0802 0802 Heft 24. STUDIEN ZUR Deutschen Kunstgeschichte TUOTILO UND DIE ELFENBEINSCHNITZEREI AM «EVANGELIUM LONGUM« (= COD. NR. 53) ZU ST. GALLEN EINE UNTERSUCHUNG VON JOS. MANTUANI MIT ZWEI TAFELN IN LICHTDRUCK STRASSBURG J. H. ED. HEITZ (HEITZ & MUNDEL 1900 Von den Studien zur Deutschen Kunstgeschichte sind bis jetzt erschienen : t. Heft. Verzeichniss der Gemalde des Hans Baldung gen. Grien zusammengestellt von Dr. phil. Gabriel von Te rey. Jb 2. 5o 2. Die Sculpturen des Strassburger Milnsters. Erster Theil : Die alteren Sculpturen bis 1589. Von Dr. Ernst Me}rer- Altona. Mit 35 Abbildungen. Jb 3. — 3. Einleitende Erorterungen zu einer Geschichte der Deut¬ schen Handšchriftenillustration im spateren Mittelalter. Von Dr. Rudolf Kautzsch. Jb 2. 5o 4. Der Uebergangsstil im Elsass. Ein Beitrag zur Bau- geschichte des Mittelalters. Von Ernst Polaczek. Mit 6 Lichtdrucktafeln. Jb 3. — 5. Die bildenden Kunste am Hof Herzog Albrechts V. von Bayern. Von Max Gg. Zimmermann. Mit 9 Autotypieen. Jb 5. — 6. Der Meister der Bergmannschen Officin und Albrecht Durers Beziehungen zur Basler Buchillustration. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Holzschnittes. Von Dr. Werner Weisbach. Mit 14 Zinkatzungen und einem Lichtdruck. Jb 5. — 7. Die Holzschnitte der Kolner Bibel von 1479. Von Dr. Rudolf Kautzsch. Mit 2 Lichtdrucktafeln. Jb 4. — 8 . Die Basler Buchillustration des XV. Jahrhunderts. Von Dr. We r n e r W e is b a c h. Mit 2 3 Zinkatzungen. Jb 6. — 9. Eine Thtiringisch-Sachsische Malerschule des XIII. Jahr¬ hunderts. Von Art h u r H a s el o ff. Mit 112 Abbildungen in Lichtdruck. Jb i5. — oso STUDIEN ZUR DEUTSCHEN KUNSTGESCHICHTE 24. HEFT. TUOTILO UND DIE ELFENBEINSCHNITZERE AM kEVANGELIUM LONGUM« (= COD. NR. 53) ZU ST. GALLEN EINE UNTERSUCHUNG VON JOS. MANTUANI MIT ZWEI TAFELN IN LICHTDRUCK 'Sp) STRASSBURG J. H. Ed. Heitz (Heitz & Mundel) 1900 55519 rt 0^00 HERRN K. K. SECTIONSCHEF Dr. THEODOR RITTER von SICKEL P. T. IN HOCHVEREHRUNG ZUGEEIGNET VOM Verfasser Vorwort. Die Beschaftigung mit den Schriftquellen zur Kunstgeschichte der Ottonenzeit veranlasste mich, sie nicht nur zu sammeln, sondern auch auf ihren Werth hin zu priifen. Die vorliegende kleine Theiluntersuchung bildet eine Frueht jener Studien und lag im Entwurfe schon Jahre lang fertig. Da sie eine nicht gleichgiltige Kunst- und Principienfrage in engem Rahmen behandelt, babe ich sie als mein Scherflein zur Festgabe anlasslieh des funfzigjahrigen Doetorjubilaums Theodor von Sickels durchgesehen und fertig gestellt. Die Ver- haltnisse aber machten mir das Erscheinen in Gesellsehaft der anderen Verehrer leider unmoglieh. Dank der zuvorkommenden Bereitwilligkeit der Verlags- handlung ist mein Plan nicht ganz vereitelt worden: ich komme mit meiner kleinen Gabe, wenn auch allein. Moge das Schriftchen trotzdem seinen Zweck erfiillen, und einerseits den Meister der historischen Forschung ehren helfen, andererseits der Fachvvelt als Ergebniss ehrlicher Detailarbeit nicht uberfliissig erscheinen. Wien, 15. Juni, 1900. Dr. J. Mantuani. Durch die Ungunst der Zeit wie durch die Entwicklung der Technik und die Erweiterung der Ideenkreise sind uns viele Erzeugnisse der Kunstthatigkeit vergangener Jahrhunderte — meist als nicht mehr existenzberechtigte Objekte — fiir immer verloren gegangen. Ist das schon iiberhaupt bedauerlich, so mussen wir es dann besonders beklagen, wenn wir Beweise einer mit nationalen Elementen durchhauchten germanisehen Kunst, vorab aus der grossen Zeit der sachsischen Herrscher, entbehren mussen. Was uns die erhaltenen Schriftquellen dariiber melden, kann uns nur mit einer wehmuthigen Resignation er- fullen und hochstens unsere Vorstellungskraft anregen, uns jene Kunstwerke nach Muster der wenigen noch erhaltenen Reste vorzuzaubern und sie uns im Geiste schauen zu lassen. Aber selbst die nicht eben sehr reichlich fliessenden Schrift- quellen iiber Kunst, Kiinstler und Kunstwerke sind von dem fur alles Wunderbare und Mythenhafte so naiv empfindlichen Mit- telalter durch sagen- und legendenhafte Ausschmuckung vielfach umhiillt und getriibt worden. Der modernen Kunstforschung er- wachst dadurch eine schwierige Aufgabe; umso schwieriger, als es