onderabdruck aus „Internationale Monatsschrift f. Wissenschaft, Kunst u. Technik“. 14. Jahrg. 7 »erausgegeben v. Max Comicelius, Berlin W. 30 • Verlag v. B. G. Teubner, Leipzig u. Berlin fc* -i iSr n 54 D3oon°i2o Die ethnographischen Verhältnisse Rußlands. Von M. Vor dem Kriege umfaßte Rußland die Hälfte von Europa, auch ohne Finnland, Polen und Kaukasus, die geographisch nicht dazu gehören, und die Hälfte von Asien, ein Sechstel des ganzen Festlandes. Hinter dem englischen Weltreich bleibt es um 8 Millionen qkm zurück, aber während dieses über die ganze Erde verstreut ist, bildet das russische Reich eine kompakte, kontinental zusammenhängende Masse. Andere Kontinentalstaaten wie das chine-Š sische Reich und die Vereinigten Staaten von Nordamerika übertrifft es um das Doppelte, im Vergleich mit Deutschland ist es vierzigmal so groß.1) Dieses Riesenreich scheint nun aus seinen Fugen zu gehen, und es gibt Kreise, die noch heute vorgeben, mit Rußland als Weltmacht sei nicht mehr zu rechnen, obgleich die Bolschewiken allein, die doch nur einen Bruchteil seiner Bevölkerung bilden, der ganzen Entente und allen von ihr geförderten Gegnern im Norden, Westen, Süden und Osten ; trotzen. Die Zukunft ist allerdings un-£ I gewiß. Um so wichtiger ist es daher in einer Zeit, in welcher neue Staaten auf Grund des Nationalitätenprinzips entstanden oder im Werden begriffen sind, die realen Faktoren kennen zu 1er-[ nen, welche Rußlands Schicksale be-* stimmen. Von diesem Gesichtspunkte will ich also über die ethnographischen Verhältnisse Rußlands sprechen, wo-L bei ich von dem wichtigsten Merkmal, 1) A. Hettner, Rußland1, 4, 237. Murko. der Sprache, ausgehe, als stark maßgebend die Religion berücksichtige und wo nötig auch die historische Entwicklung erwähne.1“) Zur Veranschaulichung der bunten Völkermenge Rußlands leistet uns noch heute die besten Dienste Rittichs Ethnographische Karte des europäischen Rußland, die im Auftrag und unter Aufsicht der russischen Geogra-graphischen Gesellschaft 1875 in St. Petersburg erschienen ist. Diese Karte konnte natürlich die Resultate der ersten und einzigen allgemeinen Volkszählung in Rußland vom J. 1897 nicht berücksichtigen, doch bietet sie im allgemeinen, jiin richtiges Bild von der Verbreitung der einzelnen Völker, das sich im Laufe von Jahrzehnten eher zugunsten der Russen verschoben hat als umgekehrt. Die Farbenbezeichnung ist allerdings oft unzulänglich. So sind die Gebiete der Groß-, Weiß- und Kleinrussen zu wenig deutlich geschieden, unter den Esthen und Letten ist die starke deutsche Oberschicht zu wenig ersichtlich, unter den Litauern, Weißrussen und einem großen Teil der Kleinrussen die polnische, überhaupt ist das öfters vorkommende Nebeneinanderleben verschiedener Völker nicht genügend veranschaulicht, was allerdings auch schwer durchzuführen ist. Dagegen muß ich rühmend hervorheben, daß Rittich nicht mit großen Far- 1 a) Gesprochen und geschrieben im Februar 1920. benflecken arbeitet, sondern nur wirklich bewohnte Gebiete andeutet, z. B. im Norden, wo die Russen bloß an den Flüssen Vorkommen. In deutscher Bearbeitung erschien diese Karte in Petermanns Mitteilungen 1878, Darauf sind alle russischen Siedelungsgebiete mit grüner Farbe bezeichnet, so daß sie in der Tat eine imposante Fläche ausmachen, während die Verteilung der Groß-, Weiß- und Kleinrussen auf einer besonderen Karte ersichtlich gemacht wird. Auf Rittichs Originalkarte oder auf den Petermann-schen Bearbeitungen beruhen alle Darstellungen der ethnographischen Verhältnisse Rußlands, der Slawenwelt Osteuropas2 3) und Europas auf Einzelkarten, in Atlassen und enzyklopädischen Werken. Als die jüngsten Karten erwähne ich die von Haack-Herz-berg, Anteil der Völker an der Ge-samtbevölkerung Europas, Dietrich Schäfers Völkerkarte von Europa und zuletzt „Völkerkarte von Osteuropa“ von Dr. Richard Pohle und Herbert Hey de (Berlin, Geaverlag). Diese „nach amtlichen Quellen entworfene und bearbeitete" allerjüngste Karte ist kein Fortschritt. Die ausgesprochenen 2) Besonders beachtenswert die Karte in dem Werke von L. Niederle, Obozrenie sovremennago slavjanstva (Übersicht des zeitgenössischen Slawentums) in der Enciklopedija slavjanskoj fllologii der Petersbur- er Akademie der Wissenschaften, Heft 2, etersburg 1909. Das Werk ist auch französisch, tschechisch und slowenisch erschienen. Dieselbe Karte ist wiederholt in dem Sammelwerk Slovanstvo, Prag 1912. Die ethnographische Karte der Slawenwelt in dem Werke von Prof. T. D. Florinskij Slavjanskoe plemja (Kiew 1907) ist etwas primitiv ausgeführt, bietet aber den Vor-und Nachteil, daß sie auch Sibirien als Fortsetzung von Rußland in demselben Maßstabe bringt. 3) Am besten ist die ethnographische Übersichtskarte von Osteuropa in dem Werke von Stephan Rudnyökij, Ukraina, Wien 1916. Farben sind zwar sehr übersichtlich, doch geben die großen Farbenflächen trotz ihrer schwarzen Striche oft eine ganz falsche Vorstellung; z. B. könnte man die Wogulen in der Nordostecke für ein großes Volk halten, während sie 1897 nur 7000 Seelen zählten. Bezüglich der Völkermischung sind die Deutschen im Baltikum durch Streifen stark angedeutet, doch die in gleicher Lage befindlichen Polen in den litauischen Gebieten jiur schwach, in „Weiß-ruthenien“ und in den westlichen kleinrussischen Gebieten aber ganz verschwiegen, dagegen in Ostgalizien wieder zu stark hervorgehoben.4) Da ein bedeutender Teil der Kleinrussen seit der Teilung Polens dem Reich der Habsburger angehörte, so brauchen wir zur Ergänzung der Völkerkarte Rußlands noch die Sprachenkarte der österreichischungarischen Monarchie von Fr. Le Monnier (Wien 1888), die gleichfalls schon alt ist, aber bis heute als Grundlage für alle sonstigen Karten dient. Eine Übersichtskarte der ethnographischen Verhältnisse von Asien und von den angrenzenden Teilen Europas bearbeitete auf Grund von Fr. Müllers Allgemeiner Ethnographie Vinzenz von Haardt und gab sie mit Unterstützung der Wiener Akademie der Wissenschaften heraus (Wien 1887). 