"DAS UNAUSGESPROCHENE GEFÜHL DER UNZUGEHÖRIGKEIT" Amerika als Zufluchtsmöglichkeit vor dem Selbst in Max Frischs Romanen Stiller und Homo faber Vesna Kondric Horvat Warum reisen wir? Auch dies, damit wir Menschen begegnen, die nicht meinen, daß sie uns kennen ein für allemal; damit wir noch einmal erfahren, was uns in diesem Leben möglich sei -(Frisch, Tagebuch 1946-1949, JA, II, 369) I In seiner Rede Emigranten, die er 1958 anläßlich der Georg-BüchnerPreis-Verleihung hielt und woraus das Titelzitat des vorliegenden Beitrags stammt,1 äußerte Max Frisch die Meinung, jeder frei gewählte Wohnsitz solle dem Schriftsteller das unausgesprochene Gefühl der Unzugehörigkeit gestatten.2 Mit dem Satz: "Ich bin nicht Stiller!" (St 9) beginnt Frisch seinen 1954 veröffentlichten Roman Stiller3. Ein Mann - ein Bildhauer der viele Versuche unternommen hat, seiner 'eigentlichen'4, seelisch-existentiellen Identität zu entgehen, flieht schließlich, als alle anderen Versuche (sich im Spanischen Bürgerkrieg als ein mutiger Mann, sich in der Ehe als ein idealer Mann, sich in der Kunst als erfolgreicher Bildhauer zu bewähren) scheitern, nach Amerika und läßt seine lungenkranke Frau Julika im Sanatorium in Davos zurück. Nach mehr als sechsjährigem Fernbleiben kehrt er unter anderem Namen in die Heimat zurück und wird an der Schweizer Grenze - wegen vermeintlicher Verwicklung in eine Spionage-Affäre - verhaftet. An diesem Punkt beginnt der Roman. Stiller reist mit einem amerikanischen Paß, der auf den Namen James Larkin White lautet. In der Untersuchungshaft leugnet er seine juristische Identität und wird von der Autorität aufgefordert in ein 1 In dem Beitrag werden einige Aspekte der Untersuchung vorgestellt, die der Autorin als Grundlage für ihre Magisterarbeit dient. 2 Max Frisch, Emigranten. Rede zur Verleihung des Georg-Büchner Preises 1958. In: Ders., Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. Jubiläumsausgabe in sieben Bänden, hrsg. v. Hans Mayer unter Mitwirkung von Walter Schmitz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1986, Bd. IV, S. 229-243, S. 239. (Die Jubiläumsausgabe wird im folgenden mit der Sigle 'JA' zitiert.) 3 Der Roman wird nach der Taschenbuchausgabe (suhrkamp taschenbuch 105), Frankfurt a. M.: Suhrkamp (1) 1973 und mit der Sigle 'St' zitiert. 4 Unter der 'eigentlichen' Identität oder dem 'wirklichen Leben' - wie Frisch es formuliert - ist das Identischwerden mit sich selbst zu verstehen. 45 Heft die "Wahrheit" (St 9) über sein Leben zu schreiben. Nach sechswöchigem Gefängnisaufenthalt wird ihm seine juristische Identität nachgewiesen und er ist dazu verurteilt, Stiller zu sein. So endet der erste Teil des in Tagebuchform angelegten Romans. Den zweiten Teil bildet das Nachwort des Staatsanwaltes - des Ehemannes von Stillers früherer Geliebten Sibylle, der während Stillers Untersuchungshaft sein enger Freund wurde -, in dem er von Stillers zweijährigem Dahinleben nach der Entlassung bis zu Julikas Tod berichtet. Während seiner Untersuchungshaft füllt Stiller sieben Hefte mit der "Wahrheit" (St 9) über sich selbst. Da er jedoch vorgibt, kein Leben hinter sich zu haben, schreibt er ein Tagebuch und gibt vor, darin nur zu protokollieren was die anderen, seine Freunde, seine Verwandten und andere ihm über Stiller erzählen. Es wird dadurch deutlich, daß er schon lange vor seiner Flucht nach Amerika in Zwiespalt mit sich selbst lebte, da er seine 'eigentliche' Identität nicht als gegeben empfand, sondern sich ständig dagegen wehrte, er selbst zu sein, und versuchte, sich auch der Gesellschaft anders zu zeigen, als er war. In Spanien wollte er sich als mutiger Kämpfer erweisen, wollte etwas