einer strengen Kritik iiberaus sehwer wird, Hulle und Kem richtig zu sondern, den Letzteren herauszulosen, ohne die zarten und poetischen Bluthen der Ersteren, welche der streng-trockenen Umrisszeichnung der historischen Wahrheit oft nur ein Relief verleiht, nutzlos zu knicken. Die im Mittelalter so haufig vor- kommenden, bona oder mala fide entstandenen Falschungen sind freilich \venig geeignet, Schonung und Milde der Kritik anzurufen; es ist natiirlich, dass die Resultate einer strengen Forschung oft anders ausfallen, als die Quellen sie darstellen. Doch darf auch nicht ubersehen werden, dass die Behandlung 8 der modern-technischen Forschungsmomente, die Beziehungen zwisehen Legende und Wahrheit, Schriftquelle und Stilformen heute auf einen vielleieht zu einseitigen Weg der skeptisehen Ueberstrenge gedrangt zu werden drohen. Statt die historisehen Fehler riehtig zu stellen, ist man namentlich in Bezug auf die Kunstwerke nur zu leicht geneigt, ganze Dar- stellungen als unverlasslich zu streichen, wodurch man aber einerseits in Datierungsschwierigkeiten gerath, andererseits sich des ohnehin schon sparlich erhaltenen bildkunstlerischen Ma- teriales beraubt. Beim Sammeln der Schriftquellen zur Kunstgesehichte der ottonischen Zeit und bei deren Studium sind mir einige Falle vorgekommen, wo durch eine ubertriebene Kritik quellenmassig festgelegte Kunstwerke zeit- und vaterlandslos geworden sind. Ich behalte mir vor, dariiber im Zusammenhange zu handeln; hier will ich nur einen, namentlich durch die Arbeit Jul. v. Schlossers 1 als abgeschlossen hingestellten Fali herausgreifen und ihn einer abermaligen Kritik unterziehen: es handelt sich um die bekannten Tuotilotafeln. Diese Elfenbeintafeln sind oft und verschieden besprochen worden; \vahrend man vorher die Darstellung in Ekkehards Casus s. Galli (cap. 22) als voll- giltig annahm und an der Auctorsehaft Tuotilos nicht den ge- ringsten Zweifel hegte, hat man spater die ganze Darstellung als unglaubwiirdig erklart. Noch Alwin Schultz hat auf die Er- zahlung Ekkehards seine Biographie Tuotilos aufgebaut. 2 Zu derselben Zeit aber hat Meyer v. Knonau in seiner Neuausgabe der Casus s. Galli 3 gegen Ekkehards Angabe Zweifel erhoben und namentlich dieses Capitel, in vvelchem er von den Tafeln spricht, als unglaubwiirdig erklart. 4 Durch seine deutsche Ueber- setzung des Ekkehard’schen Werkes, die der Neuausgabe folgte, 5 1 Beitrage z. Kunstgesehichte aus den Schriftquelleri des friihen Mittelalters. Sitz.-Ber. der Wiener Akad., (philos.-hist. Cl.). 123. Bd. II. Abhandl., p. 180—185. 2 In D o hm e’s Kunst und Kiinstler d. Mittelalters u. der Neuzeit. I (1), p. 23-34. 3 In den »Mittheilungen zur vaterlandischen Geschichte>, N. F., Heft 5 u. 6 (1877). Ich citiere nach dieser Ausgabe. 4 L. c. p. 93. Anm. 310. 5 In »Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit«, X. Jh., 11. Bd. (1878). 9 ist sein Urtheil in viel weitere Kreise gedrungen, als vorher. Es ist somit leicht erklarlich, dass gerade nach diesen beiden Ausgaben die Kunsthistoriker sich entweder unbedingt oder mit geringer Reserve den Ausfiihrungen Meyers v. Knonau an- sehlossen. Das Wesen der Ekkehard’schen Erzahlung besteht in fol- genden Angaben: Es traf sich, dass Hatto, der Erzbisehof von Mainz, auf einer Reise nach Italien begriffen, seinen Freund Salomon III., Risehof von Constanz und Abt von St. Gallen, besuehte. Er fiihrte auf dieser Reise, da er den Mainzern miss- traute, seine Schatze in Schreinen mit, und iibergab sie Salomon zur Aufbewahrung, bis er zuriickkame. Er versiegelte dieselben und schloss mit Salomon einen Vertrag, demzufolge dieser alle Schatze nach seinem Gutdiinken fiir das Seelenheil beider ver- theilen konnte wenn er horte, dass der Erzbisehof gestorben ist. Kaum war Hatto einen Monat fort, lasst Salomon durch Kaufleute das Geriicht von dessen Tode verbreiten, offnet die Schreine, vertheilt viel Baargeld an die Armen, die Goldgerathe, Silbergefasse, Edelsteine und das Elfenbein verwendet er aber fiir kirchliche Utensilien, die Ekkehard einzeln aufzahlt. Unter diesen Schatzen befanden sich zwei iiberaus grosse, mit Char- niren verbundene Elfenbeintafeln (Diptvchon), von denen die eine