Hans Rainer Sepp UNBETEILIGTES BETEILIGTSEIN EL GRECO: LAOKOON' Laokoon und seine Söhne ist ein Spätwerk El Grecos, entstanden in den Jahren vor seinem Tod, in der Zeit zwischen 1610 und 1614. Gut ein Jahrhundert davor, 1506, war die hellenistische Laokoon-Gruppe entdeckt worden, die El Greco von seinem Aufenthalt in Italien her bekannt war. Wie die antike Skulptur zeigt auch El Grecos Bild den Todeskampf des trojanischen Priesters Laookon und seiner beiden Söhne. Laokoon hatte die Trojaner vor dem hölzernen Pferd der Achäer gewarnt. Damit erzürnte er die Götter, die daraufhin Schlangen sandten, die La-okoon und seine Söhne töteten. Das Laokoon-Motiv, von dem es von El Greco mehrere Fassungen gab, ist nur mehr in einer einzigen Version überliefert, die 215 1 Die vorliegende Publikation ist im Rahmen des Forschungsvorhabens Philosophical Investigations of Body Experiences: Trans disciplinary Perspectives (Grantova agentura ČR, č. P401/10/1164) entstanden, das an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Karls-Universität Prag durchgeführt wird. 216 sich heute in der National Gallery in Washington befindet.2 Schichten Der Aufbau des Bildes hat eine horizontale und eine vertikale Schichtung. Horizontal schichten sich Vorder- und Hintergrund übereinander. Im Vordergrund sperrig ins Bild gesetzt die drei nackten Körper von Laokoon und seinen Söhnen. Laokoon in der Mitte, rücklings zu Boden gestürzt wie einer der beiden Söhne zu seiner Linken, presst den Kopf der um ihn sich windenden Schlange, um ihren todbringenden Biss abzuwehren. Der andere Sohn zu seiner Rechten, noch aufrecht stehend, sucht ebenfalls das wie ein Reif sich bäumende Reptil von sich fernzuhalten. Alle drei Körper befinden sich in ungewöhnlichen, ja extremen Haltungen, deren dramatische Choreographie zu den im Verhältnis zu ihnen klein und wie Tanzbänder erscheinenden Reptilien einen eigentümlichen Kontrast bildet. Laoko-on, breitbeinig wie noch im Fall begriffen, den Kopf verrenkt, dem Schlangenhaupt über ihm zugekehrt, liegt fast diagonal im Bild, während die gestreckten Körper der beiden Söhne jeweils eine gekrümmte Senkrechte bilden. Unmittelbar unter der Gruppe ist der Ausschnitt einer in schweren rotbraunen Tönen gehaltenen felsigen Landschaft zu erkennen, vor denen sich die hellen nackten Körper wie Schemen abheben. Im Hintergrund wird eine Stadt sichtbar, mit zahllosen Häusern, Türmen und 2 Laut Inventarliste von El Grecos Werkstatt gab es drei Versionen des Motivs, wobei die einzig erhaltene Version nicht mehr vollständig ausgeführt wurde. In seiner Umsetzung des Laokoon-Mythos hatte sich El Greco an Vergil orientiert. Zur Überlieferungsgeschichte des Mythos vgl. Heinz-Günther Nesselrath, „Laokoon in der griechischen Literatur bis zur Zeit Vergils", in: Dorothee Gall u. Anja Wolkenhauer (Hg), Laokoon in Literatur und Kunst. Schriften des Symposions „Laokoon in Literatur und Kunst" vom 30.11. 2006, Universität Bonn (Beiträge zur Altertumskunde, Bd. 254), Berlin/New York 2009, S. 1-13; Roswitha Simons, „Der verräterische Gott. Laokoon in der lateinischen Literatur der Kaiserzeit und Spätantike", in: ebd., S. 104-127. Annette Schäfer konfrontiert El Grecos Laokoon mit den ikonographischen Traditionen seiner Vorgänger und zeigt das demgegenüber Neue seiner Bildfindungen: El Greco. Die Erfindung des Laokoon, Basel [im Erscheinen]. einem stattlichen Schloss - Troja, in der Laokoon seinen Priesterdienst versah. Jetzt sind er und seine Söhne ausgegrenzt, im wahrsten Sinn: Ein dunkles Feld trennt Vorder- und Hintergrund, die Stadt ist in die Ferne gerückt, sie ist da, aber nicht mehr für den Blick der drei Gestalten, die in den Todesreigen mit den ihr Leben beendenden Reptilien eingebunden sind. Weit in der Ferne und doch scheinbar unmittelbar über den Dächern der Stadt flackert ein großer aufgeregter Himmel, der sein in Lichtfetzen zerrissenes Wolkenspiel über die ganze Szenerie einbrechen lässt. Er steht in einem merkwürdigen Kontrast zu der vordergründigen Stille der Stadt unter ihm, bildet jedoch eine Entsprechung zu den Körpern von Laokoon und seinen Söhnen: Fast hat es den Anschein, als skandierte er, dessen grelles Licht auf ihren Körpern widerscheint, ihren Todeskampf. In der Tat strebt der Aufbau der drei Körper auf ihn zu: Beide Söhne recken ihre Köpfe gen Himmel, und auch Laokoon, obgleich er der Schlange ins Antlitz starrt, hat den Blick nach oben erhoben. Verlängert man nicht nur die Blickrichtungen, sondern mit ihnen auch die Grundhaltungen der drei Körper - den senkrecht leicht gekrümmten Körper des Sohnes im linken Bildteil, dann die Senkrechte der zusam-mengepressten Beine des Sohnes rechts sowie die Linien der Unterschenkel Laoko-ons, so weisen alle diese Linien in die Zone des Himmels und treffen sich irgendwo außerhalb des Bildes. So sind es vor allem zwei Doppelkontraste, die dieses Bildgeschehen bestimmen: Der hell-gleißenden Dramatik des Himmels einerseits und der Figurengruppe andererseits steht ein ebenfalls miteinander verwandtes Zweifaches gegenüber: die scheinbare Ruhe der in dunkleren Tönen gehaltenen Stadt und die dunkle Zone des ,schweigenden' Gesteins im Vordergrund. Formal gesehen wechselt so jeweils eine hell-dramatische mit einer dunkel-verhaltenen Zone ab. Eindeutig positiv besetzt ist keine von beiden: weder die Dramatik eines unbarmherzigen Himmels und der um ihr Leben kämpfenden Gruppe noch das Dunkle der Menschenstadt und des in sich verschlossenen Grundes der Natur mit seinen aus ihm entsprossenen Schlangen. 