1. Zum besseren Verständnis der weiteren Ausführungen empfiehlt es sich in aller Kürze zu zeigen, wie das russische Volk und der russische Staat entstanden und gewachsen sind. 4) Über die polnische Auffassung der polnisch-russischen Grenzfragen orientieren am besten die Karten in dem Sammelwerk Polen, Entwicklung und gegenwärtiger Zustand. Bern 1918. Die ältesten historisch erreichbaren Sitze der Slawen finden wir im östlichen Polen und in den anliegenden weiß- und kleinrussischen Gebieten. Wie nach dem Westen und Süden breiteten sich von hier aus Slawen auch nach dem Norden und Osten aus, so daß wir im 10. Jahrh. eine ganze Reihe slawischer Stämme von Nowgorod bis Kiew und seine östliche und südliche Umgebung antreffen. Weiter im Nordosten, im ganzen Stromgebiet der Wolga und an der Oka gab es finnische Völkerschaften, die süd- und südostrussische Steppe wurde aber von mongolischen und türkisch-tatarischen Nomaden aufgesucht und beherrscht. In Kiew, wo sich der berühmte Ostweg von der Ostsee bis zum Schwarzen Meere und. nach Konstantinopel mit dem Handelsweg aus Polen kreuzte, bildete sich ein Mittelpunkt staatlichen Lebens, an dessen Konsolidierung aus Ostschwe-den gekommene Waräger ein besonderes Verdienst hatten. Normannischer Herkunft war jedenfalls die Dynastie Ruriks, deren Mitglieder ein einigendes Band um die verschiedenen russischen Stämme und Teilfürstentümer schlangen. Auch deren gemeinsamer Name Ruš, in byzantinischer Form 'P&s, stammt vielleicht aus dem germanischen Norden. Auf dem ganzen Gebiete bildete sich eine Sprache, deren gemeinsame Merkmale noch heute alle russischen Dialekte gegenüber den übrigen slawischen Sprachen auszeichnen. Ein besonders wichtiges Bindemittel für die russischen Stämme war auch das von Wladimir 988 aus Konstantinopel bezogene Christentum und die aus Bulgarien stammende Kirchen- und Literatursprache, also eine südslawische Sprache. Die Kiewer Metropolie erhielt die russische Staatseinheit auch in den Zeiten der lose miteinander verbunde- nen Teilfürstentümer und zahlreicher innerer Kämpfe. Orthodox (pravo-slavnyj) und Russisch blieben identische Begriffe bis auf den heutigen Tag. Selbst als im alten Polen zahlreiche Russen für die Union mit Rom gewonnen wurden, bildeten ihr orientalischer Ritus und die slawische Kirchensprache ihr unverwüstliches Merkmal, und wenn man in den letzten Jahrzehnten in Ostgalizien, wo die Union noch heute in Geltung ist, einen Ruthenen nach seiner Nationalität fragte, so antwortete er: ja ruškoji viry (ich gehöre dem russischen Glauben an). Mit dem Christentum kamen auch die Grundlagen der geistigen und materiellen Kultur aus Byzanz, die im Verhältnis zu Westeuropa damals nicht gering war, aber mit ihrem Konservatismus und ihrer Erstarrung auch Rußland verhängnisvoll wurde. Wir müssen weiter bedenken, daß die griechische Kirche die antike Religion weniger ül>erwand als die römische. Was das bedeutet, will ich nur mit einem Beispiel zeigen. Der hl. Augustinus bekämpft in seinen Confessiones die Totenmahle und berichtet dabei, wie der hl. Ambrosius, Bischof von Mailand, am Ende des vierten Jahrhunderts seiner Mutter verbot, nach afrikanischer Sitte Brei, Brot und Wein auf die Gräber der Märtyrer zu tragen. Diese Sitte verschwindet in der Tat bald im ganzen Abendlande, bei den Russen und den übrigen orthodoxen Slawen sind aber Totenmahle am Grabe noch heute nach dem Begräbnis und an verschiedenen Totentagen üblich.5) Bei dem großen Mongoleneinfall in Europa 1240 wurde Südrußland verwüstet und Kiew dem Boden gleichgemacht. Das Zentrum des russischen 5) Vgl. des Verf. Abhandlung „Das Grab als Tisch“, Wörter und Sachen II, 79—160. 19* Staates kam infolgedessen nach dem Nordosten, zuerst nach Wladimir an der Kljazma und allmählich nach Moskau, das gleichfalls einen wichtigen Knotenpunkt für den Handel bildete und geschickte Fürsten hatte, die ihren Reichtum zur Erwerbung des Großfürstentitels in der Goldenen Horde ausnützten. Die russischen Fürsten im Nordosten waren eigentlich Statthalter tatarischer Chane, so daß dadurch orientalische Einflüsse im russischen Staats- und Volksleben bedeutend verstärkt wurden und fortwirkten, als die Moskauer Großfürsten das Tatarenjoch abgeschüttelt hatten. Damit hängt auch zusammen, daß das föderative System, das im Kiewer Rußland herrschte, in Moskau der byzantinischen Autokratie und der orientalischen Despotie Platz machte. Nach dem Fall von Konstantinopel betrachtete sich Moskau als das dritte Rom, dem ein viertes nicht folgen sollte. Mit „der Sammlung der russischen Erde“ und der äußeren Machtentfaltung ging aber auch eine starke Kolonisation an der Wolga und Oka vom 13.—15. Jahrh. einher, die von Moskau und noch früher sehr stark auch von der Handelsrepublik Novgorod ins Werk gesetzt wurde. So fällt die Gründung von Nižnij Novgorod, d. h. Unter-Novgorod, am Zusammenfluß der Wolga und Oka in das J. 1241. Wir sind darüber wenig unterrichtet, wie es bei dieser Kolonisation zuging, aber es scheint, daß die finnische Bevölkerung meist im friedlichen Wettkampfe von den durch staatliche Organisation und durch ihr Christentum höher stehenden Russen zurückgedrängt und zum großen Teil auch aufgesogen wurde. Das Moskauer Reich wuchs zu immer größeren Aufgaben heran, so daß es den tatarischen Chanaten von Kasan (1552) und Astrachan (1556) ein Ende bereitete und sich großrussische Kosaken auch bereits im 16. Jahrh. sogar am Terek vor dem Kaukasusgebirge festsetzten. 1581 wurde auch schon Sibirien erobert, und in unglaublicher Schnelligkeit drangen die Russen sogar bis zu den Küsten des Stillen Ozeans vor. Moskau richtete aber seine Blicke auch nach dem Westen, nach den Küsten des Baltischen Meeres und nach den polnisch-litauischen Provinzen, die eine orthodoxe russische Bevölkerung hatten. Nicht umsonst nannten sich die Moskauer Herrscher Großfürsten und dann Zaren „von ganz Rußland“ (useja Rusi, seit dem 16. Jahrh. in gelehrter byzantinischer Form useja Rossü). Wir müssen uns vor Augen halten, daß nach dem Fall von Kiew ein Teil der südrussischen Bevölkerung sich nach dem Westen bis in die Karpathen zurückzog. In diesem „Rotrußland“ (der Name ist nicht aufgeklärt) spielte das Fürstentum Halič und Wladimir (davon das österreichische „Galizien und Lo-domerien“) keine geringe Rolle (Fürst Daniil erhielt 1254 sogar die Königskrone von Innocenz IV.), wurde aber zuletzt ein Streitobjekt zwischen Ungarn und Polen, bis sich die Piasten und Anjous einigten und Halič mit Lemberg 1340 vom König Kazimir d.G. zu Polen geschlagen wurde, 1366 auch Wladimir in Wolhynien. Diese Gebiete hatten gleichfalls den Namen Rüg beibehalten und wurden auch als Bestandteile des polnischen Reiches so benannt. Im mittelalterlichen Latein wurde für das Land der Name Ru-thenia, für seine Bewohner Rutheni gebraucht, der ebenso zu bewerten ist wie Böhmisch oder Ungarisch und nicht erst von Österreich erfunden wurde, wie Polen und Russen behaupteten. In einer byzantinischen Urkunde kommt aber für Halič schon 1292 die Bezeichnung 'PcoööCcc vor, also Kleinruß- land, mit offenbarer Beziehung auf das größere im Nordosten. Merkwürdig war das Schicksal anderer klein- und der weißrussischen Gebiete. Auf dem Boden der Litauer, die keine Slawen sind, entstand ein Fürstentum, das sich bald nach dem slawischen Osten auszubreiten begann. Schon Gedimin vereinigte 1318—1320 das ganze Gebiet der alten Krivičer, in denen wir Vorfahren der Weißrussen zu erblicken haben, mit Litauen, ja allmählich kamen auch kleinrussische Gebiete bis nach Kiew und sogar über den Dniepr hinaus dazu. In diesem Litauen war die russische Kultur so stark, daß sie auch nach der Taufe Jagiellos (1386), welcher die eigentlichen Litauer der katholischen Religion zuführte, im Lande herrschend blieb und ein Kirchenslawisch mit sehr vielen weiß- und kleinrussischen Elementen vom 14. bis fast zum 17. Jahrh. als Amtssprache diente, denn nach dem Litauischen Statut mußten die Akten „mit