geschnitzt, die andere glatt poliert war ; diese letztgenannte liess Salomon von Tuotilo schnitzen. Da nun die Elfenbein¬ tafeln ungewohnlich gross waren, befahl er dem Monche S i n t r a m ein Evangelium zu schreiben, dessen Pergament- blatter im Maasse der Tafeln zugeschnitten werden sollten. Diesen wesentlichen Angaben nun fiigt Ekkehard zwei anekdotenhafte Mittheilungen hinzu. Die erste hat den Zweck, die Geistesseharfe und Verschlagenheit der beiden Kirchen- ftirsten hervorzuheben und dann einen Scheingrund fiir die Correctheit des Vorgehens Salomons gegeniiber Hatto in’s Trelfen zu fiihren; die zweite soli den Elfenbeintafeln, die Sa¬ lomon nach St. Gallen geschenkt hatte, den Stempel einer ehr- wurdigen Provenienz und Alterthumlichkeit aufdrucken. Salomon besass — so erzahlt Ekkehard — einen Weinkrug aus Gold, schwer von Ge\vicht und mit Edelsteinen geschmiickt; diesen gebrauchte er zu Tische, wenn er vornehme Gaste io hatte. Ausserdem besass er einen Krug aus Erz, den er in seinem Privatgemache als Wassergefass zu beniitzen pflegte. Der kostbare Goldkrug gefiel Hatto besonders; er bat Salomon jedoch um den ehernen Wasserkrug, der ihm sofort bewilligt tvurde, verlangte aber dann vom Mundsehenken den goldenen. Dieser liefert ihm, niehts Boses ahnend, das Goldgefass aus. Am nachsten Tage verlangte aber Salomon zu Tisch den Krug und entdeckte, dass er getauscht \vorden ist. Diese Ueber- vortheilung beantwortete er mit der Auftheilung des Schatzes. Als Hatto aus Italien kam, horte er schon auf dem Wege von der Zersplitterung seiner Reichthumer, ziirnte dem Constanzer Bischofe und wollte mit ihm nicht mehr verkehren; dieser aber wies die Correctheit seines Vorgehens dadurch naeh, dass er darauf hinwies, seinen eigenen Goldkrug zuerst zertheilt zu haben, trotzdem er das Recht gehabt hatte, ihn fiir sich zu behalten. Die zweite Anekdote soli dem Diptyehon dadurch einen Schimmer von Ehrwiirdigkeit verleihen, dass sie es aus dem Besitze Karls des Grossen stammen lasst und sich hiebei sogar auf die Biographie Einhards beruft. So liegt die Quelle vor uns nach der Darstellung Ekkehards in den Casus s. Galli. 1 Da diese Elfenbeintafeln sowohl beziiglich des Kiinstlers als auch derEntstehungszeit auf Grund chronologischer Schwierig- keiten angezweifelt worden sind, will ich vor allem versuchen, diese moglichst zu beheben. Der Ausgangspunkt war die Ausgabe von Salomons III. Formelbuch, welche Diimmler besorgte und erlauterte. 2 Diese Ansichten und Erlauterungen beniitzte zehn Jahre spater J. Heidemann in seinem Aufsatze «Salomon III. von Constanz vor Antritt des Bisthums im Jahre 890», etc. 3 Die Ergebnisse beider Forscher unterzog einer neuerlichen Kritik mit Gegen- grunden und Beweisen F. L. Dammert in seiner Abhand- 1 M. G. SS. H., p. 88 ff. — Mitth. zur vaterland. Geschichte, N. F.,. 5. u. 6. Heft, p. 87—98. — Geschichtsschreiber d. deutschen Vorzeit, X. Jh., Bd. 11, p. 33—38. 2 Das Formelbuch des Bischofs Salomo III. von Konstanz aus dem IX. Jh. Leipzig 1857. — (In der Folge citiert mit »Diimmler, FB»). 3 Forschungen zur deutschen Geschichte, 1867 (VIL Bd.) p. 427—462. (In der Folge: «Forschungen».) lung: «Salomons III. von Constanz Formelbueh uod Ekkehards IV. casus s. Galli in ihren Beziehungen auf diesen Bischof*. 1 Die Ergebnisse dieser Arbeiten, aber mit offenkundiger Bevor- zugung der Ansichten Diimmlers und Heidemanns, vemertete Meyer v. Knonau in seinen Anmerkungen zur Ausgabe der Ekkehard’schen «Casus». Diesen letzten schlossen sich die Kunsthistoriker H a h n 2 und J. v. S c h 1 o s s e r 3 an, ersterer mit einiger Reserve, letzterer riiekhaltslos. Da sich fast alle Faden in der letzten Arbeit vereinigen, muss ich vornehmlich an diese ankniipfen. Die Angabe Ekkehards, dass Tuotilo von Salomon den Auftrag bekam, die eine Tafel zu sehnitzen und dass diese mit einem Deckei des «Evangelium longum» identisch ist, wird vor allem aus dem Grunde bezweifelt, weil Ekkehard iiber Salomo, dessen Lehrer und Zeitgenossen, also auch iiber Tuotilo, schlecht unterrichtet sei. 4 Ekkehard behauptet, Salomon sei ein Schiller Isos gewesen, und habe zu Mitschiilern Notker, Tuotilo, Ratpert und Hart- mann gehabt; der Lehrer aber hatte ihm vor der Stellung der Mitmonche einen Vorzug gegeben und ihn wie einen Canoniker erzogen. Dem St. Gallener Monche wird nun die Unrichtigkeit dieser Zusammenstellung zum Vorwurfe gemacht, da er ver- schiedene Generationen durch einander geworfen hatte. Der eben genannte Vorwurf sttitzt sich in letzter Linie auf Diimmlers aus den Briefformularen und Gedichten, welehe im Formelbuche Salomons III. enthalten sind, construierten Ansatz des Geburts- jahres Salomons, wonach dieser im Jahre 860 das Licht der Welt erblickt hatte. 