217 Laokoon und seine Söhne sind in eine Szenerie eingespannt, bei der jedes der übrigen Momente antagonistisch zu allen anderen steht: der sich verweigernde Himmel, die Zivilisation als Stätte von Gewalt, die unzähmbare Natur. Rettung oder nur Duldung ist von keinem von ihnen zu erhoffen. Ahnen dies Laokoon und seine Söhne, wenn Sie sich leiblich dorthin sehnen, mit ihren Körpern dorthin wenden, wo alle Sichtbarkeit ein Ende hat - hinaus in die Transzendenz des Bildes? Das bisher Gesagte macht noch nicht das ganze Bild aus. Zwei bemerkenswerte Dinge hält dieses noch parat. Zwischen Vorder- und Hintergrund, zwischen der Figurengruppe und der Stadt, ist ein Pferd zu sehen, das, auf einer Anhöhe vor der Stadt, auf diese zuspringt. Bestünde das Bild nur aus dem Bildteil, den wir bisher betrachtet haben, wäre das Pferd genau in seinem Mittelpunkt lokali-218 siert. Und in der Tat, das springende Pferd markiert den ,springenden Punkt' des Ganzen: Es ist der Stein des Anstoßes, von Laokoon geweissagt und zugleich das Objekt seines Falls - aber auch des künftigen Falls der Stadt Troja. Das hölzerne Pferd steht mitten zwischen beidem, zwischen Laokoon und seiner Stadt, hat sich zwischen beide gedrängt und sie auseinandergebracht. Aber das Pferd im Bild ist aus Fleisch und Blut - eine besonders gut gelungene Tarnung der Achäer? Oder ein Sinnbild dafür, dass die Trojaner, obgleich sie dies besondere Kunstwerk, das hölzerne Pferd, bestaunten, es arglos, ganz ,natürlich' nahmen? Oder ist es, dies beides zusammen und tiefer bedacht, auch Ausdruck eines letzten Hohns auf Laokoons Wahrheit, indem es im Feld über seinem dem Tod geweihten Körper höchst lebendig der Stadt zustrebt, der es ebenfalls den Untergang bringen wird? Ganz rechts im Bild ist eine Gruppe von drei androgynen Gestalten3 zu sehen, deren ikonographischer Bildsinn nicht überliefert ist. Ihre Funktion ist auch nicht dem Laokoon-Mythos zu entnehmen. Wie Fremd-Körper sind sie 3 Dies machte erst eine Restaurierung des Bildes im Jahr 1955 deutlich. Dabei traten die Umrisse einer dritten, ganz rechts im Bild befindlichen Gestalt hervor. Frühere Interpretationen gingen von nur zwei Personen aus. der in sich gefügten Laokoon-Szenerie angestückt. Sie könnten von dieser Szene abgetrennt werden, und diese wäre dann immer noch unverkürzt das, was das grundlegende Bildsujet vorgibt: der Todeskampf von Laokoon und seinen Söhnen. Dazu passt, dass die Figurengruppe rechts in keiner Weise in das Geschehen eingreift. Diese Gestalten, nackt auch sie, verhalten sich neutral, sie sehen lediglich zu. Ungerührt starren zwei von ihnen von einem in den Bildvordergrund gerückten kleinen Beobachtungsposten, der ihre hoch aufgerichteten Körper etwas größer als die Laokoon-Gruppe erscheinen lässt, auf die sich windenden Körper und die ganze Szene über ihnen. Nur die dritte, ganz rechts positionierte Gestalt wendet sich diametral ab und blickt aus dem Bild hinaus. Erhoben-erhaben über das Bildgeschehen sind diese Gestalten in dieses Geschehen zugleich bis zu einem gewissen Grad eingebunden: Sie stehen nicht nur auf dem gleichen Fels, auf dem Laokoon und seine Söhne ihre Qualen erdulden, 219 unter demselben Himmel, der sich auch über die Gemarterten spannt. Sie bilden in ihrer Vertikalität auch kompositorisch das Pendant zu dem vertikal sich aufstreckenden Sohn im linken Bildteil, so dass für den Betrachter des Bildes ihre Existenz zunächst keineswegs befremdlich wirkt. Diese als Gesamtgruppe geformten Gestalten sind somit alles in einem: in ihrer Androgynität Mann und Frau, in einem hinsehend und sich abwendend, das Bildgeschehen verfolgend und gleichzeitig den Bildsinn transzendierend, dabei in ihrer den Bildsinn betreffenden Fremdheit in einem formalen Sinn zugleich vertraut erscheinend. Mit diesem alles-in-einem - nicht nur Zuschauer, sondern Agierende zu sein, wenngleich agierend nur als Zuschauer, und darin selbst angeschaut werden zu können - vollendet sich erst der Gegensatz dieser Gruppe zur übrigen Szenerie. Dieser auf die Spitze getriebene Kontrast ist insofern von Raffinesse, als der dieser Gruppe immanente Gegensatz - zu agieren, aber als Zuschauer - sie in ein Verhältnis zu dem setzt, wovon sie sich letztlich unterscheidet: Sie hebt sich durch das distanzierende Zusehen vom Übrigen ab und ist zugleich durch ihr Zusehen als Aktivität in derselben Welt zusammen mit allem anderen. Damit aber ist das alles dieser Gruppe zugleich nichts. Denn man kann auch so sagen: Nur zusehen und doch eingebunden sein (,alles') hebt sich gegenseitig auf (,nichts'); da aber dieses nichts gerade das Bestehen des in sich Gegensätzlichen alles voraussetzt, auf das es sich ja bezieht, vermag es nicht das alles selbst aufzuheben, so dass beides, alles und nichts, zugleich bestehen. Das Bild Laokoon von El Greco ist somit