anderes als sein 'wirkliches Leben' führen, was durch die Erklärung seiner freiwilligen Beteiligung am Spanischen Bürgerkrieg, die er in den Gefängnisaufzeichnungen abgibt, deutlich wird: "vielleicht war es auch, wenigstens zum Teil, eine Flucht vor sich selbst" (St 139), d.h. Flucht vor der eigenen Unzulänglichkeit. Er versagte aber in dem Moment, wo er eine ihm auferlegte Aufgabe hätte erledigen müssen. Er hätte eine Fähre über den Fluß Tajo zu überwachen, ließ sich jedoch selbst von den Faschisten gefangennehmen. Zunächst gab er vor, sein russisches Gewehr habe versagt und er habe nicht auf Menschen schießen können. Aber später, nach der gescheiterten Ehe mit Julika, bezeichnet er dieses Ereignis als seine "Niederlage in Spanien" (St 139). Auch seine zweite Bewährungsprobe - die Ehe mit Julika - bestand er nicht, da er Julika, "eine Schonungsbedürftige" (St 146), offensichtlich nur deshalb heiratete, weil er glaubte, einer gesunden Frau nicht genügen zu können, was Stiller Julika bevor er für sechs Jahre untertaucht, folgendermaßen erklärt: "Unsere verhältnismäßige Treue war die Angst vor der Niederlage mit jedem anderen Partner, ..." (St 150). Und schließlich mußte er erkennen, daß seine Kunstwerke nur durchschnittlich waren und "er wurde begrüßt als ihr (Julikas) Gatte" (St 91), als Mann einer Balletteuse in deren Schatten er lebte. Da er schließlich keinen anderen Ausweg mehr sieht, flieht er nach Amerika, wo er entdeckt, daß es keine Flucht vor sich selbst gibt, und deswegen in die Heimat zurückkehrt. Denn mit der Flucht ist nicht nur die "Flucht in den Raum"5 gemeint. Es scheint nur so, als ob Stiller vor äußeren Gefahren fliehe, wobei er eigentlich vor sich selbst flieht, in der Hoffnung, die räumliche Distanz werde ihm eine andere, bessere Identität zu schaffen helfen. Er hofft, dadurch auch seine Eheprobleme hinter sich lassen zu können, die ihn am meisten zu bedrängen scheinen: Stillers Aufbruch nach Amerika erscheint als Flucht aus einer ausweglosen Lage, in der er sich, wie immer er auch handle, als der (innerliche) Mörder seiner Frau verkommt. Nach dem ersten Wiedersehen mit Julika nach seiner 5 Hans Mayer, Anmerkung zu 'Stiller'. In: Materialien zu Max Frisch 'Stiller', hrsg. von Walter Schmitz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (1) 1978 (suhrkamp taschenbuch 419), Bd. 1, S. 238-255, S. 253. (Das zweibändige Materialienbuch wird im folgenden mit der Sigle 'Mat' zitiert.) 46 Rückkehr tritt diese Ausweglosigkeit, deren Wiederholung er fürchtet, ganz deutlich vor sein Bewußtsein.6 Sigrid Mayer bespricht in ihrem Aufsatz Zur Funktion der Amerikakomponente im Erzählwerk Max Frischs die Konstatierung Wilfried Malschs, daß Frischs Romane, Tagebücher und Stellungnahmen die bis 1975 wohl komplexeste Amerikaerfahrung eines zeitgenössischen Schriftstellers in deutscher Sprache enthalten. Dieses Komplexe entstehe ihrer Meinung nach nicht aus der Sache selbst, sondern aus der Vermischung und Kreuzung der Amerikaperspektiven. Im Bezug auf Stiller, meint sie, wäre es "allzu einseitig, diese in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur einzigartige Integrierung von Gesellschafts- und Landschaftsaspekten ausschließlich mit Bezug auf ihren Gehalt an Stillerschen Selbsterfahrung zu würdigen".7 Wie wohl dies zutrifft, können wir im Rahmen dieses Aufsatzes die Rolle Amerikas doch nur unter diesem Aspekt berücksichtigen. Obwohl er sich von Amerika eine geistige Erneuerung versprach, war Stiller in Amerika nicht glücklich und bezeichnet die Zeit dort als "eine gräßliche Zeit" (St 185). Von großer Wichtigkeit erscheint uns die Frage, warum Stiller gerade Amerika, als Ziel seiner "Flucht in