5 Dieser Ansatz fallt aber sofort, wenn das einzige Indicium, namlich die im Briefe n. 25 vorkommende XII. Indiction, worauf die ganze Beweisfiihrung Diimmlers gebaut ist, eine willkiirliche Datierung ist, wie Dammert mit guten Grunden es fiir wahrscheinlich oder wenigstens fiir sehr mdglich 1 Forschungem, 1868 (Bd. VIII.) p. 329-366. 2 Geschichte der bildenden Kupste in der Schweiz. Ziirich, 1876. pp. 111, 131, 528, besonders aber die «Nachlese» p. 786—790, 795. 3 Vgl. oben, p. 8 Anm. 1. * Ebenda, p. 180-181, 183, 184. 5 Diimmler, FB., p. 105. Vgl. auch die Erlauterungen zu den anderen Stiicken. 12 halt. 1 Aber selbst die richtige Datierung jener Briefformel zu- gegeben, ervvachsen aus dem Ansatze Diimmlers nicht nur viele Unerklarlichkeiten, sondern auch chronologische Sehwierigkeiten beziiglich der Angaben anderer Briefe, 2 so dass sie geradezu unlosbar werden. Sichere Daten aus dem Leben Salomons nun sind folgende: 919, (920?) Januar 5 der Todestag; 3 ca. 909 ubernimmt er das Kanzleramt unter Ludwig dem Kinde; 4 890—919 (920) ist er Bischof von Constanz und Abt von St Gallen, 5 wobei trotz der gegentheiligen Ansicht bei Meyer v. Knonau, 6 und Ladevvig-Miiller 7 immer noch an die Moglichkeit gedacht vverden muss, dass er schon 889 \venigstens designierter Abt von St. Gallen \var, \velcher Umstand allerdings fiir unsere Zwecke nicht grundlegend ist. 885 (oder schon 884) erhalt Salomon das Diaconat, 8 9 10 885 (April 15) erscheint er als kaiser- licher Notar,” und noch in demselben Jahre (September 23) als kaiserlicher Kanzler ; ' 0 damit sind aber alle urkundlichen Marksteine erschopft. Nun ist es aber, wenn man an den Ansatzen Diimmlers festhalt, doch ganz ausgeschlossen, dass Salomon, der 860 geboren sein soli, schon im Jahre 887 mitten im hochpolitischen Getriebe stand und eine wichtige Rolle spielte 11 und das Notariats- und Kanzleramt versah, dabei aber im Jahre 883 noch «puerulus» genannt werden konnte, dem durch seinen eben Presbyter gewordenen Bruder Waldo noch eine katechetische Elementar-Lection zugemittelt wird. 12 Dinge also, die nebeneinander nicht bestehen konnen. Die iiberaus zahlreichen anderen Bedenken, vornehmlich jene rein philolo- gischer Natur, hier zu behandeln, geht leider nicht an. Die 1 Forschungen. VIII., p. 339. 2 Ebenda, VIII, p. 338—343. 3 Quellen dariiber bei Ladeivig-Miiller, Regesta, p. 49. (Reg. 340) und bei Meyer v. Knonau, Casus, p. 108, Note 376. 4 Quellen in Forschungen. VILI., p. 338. Ladetvig-Miiller, Regesta. p. 34, (Reg. 268). 5 Ladeivig-Miiller, Regesta, p. 24—42 (Reg. 177—341). 6 Casus, p. 38, Note 146. 7 Regesta, p. 25 (Reg. 178). 8 Diimmler, FB., p. 105. Forschungen, VII., p. 435—436. VIII., p. 339. 9 Wartmann, UB., II., n. 642. Forschungen, VIII., p. 338. 10 Forschungen, VIII., p. 339. n Ebenda, VII., p. 460. VIII., p. 338. 358—361. 72 Diimmler, FB., nr. 45 (p. 59 f.) 153 f. 13 Nothwendigkeit, das Geburtsjahr Salomons fruher anzusetzen ist klar und unab\veislich und besteht, trotz der gegentheiligen Ansichten Meyers v. Knonau und Heidemanns. Diimmler selbst muss die Unsicherheit des Bodens, auf den er seine Ansatze stiitzt, gefiihlt haben, weil er 1 in seinen Erlauterungen zum Briefe n. 25 des Formelbuches 2 die Geburt Salomons «gegen 860» verlegt, da zum Diaconat ein Alter von «min- destens 25 Jahren» erforderlich gewesen ware. Niehts kann hindern, angesichts der schwachen Beweiskraft dieser iibrigens seharfsinnigen aber willkiirliehen Annahme, das Geburtsjahr Salomons um 10—15 Jahre fruher anzusetzen, 3 umsoweniger, als hierdurch nicht nur keinerlei chronologische Widerspriiehe gegen urkundliche Daten entstehen, sondern manehe sogar be- hoben werden. Aber selbst dann, wenn das Jahr 860 wirklich das einzig mogliche Datum ware, lassen sich die Angaben Ekkehards doch nicht so vollstandig zur Seite schieben, wie dies durch Meyer v. Knonau und seine Beniitzer geschehen ist. Zu einem friiheren Geburtsjahr zu greifen werden wir auch dadurch veranlasst, dass Salomon als ein vom Alter ge- druckter Mann stirbt. 