wie folgt aufgebaut: eine horizontale Vierer-Schichtung von Natur als Untergrund, der Laokoon-Gruppe im Vordergrund, der Stadt im Hintergrund und des Himmels in der Ferne sowie eine vertikale Zweier-Schichtung dieser Gesamtszenerie einerseits und der rechten Figurengruppe andererseits, wobei der Mittelpunkt und Mittelgrund das springende Pferd markiert - das in seiner Zentralität überdies changiert, je nachdem es auf die linke Vertikalität, die Laokoon-Szenerie, oder auf das Gesamtbild bezogen wird. Das in diesem Sinn hin- und herspringende Pferd korrespondiert 220 auf merkwürdige Weise mit dem sublim in sich umspringenden Alles-Nichts-Charakter der rechten Figurengruppe. Kann das Phänomen dieses zweifachen Springens noch deutlicher erhellt werden? Sprünge Ein Sprung verweist auf Veränderung, vielleicht auf einen radikalen Einschnitt. Alles mag dann anders sein als zuvor. Dann zeigt es sich, dass es in dieser Welt Beständigkeit nicht gibt, dort, wo weder Himmel noch Erde Konstanz besitzen. Auch Steine verändern sich, nur langsamer. Und tatsächlich: El Grecos Gemälde zeigt ein momentanes Geschehen, den Augenaufschlag einer Welt, die es so im nächsten Moment nicht mehr gibt. Laokoon und seine Söhne werden sterben, die Stadt wird untergehen, Menschen und Orte sind vergänglich, flüchtig wie die dahinstieben-den Wolken am Himmel. Laokoon und seine Söhne scheitern; sie, die wie Ikarus nach dem Transzendenten dürsten, werden von den Boten des Erdhaften wie mit Seilen zu Boden gerungen. Der aufmerkende Laokoon, der lichte Sinn des Menschen, scheitert am dunklen Grund der eigenen Natur. Dem Hellen zugetan und dem Dunklen unterworfen, ist er in beidem ein Unbehauster, ein Schwebender zwischen Himmel und Erde, im Fall begriffen und schon gefallen. Diese momentane Situation des Sturzes, die doch ein ganzes Menschenleben währt, ja dieses ist, wird in der Darstellung des Laokoon festgehalten. Seine im Dienst der Götter stehende priesterliche Seherfunktion wandelte sich in die weltliche Gabe des Spurenlesens, und dieses blieb fortan zwiespältig: schwankend zwischen Erkenntnis ,objektiver' Sachverhal-te und Selbstidolisierung. Man mag spekulieren, ob dieser Fall verschuldet war. Ist Laokoon also schuldig? Als Priester besaß er ein privilegiertes Wissen. War es dies, das ihn über andere erhob und hochmütig werden ließ? Hat er aber nicht seine Landsleute gewarnt, also ihr Heil im Sinn gehabt? Seine Schuld ist offenbar nicht in erster Linie eine 221 Schuld vor anderen, auch nicht vor den Göttern. Denn diese strafen nach Laune. Es ist eine Schuld vor sich selbst, vor seinem Ort in der Welt. Ihr Name ist Eitelkeit. Es ist der unbedingte Glaube an das eigene Wissen: an die Fähigkeit zu sehen und ,richtig' zu sehen. Doch indem Laokoon auf diese Weise, als Ent-decker, ein Sehender ist, sieht er in Wirklichkeit nicht: nicht die Wirklichkeit, in die er eingebunden ist. Dem widerspricht nicht, dass er ,recht' hatte mit seiner Weissagung, sondern dass er das ihn umgreifende Wirkliche und einzig Wirkmächtige, die Laune der Götter, nicht kalkulierte. Zu eingeschossen auf ein Ziel, bemerkte er nicht das Netz, in dem dieses Ziel nur eine Masche war und in dem er sich schließlich verfing. Laokoons Eitelkeit gründet gewiss im Stolz auf sein Können, tiefer aber besagt sie, dass er damit solipsistisch das Band durchtrennt hat, das ihn mit der Welt verknüpfte. Die Reptilien, die wie Seile seinen und seiner Söhne Körper umwinden, binden ihn durch den Tod in die Natur zurück - in eine schon kultivierte Natur: in das Gesetz, mit dem eine tradierte ,Hausordnung' die ,rohe' Natur des Menschen, seine Egozentrik, zu zügeln versucht hatte. Dieses Gesetz - und damit der ,natürliche', als naturnah begriffene Lauf der Welt - war es, das Laokoon verletzt hatte, und er hatte es dort bereits übertre- ten, wo er, wie ein anderer Traditionsstrang des Mythos überliefert, im Tempel mit seiner Frau kopuliert hatte, die daraufhin seine Söhne gebar. Das Natürliche der Kopulation wurde zu einem Widernatürlichen dort, wo der Ort der Tat, der Tempel, nicht dem oikos entsprach, in dem der Akt dem Brauch entsprechend seine Wohnstätte hatte: im privaten Wohnhaus, der Urform eines jeglichen oikos. Der Frevel, der sich auf den Weltlauf und nicht auf die Götter oder die Mitmenschen bezog, bestand aber nicht in dieser Verlagerung des Orts, sondern im Ent-schluss zur Tat, frevelhaft war der aus dem natürlichen Verband ausscherende egoistische Gedanke in eins mit seiner Realisation. Er hatte nicht die Verletzung eines bestimmten Gesetzes oder Gebots zur Folge, sondern weit schlimmer: den gewollten Selbstausschluss aus dem religiösen Verband als solchem. Sichtbares Resultat dieses separierenden Schritts waren Laokoons Söhne, sie mussten mit ihrem Vater untergehen - dies selbst ein Merkmal dafür, dass die Götter diese 222 ultimative Gefahr einer Aufkündigung des Gesetzes, die in der Lösung des Bundes mit dem Göttlichen, in dieser eklatanten Neuorientierung des Aufenthalts auf Erden, den Untergang auch ihrer Welt zur Folge haben würde, dadurch zu bannen suchten, dass sie nicht nur den Urheber töten ließen, sondern auch die von ihm abstammende Genealogie als possible Trägerin solchen Umsturzes im Keim zu ersticken suchten. 