den Raum" gewählt hat, da dieses Land als Wahlort Walter Fabers auch in Frischs nächstem, 1957 erschienenem, Roman Homo faber eine Rolle spielt. Wenn man einige Aussagen Max Frischs zu Amerika kennt, so wird es schon deutlicher, warum er gerade dieses Land gewählt hat8. Gefragt, was ihm zum Begriff 'The American Way of Life' einfällt, sagte Frisch, Amerika sei "der Teil in der Welt, wo die größte vitale Bewegung stattfindet"9. In dem Land, wo die größte vitale Bewegung stattfindet, spürte wahrscheinlich auch Stiller viele Möglichkeiten, der Rolle zu entgehen, die er zu Hause spielen mußte. Im Jahre 1951 schrieb Frisch in dem Aufsatz Amerikanisches Picknick: "... was New York betrifft, gehöre ich durchaus zu den Begeisterten"10 und später: "Unterdessen verglimmt die Sonne über einem Land, das, ich muß es wiederholen, unsäglich schön ist; ..."n In diesem Aufsatz versucht er der Frage nachzugehen, warum die Menschen auch am Wochenende zusammenbleiben, drei Stunden lang auf dem Highway ins Grüne rollen, wo sie immer schön gesammelt auf dem 'Campingplace', bzw. 'Fireplace' bleiben. Auch wo es erlaubt ist, in Seitenwege abzubiegen und anzuhalten, tun es nur ein "paar Verwegene, Individualisten." Auch die Liebespaare bleiben immer bei der Menge. Aber es ist auch nicht leicht für sie, in den Wald zu gehen, weil es keine Fußwege gibt: "ein Paradies, das sich nicht betreten läßt. Die Frage ist jetzt nur: gehen die Menschen nicht, weil es keine Pfade gibt, oder gibt es keine Pfade, weil niemand gehen will?" Und gleich findet er auch die Antwort, warum niemand gehen will: 6 Helmut Naumann, Der Fall Stiller, Rheinfelden: Schäuble 1978, S. 133. 7 Sigrid Mayer, Die Funktion der Amerikakomponente im Erzählwerk Max Frischs. In: Gerhard P. Knapp (Hrsg.), Max Frisch. Aspekte des Prosawerks, Bern: Lang, 1978, S. 205-236, S. 215. 8 Vgl. dazu Max Frisch, Unsere Arroganz gegnüber Amerika. In: JA, Bd. III, S. 222-229 und Max Frisch, Amerikanisches Picknick. In: Mat., S. 282-286. 9 Werner Koch, Gespräch mit Max Frisch, In: Ders., Kant vor der Kamera. Referenzen und Pamphlete von Hase und Koehler, 1980, S. 115-128, S. 123. 10 Max Frisch, Amerikanisches Picknick. In: Mat, S. 282-286, S. 282. 11 Ebenda, S. 285. 47 Später saßen wir an einem Ufer, so schön wie es unsere Seen kaum noch haben, mutterseelenallein; nur ein einzelner Mann stand dort, der fischte - als er uns erblickt, kommt er herüber: ohne etwas zu wollen, nicht einmal Feuer für die Zigarette. Das, könnte ich mir denken, ist der Punkt: Angst vor dem Alleinsein, Angst vor sich selbst - ,..12 Und das ist auch der Punkt an dem man die Suche nach der Antwort auf die Frage, warum Stiller gerade nach Amerika flog, beginnen kann, denn der Text wurde, zwar ein wenig verändert, auch in den Roman Stiller aufgenommen. Von dem Fischer heißt es hier: "Kaum hat er uns erblickt, kommt er, plaudert und setzt sich sofort neben uns, um weiterzufischen, um ja nicht allein zu sein, (von der Verf. hervorgehoben)" (St 181) Ein Gefühl, nicht dazuzugehören und doch nicht allein zu sein, das scheint Stiller nach Amerika getrieben zu haben. In Amerika fühlte er sich unter Seinesgleichen. Auch Stiller fühlte "als Fremder hier zu leben, sogar mit sehr wenig Geld, ist etwas Aufregend-Lebendiges,..."13. Stiller konnte sich in Amerika vor sich selbst verstecken, Amerika sollte ihm "das unausgesprochene Gefühl der Unzugenhörigkeit gestatten"14, wie es nach Frisch jeder freigewählte Wohnsitz dem Schriftsteller gestatten soll. Stiller ist ein freiwilliger Emigrant vor sich selbst und Emigrant aus dem Vaterland. Und was Frisch unter "emigrantisch" versteht, ist "ein Gefühl der Fremde schlechthin"15. In Amerika