4 Damit aber fallt das ganze auf das Jahr 860 gestiitzte kritische Gebaude. Die Lebenszeit Salomons wiire demnach 850 (845)—919 (920), somit 69 (70) resp. 74 (75) Jahre. Hiemit ist die Hauptschwierigkeit beseitigt. Wie verhalt es sich nun mit den anderen Angaben und deren Stichhaltigkeit? Nach Ekkehard war Salomon I s o s Schiiler. Monche dieses Namens gibt es z\var mehrere; fiir Salomons Zeit aber konnen nur zwei in Betracht kommen: der eine zwischen 852—868 zu St. Gallen urkundlich nachweisbar, 5 der andere zwischen 895—908. 6 Da aber der erstere monachus und presbyter ist, und uberdies in den fiinf Fallen viermal selbst die Urkunde schreibt, einmal aber als Schreiber vertreten 1 Diimmler, FB. p. 105. a Diesen Brief bezieht Zeuner, (Neues Archiv, VIII., p. 518 ff.) nicht auf Salomon, sondern auf dessen Brudpr Waldo. — Vgl. Ladewig-Miiller, Kegesta, p. 21. (Reg. 148). 3 Dammert fordert (Forsch., VIII., p. 342) «etwa 850». Die beige- braehten Grunde sind iiberaus triftig. * Casus c. 25, (p. 102). 5 Wartmann, UB. (II.), nr. 418. 419. 422. 529. 540. 6 Ebenda, (II.), nr. 697. 739. 749. H wird, der letztere dagegen in der ersten Urkunde, in welcher er Zeuge ist (895), noeh als Diaconus erseheint, kann nur der erstere der beruhmte Lehrer sein. Dieser starb, «bene validae adhuc aetatis* 1 nach der Angabe der Annales Sangallenses maiores 2 871 (872?) Mai 14, im Kloster zu Grandval, wo er auch unter grosser Theilnahme seiner von allen Seiten herbei- geeilten Schiller bestattet \vurde. In Grandval kann Iso etwa drei Jahre gewirkt liaben, fiir welche Zeit er auch vom Abte Grimald jenem Kloster iiberlassen wurde. 3 Das Geburtsjahr ist \vieder unbekannt; doch das erste Auftauehen seines Namens im Jahre 852, Mai 29, wo er als «immerens monaehus* er- scheint, lasst ein Alter von etwa 30 Jahren annehmen ; darnaeh fiele sein Geburtsjahr et\va in das Jahr 822, und sein Alter ware 49 Jahre, \vas sotvohl mit den urkundlichen Angaben als auch mit den Angaben Ekkehards stimmt. Warum solite es also nicht gut moglich sein, dass Salomon Schiller Isos gewesen \vare? Und selbst angenommen, nicht jedoch zugegeben, dass Salomon wirklich erst 860 zur Welt gekommen ware, ist ein Unterricht dureh Iso durchaus nicht ausgeschlossen, umso\veniger, als es in der Klosterschule nach den von Meyer v. Knonau selbst zusammengestellten Zeugnissen 4 «recht kleine Kinder* gab und ilberdies Salomon sowie seine Mitschiiler nach dem ausdrucklichen Zeugnisse Ekkehards 5 nur einen Theil des Unterrichtes bei Iso genossen und zwar, wie es hochst wahr- scheinlich ist, nur die erste Katechese. 6 Die Angabe Ekkehards behauptet sich also. 1 Casus, c. 32, (p. 125 f.) besonders noch Note 428. 2 M. G. SS. I„ p. 76. 3 Die Anmerkungen Meyers v. Knonau zu c. 31 der Casus (p. 122 —125) namentlicli nr. 419—426 sind mir vohl bekannt; der Kiirze rvegen muss ich mir jedoch versagen, mich hier einzeln damit zu befassen; fiir jede lassen sich stichhaltige Gegengriinde beibringen, insofern sie sich gegen Ekkehard kehren. 4 Casus, c. 31 (p. 120—121) Note 417. 5 Casus, c. 2 (p. 10—11), c. 31 (p. 120) c. 33 (p. 127). e Ebenda, c. 33 (p. 126—127) «. . . ab Hisone cum in divini s non mediocriter essent praelibati, Marcello . . . sunt coniuncti. Qui in divinis eque poteus et humani s, septem liberales eos docuit artes.» — Marcellus unterrichtete also die Encyclopadie {Trivium u. Quadrivium), welche nur als Vorstufe zu theolog. Studien galten. Vgl. Specht, Gesch. d. Unterrichtswesens in Deutschland (Stuttg., 1888) p. 82 ff. 15 Ueber Not ker, der von Ekkehard 1 an erster Stelle als Schiiler Isos und Mitschiiler Salomons genannt wird, geniigt der kurze Hin\veis, dass er selbst sich als Schiller Isos und Marcellus’ bekennt 2 und dass seine Geburtszeit, wie Dammert iiberzeugend angenommen hat, 3 um das Jahr 840 fallt. Er ist also ein — vielleicht — etwas alterer Zeitgenosse Salomons, und kann somit ganz gut sein Mitschiiler gewesen sein, d. h. zu gleicher Zeit mit ilim die Schule besucht haben. Er starb am 6. April, 912. 