß der Feind auf dem Rückzug begriffen war, so stand seine Nachhut gewiß gegen die Österreicher gewendet, und wer einen Feldstecher hob, gab ihr zu erkennen, daß er ein Ziel sei, würdig, getroffen zu werden. Und es war der junge Kaiser. Trotta fühlte sein Herz im Halse. Die Angst vor der unausdenkbaren, der grenzenlosen Katastrophe, die ihn selbst, das Regiment, die Armee, den Staat, die ganze Welt vernichten würde, jagte glühende Fröste durch seinen Körper. Seine Knie zitterten. Und der ewige Groll des subalternen Frontoffiziers gegen die hohen Herren des Generalstabs, die keine Ahnung von der bitteren Praxis hatten, diktierte dem Leutnant jene Handlung, die seinen Namen unauslöschlich in die Geschichte seines Regiments einprägte. Er griff mit beiden Händen nach den Schultern des Monarchen, um ihn niederzudrücken. Der Leutnant hatte wohl zu stark angefaßt. Der Kaiser fiel sofort um. Die Begleiter stürzten sich auf den Fallenden. Die Rettung verlief, wie es sich denken läßt, nicht unblutig: In diesem Augenblick durchbohrte ein Schuß die linke Schulter des Leutnants, jener Schuß eben, der dem Herzen des Kaisers gegolten hatte. Während er sich erhob, sank der Leutnant nieder... Das linke Schlüsselbein Trottas war zerschmettert. Das Geschoß, unmittelbar unter dem linken Schulterblatt steckengeblieben, entfernte man in Anwesenheit des Allerhöchstwürdigen Kriegsherrn und unter dem unmenschlichen Gebrüll des Verwundeten, den der Schmerz aus der Ohnmacht geweckt hatte.12 Die Genesung des Leutnants Trotta dauerte vier Wochen lang: Als er in seine südungarische Garnison zurückkehrte, besaß er den Rang eines Hauptmanns, die höchste aller Auszeichnungen: den Maria-Theresia-Orden und den Adel. Er hieß von nun ab: Hauptmann Joseph Trotta von Sipolje. Dadurch war der Hauptmann Trotta auch seinem alten militärinvaliden Vater, (dieser hatte ein Auge im Kampf mit bosnischen Grenzschmugglern 11 Ebenda, S. 9- 10. 12 Ebenda, S. 10-11. 13 Ebenda, S. 11. 20 verloren), der sein Dasein als Parkwärter des Schlosses Laxenburg fristete, ferngerückt. Besonders augenscheinlich wurde das dem jungen Trotta anläßlich seines Besuches beim Vater, dem ersten und gleichzeitig letzten nach seinem rapiden Aufstieg in der Armee: 'Ich gratulier dir!' sagte der Vater mit gewöhnlicher Stimme, im harten Deutsch der Armee-Slawen. Er ließ die Konsonanten wie Gewitter hervorbrechen und beschwerte die Endsilben mit kleinen Gewichten. Vor fünf Jahren noch hatte er zu seinem Sohn slowenisch gesprochen, obwohl der Junge nur ein paar Worte verstand und nicht ein einziges selbst hervorbrachte. Heute aber mochte dem Alten der Gebrauch seiner Muttersprache von dem so weit durch die Gnade des Schicksals und des Kaisers entrückten Sohn als eine gewagte Zutraulichkeit erscheinen, während der Hauptmann auf die Lippen des Vaters achtete, um den ersten slowenischen Laut zu begrüßen, wie etwas vertraut Fernes und verloren Heimisches. 'Gratuliere, gratuliere!' wiederholte der Wachtmeister donnernd. 'Zu meiner Zeit ist es nie so schnell gegangen! Zu meiner Zeit hat uns noch der Radetzky gezwiebelt!'... 'Haben Sie noch Rakija, Herr Vater?' fragte er, um den letzten Rest der familiären Gemeinsamkeit zu bestätigen... Der junge Trotta machte die bittere Erfahrung, losgelöst [zu sein] ... von dem langen Zug seiner bäuerlichen slawischen Vorfahren. Ein neues Geschlecht brach mit ihm an. Die runden Jahre rollten nacheinander ab wie gleichmäßige, friedliche Räder. Standesgemäß heiratete Trotta die nicht mehr ganz junge, begüterte Nichte seines Obersten, Tochter eines Bezirkshauptmanns im westlichen Böhmen, zeugte einen Knaben, genoß das Gleichmaß seiner gesunden militärischen Existenz in der kleinen Garnison, ritt jeden Morgen zum Exerzierplatz, spielte nachmittags Schach mit dem Notar im Kaffeehaus, wurde heimisch in seinem Rang, seinem Stand, seiner Würde und seinem Ruhm. Er besaß eine durchschnittliche militärische Begabung, von der er jedes Jahr bei den Manövern durchschnittliche Proben ablegte, war ein guter Gatte, mißtrauisch gegen Frauen, den Spielen fern, mürrisch, aber gerecht im Dienst, grimmiger Feind jeder Lüge, unmännlichen Gebarens, feiger Geborgenheit, geschwätzigen Lobes und ehrgeiziger Süchte. Er war so einfach und untadelig wie seine Konduitenliste, und nur der Zorn, der ihn manchmal ergriff, hätte einen Kenner der Menschen ahnen lassen, daß auch in der Seele des Hauptmanns Trotta die nächtlichen Abgründe dämmerten, in denen die Stürme schlafen und die unbekannten Stimmen namenloser Ahnen. 14 Ebenda, S. 14. 15 Ebenda, S. 15. 