russischen Buchstaben“ geschrieben werden. Nach der politischen Union von Lublin (1569), welche dem litauischen Kleinadel in seinem Kampfe gegen die Magnaten die Rechte des polnischen Adels brachte, und nach der kirchlichen Union von Brest (1596), welche einen großen Teil der Klein- und Weißrussen dem Papste und der lateinisch-polnischen Kultur unterordnete, machte allerdings die Po-Ionisierung der oberen Stände große Fortschritte und blieb selbstverständlich nicht ohne Einwirkung auch auf die niederen, so daß starke Polonismen auch in die Sprache der Weiß- und Kleinrussen Eingang fanden. Das polnische Reich verwendete im SO kleinrussische Kosaken als Grenzwächter gegen die Krim-Tataren und gegen die Türken. Eine solche Grenzmark hieß Ukräjna oder Ukrajina (diese Betonung ist jetzt im Kleinrussischen üblich), ähnlich wie Österreich seine Krajina, deutsch Militärgrenze gegen die Türkei hatte. Ein anderer Name war Hetmanščina, d. h. das Gebiet des Het-man, des gewählten Oberhauptes der Kosaken. Wenn wir noch Ruš im Sinne von Kleinrußland und Malorossija hinzunehmen, so finden wir drei, oder eigentlich vier Benennungen für Gebiete der immer mehr den Südosten kolonisierenden Kleinrussen, aber keiner bezeichnete das ganze Land.0) Der Name „Kleinrußland“ wurde in Moskau 1654 offiziell in den Zarentitel aufgenommen, als die Kosaken, unzufrieden mit den politischen, religiösen und sozialen Zuständen Polens, sich mit dem Hetman Bogdan Chmelnickij unter den Schutz des Moskauer rechtgläubigen Zaren stellten, der ihnen vollständige Autonomie zusicherte, die aber schnell beschnitten wurde, weshalb die Kosaken bald wieder mit Polen und sogar der Türkei paktierten; da teilten sich Moskau und Polen im Frieden von Andrusov (1667) das kleinrussische Gebiet, wobei das ganze rechte Dniepr-ufer bei Polen blieb bis zu seiner Teilung 1772. Der Moskau überlassenen Ukraine konnte auch der Schwedenkönig Karl XII. unter Mazepa zu keinem neuen Leben verhelfen, da er die Schlacht von Poltava (1709) verlor, und die Kaiserin Katharina II. zerstörte das letzte Bollwerk der kleinrussischen Kosaken, die Sie im Zaporožje, d. h. im Gebiete „hinter den Stromschnellen“ des Dniepr (1775). Die Kaiserin Katharina nützte aber auch die religiösen und 6 6) Vgl. N. Kostomarov in seiner Abhandlung „Zwei russische Volkstümer“ in der Gesamtausgabe Istoričeskija monografli, Bd. I, S. 61, Petersburg 1872. sprachlichen Verhältnisse in den weiß-und kleinrussischen Provinzen des polnischen Reiches aus, um ihm den Untergang zu bereiten. Nach den Teilungen Polens (1772—1795) kamen alle weißrussischen und der größte Teil der kleinrussischen Gebiete zu Rußland, Galizien aber zu Österreich; 1839 wurde unter dem Kaiser Nikolaus die kirchliche Union durch eine Reunion abgelöst, so daß auch die Glaubenseinheit der russischen Stämme wiederhergestellt wurde und nur Galizien bei Rom verblieb. Mit der fortschreitenden Europäisie-rung Rußlands wurde auch der Bann der Kirchen spräche gebrochen, und um die Mitte des 18. Jahrh. begann die Einführung der Volkssprache in die Literatur, in welcher der Moskauer Dialekt die Herrschaft erlangte. Dieser Prozeß wurde am Beginn des 19. Jahrh. vollendet und zu den großen Schriftstellern, welche die russische Schriftsprache und ihre bedeutende Literatur schufen, gehört auch Gogol, ein typischer Kleinrusse. In gleicher Weise begann man aber im Süden bereits am Ende des 18. Jahrh. auch kleinrussisch zu schreiben, liebevoll wurde auch das kleinrussische Volkstum studiert, das Kosakentum fand eine echt romantische Verherrlichung und seinen großen Dichter im genialen Taras Ševčenko, der aus dem leibeigenen Bauernstände hervorgegangen war und so recht den demokratischen Charakter der neuen Bewegung charakterisiert. In Kiew bildete ein Kreis von Gelehrten und Schriftstellern, zu denen auch Ševčenko gehörte, eine Cyrill- und Method-Bru-derschäft, die auch eine Föderation slawischer Völker im Programme hatte. Die Regierung löste die Gesellschaft auf und verfolgte weiter das anrüchig gewordene Ukrainophilentum, bis sie 1876 jeden Gebrauch der kleinrussischen Sprache verbot. Unterdessen hatte diese aber eine starke Pflege in Galizien gefunden, wohin nun die Ukrainer ihre Blicke richteten und die dortigen Zeitschriften und die Lember-ger Ševčenko-Gesellschaft der Wissenschaften, die sich zu einer wahren Akademie ausbildete, geistig und materiell förderten. Bezeichnend ist die Behandlung des Namens für die Sprache und das Volkstum ihres Wirkungskreises: zuerst Ukraina-Ruš und ruško-ukrains-kyj, dann aber nur Ukraina und ukra-inskyj, so daß der allgemeinnationale Name Ukraine, ukrainisch sehr jung ist. Daneben gab es in Galizien allerdings auch eine Richtung, welche an der Einheit der russischen Schriftsprache und Kultur festhielt. Ironisch wurden die beiden Parteien nach der Aussprache des s im Namen „russisch“ (niškyj und russkij) die „Weichen“ und die „Harten“ genannt. Recht bezeichnend für das Verhältnis zwischen Groß-und Kleinrussisch! Man findet es unter solchen Umständen begreiflich, daß sich Rußland auch die Vernichtung des ukrainischen Piemont und die Eroberung des letzten Fleckens russischer Erde außerhalb Rußlands als Kriegsziel steckte. 2. Nach diesen Voraussetzungen sehen wir uns die heutigen Siedlungsgebiete der russischen Stämme in großen Zügen an. Kompakte Siedlungen gehen im Westen vom Weißen Meer über den Ladogasee zur Newamündung, längs des Finnischen Meerbusens bis Narwa, längs des Peipussees bis nördlich von Drissa, von dort westlich bis Dünaburg, ein wenig südlich und dann in einem großen Halbbogen westlich um Wilna herum, dann in einer westlichen Linie von Grody bis Avgustov, von da süd- lieh ungefähr in einer geraden Linie bis Tomaszöw an der galizischen Grenze, doch sind diese Gebiete stark mit Polen gemischt, so daß der westlich des Bug gelegene Streifen Kongreß-Polens ungemein verwickelte Verhältnisse aufweist, da es hier auch kleinrussisch sprechende Katholiken gibt, die leicht zu Polen werden, was den Streit um das Gebiet von Cholm (poln. Chehn) erst recht erklärt.7) Westlich davon bei Tarnogrod überschreitet die Grenze Galizien und erreicht nördlich der Festung Przemyšl den San, geht aber in den Karpathen noch viel weiter nach Westen und überschreitet sogar ihre südlichen Abhänge in Ungarn bis zur Bukowina, deren nordwestlicher Teil auch kleinrussisch ist. Dabei gibt es in Ostgalizien eine sehr starke polnische Oberschicht, ebenso in den anliegenden Gouvernements von Wolhynien und Podoben in Rußland, wo dann der Dniestr eine Grenze bildet, doch gibt es starke kleinrussische Minoritäten auch an seinem rechten Ufer in Bessa-rabien bis zur Donaumündung. An das Schwarze Meer reichen die Russen bis zum Hochgebirge des Kaukasus, doch bevölkern sie dessen östlichen Teil nur an der Küste des Kaspischen Meeresi dann die beiden Ufer der Wolga in deren unterstem Lauf, weiter sind aber im ganzen Wolgagebiet östlich von Nižnij Novgorod bis zum Ural verschiedene finnische