hofft Stiller auf die dauerhaften "Ferien von sich selber" und auf den endgültigen und nicht nur "vorübergehenden Selbstmord"16. Was trieb Stiller zur Rückkehr aus Amerika? Wohl nicht Feigheit und Mangel an Kraft zur Trennung und zu einem neuen Leben, wie er es selbst begründet. Es läßt sich vermuten, daß er auch in Amerika nicht seinem Selbstbildnis, seinen zu hohen Anforderungen an sich selbst genügen konnte, so wie er nirgends zur Ruhe kommen kann, solange er sich selbst nicht annimmt17, sondern sich nach fremden Maßstäben beurteilt. Stiller will einfach nicht einsehen, daß der Mensch kein abstraktes Wesen ist, sondern immer ein einmaliges, obwohl nicht einzigartiges, das jedoch nicht fehlerlos ist. Es gelingt ihm auch am Ende nicht dies einzusehen. Warum wählte Stiller also gerade Amerika? Amerika stellt im Gegensatz zu Europa eine andere Daseinsmöglichkeit dar, "das Zivilisatorische gegenüber dem Bildungs- und Kulturfetischismus"18, d.h. für Stiller ein "Gefühl der Fremde"19 und zweitens, das geht schon aus dem Aufsatz Amerikanisches Picknick hervor: "Angst 12 Ebenda, S. 284. 13 Ebenda, S. 282. 14 Vgl. Anmerkung 2. 15 Max Frisch, Emigranten, a.a.O., S. 240. 16 Vgl. dazu. Max Frisch, Wir bauen eine Slraße. In: JA, Bd I, S. 22-26. 1931 schrieb Frisch in einem seiner frühesten Artikel über seine freiwillige Beteiligung bei dem Bau der Straße in einem armen Dorf im Turmanntal. Er spricht auch von dem Gründen seiner Beteiligung: "Ich bin nicht hergekommen, um der armen Bevölkerung zu helfen, sondern um mir zu helfen. Gerade um dieses Leerseins willen. Um einmal das tun zu dürfen, wonach man sich in mancher Zweifelsenge sehnt, sein ganzes Ich abschütteln zu können. Ein Sich-selber-Loswerden, ein Ausruhen von seinem Ich." (S. 24) Er erhofft sich davon "Ferien von sich selber" (S. 23) und einen "vorübergehenden Selbstmord" (S. 26). 17 Die Selbstannalime schließt unbedingt auch die Anerkennung der Vergangenheit mit ein, die Stiller jedoch nicht akzeptieren will, daher ist sie auch nicht möglich. 18 Walter Hinderer, Ein Gefühl der Fremde. Amerikaperspektiven in Max Frischs 'Stiller'. I: Mat, S. 297-304, S. 297. 19 Vgl. Anmerkung 15. 48 vor dem Alleinsein, Angst vor sich selbst - ..."20 Denn Stiller muß - und darin liegt ein Paradox - unter Menschen sein, um sich selbst vergessen zu können. Auch am Ende des Romans kann er nicht sagen: Ich bin wieder ich selbst. Er kann nicht die Worte des unbekannten Freundes in Kierkegaards Die Wiederholung nachsprechen: Ich bin wieder ich selbst. Dies 'Selbst', das ein andrer nicht von der Straße aufheben würde, ist wieder mein eigen. Der Zwiespalt, der in meinem Wesen gewesen ist, er ist behoben; ich schließe mich wieder in mich zusammen. Die Ängste der Sympathie, welche in meinem Stolze Rückhalt und Nahrung gefunden hatten, drängen sich nicht mehr ein, um zu spalten und zu trennen.21 II Walter Faber ist ein für die Unesco tätiger Schweizer Ingenieur, der sich mit "Nutzbarmachung unterentwickelter Gebiete" (Hf 14/15)22 beschäftigt. Er bezeichnet sich selbst als einen Mann, der mit beiden Füßen fest auf der Erde steht und glaubt daran, daß sich alles errechnen lasse. Amerika - das Land der Technik -hat er zu seiner Wahlheimat gemacht. Er verharrt dort nur so lange, bis sein Leben sich der kalten Kalkulation entzieht, bis er schließlich von lauter Zufällen heimgesucht wird und sich letztendlich während einer Schiffahrt von Amerika nach Europa in die eigene Tochter verliebt (ohne zu wissen, daß er Vater ist). Zu spät -nach dem Inzest -, ahnt er, daß Sabeth seine Tochter ist, will jedoch die Tatsache nicht wahrhaben. Bereits in Griechenland, wohin er von Paris aus mit Sabeth zu