21 Sein junger Sohn nahm aber bereits Unterricht: Er las keine Bücher, der Hauptmann Trotta, und bemitleidete im stillen seinen heranwachsenden Sohn, der anfangen mußte, mit Griffel, Tafel und Schwamm, Papier, Lineal und Einmaleins zu hantieren, und auf den die unvermeidlichen Lesebücher bereits warteten. Noch war der Hauptmann überzeugt, daß auch sein Sohn Soldat werden müsse. Es fiel ihm nicht ein, daß - von nun bis zum Erlöschen des Geschlechts -ein Trotta einen anderen Beruf würde ausüben können. Wenn er zwei, drei, vier Söhne gehabt hätte - aber seine Frau war schwächlich, brauchte Arzt und Kuren, und Schwangerschaft brachte sie in Gefahr -, alle wären sie Soldaten geworden. So dachte damals noch der Hauptmann Trotta. Das Schicksal hatte ihn, den Slowenen, "zw einer besonderen Tat... ausersehen. Er aber sorgte dafür, daß ihn die späteren Zeiten aus dem Gedächtnis verloren. "" Denn die spontane Reaktion eines einfachen Soldaten bei der Schlacht von Solferino wurde für den Schulgebrauch, wie er es von seinem Sohn bzw. aus dessen Schulbuch erfahren mußte, zu einer vorsätzlichen Heldentat hochstilisiert: Er [Hauptmann Trotta] schlug das Inhaltsverzeichnis [des Lesebuchs seines Sohnes] auf und fand den Titel eines Lesestückes, das ihn selbst zu betreffen schien, denn es hieß: 'Franz Joseph der Erste in der Schlacht bei Solferino'; las und mußte sich setzen. 'In der Schlacht bei Solferino' - so begann der Abschnitt - 'geriet unser Kaiser und König Franz Joseph der Erste in große Gefahr.' - Trotta selbst kam darin vor. Aber in welcher Verwandlung! 'Der Monarch' - hieß es - 'hatte sich im Eifer des Gefechts so weit vorgewagt, daß er sich plötzlich von feindlichen Reitern umdrängt sah. In diesem Augenblick der höchsten Not sprengte ein blutjunger Leutnant auf schweißbedecktem Fuchs herbei, den Säbel schwingend. Hei! wie fielen da die Hiebe auf den Kopf und Nacken der feindlichen Reiter!' Und ferner: 'Eine Lanze durchbohrte die Brust des jungen Helden, aber die Mehrzahl der Feinde war bereits erschlagen. Den blanken Degen in der Hand, konnte sich der junge, unerschrockene Monarch leicht der immer schwächer werdenden Angriffe erwehren. Damals geriet die ganze feindliche Reiterei in Gefangenschaft. Der junge Leutnant aber -Joseph Ritter von Trotta war sein Name - bekam die höchste Auszeichnung, die unser Vaterland seinen Heldensöhnen zu vergeben hat: den Maria-Theresia-Orden.'18 16 Ebenda. 17 Ebenda, S. 8. 18 Ebenda, S. 16. 22 Trotta beschwerte sich ob des infamen Stückes bei seiner Frau, seinem Freund Notar, seinem Oberst, jedoch ohne Erfolg. Es blieb ihm nichts anderes mehr, er mußte zu seinem Kaiser: 'Sehen Sie zu, lieber Trotta!' sagte der Kaiser. 'Die Sache ist recht unangenehm. Aber schlecht kommen wir beide dabei nicht weg! Lassen S' die Geschieht'!' 'Majestät', erwiderte der Hauptmann, 'es ist eine Lüge!' 'Es wird viel gelogen', bestätigte der Kaiser. 'Ich kann nicht, Majestät', würgte der Hauptmann hervor. Der Kaiser trat nahe an den Hauptmann. Der Monarch war kaum größer als Trotta. Sie sahen sich in die Augen. 'Meine Minister', begann Franz Joseph, 'müssen selber wissen, was sie tun. Ich muß mich auf sie verlassen. Verstehen Sie, lieber Hauptmann Trotta?' Und nach einer Weile: 'Wir wollen's besser machen. Sie sollen es sehen!' Die Audienz war zu Ende... Trotta... kehrte in die Garnison zurück und bat um seine Entlassung aus der Armee. Er wurde als Major entlassen. Er übersiedelte nach Böhmen, auf das kleine Gut seines Schwiegervaters. Die kaiserliche Gnade verließ ihn nicht. Ein paar Wochen später erhielt er die Mitteilung, daß der Kaiser geruht habe, dem Sohn seines Lebensretters für Studienzwecke aus der Privatschatulle fünftausend Gulden anzuweisen. Gleichzeitig erfolgte die Erhebung Trottas in den Freiherrnstand.19 Diese infame Lüge trieb den Hauptmann Joseph Trotta, Ritter von Sipolje, den Ritter der Wahrheit also dazu, die Armee zu verlassen. "Er wurde ein kleiner slowenischer Bauer"21, von Kaisers Gnaden Freiherr von Sipolje, trank ab und zu emen "Rakija"22 und befahl seinem Sohn, eine Beamtenlaufbahn einzuschlagen. Der Sohn wurde also Bezirkshauptmann. Auch im vorgerückten Alter dachte der Held von Solferino manchmal wohl an das slowenische Sipolje seiner Vorfahren, das viel später noch die Phantasie jenes Infanterieleutnants beschäftigen sollte, der sein Enkel war: Im äußersten Süden der Monarchie lag es, das stille, gute Dorf. Mitten in einem leicht schraffierten hellen Braun steckten die hauchdünnen winzigen schwarzen Buchstaben, aus denen sich der Name Sipolje zusammensetzte. In der Nähe waren: ein Ziehbrunnen, eine Wassermühle, der kleine Bahnhof einer eingleisigen Waldbahn, eine Kirche und eine Moschee, ein junger Laubwald, schmale Waldpfade, Feldwege und einsame Häuschen. Es ist Abend in Sipolje. Vor dem Brunnen stehen die Frauen in bunten Kopftüchern, golden 19 Ebenda, S. 19 - 20. 20 Ebenda, S. 18. 21 Ebenda, S. 21. 22 Ebenda, S. 16. 