und namentlich starke tatarische Völkerschaften zwischen den Russen eingesprengt. Im Norden besiedelten Russen die Ufer der Flüsse, die schiffbar sind und Fischern reiche Beute versprechen, denn Fische sind 7) Vgl. auf russischer Seite „Karten der russischen und orthodoxen Bevölkerung des Cholmer Rußland“ mit statistischen Tabellen von V. A. Francev, Warschau 1909 (russisch). für die sehr lange fastenden Russen ein wichtiges Nahrungsmittel. Die Gebiete am Onegasee und am Weißen Meere sind das Island des russischen Volksepos, der Bylinen, die eine tausendjährige Geschichte hinter sich haben. Die mit der rauhen Natur am Weißen Meere kämpfenden Russen sind nicht arm, sondern selbstbewußt und nennen die Beamten — kaiserliche Bettler. Das ist ein interessanter Beitrag zur Geschichte der russischen Kolonisation und macht uns begreiflich, warum der Provinzrusse, abgesehen von seiner Geduld, verhältnismäßig so leicht die Autokratie und nun den Terror erträgt, denn Gott ist hoch, der Zar und nun Lenin aber weit. Sibirien hat eine russische Kernbevölkerung in einem breiten Streifen von Omsk bis zum Baikalsee und dann bis zur Bogenkrümmung des Amur (der letzte große Ort ist Nertschinsk), sonst sind aber nur die Ufer der Flüsse und auch des Meeres von Russen besiedelt. Das Riesengebiet von Sibirien ist aber fast ganz russisch (nach Flo-rinskij 87»/o der Bevölkerung, nach Niederle allerdings bloß 80,9%), doch ist die Bevölkerung sehr dünn (0,5 auf 1 Quadratwerst) und zählte 1897 nur gegen 5 Millionen Russen und s/4 Millionen der verschiedenartigsten Fremdvölker, die meist in sehr kleinen Gruppen, aber auf Riesenflächen weit zerstreut sind. Überdies hat die russische Kolonisation unterdessen sehr stark zugenommen; in den nach 1897 folgenden 9 Jahren sollen nicht weniger als 1350000 Russen eingewandert sein. Die Kolonisten im europäischen und asiatischen Rußland sind überwiegend Großrussen. Doch gibt es überall, auch in Sibirien, Kleinrussen, selten sind Weißrussen außerhalb ihres Siedlungsgebietes. Weißrussen überwiegen nur in vier Gouvernements .-Mogilev (82,8 °/o), Minsk, Wilna (nur 56%) und Vitebsk (52,95 Prozent); in den anliegenden Gouvernements sind sie nur noch in kleinen Prozentsätzen vertreten, am stärksten in Smolensk (6,61%). Das kleinrussische oder ukrainische Volkstum überwiegt in den acht südlichen Gouvernements: Poltava (92,98%), Podoben, Charkov, Kiew, Wolhynien, Jekaterinoslav, Cerni-gov (66,41%) und Cherson (53,48o/o). Stark vertreten ist es noch im Gebiet der Kuban-Kosaken, in den Gouvernements Taurien, Stavropol, Voronež (36,18%), im Gebiet der Don-Kosaken (28%) und in den Gouvernements Kursk, Bessarabien (19,67%), Orodno in Litauen (22,61 o/o), Sedlec in Polen (13,970/0). Im J. 1897 zählte Rußland 128924289 Einwohner, davon 83933567 Russen, daher mit Ausschluß von Finnland zwei Drittel (66,8o/0) der Gesamtbevölkerung. Darunter 55667469 Großrussen, 22380551 Kleinrussen und 5885547 Weißrussen; demnach Großrussen doppelt soviel als Klein- und Weißrussen zusammen. Wenn man noch die Kleinrussen Galiziens (3340000), der Bukowina (340000) und Ungarns (653000) nach der Volkszählung von 1900 hinzuzählt, so gab es gegen Ende des vorigen Jahrhunderts Kleinrussen über 26 Millionen, Russen überhaupt gegen 88 Millionen. Für spätere Jahre sind nur Berechnungen nach dem jährlichen Zuwachskoeffizienten möglich, als den manche 1,25, andere 1,5 annehmen. Danach hätte Rußland vor dem Kriege 1914 eine Gesamtbevölkerung von ungefähr 141 oder 193 Millionen gehabt, während eine Schätzung russischer Statistiker für 1913 176,4 Millionen ergab. Die Wahrheit dürfte also ungefähr in der Mitte liegen, und danach sind auch die auf 1914 entfallenden Berechnungen nach den obigen Koeffizienten zu beurteilen: Russen 105 oder 126 Millionen, Großrussen gegen 70 oder 83,5 Millionen, Weißrussen 7356933 oder 8828520, Kleinrussen gegen 28 oder 33,5 Millionen (in Rußland allein). Auswanderer, hauptsächlich in Nordamerika, sind dabei nicht berücksichtigt. Nun können wir kurz auch die Kernfrage der russischen Ethnographie erörtern: ist ein Auseinandergehen der russischen Stämme in drei Nationalitäten, Schriftsprachen und Staatswesen möglich und wahrscheinlich? Bei den Weißrussen ist das ausgeschlossen, um sie werden sich nur die Russen und Polen streiten. Man bedenke nur, daß Mickiewicz in Nowogrödek im Gouvernement Minsk geboren ist und daß die ersten Worte seines Epos Pan Tadeusz lauten: „Litauen, mein Vaterland!“ Dieses historische Litauen mit seiner litauischen und weißrussischen Bevölkerung hat jeder Pole in sein Herz eingeschlossen. Anderseits wird der weißrussische Dialekt zwar sprachwissenschaftlich eifrig studiert, besitzt aber nicht einmal eine praktische Grammatik, und Versuche, das Weißrussische zu schreiben gehen über die Dialektschriftstellerei anderer Völker nicht hinaus. Eine „Republik Weißruthenien“ war daher von vornherein eine Totgeburt. Sehr verwickelt ist die Frage bezügr lieh der Kleinrussen oder Ukrainer, über welche die Ansichten stark geteilt sind. Es kommt dabei sehr viel auf den Ausgangspunkt an, was ich am nächstliegenden Beispiel deutlich machen will. Mein Vorgänger in Leipzig, A. Leskieh, ein hervorragender vergleichender Sprachforscher und slawischer Grammatiker, betrachtete das Kleinrussische nur als einen Dialekt des Russischen. Leskien war ein Deutscher aus Kiel, der das Plattdeutsche sehr gut kannte. Nun ist der Unterschied zwischen Niederdeutsch und Hochdeutsch bei weitem größer als zwischen Groß- und Kleinrussisch, namentlich im Konsonantismus, worin das Niederdeutsche noch auf dem Standpunkte der ersten Lautverschiebung steht. Ich gehöre jedoch einem der kleinsten slawischen Völker an und bin in Österreich aufgewachsen, wo die Ruthenen Galiziens und der Bukowina Sprachenrechte hatten und ihre Sprache eifrig pflegten. Wenn nun die Ukrainer in Rußland dasselbe tun wollen, so ist das ihre Sache, Schriftsprachen werden ja nicht von Gelehrten, sondern von Schriftstellern geschaffen, beim Volke entscheidet aber das Bedürfnis oder sein Wille. So faßten auch viele tonangebende Russen die Sache auf und die Abteilung für russische Sprache und Literatur der Petersburger Akademie der Wissenschaften gab 1905 auf eine Anfrage der Regierung das Gutachten ab, daß die Umgangssprache der Kleinrussen zur Sprache der neuen kleinrussischen Literatur geworden und daher ihre Pflege berechtigt sei. Politische Bedenken wollten die russischen Liberalen nicht gelten lassen: z. B. lehnte der Literarhistoriker und Ethnograph Pypin den Verdacht eines hochverräterischen Separatismus mit der wegwerfenden Frage ab, wohin die Kleinrussen abfallen könnten. Dem Präsidenten der russischen Abteilung der Akademie, A. Sachmatov, dem führenden russischen Linguisten, der an dem genannten Gutachten stark beteiligt war, bereitete daher die Haltung der Ukrainer im Weltkriege die größte Enttäuschung und mehr Schmerz als die Bauernbanden, die sein Gut bei Saratov vernichteten. Aber auch