ihrer Mutter reist, wird sie von einer Schlange gebissen, stürzt und stirbt infolge des Sturzes. In Athen trifft Faber seine Jugendgeliebte Hanna und diese bestätigt seine Befürchtungen. Sabeth war seine Tochter. Er verfaßt einen Bericht - so auch die Genrebezeichnung Frischs - für Hanna und sich, um die Frage "Was ist denn meine Schuld?" (Hf 123) zu beantworten. Den ersten Teil (Erste Station) des Berichts schreibt Faber in Caracas - wo ihn eine Krankheit (Magenkrebs) zwingt, seine Dienstreise für zwei Wochen zu unterbrechen - den zweiten (Zweite Station) im Athener Krankenhaus, wo er auf eine Operation wartet. Er berichtet zunächst davon, wie er nach mehr als 20 Jahren überhaupt wieder von seiner Jugendgeliebten Hanna hörte und davon, wie es zu der verhängnisvollen Schiffahrt gekommen ist. Dabei versucht er auch zu rechtfertigen, warum er Hanna vor 20 Jahren nicht geheiratet habe, obwohl sie ein Kind erwartete.23 Er bedient sich einer technischen, sogar wissenschaftlichen Sprache, um alles zu erklären und die Schuld von sich zu weisen. Faber lebt nach Frischs eigenen Worten an sich vorbei, spielt eine Rolle und verfällt seinem Selbstbildnis.24 Tatsächlich ist er am Anfang des Berichts sehr bemüht, sich selbst ständig als den sachlich und exakt denkenden technischen Menschen zu interpretieren und gibt vor, als solcher nur die Ratio anzuerkennen: 20 Max Frisch, Amerikanisches Picknick, a.a.O., S. 284/285. 21 Sören Kierkegaard: Die Wiederholung, In: Gesammelte Werke, (übers, von Emanuel Hirsch) Gütersloher Verlagshaus Mohn 1980, Ahl 5/6, S. 1-91, S. 89. 22 Der Roman wird nach der Taschenbuchausgabe (suhrkamp taschenbuch 354), Frankfurt a.M. (13) 1982 und mit der Sigle 'Hf' zitiert. 23 Hanna war damals schwanger, ein Schwangerschaftsabbruch war vereinbart und später hörte Faber nach seiner eigenen Behauptung "nie wieder(?) von ihr" (Hf 57). 24 Vgl. dazu Frischs Gespräch mit Werner Koch, a.a.O., S. 116. 49 Ich habe mich schon oft gefragt, was die Leute eigentlich meinen, wenn sie von Erlebnis reden. Ich bin Techniker und gewohnt, die Dinge zu sehen, wie sie sind. Ich sehe alles, wovon sie reden, sehr genau; ich bin ja nicht blind. (Hf 24) Seine Emotionen will er nicht wahrhaben, und wundert sich immer, wenn er davon überrumpelt wird. Wenn seine derzeitige Geliebte Ivy, von der er sich trennen will und mit der er ein oberflächliches Verhältnis hat, ihn in einer Nacht, in der er ihr bereits bekanntgab, daß er sie verlassen will, dreimal "verführt", kann Faber das nicht "fassen": "Es kam genau, wie ich's nicht wollte. ... Ich haßte micht selbst -"(Hf 62) oder: "Ich weiß nicht, wie es wieder kam -" (Hf 66) Er kann es auch nicht wissen, weil er diesen Teil des menschlichen Lebens wollig ausklammern will, ihn nicht wahrhaben will, denn für ihn zählen nur Arbeit, Rationalität, Technik, Errechenbarkeit. Auf dem Schiff wird er nervös: Eigentlich hätte ich arbeiten sollen - So eine Schiffsreise ist ein komischer Zustand. Fünf Tage ohne Wagen! Ich bin gewohnt zu arbeiten oder meinen Wagen zu steuern, es ist keine Erholung für mich, wenn nichts läuft, und alles Ungewohnte macht mich sowieso nervös. (Hf 75/76) Auch mit Museen, mit der Oper und überhaupt mit der Kunst kann Faber nichts anfangen, aber nur solange er an seinem Selbstbildnis als Techniker festhält. Nach der Begegnung mit Sabeth tritt eine Wandlung ein. Seine anfängliche Apotheose der technisierten Welt endet in der Reverenz für die unergründlichen Gesetzmäßigkeiten der Natur. Infolge dessen kehrt er auch aus Amerika nach Europa zurück. Er beginnt nun die Welt zu 'erleben'.25 Homo faber ist ein monologischer, diarischer Bericht eines Menschen, der sich zunächst