23 überschminkt vom glühenden Sonnenuntergang. Die Moslems liegen auf den alten Teppichen der Moschee im Gebet. Die winzige Lokomotive der Waldbahn klingelt durch das dichte Dunkelgrün der Tannen. Die Wassermühle klappert, der Bach murmelt. Es war das vertraute Spiel aus der Kadettenzeit. Die gewohnten Bilder kamen auf den ersten Wink. Über allen glänzte der rätselhafte Blick des Großvaters. Carl Joseph, der Enkel, fristete ein Dasein im "Schatten des Großvaters. Das war es! Man war ein Enkel des Helden von Solferino, der einzige Enkel."24 Und so etwas verpflichtete: Lebendig war das Vermächtnis des Großvaters gewesen, dem Kaiser das Leben zu retten. Und ohne Unterbrechung rettete man, wenn man ein Trotta war, dem Kaiser das Leben.25 Wenn nicht im Krieg, sodann im Frieden, wenn es sein mußte gar im Liebesetablissement der Frau Resi Horwath: In einem bronzenen, von Fliegen betupften Rahmen stand der Allerhöchste Kriegsherr, in Verkleinerung, das bekannte, allgegenwärtige Porträt Seiner Majestät, im blütenweißen Gewände, mit blutroter Schärpe und Goldenem Vlies. Es muß etwas geschehen, dachte der Leutnant schnell und kindisch. Es muß etwas geschehen! Er fühlte, daß er bleich geworden war und daß sein Herz klopfte. Er griff nach dem Rahmen, öffnete die papierene schwarze Rückwand und nahm das Bild heraus. Er faltete es zusammen, zweimal, noch einmal und steckte es in die Tasche.26 Als Enkel vergoß man anläßlich der "'staatsfeindliche[n] Umtriebe' der streikenden Arbeiter'''11 für seinen Kaiser, gleich dem eigenen Großvater, auch Blut: Man brachte den Leutnant Trotta ins kleine Garnisonsspital, stellte einen Schädelbruch und einen Bruch des linken Schlüsselbeines fest und befürchtete eine Gehirnentzündung. Ein offenbar sinnloser Zufall hatte dem Enkel von Solferino eine Verletzung am Schlüsselbein beschert. - Im übrigen hätte keiner von den Lebenden, der Kaiser vielleicht ausgenommen, wissen können, daß die Trottas ihren Aufstieg einer Schlüsselbeinverletzung des Helden von Solferino zu verdanken haben.28 23 Ebenda, S. 133. 24 Ebenda, S. 77. 25 Ebenda, S. 84. 26 Ebenda, S. 90. 27 Ebenda, S. 236. 28 Ebenda, S. 243 - 244. 24 In seinem Krieg, dem "Krieg des Enkels"29 fiel man jedoch nicht mehr für den Kaiser, sondern für seine Soldaten, während man in den Händen zwei Wassereimer hielt. Die kreisförmige Geschichte des Romans ist geschlossen: Als slowenische Leutnants sind die Trottas in die Geschichte hinein-, als slowenische Leutnants aus ihr hinausgetreten. "Sie konnten... Österreich nicht überlebend Der Auftakt zum Roman Joseph Roths Die Kapuzinergruft, der im Jahr 1938, ein Jahr vor Autors Tod, in Holland veröffentlicht wurde, mutet faktisch getreu und gleichzeitig märchenhaft an: Wir heißen Trotta. Unser Geschlecht stammt aus Sipolje, in Slowenien. Ich sage: Geschlecht; denn wir sind nicht eine Familie. Sipolje besteht nicht mehr, lange nicht mehr... Ich habe Sipolje noch gekannt, als ich ein Knabe war. Mein Vater hat mich einmal dorthin mitgenommen, an einem siebzehnten August, dem Vorabend jenes Tages, an dem in allen, auch in den kleinsten Ortschaften der Monarchie der Geburtstag Kaiser Franz Josephs des Ersten gefeiert wurde. Im heutigen Österreich und in den früheren Kronländern wird es nur noch wenige Menschen geben, in denen der Name unseres Geschlechts irgendeine Erinnerung hervorruft. In den verschollenen Annalen der alten österreichisch-ungarischen Armee aber ist unser Name verzeichnet, und ich gestehe, daß ich s|olz darauf bin, gerade deshalb, weil diese Annalen verschollen sind. Von Franz Ferdinand Trotta, der Hauptfigur dieses Romans, erfahren wir die komprimierte Geschichte seines Geschlechts: Der Bruder meines Großvaters war jener einfache Infanterieleutnant, der dem Kaiser Franz Joseph in der Schlacht bei Solferino das Leben gerettet hat. Der Leutnant wurde geadelt. Eine lange Zeit hieß er in der Armee und in den Lesebüchern der k. u. k. Monarchie: der Held von Solferino, bis sich, seinem eigenen Wunsch gemäß, der Schatten der Vergessenheit über ihn senkte. Er nahm den Abschied. Er liegt in Hietzing begraben. Auf seinem Grabstein stehen die stillen und stolzen Worte: 'Hier ruht der Held von Solferino.' Die Gnade des Kaisers erstreckte sich noch auf seinen Sohn, der Bezirkshauptmann wurde, und auf den Enkel, der als Leutnant der Jäger im Herbst 1914 in der Schlacht bei Krasne-Busk gefallen ist. Ich habe ihn niemals gesehn, wie überhaupt keinen von dem geadelten Zweig unseres Geschlechts. Die geadelten Trottas waren fromm ergebene Diener Franz Josephs geworden. Mein Vater aber war ein Rebell. Er war ein Rebell und ein Patriot mein Vater - eine Spezies, die es nur im alten Österreich-Ungarn gegeben hat. Er wollte das Reich 29 Ebenda, S. 361. 30 Ebenda, S. 383. 31 Joseph Roth: Die Kapuzinergruft. Köln 1972, S. 5 - 6. 