4 5 Ekkehard hat somit recht. Ueber Tuotilo sind wir zwar nicht so unterriehtet, wie iiber Notker, wissen aber, dass er 895, Marž 30 zum ersten Male in einer Urkunde als Zeuge auftritt 6 und zwar unter 42 presbytern der 32., an 17. Stelle hinter Notker. Ausserdem ist er noch siebenmal 8 oder — \vahrscheinlich — a c h t m a 1 7 in verschiedenen Offi- cien als «cellerarius», «sacratarius», «hospitarius» und dann einfach als presbyter genannt. Aus alledem lasst sich mit Sicher- heit schliessen, dass Tuotilo zur Zeit seines ersten Auftretens zwar etwas jiinger als Notker gewesen sein diirfte, doch aber etwa 45 Jahre alt sein konnte. Nach 912 verliert sich seine Špur. Weil er in der Officialentabelle s Meyers v. Knonau nach 912 nicht wieder vorkommt, ist das allein noch kein Grund zu schliessen, dass er iiber diese Zeit nicht hinausgelebt haben diirfte; denn die Urkunden ertvahnen ihn auch drei Jahre friiher, 1 Casus, e. 1. (p. 4). 2 Dedicationsschreiben an Bischof Liutward von Vercelli, veroffent- licht von Diimmler in Mitth. der antiq. Gesellsch. in Ziirich, XII. (1858— 1860) p. 224, -svoselbst Salomon von Notker auch «frater» (= Ordensbruder) genannt wird. 3 Porschungen, VIII., p. 336—337. Diesen Ausfiihrungen schliesst sich auch Meyer v. Knonau (Casus, p. 4. Note 16) an. * M. G. SS. I., p. 77. - Casus, c. 46 (p. 159—160) Note 572. 5 Wartmann, UB., (II.) nr. 697. 6 Ebenda, nr. 715, 723, 736, 753, 763, 768, 771 ; nicht aber nur dreimal, wie v. Schlosser, 1. c., p. 181, den ungenauen Angaben bei Meyer v. Knonau (Casus, p. 4, Note 16) und Kahn (Gesch. d. bild. Kunste, p. 787) folgend oline iveitere Nachpriifung angibt. Daselbst (bei v. Schlosser) ist auch in der Anmerkung 3 eine ganz unrichtige Urkunde angegeben; die Nummer derselben ist 753, nicht 707. 7 Wartmann, UB. (II.) nr. 760 kommt die Unterfertigung vor: «Tuo- tilini ospitarii>, die ich mit jener Tuotilos identiflcieren zu diirfen glaube. 8 Mittheil. zur vaterl. Gesch., N. F. Bd. III. p. 72 (nicht wie v. Schlosser angibt, p. 11). i6 als er unter den Offieialen erscheint. Sein Tod diirfte aber in der That nahe dem Jahre 9121iegen; doch diirfte Tuotilo kaum im St. Gallener Kloster, sondern irgendwo auf Reisen vom Tode ereilt worden sein; denn Ekkehard weiss nichts Bestimmtes dariiber, und lasst Notker, dessen Todesdatum ja genau fest- gestellt ist, allein, seiner geistlichen Briider beraubt, sterben. 1 Tuotilo ist am Vortage des Hinscheidens Notkers noch Zeuge,- und wahrseheinlich auch noch am 7. November, des Jahres 912. 5 Somit ware er in einem Alter von etwa 62 Jahren verschieden; sein Todestag ist der 27. April. Das spate Auftreten in Urkun- den lasst sich wohl leicht erklaren durch seine wiederholten Kiinstler-, Studien- und Geschaftsreisen. 4 Kein verniinftiger Widerspruch kann also gegen dessen Zeitgenossenschaft mit Salomon und gegen die Angabe, dass er des Letzteren Mit- schiiler war, erheben. Uebrigens ist es nur eine billige Forder- ung, wenn man verlangt, dass bei der Kritik einer historischen Quelle unparteiische Gleichmassigkeit Platz greife, und dass nicht widerlegbare Angaben auch voli und ganz anerkannt werden. Wahrend Meyer v. Knonau die Angabe liber den Tod Isos «so bestimmt ist, dass daran wohl nicht zu zweifeln ist», 5 begleitet er die nicht minder bestimmte Angabe Ekkehards, dass Tuotilo auch Schiller Isos war, mit einem zuriickhaltend-skep- tischen «wahrscheinlich» 6 obwohl der Grund hiefiir schwer zu finden sein diirfte, nachdem Ekkehard bevviesen hat, dass er liber Notker’s Verhaltniss zu Iso und Marcellus gut unterrichtet ist und oben dargethan wurde, dass sich seine Angaben in ihrer Reciprocitat ganz gut halten lassen. Hiermit sind die Be- denken auch gegen jene Darstellung Ekkehards behoben, in \velcher er von einem gespannten Verhaltnisse zwischen Salo¬ mon und seinen Mitsehiilern spricht, 7 ohne jedoch die minder- \verthige Bedeutung dieses Umstandes liber Gebiihr hervorheben 1 Casus, c. 46 (p. 160). ' 2 3 Wartmann, UB. (II.) nr. 768. 