223 Herausgehoben aus dem Kreis seiner Mitmenschen ist Laokoon zugleich der Natur, einer bereits gedeuteten Natur, entfremdet. Die ,Natur', die ihn einholt, ist Ausdruck eines tradierten Gesetzes, das selbst der Inbegriff der so verstandenen Natur ist, und in eins damit Ausdruck der naturalen Verfasstheit des Menschen, seiner Egozentrik, die unter dem Firnis des Gesetzes durchschimmert. Laokoon ist eine prometheische Gestalt. Wie Prometheus ist er Urahn aller Aufklärer und erstrebt nur das Gute. Seine Schuld ist daher keine moralische, sein Sturz ist ein oikologischer Akt, der hier einen Umsturz des irdischen Aufenthalts umschreibt. Oikologisch zu sein,4 ist ein Grundzug menschlicher Existenz und besagt, dass der Mensch nicht einfach ist wie ein Ding, sondern, hineinlebend in Welt, einen Ort als den seinen beansprucht und ihn als in einem ursprünglichen Sinn veräußerlichtes Inneres de-finiert, denn dieses wird als ,Haus' das erste (be)greifkare, in Wort und Tat verhandelbare Innen, in das sich der sesshaft gewordene Mensch 224 zurückzieht und darin verschanzt und das noch weit vor der ausdrücklichen Begegnung liegt, in der sich Existenz mit ihrem Selbst zu konfrontieren beginnt. Solche De-finitionen, Grenzziehungen, die Raum und Zeit gestalten, indem ein Haus - ein oikos oder domus, eine Domäne - gebildet wird, das ein Raum-und Zeitmaß vorgibt, sind indes selbst nur ,auf Zeit'. Ihre innere Gesetzlichkeit, ihre oikologische Struktur, kann sich wandeln oder im Nu umgestürzt werden. Laokoons und seiner Söhne Sprung ist ein zutiefst schmerzvoller, als Sturz ein Negativ-Sprung, die Quittung für Laokoons Sprung in die Selbsterhebung. Während der Vater zu Boden geht, werden die Söhne im Zwiespalt von Himmel und Erde gedehnt, um im nächsten Moment durch den Biss der Schlangen gerissen zu werden, die dem alten, erdverhafteten oikos entsteigen, der selbst schon dem Untergang geweiht ist. Der Aufklärer hat den Riss, der durch die Welt geht und das Helle vom Dunklen scheidet - die Gabe des Einsehens und die Hypothek der egoverhafteten Triebe, seiner eigenen wie der der anderen -, nicht zu überwinden vermocht; peinvoll wird er von ihm eingeholt. Seine oikologisch prekäre Position ist, dass er nicht mehr länger in einem alten oikos geborgen ist, dass sich 4 Zum Konzept des Oikologischen vgl. v. Vf.: „Grundfragen einer phänomenologischen Oiko-logie", in: AUC Interpretationes. Studia Philosophica Europeanea [Praha], 1, 2011, S. 217-241. ein neuer aber noch nicht fand. Nicht mehr mit dem alten Gesetz verbunden, kann er sich von diesem befreien, bleibt aber Sklave seiner Eitelkeit, die selbst nun von der Fessel des alten Gesetzes frei wird, und indem er sich separiert, in-dividuum wird, erhält auch die entfesselte Selbstsucht ungeahnt neue Kräfte. Demgegenüber, dem Sturz in den Riss der Welt entgegen, setzt das Pferd zum Sprung nach oben an, mit lebendig-machtvoller Gebärde holt es aus, es holt sich seine Stadt, auch hierin anscheinend ein Gegenbild zu aller aufklärerischen Heuchelei, die sich erhaben dünkt und daher Macht ächtet und sie, sublimer nur, doch will. Schlichte Macht triumphiert über Wissen, das zu Boden und zu Grunde geht. Solches Wissen, das als Wissen zugleich Macht haben will, verrät sich selbst in der egozentrischen Tendenz, das eigene moralische System auf Biegen und Brechen durchsetzen zu wollen, und wird schlechte Macht, die schlecht ist, weil das ihr zugrunde liegende Wissen sich als unbedingt gut darin sieht, 225 dass nur es um das Gute weiß. Doch auch die vordergründig schlichte Macht kaschiert mehr schlecht denn recht die Kunstgriffe und Täuschungsmanöver, die in Wahrheit in ihr schon stecken. Noch ist es ein lebendiges Pferd, wir wissen jedoch, dass es ein hölzernes war, ein Stück tote Natur, das Troja einnahm, noch dazu mit einer List - alles andere als schlicht. Der listenreiche Odysseus, der das Pferd ersann - ein radikalerer Aufklärer, ein Künstler bereits in einem fast modernen Sinn, ein Technit - seine Macht, die diesem Pferd in die Glieder fährt, ist wahrhaft sublimer noch als diejenige des ,alten Bundes' der Priester und Seher. Er kam dem Seher, dem Spurenleser zuvor und schlägt ihn mit seinen eigenen Mitteln, die er entschiedener noch zum Einsatz bringt. Laokoon geht an seiner selbstgewollten Größe als Finder, Entdecker zugrunde, Odysseus geht in die Irre dadurch, dass er verdeckt und im Verdecken sich verdeckt. Das Sicherheben im Sublimen geht hier soweit, dass es sich ins Unscheinbarste birgt und im Unsichtbarwerden der Unterschiede Zeit ins Quantum zerfließen lässt - kein dramatischer Sturz, folgen sollte vielmehr eine Irrfahrt ohne Ende. Das tänzelnde, zum Sprung ansetzende Pferdchen also ein Trugbild? In der Tat, nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus totem Holz bringt es nicht Lebendigkeit, sondern das kalte Zeitalter der Berechnung, das sich Vitalität und Freude nur als Kostüm umhängt. Es ist Signum dafür, dass eine Zeit anzubrechen beginnt, in der schlichte Macht als rohe Gewalt und die sublime Macht derer, die aufklären wollen, unter dem Deckmantel der