25 reformieren und Habsburg retten. Er begriff den Sinn der österreichischen Monarchie zu gut. Er wurde also verdächtig und mußte fliehen. Er ging, in jungen Jahren, nach Amerika. Er war Chemiker von Beruf. Man brauchte damals Leute seiner Art in den großartig wachsenden Farbenfabriken von New York und Chikago. Solange er arm gewesen war, hatte er wohl nur Heimweh nach Korn gefühlt. Als er aber endlich reich geworden war, begann er Heimweh nach Österreich zu fühlen. Er kehrte zurück. Er siedelte sich in Wien an. Er hatte Geld, und die österreichische Polizei liebte Menschen, die Geld haben. Mein Vater blieb nicht nur unbehelligt. Er begann sogar, eine neue slowenische Partei zu gründen, und er kaufte zwei Zeitungen in Agram. Er gewann einflußreiche Freunde aus der näheren Umgebung des Erzherzog Thronfolgers Franz Ferdinand. Mein Vater träumte von einem slawischen Königreich unter der Herrschaft der Habsburger. Er träumte von einer Monarchie der Österreicher, Ungarn und Slawen. Und mir, der ich sein Sohn bin, möge es an dieser Stelle gestattet sein, zu sagen, daß ich mir einbilde, mein Vater hätte vielleicht den Gang der Geschichte verändern können, wenn er länger gelebt hätte. Aber er starb, etwa anderthalb Jahre vor der Ermordung Franz Ferdinands.3 Ich bin sein einziger Sohn. In seinem Testament hatte er mich zum Erben seiner Ideen bestimmt. Nicht umsonst hatte er mich auf den Namen: Franz Ferdinand taufen lassen. Aber ich war damals jung und töricht, um nicht zu sagen: leichtsinnig. Leichtfertig war ich auf jeden Fall. Ich lebte damals, wie man so sagt: in den Tag hinein. Nein! Dies ist falsch: ich lebte in die Nacht hinein; ich schlief 33 in den Tag hinein. Eines schönen Morgens wird Franz Ferdinand von seinem slowenischen Vetter, einem Herrn Trotta besucht: Da saß er nun, hager, schwarz, stumm, auf dem einzigen Stuhl, der in unserm Vorzimmer stand, und er rührte sich nicht, als ich eintrat. Und obwohl sein Haar und sein Schnurrbart so schwarz waren, seine Hautfarbe so braun war, war er doch inmitten des morgendlichen Goldes im Vorzimmer wie ein Stück Sonne, ein Stück einer fernen südlichen Sonne allerdings. Er erinnerte mich auf den ersten Blick an meinen seligen Vater. Auch er war so hager und so schwarz gewesen, so braun und so knochig, dunkel und ein echtes Kind der Sonne, nicht wie wir, die Blonden, die wir nur Stiefkinder der Sonne sind. Ich spreche slowenisch... Ich begrüßte meinen Vetter Trotta auf slowenisch. Er schien sich darüber durchaus nicht zu wundern. Es war selbstverständlich... 32 Das Attentat wurde am 28. Juni 1914 in Sarajevo verübt. 33 Ebenda, S. 6 - 8. (Hervorhebungen von mir). 34 Ebenda, S. 9. 26 Der Vetter und Maronibrater Joseph Branco, eine leibhaftige Verkörerpung alles Slowenischen, holte bei einem Wiener Notar seine Erbschaft ab und wollte Franz Ferdinand darüber in Kenntnis setzen. So viel echtem Slowenentum erlag Franz Ferdinand nun vollends: Er [Joseph Branco] trug einen glänzenden Satinrock, eine geblümte Plüschweste mit bunten Glasknöpfen und, um den Hals geschlungen, eine edelgeflochtene goldene schwere Uhrkette. Und ich, der ich von meinem Vater in der Liebe zu den Slawen unseres Reiches erzogen worden war und der ich infolgedessen dazu neigte, jede folkloristische Attrape für ein Symbol zu nehmen, verliebte mich sofort in diese Kette. Ich wollte sie haben. Ich fragte meinen Vetter, wieviel sie kostete. 'Ich weiß es nicht' - sagte er. 'Ich habe sie von meinem Vater, und der hatte sie von seinem Vater, und man kauft dergleichen nicht. Aber, da du mein Vetter bist, will ich sie dir verkaufen.' - 'Wieviel also?' fragte ich. Und ich hatte doch im stillen gedacht, eingedenk der Lehren meines Vaters, daß ein slowenischer Bauer viel zu edel sei, um sich überhaupt um Geld und Geldeswert zu kümmern. Der Vetter Joseph Branco dachte lange nach, dann sagte er: 'Dreiundzwanzig Kronen.' Warum er gerade auf diese Zahl gekommen sei, wagte ich nicht zu fragen. Ich gab ihm fünfundzwanzig. Er zählte genau, machte keinerlei Anstalten, mir zwei Kronen herauszugeben, zog ein großes blaukariertes rotes Taschentuch heraus und verbarg darin das Geld. Dann erst, nachdem er das Tuch zweimal verknotet hatte, nahm er die Kette ab, zog die Uhr aus der Westentasche und legte Uhr und Kette auf den Tisch. Es war eine altmodische schwere, silberne Uhr mit einem Schlüsselchen zum Aufziehen, mein Vetter zögerte, sie von der Kette loszumachen, sah sie eine Zeitlang zärtlich, beinahe herzlich an und sagte schließlich: 'Weil du doch mein Vetter bist! Wenn du mir noch drei Kronen gibst, verkaufe ich dir auch die Uhr!' - Ich gab ihm ein ganzes Fünfkronenstück. Auch jetzt gab er mir den Rest nicht heraus. Er zog noch einmal sein Taschentuch hervor, löste langsam den Doppelknoten, packte die neue Münze zu den anderen, steckte alles in die Hosentasche und sah mir dann treuherzig in die Augen. 'Auch deine Weste gefällt mir!' - sagte ich nach einigen Sekunden. -'Die möchte ich dir auch abkaufen.' 'Weil du mein Vetter bist' -erwiderte er - 'will ich dir auch die Weste verkaufen.' - Und ohne einen Augenblick zu zögern, legte er den Rock ab, zog die Weste aus und gab sie mir über den Tisch. 