3 Ebenda, (II.) nr. 771. 4 Casus, c. 34 (p. 128: in: Mitth. der antiquar. Gesellscli. zu Ziirich, XII., p. 205 ff. — Alle diese Ausgaben behielten die alte Leseart «Richpertus>. 20 reiehende Begrundung gegeben worden ware. 1 Allein diese Leseart ist nicht zu halten. Verdienen die im Cod. 265 von einer Hand des X. Jh. eingetragenen Correcturen — wie Diimmler sagt — durchwegs Beachtung, dann darf auch nicht iibersehen werden, dass dieser Corrector den Namen «Rich- pertus» stehen liess, ihn aber sicher corrigiert hatte, wenn dem Abschreiber ein Versehfehler unterlaufen ware. 2 Aber auch in dem Falle, als der Corrector des X. Jh. wirklich eine Aender- ung anbringen wo!lte, ware vor der Aufnahme einer anderen Leseart doch zu bedenken gewesen, dass die Urkunden Schtvierig- keiten machen, wenn man «Ratpert» setzt, dass sie dagegen in der richtig bestimmten Abfassungszeit des Briefes zwei Monche, Namens Richpert auf\veisen, deren einer jenem im Briefe erwahnten entspricht 3 und entsprechen muss. Ich habe oben gezeigt, dass gerade in der Zeit zwischen 851—864 nur ein junger Monch des Namens Ratpert in St. Gallen lebte, und Ermenrich hatte, wenn die Leseart nach DLimmlers An- nahme richtig ware, von diesem jungen Manne nicht als von einem bekannten lyrischen Dichter sprechen konnen. Diese Bedenken hatten sich sofort aufdrangen miissen, sobald man an der urspriinglichen Leseart etwas andern wollte. In der That wurden, sowohl Diimmler selbst, wie dann namentlich Meyer v. Knonau und seine Beniitzer rathlos durch die «ver- besserte* Leseart, und es blieb nichts ubrig, als den guten Ekkehard zu vernichten und ihm Unglaubwurdigkeit vorzu- werfen. Indessen aber erschien, besorgt und erlautert von 1 Vgl. Forschungen, XIII., p. 482—483. Anin. 4. * Damit hat es allerdings eiue eigene Bewandtniss. In der partiellen Ausgabe des Briefes (Mitth. der antiquar. Gesellsch., XII.) hat Diimmler die Aenderung ver- zeichnet wird, gar nicht. Vgl. M. G. Necrol. p. 483. 22 denn er ist spater eingetragen \vorden. Was den Abt Hart- mann betrifft, den Meyer v. Knonau um «ein Menschen- alter jiinger* haben will, als Ekkehard ihn darstellt, 1 so kann ieh mieh weder auf Grund der urkundlichen Angaben, noch dureh seine Beweisfiihrung von der Riehtigkeit der Annahme iiberzeugen. Da Ekkehard dureh semen Zusatz «abbas coenobii post Salomonem» ganz genau bezeiehnet, welchen Hartmann er meint, die Lebenszeit des Abtes Hartmann dureh sein wahr- scheinliches Todesdatum (September 21) 924 (oder 925) 2 aber genau begrenzt ist, eriibrigt uns nur noch, die Zeit seines Auf- tretens ins Auge zu fassen. Unter den in St. Gallen urkundlich nachvveisbaren Monchen namens Hartmann sind von 792—924 vier versehiedene zu unterscheiden : der erste 792—799, 3 der zweite und dritte nach einem beinahe 32jahrigen Aussetzen des Namens zwischen 831 — 884; diese beiden miissen ziemlieh gleiehzeitig gevvesen sein und kommen beide sehr oft als Kloster- officialen vor, 4 der eine als «cellerarius» 5 6 der andere als «came- rarius», B wobei ieh aber an die Moglichkeit denke, dass unter den 16 Fallen, in welchen ein Hartmann als «camerarius» auftritt, ein Weehsel der Person stattfinden konnte, umsomehr, als auch Ekkehard 7 denselben als iiblich bezeiehnet («more Romano officia apud nos mutari solenU —), ohne darin eine unabanderliche Norm zu erblicken, und sich jene Gepflogen- heit auch urkundlich erweisen lasst. Einer dieser beiden Hartmanne nun verschwindet um das Jahr 874, der andere erscheint noch einmal als «presbyter» 8 und einmal als «prepo- situs»; 9 nach diesem letzten Auftreten habe ieh die Grenze 1 Casus p. 5, Note 16. und danach v. Schlosser 1. c. p. 181. 2 Casus, p. 176, Note 167; auch p. o, Note 16. 3 Wartmann, UB. (I), nr. 134, 139. 4 Wartmann, UB. zwischen nr. 340—634 in 34 Fallen. 5 Ebenda, nr. 512, 575, 579, 583 (zvischen den Jahren 865—874). 6 Ebenda, nr. 495, 498, 499, 515, 518, 520, 530, 542, 547, 557, 560, 568, 575, 577 (in den Jahren 864—874). 1 Casus, c. 127. Die Angaben und Ausfiihrungen Meyers v. Kno¬ nau in der Ausgabe von Ratperts (Mitth. zur vaterl. Gesch., N. F. III., p. 67, Exeurs I.) sowie dessen Note 1484 zu den »Casus* Ekkehards- bestehen eine griindlichere Kritik nicht. 