Deutschland, das mit einer selbständigen Ukraine Frieden schloß, wußte mit ihr nichts anzufangen und trieb eine dilettantenhafte Schaukelpolitik, die noch heute von der deutsch-ukrainischen Gesellschaft in Berlin lebhaft bekämpft wird. Die Hauptschuld wird auf die großrussisch orientierten Deutschen aus Rußland geschoben. Man versteht aber auch leicht den Standpunkt eines russischen Deutschen, der mit der russischen Schriftsprache im ganzen Reich fortkommen will und den Wert eines großen Wirtschaftskörpers lebhaft fühlt. Vorsichtig und vernünftig behandelt die Frage der Geograph A. Hettner8), welcher erklärt, daß die geographischen Verhältnisse einer Trennung nicht günstig sind, denn die Volksgrenze fällt mit keiner Naturgrenze zusammen. Das sieht auch ein Laie sofort, wenn er z. B. das Steppen- oder Schwarzerdegebiet betrachtet. Überdies sind Großrußland und die Ukraine wirtschaftlich und auch politisch aufeinander angewiesen. Namentlich wäre die Ukraine, die ohnehin nicht alle Volksgenossen umfassen könnte, gegenüber ihren mißgünstigen Nachbarn zu schwach, Rußland kann sich aber unter keinen Umständen vom Schwarzen Meere verdrängen lassen. Und was hätte die Welt von einer selbständigen Ukraine? Nach Konstantinopel und nach den Meerengen hätte auch sie die Augen gerichtet und müßte sich gerade deshalb wieder an Moskau anlehnen. Über den Volkswillen der breiten Massen kann man sich schwer ein Urteil bilden, bezüglich der Schriftsprache fand ich aber eine mich verblüffende Statistik im Katalog der russischen Abteilung der Bugra. Danach 8) Rußlands, 304. erschienen 1910 an selbständigen Werken in russischer Sprache 22321 Titel, in kleinrussischer — 180. Da stehen die Ukrainer unter den Völkern Rußlands erst an 9. Stelle. Nach der Revolution 1905 erschienen zwar zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften, aber es scheint ihnen meist kein langes Leben beschieden gewesen zu sein; sonst fiel mir aber die große Zahl grammatischer und ähnlicher Handbücher auf, doch ein 30—40-Millionen-Volk, was die Ukrainer sein wollen, braucht etwas mehr für seine geistigen Bedürfnisse. Aus dieser Statistik ersieht man aber auch den hohen Kulturwert der russischen Sprache, die tatsächlich eine Weltsprache für das Riesenreich ist und auch an der Spitze der slawischen Völker steht, mögen diese im Westen noch so sehr fortgeschritten sein. Um die geistige Potenz der übrigen Völker Rußlands, von denen wir gleich reden werden, zu charakterisieren, führe ich noch folgende Zahlen an: an zweiter Stelle steht die polnische Sprache mit 2062 Titeln, die jüdische 903, deutsche 884, lettische 649, esthnische 454, tatarische 313, armenische 203, die französische (ohne eine entsprechende Bevölkerung!) 132, grusinische (georgische) 117, litauische 103 usw., erst an 18. Stelle steht der weißrussische Dialekt mit 14. Wir können also von der ukrainischen Frage mit der Erkenntnis scheiden, daß nur eine größere oder kleinere Autonomie in Betracht kommt und für die Pflege der ukrainischen Sprache in Rußland noch sehr viel getan werden müßte. Parallelen, wie solche Fragen gelöst werden können, hat der Weltkrieg in slawischen Staaten schon gebracht.In der tschechoslowakischen Republik ist die slowakische Sprache im ehemaligen nordwestlichen Ungarn, die wirklich nur ein wenig verschiedener Dialekt des Tschechischen ist, gleichberechtigt, doch sind die Slowaken auf die tschechische Literatur angewiesen und werden es noch lange sein. Im neuen südslawischen Staat (Jugoslawien) ist neben der serbokroatischen Sprache die slowenische gleichberechtigt, die mit der serbokroatischen in dem Grade verwandt ist, daß die slowenischen Abgeordneten, als in der Nationalversammlung in Belgrad das Protokoll zum erstenmal auch in slowenischer Sprache verlesen wurde, erklärten, das sei nicht notwendig. Ein besonders interessantes Beispiel sind aber die nach Ungarn verschlagenen kleinrussischen Volkssplitter, für die eine autonome Provinz innerhalb der tschechoslowakischen Republik gebildet wurde. (Schluß folgt.) Über die übrigen Völker will ich nur das allerwichtigste bemerken und dabei nicht systematisch nach einzelnen Sprachgruppen vergehen, sondern zuerst die Randgebiete; die am meisten interessieren, erwähnen. Finnland gehört geographisch nicht zu Rußland, kam aber 1809 von Schweden an das russische Reich, mit dem es> durch eine Personalunion verbunden war, bis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts bureaukratische und militärische sich nationalistisch gebärdende Imperialisten, denen ein solcher Staat im Staate ein Dorn im Auge war, seine Rechte zu vergewaltigen begannen. Die Mehrzahl der Bevölkerung besteht aus lutherischen Finnen (2200000 im J. 1897, was auch für alle übrigen Zahlen gilt), die ehemaligen Herren, die Schweden (350000), leben hauptsächlich an der Küste. Finnland wird in Zukunft wohl einen Pufferstaat bilden, der wie die übrigen nordischen Staaten auf seine Neutralität stark bedacht sein dürfte. Teile der Finnen, wie die der orthodoxen Religion angehörenden Karelier, leben in den angrenzenden und zerstreut auch in entfernten Gebieten Rußlands, andere Splitter in den Gouvernements Olonec (die Wepsen) und Petersburg am Finnischen Meerbusen. Eine größere Einheit bilden unter den baltischen Finnen nach den Finnländern nur noch die lutherischen Esthen (900000) in Esthland, im nördlichen Livland und auf der Insel Oesel, die nun einen besonderen Staat bilden werden. Von den alten Liven gibt es Reste nur noch in Kurland (bei 2000). Dann folgen die gleichfalls lutherischen, aber bereits indogermanischen Letten (1436000) im südlichen Livland, in Kurland und in den drei westlichen Kreisen des Gouvernements Witebsk. Ob auch letztere zum neuen Lettland gehören werden, entzieht sich noch der Beurteilung. Unter den Esthen und Letten bilden zahlreiche Deutsche (1897 ungefähr 10% der Gesamtbevölkerung) als Großgrundbesitzer, Geistliche und überhaupt Vertreter der Intelligenz sowie Städter eine Oberschicht, die eine bedeutende Vergangenheit hat, aber infolge der auch dort immer stärker hervortretenden demokratischen und sozialen Ideen in den Hintergrund gedrängt wird. Solche Fragen sind überall nicht bloß nationaler, sondern auch sozialer Natur; so richtet sich in Rußland die Revolution auch gegen den Adel, obwohl er dieselbe Sprache spricht. Dieselbe Rolle wie die Deutschen unter den Letten und Esthen spielen die Polen unter den katholischen Litauern (1800000), die hauptsächlich an der Wilja und im Unterlauf des Niemen wohnen, im Gouvernement Kowno, in der westlichen Hälfte von 22 Wilna und einem Teil von Grodno, sodann im Gouvernement Suwalki (Kongreß-Polen). Das Lettische und Litauische bilden mit dem ausgestorbenen Preußischen eine besondere baltische Sprachgruppe, die mit den slawischen Sprachen besonders nahe verwandt ist. Das Litauische ist von größtem Wert für die vergleichende Sprachwissenschaft; es ist so altertümlich, daß es mit Recht ein Mammut unter den indogermanischen