'Es ist ein guter Stoff' - sagte Joseph Branco - 'und die Knöpfe sind schön. Und weil du es bist, kostet sie nur zwei Kronen fünfzig.' - Ich zahlte ihm drei Kronen, und ich bemerkte deutlich in seinen Augen die Enttäuschung darüber, daß es nicht noch einmal fünf Kronen gewesen waren. Er schien verstimmt, er lächelte nicht mehr, aber verbarg dieses Geld schließlich ebenso sorgfältig und umständlich, wie die früheren Münzen. 27 Ich besaß nun, meiner Meinung nach, das Wichtigste, das zu einem echten Slowenen gehört... In der Nachfolge lernt Franz Ferdinand auch den besten Freund seines Vetters, den jüdischen Fiaker Manes Reisiger kennen, hilft dessen Sohn, im Konservatorium aufgenommen zu werden, erlebt den Ausbruch des Weltkrieges, heiratet seine alte Liebe Elisabeth, rückt nicht mit seiner eigenen Truppe, den Einundzwanzigern, in den Krieg, sondern stößt auf den eigenen Wunsch zu der Einheit seiner Freunde Joseph Branco und Mannes Reisiger, zur Landwehr 35, erlebt Kriegsgefangenschaft, die Flucht der Freunde, einige Jahre Sibirien und Zerfall der Monarchie, den man am augenscheinlichsten und schmerzlichsten eben an der veränderten Existenz des Maronibraters Joseph Branco wahrnimmt: 'Man braucht jetzt ein Visum für jedes Land extra!' - sagte mein Vetter Joseph Branco. 'Zeit meines Lebens hab ich so was nicht gesehn. Jedes Jahr hab ich überall verkaufen können: in Böhmen, Mähren, Schlesien, Galizien' - und er zählte alle alten verlorenen Kronländer auf. 'Und jetzt ist alles verboten. Und dabei hab ich einen Paß. Mit Photographie.' Er zog seinen Paß aus der Rocktasche und hielt ihn hoch und zeigte ihn der ganzen Runde. 'Dies ist nur ein Maronibrater' - sagte Chojnicki - 'aber sehn Sie her: es ist ein geradezu symbolischer Beruf. Symbolisch für die alte Monarchie. Dieser Herr hat seine Kastanien überall verkauft, in der halben europäischen Welt, kann man sagen. Überall, wo immer man seine gebratenen Maroni gegessen hat, war Österreich, regierte Franz Joseph. Jetzt gibt's keine Maroni mehr ohne Visum. Welch eine Welt! Ich pfeif auf eure Pension. Ich gehe nach Steinhof, zu meinem Bruder!'36 Franz Ferdinand, der Ich-Erzähler einer Welt, die voller Resignation, Todesahnung und Untergangsstimmung ist, einer Welt, die sich nach den bleibenden Werten nicht mehr orientiert, sondern dem Kunstgewerbe und Höllenwut (gemeint ist naturgemäß Hollywood) ihren Respekt zollt, hält sich, wie wir gerade gesehen haben, für einen würdigen Nachfahren echter Slowenen. Die slowenische Sprache beherrscht er - im Unterschied zu den Trottas aus dem Radetzkymarsch - ganz passabel und auch alle Merkmale echter Slowenen sind ihm geläufig, als die zu gelten haben: Ein glänzender Satinrock, eine geblümte Plüschweste mit bunten Glasknöpfen, eine edelgeflochtene goldene Uhrkette, eine steinschwere stehende Uhr mit Schlüsselchen, ein Aschenbecher aus getriebenem Silber, eine Kartoffelsuppe, die unter Verschmähung des Löffels aus dem Teller in aller Herr Gottes Frühe, versteht sich, geschlürft gehört. Auch ist er der festen Überzeugung, es sei "ein slowenischer Bauer viel zu edel... um sich überhaupt um Geld und Geldeswert zu kümmern"31, eine Meinung, die einige Generationen später auch von Peter Handke geteilt wird. 35 Ebenda, S. 12 - 14. 36 Ebenda, S. 169. 28 Es wird hier, genauso wie im Radetzkymarsch, eine Welt heraufbeschworen, die zum Untergang bestimmt ist. Das wissen wir und das wissen einige Gestalten des Romans. Es ist auch im Werk Die Kapuzinergruft ein Graf Chojnicki, ein Bruder des später verrückt gewordenen Chojnicki aus dem Radetzkymarsch, der es folgendermaßen zum Ausdruck bringt: 'Ich will... sagen, daß nur diesem verrückten Europa der Nationalstaaten und der Nationalismen das Selbstverständliche sonderbar erscheint. Freilich sind es die Slowenen, die polnischen und ruthenischen Galizianer, die Kaftanjuden aus Boryslaw, die Pferdehändler aus der Bacska, die Moslems aus Sarajevo, die Maronibrater aus Mostar, die Gott erhalte singen. Aber die deutschen Studenten aus Brünn und Eger, die Zahnärzte, Apotheker, Friseurgehilfen, Kunstphotographen aus Linz, Graz, Knittelfeld, die Kröpfe aus den Alpentälern, sie alle singen die Wacht am Rhein. Österreich wird an dieser Nibelungentreue zugrunde gehn, meine Herren! Das Wesen Österreichs ist nicht Zentrum, sondern Peripherie. Österreich ist nicht in den Alpen zu finden, Gemsen gibt es dort und Edelweiß und Enzian, aber kaum eine Ahnung von einem Doppeladler. Die österreichische Substanz wird genährt und immer wieder aufgefüllt von den Kronländern.'38 Der politische, moralische und soziale Untergang sowohl des slowenischen Geschlechts Trotta als auch des Staates ist vollkommen. Franz Ferdinand verliert dabei alles: Den Krieg, der ein "Weltkrieg" zu nennen sei, "weil wir alle infolge seiner eine Welt, unsere Welt, verloren haben"39, das Vaterland, die Mutter durch den Tod, die Ehefrau durch Kunstgewerbe, eine lesbische Freundschaft und den Abgang nach Hollywood, ferner das Vermögen und, durch den Anschluß (das Wort fällt im Roman nicht), das, was vom Vaterland noch übriggeblieben