Korrektheit von Wissenschaft und Technik zusammenfallen werden, unter einem Mantel, der auch dem Detektiv und dem Manipulator unterschiedslos Platz bieten wird. Die neue oikologische Form besteht in einem auf Tatsachen sich stützenden providere, das, im induktiven Stil allen Weltlebens schon angelegt, hier eine einzigartige Entfesselung erfährt und fortan die (europäische) Existenz grundieren wird: einem Voraussehen und Voraussagen auf empirischer Basis, die das von ihnen Gemeinte als Sachverhalte klar ins Wort bringen und in die Tat umsetzen wollen, einem im Voraus Ansetzen von solchem, das (noch) nicht da ist - hier, am selben 226 ,Objekt', dem hölzernen Pferd, der doppelte Sachverhalt einer täuschen wollenden Maschinerie und einer ihren wahren Sinn aufzudecken suchenden Inspektion, was im Untergang der Stadt, ja einer Welt kulminiert. Im Fall von Laokoon geschieht dies auf der Grundlage eines Misstrauens in den Augenschein - das zum Geschenk dargebotene hölzerne Pferd - und seiner künftigen Ent-täuschung im konsequenten Verfolgen von Spuren, auf die das Misstrauen aufmerksam werden ließ, im Fall von Odysseus als ein Plan, die antizipierende Anleitung zur Ausführung eines Täuschungsmanövers. Laokoon und Odysseus sind im selben Tathergang verbunden, ihre Intentionen kulminieren im selben künftigen Geschehen. Der Unterschied zwischen ihnen besteht darin, dass der eine zunächst detektivisch anzeigt, was der andere durch die Tat herbeiführen will, wobei das Aufdecken den Vollzug der Manipulation nicht verhindern kann. Fortan wird der entschiedene Aufklärer durch einen wesentlich praktischen Zug zum Künftigen sich bestimmen: Da er alles besser weiß, will er alles machen. Und es zeigt sich hier, dass sich Aufklärung zwar auf die eine, unteilbare Vernunft berufen wird, dass ihr Ursprung aber im Zwist gründet, indem sie dadurch entsteht, dass ihre ersten Protagonisten an verfeindeten Fronten stehen: Die aufklärerische Vernunft ist ihrer prinzipiellen Möglichkeit nach parteilich. Vielleicht hat Laokoon sogar all dies kommen sehen. Gleichwie: Es würde seine Tat nicht entlasten, im Gegenteil. Es intensiviert noch seine Verschuldung. Denn für das, was kam, ist sein protoaufklärerischer Schritt, sein Ausscheren aus dem alten Verbund, die Voraussetzung. Alles ist verstrickt, Opfer und Täter. Und von dem, was noch nicht ist, kann nur das gesehen werden, wozu man selbst schon den Keim in sich trägt. Die potenzierte Aufklärung marschiert auf das Häuflein an angesammelter Zivilisation zu. Das Ende? Ein Ende für alle, nicht nur für den einsamen Laokoon und die Seinen? Im Mythos der Ilias ja, aber in El Grecos Bild? Wie geht der Sprung in die Neuzeit aus? Gar nicht. Das Bild hält ihn ein, der Sprung bleibt in ihm im Sprung, unbeweglich in seiner Bewegung. Das Ende ist also offen. Ist das der Weisheit letzter Schluss? Fast hat es den Anschein, es ist so - wenn es da nicht noch die Gruppe der drei Personen am rechten Bildrand gäbe. Leicht kann man sie in ihrer vordergründig vertraut erscheinenden Fremdheit übersehen. Dabei wird aber über- 227 sehen, dass sie es eigentlich sind, die alles übersehen, überblicken. Sie sind nicht in das Geschehen verstrickt, weder wie Laokoon noch wie Odysseus, und doch da in derselben Szenerie. Sie, die ganz Blick zu sein scheinen, haben sie das Sehen übernommen? Haben sie das rechte Maß des Auges, das weder Laokoon in seiner Selbsterhöhung im entdeckerischen Drang noch Odysseus in seiner sublimen Selbstverkleinerung in verdeckender Rationalität besitzen? Den drei Gestalten kommt jedenfalls, obgleich auch sie im Bild sich befinden, kein Handlungsbezug zu, sie haben keine Bildgeschichte, sind nicht involviert in einen Sturz und nicht in einen Sprung. Ihr Sprung ist von gänzlich anderer Natur. Denn es ist ein Sprung, den sie weder selbst vollführen wie Odysseus' Pferd, noch ein Sprung, der ihnen widerfährt wie Laokoons Sturz. Es ist ein Sprung, in den sie hineinversetzt, ja der sie selbst sind. Obgleich diese Gruppe stillsteht, verkörpert sie selbst eine alternierende Bewegung ohne Stillstand, ein Gegenteiliges, das sie in sich trägt. Diese Gestalten vergehen nicht im Einerlei: verbrennen nicht wie Laokoon im einmalig-dramatischen Sturz und werden nicht in der Einförmigkeit der Irr-Zeit zerrieben wie Odysseus. Ihr Sprung ist der absolute Sprung in das Alternieren. Kein anderer Sprung ist ihm gleich. Denn er besagt das Paradox, wodurch allein Existenz hienieden sie selbst sein kann. Das Paradox heißt ,alles und nichts': ganz dasein und dasein ganz nicht sein.5 Die drei Gestalten sind Alles. Sie umschreiben in ihrer Figürlichkeit, mit ihren geraden Körpern das Vertikale von unten bis oben und mit den nach beiden Richtungen gewendeten Köpfen ebenso das Horizontale von links bis rechts ergreifend, ein Kreuz. Mit ihm durchmessen sie die ganze Welt: nicht nur die Bildwelt, sondern, mit dem Blick der rechten Gestalt aus dem Bildraum hinausweisend, noch das Außerbildliche der Bildlosigkeit. Schon darin sind sie zugleich Nichts. An den Rand gedrängt und von den eigentlichen Akteuren nicht wahrgenommen, sind sie überdies solche, die für alle anderen unsichtbar sind, irrelevant für