Sprachen genannt wurde. Die Litauer standen Jahrhunderte vollständig unter polnischem Kultureinfluß, der russische machte sich erst im letzten Jahrhundert durch die Verwaltung geltend, außerdem studierten zahlreiche Litauer an den russischen Universitäten und wendeten die dort geholten freiheitlichen Ideen in dem Sinne an, daß sie ihr Volk in gleicher Weise von den Russen wie von den Polen zu emanzipieren suchten. Die genannten baltischen Gebiete gehören geographisch zu Rußland und sind für dasselbe von größter Bedeutung wegen ihrer Häfen. Vielleicht werden auch diese neuen Staaten es für vorteilhaft halten, mit Rußland in irgendeine nähere Beziehung zu treten, denn sonst werden Lettland und Esth-land allzusehr unter englischen Einfluß geraten; Litauen möchte aber auch das neue Polen wieder für eine Union gewinnen. Die Grenzen Litauens sind von größter Wichtigkeit für die Frage, ob Deutschland unmittelbare Berührung mit Rußland haben wird oder nicht. Das bisherige Polen, wie es der Wiener Kongreß geschaffen hatte, mit 9455943 Einwohnern, von denen die Polen 71,8°/o bildeten, gehörte geographisch nicht zu Rußland und trieb sich wie ein Keil nach Mitteleuropa. Mit seinem Verluste gewinnt Rußland eine stark verkürzte, fast gerade Verteidigungs- linie; die zentralrussischen Gouvernements werden auch den Wegfall der mit ihnen sehr stark konkurrierenden polnischen Industrie nicht beklagen, wohl wird aber diese den unermeßlichen russischen Markt schwer vermissen. Die Grenzen nach dem Osten sind zwar noch nicht bestimmt und hängen zum Teil davon ab, ob Polen der Entente noch gute Dienste gegen den Bolschewismus leisten kann, doch werden sich alle Parteien Rußlands kaum viel von den ehemaligen weiß- und kleinrussischen Provihzen Polens nehmen lassen, und jede größere Annexion wäre auf die Dauer unhaltbar, denn die polnisch-russische Geschichte würde bei den bisherigen Anschauungen von neuem beginnen. Auf jeden Fall wird aber ein großer Teil der polnischen Oberschicht in russischen Gebieten den starken Rückhalt des Mutterlandes, wie sie ihn bisher innerhalb des russischen Reiches hatte, verlieren. Begreiflicherweise wird es daher im neuen Polen außer den Sozialdemokraten noch andere Kreise geben, die auf gute Beziehungen mit Rußland Gewicht legen werden. In Polen und in allen einst polnischen, litauischen, weiß- und kleinrus-sischen Provinzen sind hauptsächlich in Städten und Märkten ungemein stark die Juden vertreten. 1897 gab es ihrer in Rußland 5200000, in Galizien ungefähr 815000, in der Bukowina 100000, also schon damals unter Polen und Russen mehr als 6 Millionen. Gegen 90o/o dieser ganzen jüdischen Bevölkerung sind besitzlose Massen, wahre Proletarier, die in Armut und in unhygienischen Verhältnissen leben. Ein Drittel von ihnen widmet sich dem Handwerk, ein zweites Drittel dem Handel, was ein ganz unnatürliches Verhältnis ist; 10% bilden Taglöhner, 2,1 o/o Fabrikarbeiter, 2% Landwirte, 18,8% Arme, die den Gemeinden zur Last fallen.9) Diese Juden sprechen einen aus Deutschland mitgebrachten verdorbenen, mit hebräischen und sonstigen Elementen gemischten fränkischen Dialekt („Jiddisch, Jargon“), geben Bücher, Zeitschriften und Zeitungen nicht bloß hebräisch, sondern auch in diesem Dialekt mit hebräischen Lettern heraus, haben überhaupt eine Literatur, die zu den großen russischen Schriftstellern als ihren Lehrmeistern emporblickt, und ein sehr realistisches Theater. Das alles macht es begreiflich, daß diese polnischen und russischen Juden eine Assimilation größtenteils ablehnen, sich als eine besondere Nation betrachten und auch entsprechende Rechte verlangen, ln dem ersten ukrainischen Kabinett und auch in einigen folgenden gab es daher sogar einen Minister für jüdische Angelegenheiten. Einen Ausfluß dieses Nationalismus bildet auch der Zionismus, dem nun Palästina zugewiesen werden soll, das jedoch bei weitem nicht genügen wird. Natürlich fanden bei den Juden auch sozialistische und revolutionäre Ideen einen besonders fruchtbaren Boden und der „Allgemeine jüdische Arbeiterbund in Rußland, Polen und Litauen“, kurz „Bund“ genannt, ist sehr bekannt geworden. Außerhalb des „Ansiedlungsrayons“ konnten sich früher Juden nur als Kaufleute erster Gilde, in akademischen Berufen und als Handwerker aufhalten, was allerdings vielfach umgangen wurde. In der Krim und auf dem Kaukasus gibt es aber davon verschiedene, nicht zahlreiche Juden, die Ka-raimen, welche vollberechtigt sind. Bevor wir vom Westen scheiden, müssen wir auch der zahlreichen deut- schen Kolonisten in Polen, in den Gouvernements Wolhynien, Beßara-bien, Cherson und Taurien und an der Wolga gedenken. Durch den Krieg haben nur die an der österreichischen Grenze gelegenen Kolonien besonders gelitten. Im allgemeinen leben aber die deutschen Kolonisten in sehr guten Verhältnissen. Als Beispiel können die Kolonien im Gouvernement Taurien dienen. Dort wurde zu Ende des 18. und zu Anfang des 19. Jahrh. den Deutschen Land in der Hälfte der Republik Sachsen zugewiesen, heute besitzen sie das dreifache Sachsen. Die durchweg reichen Bauern, die 10—12 Schweine schlachten, „sind stolz wie Herrscher, selbständig wie Könige“ (aus dem Vortrag eines Kriegsteilnehmers). Besonders stark sind die Kolonien an der Wolga, wo es auch viele Katholiken gibt. Ganz erstaunt war ich in Saratov über eine katholische Kathedrale im gotischen Stil. Das Bistum Tyraspol hat seinen Namen nach einem Ort der Krim aber die Regierung meinte, es sei bei den Deutschen an der Wolga besser aufgehoben. Nun sollen auch Kommunisten aus Deutschland dahin wandern, dürften sich aber mit den dortigen selbstbewußten Bauern anfangs schlecht verstehen und könnten dort „katholisch“ gemacht werden. Während des Krieges sprach und schrieb man öfters von einer Rückwanderung der deutschen Kolonisten, insbesondere von einer Verpflanzung nach Kurland.10) Ich mußte dabei immer bedenklich den Kopf schütteln: der Übergang dieser Bauern von einer extensiven Wirtschaft im Steppengebiet zu einer intensiven im Waldland wäre nicht so einfach, auch wenn sie dazu Lust hätten. 10) Sogar Hettner, Rußland, 302. 