ist. Sein letzter Weg führt ihn, einen Rest-Österreicher, in die Kapuzinergruft, wo seine Kaiser liegen, die ihm keinen Schutz mehr zu geben vermögen: " Wohin soll ich, ich jetzt, ein Trotta?..."40 lautet die stumme Frage eines Zurückgebliebenen. An einer Stelle des Radetzkymarsches klingt der Gedanke mit: Wenn die Welt untergeht, muß man nach Sipolje41, an jenen Ort also, der nach dem Willen des Dichters zum Ort der Sehnsucht und der Erfindung wurde, wo die Welt noch heil, die Menschen noch ursprünglich, das Land noch unverdorben ist. Wir wissen naturgemäß alle, daß es in einem - möglicherweise - slowenischen Dorf Sipolje keine Moscheen voller betender Muslime geben kann, daß ein slowenischer Bauer, wenn überhaupt, keinen Rakija, sondern eher snops trinkt, daß die slowenische Tracht einer Dorfschönen kein Krönchen aus Münzen vorzuweisen hat, daß ein Rittmeister Jelacich kein Slowene, sondern ein Kroate ist, daß man in Agram, d.h. 37 Ebenda, S. 12. 38 Ebenda, S. 17- 18. 39 Ebenda, S. 44. 40 Ebenda, S. 189. 41 Vgl. dazu: Joseph Roth: Radetzkymarsch. Köln, Berlin 1971, S. 133. 29 Zagreb, in Kroatien keine slowenische Partei gründete und keine slowenischen Zeitungsverlage kaufen konnte. Es wäre dabei müßig zu behaupten, Joseph Roth hätte die Geographie und die Geschichte Europas, seines Landes und des Balkans nicht gekannt oder verschiedene Fakten durcheinandergebracht. Außerdem war er Journalist, zu dem er, wie er sagte, "aus Verzweiflung über die vollkommene Unfähigkeit aller Berufe, mich auszufüllen"42, wurde. Als Korrespondent der Frankfurter Zeitung bereiste er ganz Europa und schrieb über seine Erfahrungen und Erkenntnisse zahlreiche Artikel, auch über, wie er das Land nannte, Südslawien. So können wir in dem mit dem Titel Südslawien und Albanien - innere Probleme versehenen Artikel, den er Ende Mai 1927 aus Tirana nach Frankfurt schickte und der am 8. Juni des gleichen Jahres in der Frankfurter Zeitung veröffentlicht wurde, unter anderem lesen: Auf die Forderung 'Der Balkan den Balkanvölkern!' legt von allen Balkanstaaten der südslawische den stärksten Nachdruck. Er ist es seiner Größe, seiner Bedeutung und seiner Zukunft schuldig. Wäre seine äußere Lage so günstig, wie sie gefährdet ist, wäre dieser Staat im Innern so konsolidiert, wie er zerfahren ist, wäre die südslawische Politik der letzten Jahre so klug gewesen, wie sie naiv war - so hätte Südslawien heute einen weit größeren Umfang, es hätte Bulgarien, es hätte weit weniger zu fürchten, und Italien hätte weniger zu hassen... Der Optimismus, mit dem man die südslawische Armee bewertet, [ist] geradezu abenteuerlich. Diese Armee verfügt über ein ausgezeichnetes Menschenmaterial und leidet an einer schlechten Organisation. An leitenden militärischen Stellen befindet sich kein einziger Offizier aus den früheren Teilen der Monarchie. Kroatische und slowenische Stabsoffiziere wurden schleunigst in die Pension geschickt. Reserviert bleiben die höheren Stellen für die rein serbischen Offiziere, die zum größten Teil eine mangelhafte russische Ausbildung haben. Innerhalb der Armee halten sich die 'echten Serben' für überlegene Strategen, und auch innerhalb dieser 'echten Serben' gibt es Gruppen, die einander bekämpfen, gibt es Persönlichkeiten, die sich der besonderen Freundschaft der Freunde des Königs rühmen und - erfreuen dürfen -, und andere, die sich zurückgesetzt fühlen. Cliquen, wie sie bis jetzt die Politik des Staates zu seinem Unglück bestimmt haben, bestimmen immer die Personalpolitik der Armee. Die Uniform der Offiziere ist sehr elegant, sehr farbenprächtig, die Herren von der königlichen Leibgarde zum Beispiel sind wahre Musterexemplare des Belgrader und Agramer Abendkorsos. Zwischen dieser reich verzierten Armee und der Zivilbevölkerung besteht trotzdem ein gutes Verhältnis, die Offiziere bilden keine 'Kaste', die militärische Verfassung ist gewissermaßen demokratisch. Aber es gibt in dieser selbstverständlich königlichen Armee auch republikanische Elemente, nationa- 42 Joseph Roth: Die weißen Städte. In: Joseph Roth: Werke, Bd. 2. Das Journalistische Werk 1924 -1928. Hrg. und mit einem Nachwort von Klaus Westermann. Köln 1990, S. 451. 