alle Handlung. Sie sind nichts in Bezug auf die Macht gleich welcher Couleur, der all das, was sich im Bild als verstrickt erweist, unterliegt. Das aber, was sie 228 sind, sind sie nur im Zueinander von beidem: im Zentrum der Welt und an deren Rand, da - nicht-da. Die drei Gestalten sind Ausdruck einer Epoche, die nicht aus der Welt austreten lässt, sondern auf sie zurückwirft, so radikal, dass der Epoche Übende in Welt versinkt, ohne sie zu tangieren. Er tangiert sie nicht, weil er nichts von ihr will. Und er versinkt in ihr, weil er dem Riss, der durch sie geht, dem Riss zwischen dem Offenen und dem Verschlossenen, dem lichten Sinn und der Triebge- 5 Auf die hier zum Durchbruch kommende neue Art, mit malerischen Mitteln Bewegung darzustellen, wies schon der tschechische Kubist Emil Filla hin, der in El Grecos Kunst einen Vorläufer erblickte: El Greco „will nicht den Gegenstand aus einer momentanen Ansicht geben, sondern würde ihn am liebsten von allen Seiten zugleich darstellen. Indem er Anblicke von verschiedenen Gesichtspunkten in verschiedenen Achsen zusammenstellt, erzielt er eine gesteigerte Bewegung durch den Anschein, als ob man den Gegenstand im ständigen Strome der Bewegung sähe." („El Greco" [1911/1912], in: Frühling in Prag oder Wege des Kubismus, ausgewählt und kommentiert von Heinke Fabritius und Ludger Hagedorn, München 2005, S. 85-104, hier: S. 102). Man könnte noch weiter gehen: Mit der Positionierung der drei Gestalten im rechten Teil des Laokoon-Bilds reflektiert El Greco malerisch das Prinzip eines alternierenden Positionswechsels, so dass nicht nur die Erscheinungsweise des Gezeigten vielfältig wird, sondern die Differenzmomente von Stillstand und Bewegung, des Einen der einen Position (da) und seiner Aufhebung (nicht-da), selbst in eine alternierende Bewegung geraten, die damit als solche erscheint. bundenheit, nicht nur zuschauend zugewandt ist, sondern, selbst als dieser existierend, ihn in einen Sprung, in jenes Alternieren wandelt. Auch dieser Sprung ist ein Umsturz in oikologischer Hinsicht - und ein Alternativprogramm zu dem Fall, den Laokoon und seine Söhne erleiden. Spiegel El Grecos Laokoon beinhaltet ein besonderes Dreierschema: Das Bild weist drei mal drei Gruppierungen auf. Da ist zum einen die Dreiergruppe des vordergründigen Hauptgeschehens: Laokoon und seine zwei Söhne, zum zweiten die Dreiergruppe von Laokoon/Pferd/Stadt und drittens die Dreiergruppe der Gestalten rechts im Bild, die wie eine Alternative zu ersterer erscheint, sie, die zwischen alles und nichts alterniert. Das Offene und das Verborgene existierend durchmessend, deren Relation in Bewegung versetzend, schafft sie als diese Bewegung ein Drittes zu ihnen, und sie ist dieses in unaufftörlicher Bewegung befindliche Dritte, weil sie alles und nichts in einem ist. Sie ist ein Drittes in der relativen Unendlichkeit der Endlichkeit der Welt, weil sie nie nur bei einem dieser Zwei, bei alles oder nichts, haltmachen kann. Ist sie alles, ist sie zugleich nichts, weil alles zu sein - Verständnishorizont und Fremdheit, Bildlichkeit und Bildlosigkeit - in dieser Welt nichts ist. Dieses in sich widersprüchliche Dritte zu sein, es zu verwirklichen, ist das wesentliche Merkmal, der innere Sinn der rechten Dreiergruppe selbst. In diesem Bild ist aber noch ein anderes Drittes da - ein Drittes, das alles und nichts noch umfasst -, und es ist ebenso da und nicht-da in einem: nämlich die Hand und der Geist dessen, der dieses Bild schuf. Er ist da, ansonsten blickten wir in eine leere Leinwand. Und zugleich ist er nicht da, denn sein Leib fand nie ganz Eingang in den Bildraum. Doch nicht nur in den leiblichen Zügen des Pinsels, auch in Abbildern, in den Reflexionen von Spiegel-Bildern im Bild, ist er deutlich präsent, ja ist als der, der eigentlich nicht da ist, auf diese Weise allgegenwärtig - ein Gott des neuzeitlichen Schöpfertums auf Erden? Um auf diese 229 Frage zu antworten, sei ein Umweg über eine andere Frage genommen: Welches sind diese Spiegel-Bilder? Alle Momente, die sich uns gezeigt haben, verweisen auf El Greco, nicht in einem biographischen oder werkgeschichtlichen Sinn, sondern existenziell. Laokoon selbst trägt El Grecos Gesichtszüge. Die Mitte der zu denkenden Achse zwischen seinen Augen und dem springenden Pferd ist die Mitte des ganzen Bildes, unterbrochen vom aufgerissenen Maul der Schlange. Das sogenannte Böse, das Irrationale, Schoß und Schlund einer schon gedeuteten Natur verbindet beide Formen der Aufklärung, beide Arten der sublimierten Macht. Das Pferd, diese vorgebliche Natur, ist ein gelungenes Kunst-Stück, als Schein perfekt. Dass es lebendig scheint und in Wirklichkeit totes Holz ist, dass es nicht Leben bringt, sondern Tod, weist auch zurück auf den Autor des Bildes, der die-230 se an-scheinende Welt herstellen kann: In der Mitte der Achse zwischen bei-dem, zwischen Laokoon und dem Trojanischen Pferd, in diesem dunklen Feld zwischen Sturz und Sprung, verbirgt sich als Drittes derjenige, der dies schuf. Auch El Greco springt. Sein Sprung besteht darin, dass er sich in die Scheinwirklichkeiten von Laokoon und Odysseus wie in Spiegeln einbildet und sich aus sie, die