22* 9) Jos.Melnik, Russen über Rußland,567. Deutsche gibt es auch sonst überall in Rußland, namentlich in den beiden Hauptstädten. In Petersburg besitzen sie im hervorragendsten Stadtteil zwei höhere Schulen. Die Zahl aller Deutschen in Rußland wurde von Florinskij 1907 auf 2 Millionen geschätzt. Geographisch nicht zu Rußland gehört das ein besonderes Verwaltungsgebiet bildende Kaukasien. Dieses wird jedoch kaum zur Hälfte verloren gehen, denn diesseits des Kaukasus wohnen ja meist Russen. Im Hochgebirge selbst und jenseits des Kaukasus finden wir aber eine Menge kleiner, oft nur auf einzelne Täler beschränkter verschiedenartiger Völkerschaften, deren Organisierung ungemein schwer fallen wird. Auf Rittichs Karte werden für sie elf Farben verwendet und dazu noch eine zwölfte für „andere kleinere Stämme". Da gibt es vor allem indogermanische Völker, die der iranischen Sprach-gruppe angehören. Am zahlreichsten sind die Armenier (bei 1200000), zerstreut in den Gouvernements Eriwan (50%), Elizavetpol (35°/o) und Tiflis (25%), auch sonst am Kaukasus und am Schwarzen Meere. Sie sind un-gemein regsam und geschäftstüchtig, die „Kapitalisten" und die „Juden" des Kaukasus, welche sie aber ebenso wie die Griechen übertreffen sollen. Das Oberhaupt ihrer alten Nationalkirche, der Katholikos aller Armenier, hatte seit 1878 seinen Sitz in Rußland, in Etschmiadzin. Weiter gehören zur iranischen Sprachgruppe die Taten (125000) und Talaschinzen (ungefähr 50000) im Gouvernement Baku, Kurden (bei 100000), die mit ihren Stammesgenossen in der Türkei als Mohammedaner die ärgsten Gegner der Armenier sind, und Ossetinen (bei 70000) im mittleren Hochgebirge. Weiter gibt es eine Gruppe kaukasischer Völkerschaften, unter denen die Georgier (russ. Grusinen) im Gouvernement Tiflis (bei 400000), Ime-retier und Kurier (bei 500000) in Kutais, Mingrelier in Kutais und Lasen in Datum (bei 220000), Les-ginen (bei 600000) in Dagestan und eine Reihe kleinerer Stämme, die wohl im neuen Staat Georgien vereinigt sein werden. Was mit anderen Völkersplittern wie Tschetschenzen, Tscherkes-sen und Abchasiern geschehen soll, ist mir nicht klar. Verhältnismäßig stark sind am Kaukasus die Tataren, vor allem die Aderbendžaner (diese Schreibung gibt die Aussprache ebenso ungenau wieder wie die andere: Aserbeid-schaner, 1250000), die nach Florinskij Nachkommen der seldschuki-schen Türken, nach Fr. Müller und der Karte von Haardt aber iranische Türken sein sollen. Weiter sind zu nennen Nogaische Türken, hauptsächlich im Gouvernement Stavropol, Kumy-ken, Osmanen usw. Vom Pariser Rat ist ebenso wie Armenien, dessen größerer Teil aber der Türkei genommen werden soll, und Georgien auch ein selbständiger Staat Aderbendžan anerkannt worden, der aber nur die im südlichen Kaukasien gelegenen Tataren umfassen kann. Ein schweres Leben wird Armenien haben, das Türken und Tataren nicht bloß als Nachbarn, sondern auch innerhalb seiner Grenzen zählen wird. Man sehe sich auf einer ethnographischen Karte nur die Lage von Eriwan an, das die Hauptstadt sein soll. Überdies ist zu erwägen, daß kein Volk durch den Krieg so viel Menschen verloren hat wie die Armenier durch Massakers und „Internierungen" in der Wüste, wo sie eben zugrunde gingen. Die Zahl solcher Opfer soll 1,2 Millionen betragen haben, d. h. so viel wie es Armenier in Rußland gab. Wer wird so zersplitterte Teile vereinigen, Zusammenhalten und verteidigen? Der südliche Kaukasus kann dem Völkerbund viel zu schaffen geben, oder die neuen Staaten werden bei den Großmächten Rückhalt suchen, und da kommt natürlich auch Rußland wieder in Betradht, so daß sich die Geschichte von Georgien und Armenien bis zu einem gewissen Grade wiederholen kann. Auf dem Kaukasus und am Schwarzen Meer gibt es auch Griechen (bei 190000). Sonst verdienen im Gebiet des Schwarzen Meeres Erwähnung noch Rumänen am linken Dniestrufer und bulgarische Kolonisten (im ganzen bei 200000), die sich nach den russischen Türkenkriegen, meist erst im 19. Jahrh. angesiedelt haben. Interessant ist die Tatsache, daß um die Mitte des 18. Jahrh. in den Gouvernements Jekate-rinoslaw und Cherson zahlreiche Serben aus Ungarn eingewandert sind, die ein besonderes Territorium erhielten, heute aber trotzdem zum größten Teil in den sie umgebenden Kleinrussen aufgegangen sind, was bei der großen Sprachverwandtschaft und der Gleichheit der Religion leicht begreiflich ist. In der Krim gibt es noch 150000 der ehemals mächtigen und viel zahlreicheren, aber durch starke Auswanderungen geschwächten Krim-Tataren, in denen auch Griechen, Genuesen und Goten aufgegangen sind. Um Jalta herum sieht man es so manchem Tataren deutlich an, daß er ein Nachkomme der Männer ist, bei denen Iphigenie Priesterin war, ebenso erinnern daran Namen wie Ai Petri, Ai Todor (aus hagios=heilig). 4. Über die Völker im Innern und Osten von Rußland können wir uns kurz fassen. Vor allem sind neben den baltischen Finnen zu nennen finnische Völkerschaften an der Wolga und Kama. Die Wolgagruppe bilden die Tscheremissen (bei 400000), hauptsächlich im Gouvernement Kasan, und Mordwinen (ungefähr 1000000) in verschiedenen Gouvernements rechts und links der Wolga. Eine Million scheint nach westeuropäischen Begriffen schon ziemlich viel, aber man muß bedenken, daß die Mordwinen in kleinen Gruppen weit herum zwischen Russen und Tataren eingesprengt erscheinen. Da beide Völker orthodoxe Christen sind, allerdings oft nur halbe, so nehmen sie russische Einrichtungen und Gebräuche und zuletzt auch die Sprache sehr leicht an, ja sie werden zum engeren Anschluß an die Russen sogar gezwungen, wenn sie neben Bekennen! des selbstherrlichen und sogar offensiven Islams wohnen. An der Kama finden wir die Wotjaken (bei 400000) im Gouvernement Wjatka, Permjaken (nur noch 90000), genannt nach der Gouvernementsstadt Perm, und Zyrjanen (z tönendes s) im Norden (170000). Auch diese Splitter nehmen die russische Kultur gern an. Daß sie es weit bringen können, ersieht man daraus, daß die Zyrjanen die Juden des Nordens genannt werden, was viel bedeutet, wenn man bedenkt, daß sich der Großrusse selber auf Geschäfte sehr gut versteht. Die Explodier ung der stammverwandten Samojeden ist allerdings auch keine besonders schwierige Sache. Von der ugrofinnisChen Gruppe gibt es nur noch kleine Reste. Schon am Ural wohnen die Wogulen (ungefähr 7000) und im nordwestlichen Sibirien die Ost jaken (25000), die nächsten Sprachverwandten der Magyaren in Ungarn. Im hohen Norden Rußlands und Westsibiriens leben verschiedene Zweige der im Rückgang befindlichen Samojeden (bei 20000). Der finnischen Völkerschaften wegen kann also Rußland ruhig schlafen. Mehr Bedeutung haben die Völker der alta i sehen Sprachgruppe: Türken, Mongolen und Tungusen. Türken gab es gegen 12 Millionen (1897 bildeten sie 10,8% der Gesamtbevölkerung, die Finnen nur 2,72%), die in verschiedenen Stämmen von der Wolga bis Ostsibirien, von Transkau-kasien ■ bis zum Polarkreis zerstreut wohnen. Diese türkischen Völker waren Nomaden und sind es meist noch heute, doch viele Stämme sind schon ganz seßhaft geworden und sogar zum Ackerbau übergegangen; man kann auch innerhalb eines und desselben Stammes verschiedene Zwischenstufen beobachten. Die Tataren des Kaukasus und die Reste der Krimtataren haben wir schon erwähnt. Die fortgeschrittensten sind die Wolgatataren (1350000), die in allen Gouvernements weit und breit rechts und links der Wolga bis Astrachan zerstreut sind. Das sind die eigentlichen Reste jener Tataren, die einst Rußland beherrschten. Sehr wenig I Nach dem Untergang ihrer Reiche sind die höheren Kreise Christen geworden, um sich eine privilegierte Stellung zu sichern, und in den Russen aufgegangen, weshalb der Titel „Fürst“ (Knjaž) ganz herabsank (in russischen Städten nennt man noch heute so die herumziehenden tatarischen Händler), größere Massen sind aber