30 listische und republikanische Kroaten, unzufriedene und revolutionäre Mazedonier, national unbefriedigte Deutsche und Ungarn. Man kann die Armee Südslawiens ebensowenig konsolidiert nennen wie den Staat. Denn was die Nationalitätenpolitik betrifft und die Bürokratie, so ist der südslawische Staat der Nachfolger der alten Monarchie auf dem Balkan. Die Kroaten, Slowenen und Serben werden sich schließlich verständigen und zusammen die einheitliche 'südslawische Nation' bilden, zu der sich ein großer Teil der serbisch-kroatisch-slowenischen Jugend bekennt. Die nationalen Minderheiten aber bleiben in ständiger Opposition gegen die Slawisierungsversuche der Majorität. Diese Versuche sind allerdings im Vergleich zu der rücksichtsloseren, brutaleren Minoritätenpolitik anderer Nachfolgestaaten immerhin human zu nennen. Aber das ist nicht etwa bewußtes Prinzip der Regierung, sondern Folge des weichen, freundlichen und wirklich humanen Charakters des Südslawen, der natürlichen Güte seines Herzens und schließlich - seiner sympathischen Nachlässigkeit. Einen anderen, etwas humoristischeren Artikel aus Belgrad vom Juli 1927, den er über das Land der Südslawen verfaßte, betitelte Joseph Roth mit Blick nach Südslawien. Er wurde in der Frankfurter Zeitung am 16. Juli 1927, also ganze 5 bzw. 11 Jahre vor den beiden Romanen, veröffentlicht. Da lesen wir: In keinem Land der Welt - ausgenommen in Polen - gibt es so schlecht bezahlte und gleichzeitig so elegant gekleidete Staatsbeamte. Es ist Sitte in Südslawien, nicht von seinem Gehalt zu leben, wenn man z. B. junger Attaché im Auswärtigen Amt ist. Man lebt nach alter Tradition von seinem Vater. Hat man keinen - und ein Vater, von dem man nicht leben kann, ist noch schlimmer als überhaupt kein Vater -, so wird man auch nicht so leicht Attaché im Auswärtigen Amt. Die sogenannten Zuschüsse sind das Gehalt, und das Gehalt ist ein Zuschuß. Nirgends sind mir so elegante, flotte und - begabte Journalisten begegnet, nirgends so allmächtige. In Belgrad herrscht die Diktatur der Presse. Die Journalisten warten den ganzen Vormittag vor den Ministerien, mit Bleistift und Papier, sie erwarten die kommenden und gehenden Minister [...] In Agram schenkt die Gemeinde der Presse einen Platz, auf dem ein Journalistenhaus gebaut werden soll. Von allen eleganten Männern, die man auf der Hauptstraße Belgrads sehen kann, sind (natürlich nicht statistisch nachweisbar) dreißig Prozent Staatsbeamte und dreißig Prozent Journalisten. Bleiben vierzig Prozent. Von diesen sind zwanzig Prozent Anwärter auf Beamtenposten und zwanzig Prozent gewesene Beamte. Denn in diesem außerordentlichen parlamentarischen Land wechseln die Beamten mit den herrschenden Parteien und den Ministern. Die 43 Ebenda, S. 714-716. 31 Beamten steigen und fallen, kommen und gehen mit den Ministern. Es ist ein flotter Handel von Menschen und Schicksalen, die Regierenden und die Regierten wechseln miteinander die Plätze wie bei einem Gesellschaftsspiel. Es gibt nur eine Klasse, die immer regiert wird: Das sind die Arbeiter. Ich habe die proletarische Maifeier in Belgrad gesehen. Die Proletarier gingen in den Wald, tranken Sodawasser, aßen Butterbrote und sangen - weil revolutionäre Lieder verboten sind - nationale. Trotzdem waren die friedlichen Wälder voll von Polizisten und Spitzeln. Gegenüber dem Wald steht eines der neuen Schlösser des Königs, umgeben von Kasernen, kein Schloß ohne Kaserne. Kein König ohne Untertanen... Wenn man einen vernünftigen Südslawen fragt: 'Wozu braucht ihr einen so kostspieligen König?', so antworter er: 'Weil unser Volk noch nicht so fortgeschritten ist, um republikanisch regiert zu werden'. Indessen ist gerade das südslawische Volk intelligent, aufgeweckt, diszipliniert, politisch selbständig, kritisch, mit einem hellen, gesunden, ländlichen Verstand begabt, human, heiter, kultiviert, von einer guten, südlichen Sonne gesegnet, ohne nationalistische Vorurteile, ohne jeden religiösen Fanatismus, loyal gegen andere Nationen, Stämme und Rassen. Nirgends sah ich einen solchen Gegensatz zwischen dem Geist der Verordnungen und Gesetze und dem Charakter des Volkes. Die Verwaltung ist reaktionär, das Volk ist fortschrittlich. Die Polizei ist brutal, die Menschen sind freundlich. In den Ämtern herrscht Korruption, und die Bevölkerung ist ehrlich. Die Regierung ist reichlich naiv, und die Regierten sind klug. Der König hat diktatorische Gelüste und das Volk demokratische Neigungen. Die Sittlichkeit ist zu einer Seuche geworden, die 'uneheliche Liebe' ist beinahe verboten, jedenfalls erschwert. In manchen Städten geht hinter jeder Prostituierten ein Polizist einher. Es ist den Mädchen verboten, Passanten anzusprechen. Jede Frau, die sich mit einem Mann in ein Hotel begibt, gerät in Gefahr, wegen 'gewerblicher Unzucht' verhaftet zu werden. Öffentliche Häuser sind nur in bestimmten Städten erlaubt. Es gibt engbegrenzte erotische Rayons. Liebe in Wäldern ist gesetzlich verboten. Hinter jedem zehnten Baum lauert ein Polizist. Die ungesetzliche Fortpflanzung ereignet sich unter zahlreichen Vorsichtsmaßregeln. Die Frauen sind schön wie Göttinnen und keusch wie Engel. Ein Ehebruch ist leichter als eine Liebschaft. Die Liebe führt schnurstracks zur Ehe. Und diese erst ist gefährdet. Sicher ist nur die Nachkommenschaft. Denn das Volk ist, Gott sei Dank, fruchtbar.44 Es sei mir an dieser Stelle noch einen kleinen Exkurs, diesmal nach Sarajevo, gestattet. Auch über diese Stadt hat Joseph Roth in einem mit dem Titel Wo der 44 Ebenda, S. 747 - 749. 