springen und zerspringen, zugleich heraussetzt. Er ist Laokoon und auch Odysseus und lässt beide hinter sich, indem er sie ins Bild einbildet - sich in ihnen spiegelt und sie so von sich distanziert. Wie das Pferd sich verbirgt (und der künstlerische Blick sich in ihm birgt), wie das Tier sich in seiner scheinbaren Harmlosigkeit und in seiner sichtbaren Lebendigkeit zweifach verhüllt, ist auch die gezeigte Stadt nicht das, wofür sie ausgegeben wird: nicht Troja, sondern Toledo, El Grecos Wirkungsort; aber freilich auch nicht Toledo, denn vor ihren Toren starb kein Laokoon. Auch dieses imaginäre Troja-Toledo ist ein Spiegel, der nicht eine geographische Realität und nicht eine in sich geschlossene mythische Erzählung widerspiegelt, sondern eine andere Wahrheit, jene oikologische Form sozialer Existenz, die Gestalten wie Laokoon und Odysseus hervorbrachte, ja die sich mit ihnen selbst realisierte. Das Dreieck der drei Spiegelungen Troja/Laokoon/Odysseus - als die drei okoi von mythischer Welt, einer Vor- oder Frühform des Aufklärerischen und schließlich seinem Durchbruch - weist auf Eines, El Greco, zurück, aber so, dass dieser sich darin zurückhält und in Differenz zu dem tritt, worin er sich spiegelt - eine „widersprüchliche Selbstidentität" (Nishida) ausbildend. Dies legt Zeugnis für die widersprüchliche Situation ab, in der El Greco sich befindet: sich zu einem Erbe, dem er notwendigerweise verpflichtet ist, bekennend, da es ihm in den Knochen steckt, das er aber nicht bereit ist zu akzeptieren. Diese Differenz, dieses sich engagierende Sichzurückhalten spiegelt sich selbst noch einmal - und zwar in der Dreiergruppe am rechten Bildrand. Der eigentümlich-paradoxe Charakter dieser Gruppe - nur zuzusehen und in das Geschehen doch eingebunden zu sein - korrespondiert somit genau mit der in die Spiegelungen von Laokoon/ Pferd/Stadt sich einbeziehend-zurücknehmenden Haltung El Grecos, die in den drei Gestalten eine noch deutlichere, bildimmanente Ausprägung gefunden hat. Die Dreiergruppe von Laokoon und seinen Söhnen ist also zurückgenommen in die Dreiergruppe von Laokoon/Pferd/Stadt, und diese bricht sich in der Dreiergruppe rechts und wird von dieser gespiegelt. Die erste und die dritte dieser Dreiergruppen verweisen deutlich auf den Gesamtaufbau des Bildes: Sie machen die beiden grundlegenden kompositorischen Bildteile aus. Beide Gruppen weisen aus dem Bild hinaus und begründen damit jenen Spannungsraum, vor deren Hintergrund erst das Paradox alles-nichts, von Einbezug und Epoche spielt: Für die erste Dreiergruppe unternimmt dies die Untergruppe von Laokoon und seinen Söhnen, deren Körperlinien außerhalb des Bildraums zielen, für die dritte Dreiergruppe der rechts aus dem Bildraum hinausblickende Kopf der rechten Gestalt. Diese Parallelität ist jedoch eine nur relative, sofern der Transzendenzbezug im Fall der in ihre Geschichte verstrickten Laokoongruppe bloße Tendenz bleibt, während im Fall der Gruppe rechts das die Bildgeschichte Transzendie-rende in ihr selbst, ihrem Paradox von zusehend-agierend, realisiert ist. Die erste Dreiergruppe, Laokoon und seine Söhne, steht aber auch zur zweiten Dreiergruppe, zu Laokoon/Pferd/Stadt, in Beziehung, diese aber nicht zur dritten Dreiergruppe, den Gestalten rechts im Bild. So ist es allein jenes andere Dritte - El Greco -, der sie aneinander vermittelt. Er spiegelt sich nicht nur über seine sich 231 einbeziehende und zurücknehmend Haltung in der zweiten und dritten Dreiergruppe, sondern, da Laokoon sein alter ego ist, auch in der ersten Gruppe von Laokoon und seinen Söhnen. Obwohl hier schon drei Dreierrelationen vorliegen, könnte man durchaus von nur zwei Dreierrelationen sprechen, wobei die zweite - zumindest in bildlicher Hinsicht - in sich inkongruent ist: (A) die Dreiergruppe Laokoon und seine Söhne, (B 1) die Dreiergruppe Laokoon/Pferd/Stadt, die als Spiegel von El Grecos Haltung sich in (B 2) der Dreiergruppe rechts widerspiegelt. Mit Blick auf diese Selbstspiegelung ließe sich eine Bewegung auch des Selbst des Autors beschreiben, dann aber schon beginnend mit der einfachen Spiegelung in der Figur des Laokoon im Sinne eines alter ego (A) hin zu der komplexen Form der alternierenden Haltung in B 1 und 2. Dergestalt wäre also El Greco als Brenn-232 punkt das verbindende Moment von B 1 und 2, als Spiegel von Laokoon aber auch von A und damit von allen drei Gruppen, wenngleich - mit Rekurs auf jene Selbst-Bewegung - nicht in derselben Radikalität. Worin besteht dann aber die wirklich dritte Dreiergruppe, von der zunächst die Rede war? Eine erste Differenz, die zum Ausweis einer echten Dreiergruppe (C) führt, liegt in dem, was schon festgestellt wurde: in dem Faktum, dass die beiden Gruppierungen der zweiten Dreiergruppe (B 1 und 2) sich zwar voneinander unterscheiden, bezüglich eines weiteren Dritten, El Greco, aber darin übereinstimmen, dass sie mit der sich abzeichnenden radikalen Haltung des Alternierens auf eben dieses Dritte verweisen, das freilich selbst nur ist, da ein Unterschied zwischen Bildwelt und El Grecos Blick besteht. Da dieser Blick im Bild nur gespiegelt wird - in der Drei-heit Laokoon/Pferd/Stadt ebenso wie in