als nüchterner Techniker, der nichts von Romanen hält, ausgibt. Nach einigen Kritikern sei es daher unglaubwürdig, daß solch ein Mensch Tagebuch führt. Den Zweifel verwarf Walter Henze 1961 mit der Feststellung, daß Faber erst nach dem Tode Sabeths, daß heißt nach seiner Wandlung, zu schreiben beginnt. Warum er Faber einen Bericht - eine Ich-Erzählung schreiben ließ, erklärt Frisch in einem Gespräch selbst. Er bezeichnet Homo faber als "Tagebuch eines Moribunden"26. Die Ich-Form entsprach seiner Intention, denn ihn interessierte die Diskrepanz zwischen seiner (Fabers) Sprache und dem, was er wirklich erfährt und erlebt... Die Sprache ist also hier der eigentliche Tatort. Ich - wir sehen, wie er sich interpretiert. Wir Sehen im Vergleich zu seinen Handlungen, daß er sich falsch interpretiert. Wäre das in Er-Form, so wäre ich als Autor der herablassende Richter, so richtet er sich selbst.27 25 Er war noch nie in der Oper, lädt Sabeth ein. Er war noch nie im Louvre, geht gleich an seinem ersten Tag in Paris hin. Er macht sich nichts aus Museen, langweilt sich dort, aber plötzlich entdeckt er den Kopf einer schlafenden Erinnye und findet sie "großartig, ganz großartig, beeindruckend, famos, tief beeindruckend"(Hf 111). 26 Horst Bienek, Werkstaltgespräche mit Schriftstellern, München: Hanser 1976, S. 23-37, S. 26. 27 Werner Koch, Gespräch mit Max Frisch, a.a.O., S. 116/117. 50 Wie Frisch als Schriftsteller nach eigenen Worten keine Wahl der Themen hatte28, so hatte er also auch keine Wahl der Formen29. Die Tagebuchform wird eigentlich schon nach Frischs Tagebuch mit Marion, 1947, strukturbestimmend für das epische Werk. Das Tagebuch bedeutet subjektiv gesehene Gegenwart oder auch unmittelbare Vergangenheit, es ermöglicht die permanente Konfrontation zwischen Fiktion und Faktum. Erzählung und Tagebuchaufzeichnungen, Fiktion und Biographie vermischen sich hier. Aus diesem Grund ist es auch für Faber sehr wichtig, denn er hegt ständig der Wunsch, das Geschehene wäre nur eine Fiktion. Die Struktur des Romans beruht auch auf der andersartigen Selbsterfahrung Fabers in Amerika und Europa. Er muß die neue Welt verlassen, um mit dem Erleben beginnen zu können. Mittels wechselnder Schauplätze werden somit nach Sigrid Mayer nicht nur gesellschaftliche, sondern auch innerpersönliche Gegensätze ausgedrückt. Die Schauplätze des Faberschen Berichtes wechseln von Amerika nach Europa. Und wie kommt der Schweizer Ingenieur nach Amerika? Etwas Ähnliches wie Stiller, treibt auch Faber dazu, Amerika zu seiner Wahlheimat zu machen. Der erstere will seiner Rolle entgehen, der andere will seine Rolle bestätigt wissen. Beide wollen in Amerika allein sein, aber dieser Vorsatz will keinem gelingen. Auch für Faber, der das Alleinsein als den einzigmöglichen Zustand betrachtet, bleibt dies nur ein Wunschtraum. Schon während seines ersten berichteten Abfluges aus New York will er allein sein, weil Menschen "anstrengend" (Hf 8) seien, weil der Mann im Nebensitz ihm auf die Nerven gehe. (Nach der Notlandung in der Wüste erfährt er, daß jener Herbert Hencke, der Bruder seines Jugendfreundes Joachim ist.) Sogar rasieren geht er sich nur "um eine Viertelstunde allein zu sein" (Hf 10). Doch kurz danach, bevor es zur Notlandung in der Wüste Tamaulipas kommt, kann er nicht mehr allein sein, wird sogar aufdringlich: Er nickte, ohne zu hören. Ich hielt ganze Vorträge, scheint es, über Amöben, beziehungsweise über Hotels in Tampico. Sobald ich merkte, daß er gar nicht zuhörte, mein Düsseldorfer, griff ich ihn am Ärmel, was sonst nicht meine Art ist, im Gegenteil, ich hasse diese Manie einander am Ärmel zu greifen. Aber anders hörte er einfach nicht