32 Weltkrieg begann versehenen Artikel, der am 3. Juli 1927 in der Frankfurter Zeitung erschienen ist, geschrieben: Heute, dreizehn Jahre seit dem ersten Schuß, sehe ich Sarajevo. Unschuldige, aber fluchtbeladene Stadt! Sie steht noch! Traurige Hülle der schauderhaftesten Katastrophen. Sie rührt sich nicht vom Fleck! ... Es gibt ein Theater, man spielt eine Oper, es gibt ein Museum, es gibt Spitäler, einen Magistrat, Polizisten, alles, was eine Stadt brauchen kann. Eine Stadt! Als wäre Sarajevo eine Stadt wie jede andere! Als hätte in Sarajevo nicht der größte aller Kriege angefangen. Alle Heldengräber, alle Massengräber, alle Schlachtfelder, alle Giftgase, alle Krüppel, alle Kriegswitwen, alle unbekannten Soldaten: Hier haben sie angefangen. Ich wünsche dieser Stadt nicht den Untergang, wie sollte ich! Sie hat gute, liebe Menschen, schöne Frauen, wunderbar unschuldige Kinder, Tiere, die sich des Lebens freuen, Schmetterlinge auf den Steinen im Türkenfriedhof. Dennoch hat hier der Krieg angefangen, die Welt ist vernichtet, und Sarajevo steht. Es sollte keine Stadt sein, es sollte ein Denkmal sein, allen zum schrecklichen Gedächtnis. Joseph Roth wußte also ganz genau worüber er schrieb, auch worüber er in seinen, hier besprochenen Romanen schrieb. Er selbst hat das Verhältnis von Wahrheit und Wirklichkeit in seinem am 17. und 24. Januar 1930 in Die Literarische Welt veröffentlichten Essay Schluß mit der "Neuen Sachlichkeit"I folgendermaßen reflektiert: Der lebendige Mensch nun ist von der Wirklichkeit nicht zu lösen, nicht von Tatsachen, nicht von Zahlen und Ziffern, nicht von Größen und Maßstäben, nicht von 'Details'. Eine genaue Kenntnis der Realität wird vom Berichter gefordert werden - nicht damit er sie detailgetreu benütze, sondern damit er sie beliebig und schöpferisch verändere. Es gibt keine Wahrhaftigkeit im literarischen Kunstwerk ohne Wahrscheinlichkeit. Um diese zu erzeugen, muß der Berichter 'beobachtet' haben, 'das Leben kennen', 'die Welt kennen'. Ja, in der Kenntnis der 'nackten Tatsachen' mit dem Augenzeugen wetteifern. Der Erzähler ist ein Beobachter und ein Sachverständiger. Sein Werk ist niemals von der Realität gelöst, sondern in Wahrheit (durch das Mittel der Sprache) umgewandelte Realität. Wir dürfen also vor allem eines nicht vergessen. Wir dürfen nicht vergessen, daß der Dichter Joseph Roth mit seinen Romanen Radetzkymarsch und Die Kapuzinergruft keine historischen Werke geschrieben hat. Daher konnte es ihm darin auch nicht vordergründig um eine historische Authentizität gegangen sein. Er 45 Ebenda, S. 731 -733. 46 Joseph Roth: Die weißen Städte. In: Joseph Roth: Werke, Bd. 3. Das Journalistische Werk 1929 -1939. Hrg. und mit einem Nachwort von Klaus Westermann. Köln 1991, S. 157. (Hervorhebungen von mir.) 33 ist ausschließlich um die Authentizität seiner literarischen Arbeit bemüht, eines Werkes der Fiktion also. Er benutzt einzelne Fakten, die nicht immer stimmig sind, einzig und allein im Hinblick auf die Totalität seines Werkes. Auf eine buchstäbliche historische Wahrheit kommt es ihm gar nicht erst an. Für den Verlauf der beiden Romane ist es auch völlig unwichtig, ob die Trottas echte oder erfundene Slowenen, ob das slowenische Sipolje, das es nach dem Willen des Dichters ja gar nicht mehr gibt, im real existierenden Slowenien zu finden oder eher in Bosnien zu suchen ist. Joseph Roth weiß, daß diese Art von Stimmigkeit und Richtigkeit die dichterische Wahrheit, die ja auf dem Gebiet des Ästhetischen liegt, nicht wahrscheinlicher macht. Ihm ist es vielmehr daran gelegen, an den Schicksalen von einzelnen Vertretern der Familie Trotta, die die Hauptfiguren seiner Romane Radetzkymarsch und Die Kapuzinergruft sind, das Schicksal der k. u. k. Monarchie widerzuspiegeln, wie auch zu zeigen, daß die Großväter stärker waren als die Enkel, und daß sie doch alle, in der Geschichte wie in der Literatur, mit der Doppelmonarchie und an ihr zugrundegegangen sind. In diesem Sinne lassen wir ihn, den großen Joseph Roth, noch einmal zu Wort kommen: Die furchtbare Verwechslung begann, die furchtbarste aller Verwechslungen: des Schattens, den die Gegenstände werfen, mit den Gegenständen. Das Wirkliche begann man für wahr zu halten, das Dokumentarische für echt, das Authentische für gültig. Erstaunlich, daß in einer Zeit, in der die einfachen Zeugenaussagen vor Gericht von der modernen medizinischen Wissenschaft mit Recht als unzuverlässig bezeichnet werden, erstaunlich, daß in dieser Zeit die literarische Zeugenaussage gültiger ist als die künstlerische Gestaltung. Man zweifelt an der Zuverlässigkeit des beeideten Zeugen. Aber man verleiht dem geschriebenen Zeugnis die höchste Anerkennung, die es in der Literatur gibt: die der Wahrhaftigkeit. Und wäre noch wenigstens die Kritik mächtig genug, das 'Dokument' auf seine Echtheit zu prüfen! Nein! Man traut der Behauptung allein! Man vergleicht nicht etwa die Photographie mit ihrem Objekt, sondern vertraut der Schlagzeile unter der Photographie. Universität Ljubljana 34 47 Ebenda, S. 153.