nach dem Süden und Osten gezogen, um später wieder unter russi- sche Herrschaft zu geraten. Anderseits haben aber Tataren finnische Völkerschaften assimiliert. So sind ein Gemisch von Finnen und Tataren die Tschuwaschen (bei 650000), hauptsächlich in den Gouvernements Kasan rechts der Wolga und Simbirsk. Ihrer finnischen Vorfahren gedenken noch die Meschtscherjaken (bei 130000) und Teptaren (über 300000) in den Gouvernements Ufa und Orcnburg, zum Teil auch in Samara, Perm und Wjatka, die man schon zu den Baschkiren rechnet. Die Baschkiren selbst (über 1300000) in den Gouvernements Ufa und Orenburg, teilweise auch in Samara, Perm und Wjatka werden schon von arabischen Schriftstellern des 10. bis 12. Jahrh. erwähnt, wurden bereits 1556 Moskau angegliedert und bieten das Beispiel des allmählichen Rückganges eines Steppenvolkes, das zum Teil gewaltsam zu Bauern gemacht wurde. Besser haben ihre Nomadenverfassung die Stämme jenseits des Urals bewahrt. Am stärksten sind die Kirgisen (Kirgis-Kajsaken), die über drei Millionen Seelen zählen und seit dem 18. Jahrh. in drei Horden geteilt sind, in eine große, mittlere und kleine, von denen aber die kleine die zahlreichste ist; sie bevölkern das weite Steppengebiet vom Bassin des Balchaschsees und der Vorgebirge von Tian-Schan bis zum Kaspischen Meere und den Niederungen der Wolga. Die Kleine Horde wandert bis zum Kaspischen Meere, und von ihr hat sich 1801 eine „innere“ Horde abgetrennt, die vom Ural bis zur Wolga im Gouvernement Astrachan nomadisiert. Südlich von den Kirgisen sind vom Osten nach Westen gelagert die Karakirgisen (bei 350000), Usbeken (bei 600000), Sarten (bei 700000), ein ursprünglich iranischer Stamm, im russischen Turkestan (noch heute sind daselbst Iranier die Tadschiken), Tarantschen (bei 50000) und Turkmenen (bei 600000). Im nördlichen Sibirien gibt es zahlreiche kleinere Stämme, die zum Teil ursprünglich Finnen waren. Bedeutung haben nur die Jakuten (bei 230000) iin Ostsibirien, hauptsächlich im Bassin der Lena, deren Sprache den alttürkischen Charakter am besten bewahrt hat und dem Sanskrit unter den indoger-; manischen Sprachen verglichen wird. Sie geben sich aber mit Viehzucht, Ackerbau und Handel ab (man nennt ! sie die Juden von Ostsibirien), halten an ihren alten Sitten und ihrer Sprache fest, sind offiziell orientalische Christen, doch gibt es unter ihnen auch noch Anhänger des Schamenentums. Ebenso sind die Tschuwaschen an der Wolga erst im 18. Jahrh. halbe Christen geworden, unter den Wolgatataren gibt es nur wenige getaufte, alle übrigen türkischen Völker sind aber Bekenner des Islam; am meisten orthodox sind die Wolgatataren, die mit den Sarten in Zentralasien auch die meiste Geistlichkeit den weniger glaubenseifrigen Steppenvölkern liefern. Zur mongolischen Gruppe gehören | die Kalmücken (bei 202000) im Gouvernement Astrachan am rechten Ufer der Wolga und Stavropol am Kaukasus, außerdem noch in anderen Gebieten des europäischen und asiatischen Rußland zerstreut. In Ostsibirien finden wir um den Baikalsee die Burjaten (bei 270000). Beide Stämme gehören den Buddhisten an. Man kann also Anhänger des Dalai Lama auch in Europa studieren, wenn man eine Wolgafahrt bis zur Mündung macht oder vom Schwarzen Meer über Rostov am Don einen Abstecher zu den Kalmücken unternimmt. Tungusen (bei 44000) nomadisieren auf den Riesenflächen vom Jenissei und den nördlichen Tundren bis zum Ochotskischen Meer und Amur. Kleinere Völker dieser Gruppe zählen nur nach Tausenden, zahlreicher sind schon Chinesen, Koreaner und Japaner auf russischem Boden; im Nordosten gibt es aber wieder nur nach einigen Tausenden oder sogar Hunderten zählende Völker, über deren Zugehörigkeit man sich gar nicht klar ist oder die schon zur amerikanischen Gruppe gehören. Bei den Kamtschadalen auf Kamtschatka hat man am Ende des 18. Jahrh. noch das Steinzeitalter vorgefunden, bei den Tschuktschen aber noch spät im 19. Man sieht, daß die 100 und mehr Völker, die man in Rußland zählt, im ganzen Osten ohne besondere Bedeutung sind. Eine Macht können nur die verhältnismäßig zahlreichen türkisdien Völker durch das vereinigende Band des Islams werden, aber auch sie sind auf Riesenflächen zerstreut, zersplittert und schwach gegenüber den Errungenschaften der modernen Kultur, über die Rußland durch seine Zivil- und Militärorganisation, durch seine Eisenbahnen und seinen Handel verfügt. Man muß auch zugeben, daß es die Russen verstehen ihre asiatischen Völker zu behandeln, ja es gibt Panasiatisten unter den Russen, die ihrem Volk besondere Fähigkeiten für ein besseres Verständnis des Orients zuschreiben. Nur zwei Beispiele für diese Behauptungen. Nach mehr als 30 Jahren erinnere ich mich noch lebhaft eines Vortrages in der Petersburger Geographischen Gesellschaft, wo ein Reisender berichtete, wie es irgendwo bei den Kirgisen keine Gotteshäuser gab. Auf eine Frage der Behörden, welchem Glauben sie angehören, erklärten die Bewohner, sie seien Mohammedaner. Darauf baute ihnen Rußland Moscheen, aber die offenbar nur scheinbar zum Islam Bekehrten besuchten sie nicht und die Verwaltungsbehörde geriet auf den Einfall, sie durch Gendarmen hineinzutreiben. Das heilige Rußland im Dienste Mohammeds! Auch die ältesten kleinen und hohen Exzellenzen brachen da in ein schallendes Gelächter aus. Ebenso seltsam ist folgendes, ln Ostsibirien gab und gibt es noch Heiden, unter denen Schamanen ihr Unwesen treiben. Da die russische Kirche wenig missionsfähig ist, empfahlen Orientalisten wie Pozd-neev die Einführung des Buddhismus als Surrogat für das Christentum, was sich in der Tat bei den Burjaten bewährte. Daß sich auch die Bolschewisten ganz besonders auf die Gewinnung asiatischer Völker verstehen, zeigen die Ereignisse aus jüngster Zeit. Meine Ausführungen waren etwas lang, um so kürzer kann der Schluß sein. Ich glaube durch Vorführung der wichtigsten Tatsachen gezeigt zu haben, daß Rußland, mag kommen was immer, ein großes und mächtiges Reich bleiben und auch nach den stärksten Amputationen über 150 Millionen Einwohner zählen wird. Wenn es geographisch gar nicht zu ihm gehörige Gebiete wie Finnland, Polen und den südlichen Kaukasus verliert, so ist es nirgends in seinem Lebensnerv getroffen, im Gegenteil, es wird manche Schwierigkeiten los, gewinnt an Einheitlichkeit, das herrschende Element wird noch mächtiger und sein tausendjähriges Reich kann sich mit um so größerem Erfolg seinen Aufgaben im Innern und im Osten zuwenden. Nach dem Gesetz der Anziehungskraft großer Massen auf kleinere kann Rußland sogar Gebiete bewahren, die verloren zu sein scheinen, oder auch seinen Machteinfluß erweitern, namentlich wenn es ihm gelingt sich zu einer geordneten Föderativrepublik umzugestalten. Auf jeden Fall braucht die Welt aus wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Gründen ein freies demokratisches Rußland, das namentlich in einem wirklichen Völkerbund ebensowenig entbehrlich ist wie Deutschland. I fL 'H HRPODHFl im umiuerzitetnfi knjižnica