der unbeteiligt-beteiligten Dreiergruppe rechts - fällt er mit beidem nicht zusammen. El Grecos Blick umreißt damit auch die Dramatik dessen, der Bilder hervorbringt: schwebend zwischen Engagement (im ethischen wie im pekuniären Sinn) und Verweigerung. Kann der Künstler schweigen im Angesicht des Elends der Welt? Oder soll er, anders als Laokoon, lieber nichts sagen und sein Leben retten? Und wie kann er sich retten vor dem Sturz in die Veräußerlichung, vor der künstlerischen Entmündigung in einer nur mehr rechnenden Welt? Etwa durch eine materielle Loslösung von ihr und einen Rückzug in die Einsamkeit? El Greco scheint am Ende seines Lebens eine Antwort gefunden zu haben, die das Entweder-Oder von Engagement oder Flucht überwindet. Und diese Antwort ist das Thema seines Laokoon. Mit diesem Bild umgeht er die Entscheidung, sich zu engagieren oder sich zu verweigern, und zeigt beides als Möglichkeiten, indem er die dritte Möglichkeit eines unbeteiligten Beteiligten erprobt (C). Mittels und innerhalb der Kunst schafft er eine Antwort auf das Dilemma der Kunst. Damit zeigt sich, dass die Allgegenwart von El Grecos Blick nicht die göttliche Schöpferkraft auf Erden usurpiert. Es spricht sich darin ein besonderes Schöpfertum aus, ein solches, das sich erst in der Aufhebung seiner selbst entfaltet. Der künstlerische Akt nimmt eine Epoche auf sich selbst vor und zeigt die doppelseitige Grenze, bei deren Nichtbeachtung er schlimmstenfalls dem solipsistischen Wahn verfällt oder sich der Ausbeutung ausliefert, bestenfalls Eremit oder Staatskünstler wird. In dieser Grenzziehung des Eigenen gegen Selbstvergottung und Vermassung bzw. Vereinsamung und Staatsfunktion erscheint implizit der wirklich Andere: Die 233 sich im Inhibieren des Egozentrischen engagierende Selbstzurücknahme gibt ihm allererst Raum. Wenn El Grecos Laokoon-Bild letztlich auf die Differenz zwischen der in ihm dargestellten Gefahr, in dem das Schaffen stets schwebt, und dieser Gefahr selbst als einer existenziell-durchlebten hinweist, so bleibt dies aufgrund der darin realisierten Selbstzurücknahme nicht auf El Greco begrenzt. Die Gefahr, die die schaffende Existenz durchlebt, ist nur intensivierter Reflex derjenigen Bedrohung, der menschliche Existenz selbst ausgesetzt ist, bezeichnet durch die Extreme von Selbstverhärtung und Selbstpreisgabe. Damit treten als ein weiteres Drittes (D) - neben der Neutralisierung im Bild selbst und des sie vornehmenden neutralisierenden Akts dessen, der dieses Bild hervorbringt - noch Andere hinzu, diejenigen, die dieses Bild sehen -weitere Zuschauer, deren Blick mit dem sich zurücknehmend-engagierenden El Grecos und demjenigen der im Bild gezeigten beteiligten Zuschauer verwandt ist, aber nicht zusammenfällt. Da auch diese Zuschauer diese Gefahr trifft, sind sie, wenn sie sich auf das Bild einlassen, nicht mehr schlicht unbeteiligte Zuschauer einer Museumsgalerie. Auch sie werden, auf die para- doxe Weise des nichteinbezogenen Einbezogenseins, zu einem Moment des Geschehens, das sich mittels dieses Bildes entfaltet.6 Dieses Geschehen beschreibt eine besondere oikologische Situation, den grundlegenden Daseinsmodus einer nicht aufzuhebenden Spannung, die sich im Zwischen von Selbst und dem Anderen bildet: in den unablässigen Versuchen, sich selbst zu übersteigen, und in der akzeptierten Gewissheit, niemals wirklich irgendwo anzukommen. Damit erweisen sich sowohl der Glaube, die Heimstätte in einem zu sichernden Selbst finden, wie auch der Glaube, diese nur woanders als im eigenen Selbst lokalisieren zu können, als ein und dasselbe: nämlich als Ausdruck von Egozentrik, die sich einmal in der Selbstvergaffung, das andere Mal in der Selbstaufgabe im Angesicht des bloßen Idols des Anderen realisiert. Das wirklich Andere dazu, ein selbst nicht mehr in ein es noch Umfassendes integrierbares Dritte (E), ist der Voll-234 zug einer nie abzuschließenden Bewegung, in der man dadurch sich selbst und dem wirklichen Anderen gegenüber offen wird, dass man vom eigenen Ego loslässt. Dieses ,letzte' Dreierverhältnis schließt alle davor liegenden Dreierverhältnisse als oikologi-sche Possibilitäten, als mögliche Formen einer Verortung menschlicher Existenz, in sich und ist selbst Ausdruck dafür, dass Leben an ihm selbst nicht still zu stellen ist, wenn sich im Zwischen zu halten besagt, nirgendwo wirklich anzukommen. Die Akzeptanz dieses Nirgendwo, das alle möglichen oikologischen Existenzorte impliziert, ist damit selbst die oikologische Radikalform menschlicher Existenz. 6 Emil Filla hat dies ebenfalls hellsichtig geahnt, wenn er schreibt, dass El Greco „den festen Standort des Beschauers negiert und zerstört"; damit „objektiviert er dessen Gesichtspunkt in erhöhtem Maße, als wollte er ihn zwingen, an sich zu vergessen, sich gleichsam ganz in das Kunstwerk zu versetzen und darin zu verlieren." (Ebd.). Die Pointe besteht allerdings darin, dass sich die oder der Betrachtende nicht ganz in das Bild versetzt, sondern dass ein anderes Geschehen eröffnet wird, das seinerseits Bild und Beschauer umfasst, und dass diese damit die Gelegenheit erhalten, auf eine transformierende Weise auf sich selbst zurückzukommen.