zu. (Hf 17) Wie in Stiller versucht Frisch auch in Homo fab er durch Amerika das Problem der Flucht vor dem Selbst durchschimmern zu lassen. Amerika übernimmt im Roman zwei Funktionen. Zum einen möchte Frisch als Mahner wirken. Wie Günther Bicknese feststellt, möchte er auf die Gefahren und Schwächen hinweisen, welche aus dem 'American Way of Life' hervorgehen. Er klagt Amerika und die ganze 28 In dem Gespräch mit Werner Koch sprach Frisch darüber, daß er zu den Schriftstellern gehöre, die nur ein Grundthema haben. Er wiederholte oft die Meinung, daß der Schriftsteller wohl Wahl der Mittel habe, die Wahl der Themen aber kaum. 29 Er selbst veranschaulichte das Problem im Gespräch mit Horst Bienek, a.a.O.: "Stellen Sie sich vor, ein Mann hat eine spitze Nase, und Sie fragen ihn zuhanden der Leser: woher kommt Ihre Vorliebe für eine spitze Nase? Kurz geantwortet: ich habe keine Vorliebe für meine Nase, ich habe keine Wahl -ich habe meine Nase." (S. 26/27) 30 Auch wenn er sich in Sabeth verliebt, will er nicht wahrhaben, daß er sich nach der Gesellschaft sehnt und verfaßt sogar ein Plädoyer für das Alleinsein: "Ihre Vermutung, ich sei traurig, weil allein, verstimmte mich. Ich bin gewohnt, allein zu reisen. Ich lebe, wie jeder wirkliche Mann, in meiner Arbeit. Im Gegenteil, ich will es nicht anders und schätze mich glücklich, allein zu wohnen, meines Erachtens der einzigmögliche Zustand für Männer, ich genieße es, allein zu erwachen, kein Wort sprechen zu müssen. Wo ist die Frau, die das begreift?" (Hf 90/91). 51 westliche Welt an, "die sich anschicken, die seelische Dimension zu verleugnen"31 und warnt dadurch vor der "krisenhaften Bedrohung des europäischen Menschen durch die Mächte der Zivilisation"32. Zum anderen werden durch Amerika auch Fabers persönliche Probleme transparent. Wenn dieser Kontinent für Stiller noch eine Möglichkeit darstellt, anonym zu bleiben, keine Rolle spielen zu müssen, und zunächst auch Faber in diese "neutral-mechanische Anonymität"33 zu fliehen sucht, so tritt bereits nach seinem Erlebnis in der Wüste ein deutlicher Meinungswandel ein. Er ahnt die Entmenschlichung der amerikanischen Gesellschaft, wagt jedoch seine Meinung nur in betrunkenem Zustand zu äußern: In eurer Gesellschaft könnte man sterben, sagte ich, man könnte sterben, ohne daß ihr es merkt, von Freundschaft keine Spur, sterben könnte man in eurer Gesellschaft! schrie ich, und wozu wir überhaupt miteinander reden, schrie ich, wozu denn (ich hörte mich selber schreien), wozu diese ganze Gesellschaft, wenn einer sterben könnte, ohne daß ihr es merkt - (HF 67) Die Hoffnung auf Anonymität schlug in einen Hilfeschrei um. Dieser kündigt bereits vor Fabers Schiffsreise dessen Wandlung an. In derselben Weise, wie er zur Erkenntnis kommt, daß sein Vorhaben, die Welt nur mit den Augen des Technikers ohne Gefühle zu sehen, ihn im Stich gelassen hat, öffnet ihm das Erlebnis mit Sabeth auch die Augen für Amerika. Er sieht ein, daß auch das zivilisatorische Amerika an Echtheit verloren hat, daß die Menschen stets etwas anderes als ihre Eigentümlichkeit wollen: Marcel hat recht: ihre falsche Gesundheit, ihre falsche Jugendlichkeit, ihre Weiber, die nicht zugeben können, daß sie älter werden, ihre Kosmetik noch an der Leiche, überhaupt ihr pornographisches Verhältnis zum Tod,... (Hf 177)34 Diesen Amerikanern stehen die Farbigen mit ihrer Aufrichtigkeit und ihrem echten Lebensgefühl gegenüber. Sie sind die einzigen, die nichts anderes wollen, als sie sagen. So erlebt Faber auch die Farbigen in Cuba, wo er sich nach Sabeths Tod kurz aufhält. In den Cubanern sieht er "die ursprüngliche Lebenskraft eines Naturvolkes gepaart mit der Fähigkeit, sich die zivilisatorischen und kulturellen Leistungen der abendländischen Völker zu eigen zu machen, ohne damit den eigenen Fortbestand aufs Spiel zu setzen."35 Seine Bewunderung für diese Menschen stammt auch aus Fabers Erkenntnis, daß er ständig etwas anderes wollte, als er sagte, und sich dadurch ruinierte. Das Erzählen von den Farbigen dient sowohl Stiller als auch Faber dazu, "um das Gefühl eigenen Ungenügens gegenüber der natürlichen Grazie der Schwarzen zu 31 Günther Bicknese, Zur Rolle Amerikas in Max Frischs Homo faber. In: Alexander Ritter (Hrsg.), Deutschlands Literarisches Amerikabild. Neuere Forschungen zur Amerikarezeption der deutschen Literatur, Hildesheim, New York: Olms, 1977, S. 525-537, S. 536. 32 Ebenda, S. 527. 33 Sigrid Mayer, Die Funktion der Amerikakomponente im Erzählwerk Max Frischs, a.a.O., S. 219. 34 Marcel ist ein amerikanischer Ruinen-Freund, den Faber kennelernte, als er zusammen mit Herbert im Dschungel Joachim suchte. Damals konnte er Marcels Faszination für die indianischen Ruinen noch nicht verstehen und auch dessen Schmähungen auf Kosten Amerikas nicht: "Ich sagte: Künstlerquatsch! und wir ließen ihm seine Theorie über Amerika, das keine Zukunft habe, The American Way of Life: Ein Versuch, das Leben zu kosmetisieren, aber das Leben lasse sich nicht kosmetisieren -" (Hf 50) 35 Günther Bicknese, Zur Rolle Amerikas in Max Frischs Homo faber, a.a.O., S. 533. 52 schildern, die wie die Kleistschen Marionetten noch in einem paradiesischunbewußten Zustand erscheinen:..."36 Darin spiegelt sich auch Fabers Einsamkeit. Gleich den Amerikanern wollte auch er die Welt mit seiner technischen Schere zurechtstutzen. Er glaubte, sie dadurch steuern zu können, glaubte gegen seine Natur, gegen seine Gefühle wirken zu können, sie beherrschen zu können, sie außer Acht lassen zu können. So wie die Amerikaner ist auch er darin gescheitert, denn auch er wollte das Leben kosmetisieren: "The American Way of Life: Ein Versuch, das Leben zu kosmetisieren, aber das Leben lasse sich nicht kosmetisieren -" (HF 50). Amerika dient in Homo faber als Metapher für ein hochtechnisiertes Land, das Faber zunächst sehr anzieht und aus dieser Faszination zu seiner Wahlheimat wird. Wahrscheinlich aus demselben Grund wie für Stiller. Dort kann er anonym bleiben, keiner kümmert sich um ihn, die Freiheit wird ihm gelassen, er wird in keine Rolle gezwungen, sondern kann seine eigene aufrechterhalten. Seine Faszination währt nur solange er glaubt, er mache sich nichts aus Gefühlen. Je bewußter ihm seine Erlebnisfähigkeit wird, desto kritischer sieht er Amerika, bzw. die zivilisierte Welt, bis schließlich in Cuba sein "Zorn auf Amerika" ausbricht und damit auch sein "Entschluß, anders zu leben-" (Hf 175). Stiller und Faber kehren beide enttäuscht aus Amerika zurück. Stiller, weil er seiner Rolle auch in der Weite des Raumes nicht entgehen konnte, Faber, weil er auch in der "neutral-mechanischen Anonymität"37 sein Selbstbildnis nicht aufrechterhalten konnte. Frisch war ein gesellschaftlich engagierten Dichter und ihm lag viel daran, brennende Gesellschaftsprobleme zu erörtern. Dies war insofern möglich, weil es ihm ständig um den einzelnen ging, um den einzelnen, der nie ohne die Gessellshaft leben kann. Daher spiegelt sich auch sein ganzes Innenleben in den Mitmenschen wider. Da sich Europa nach Frischs eigenen Worten jedoch in fast allen gesellschaftlichen Räumen schon genug, meisterhaft genug, mehr als genug, geschildert habe, wandte er sich Amerika zu, bzw. konfrontierte die Alte Welt mit der Neuen. 36 Sigrid Mayer, Die Funktion der Amerikakomponente im Erzählwerk Max Frischs, S. 215/216. 37 Siehe Anmerkung 33. 53