8 Wartmann, 1. c., nr. 620 (anno 882, Mai 10). 9 Ebenda, nr. 634 (anno 884, Marž 2). 23 (884) gesetzt. Den Nachweis dafiir, dass in der angegebenen Zeit zwei Hartmanne, entgegen der Annahme Meyers v. Kno- nau und des ihm folgenden v. Schlosser nicht nur e in «alterer» gemeint sein miissen, glaube ich durch ein Zusammenhalten der bei Wartmann unter nr. 575, 577 und 579 abgedruckten Urkunden des Klosters St. Gallen erbringen zu konnen. Nr. 575 vom Jahre 873 Nov. 16 (oder 874, Nov. 15) zeigt einen Hartmann als «cellerarius» ; nr. 577 vom Jahre 874, Febr. 2 einen Hartmann «camerarius»; nr. 579 vom Jahre 874, Mai 27 wieder einen Hartmann «cellerarius». Es ist hochst umvahrschein- lich, dass der in nr. 577 im Februar genannte «camerarius» in demselben Jahre im Mai auch als «cellerarius» gezeichnet hatte. Diese Annahme wird zur Gewissheit, wenn nr. 575 wirklich schon 873 (Nov. 16) ausgestellt ist; denn in diesem Falle ist nr. 579 nothvvendig innerhalb desselben Functionsjahres ausgestellt, so, dass der «cellerarius» nicht auch «camerarius® sein konnte. Auffallend ist auch, dass der «camerarius» Hartmann nach nr. 577 bis nr. 763, d. i. vom Jahre 874 (Febr. 2) bis 910 (Marž 30) nicht mehr erscheint, wohl aber der «eellerarius». Dieser Umstand scheint mir meine Ausfiihrungen sehr nachdriicklich zu unterstiitzen, wenn er sie nicht geradezu zur Gewissheit macht. Mit den beiden Klosterofficialen erscheint nun seit 869 ein jiingerer Monch Hartmann sporadisch in den Urkunden, 1 bis er seit 884 (Mai 3) erst als «monachus», dann «diaconus», * camerarius» etc. allein vorkommt. Das Jahr seines ersten Auftretens kann, \venn man sich die Urkunden ubersiehtlich ordnet, keinem Zweifel unterliegen; denn Januar 2 und Juli 10 desselben Jahres zeichnet auch der «camerarius* Hartmann, kann somit mit jenem (Mai 3) vorkommenden nicht identisch sein. Er ist aber auch vom «cellerarius» verschieden; denn dieser ist ein alterer Mann, schon 865 Officiale, kann also nicht \vie jener letztgenannte im Jahre 869 unter 17 Zeugen an 13. Stelle rangieren. Diesen letzten nun halte ich fiir den von Ek- kehard genannten und gemeinten Hartmann, der spater, 921 1 Wartmann, UB., nr. 545; dann in 572, 582, 592, 600, 605, 634, 685, 636, 639, 697 (als ediaconus*) 710, 763 ete. (als «camerarius»). 24 Abt von St. Gallen wurde. Nach diesen Ausfiihrungen Hesse sich etwa folgende Tabellenreihe der Hartmanne aufstellen: Hartmann I. 792—799 * II. 831—874 (?) » III. 865—884 (?) » IV. 869—924. Auf diese urkundlich begriindeten Daten gestutzt sehe ieh durchaus keine Unmoglichkeit einer Zeitgenossenschaft Hart- manns mit Salomon. Der Mann ware etwa 77 Jahre alt ge- worden, wenn man annimmt, dass er bei seinem ersten Auftreten ca. 22 Jahre alt und ein einfacher, junger Monch, ohne die niederen Weihen war; darnach fiele seine Geburt in das Jahr 847. Befremdend mag es wohl aussehen, wenn man im Jahre 895 (nr. 697) ihn als «diacon» vviederfindet, und das 26 Jahre nach seinem ersten Auftreten. Allein das Ungew6hnliche, Be- fremdende kann durchaus keine Unmoglichkeit involvieren, und jeder Kenner der damaligen culturellen Umstande diirfte hiefiir mehr als eine Erklarung beizubringen in der Lage sein. Ist aber die oben aufgestellte Calculation nicht unmoglich, dan n ist Ekkehards Darstellung haltbar und so lange aufrecht zu er- halten, als nicht ganz stricte Beweise gegen dieselbe aufzu- bringen sind. Um zum Schlusse dieser chronologisehen Untersuchung noch eines, nicht strenge hieher gehorigen aber von v. Schlosser 1 dennoch herbeigezogenen Falles zu gedenken, fiirchte ich, dass der Vorvvurf der Unzuverlassigkeit, den Meyer v. Knonau 2 Ekke- harden macht, in diesem Falle kein «sehr sprechendes BeispieD sein diirfte. Ekkehard nennt einen Waltra minus «tunc decanus» als — alteren — Zeitgenossen der oben besprochenen Monche. Die Unrichtigkeit dieser Behauptung soli dadurch er- \viesen sein, dass einfaeh auf einen jiingeren, erst 959—960 als «decanus» urkundlich nachweisbaren Waldrammus hin- gevviesen wird. Dem gegeniiber brauche ich nur kurz auf das Urkundenbuch zu verweisen, welches gerade in der Zeit zwi- 1 Sitz.:-Ber. der Wiener Acad. 128. p. 181. 2 Casns, p. 143, Note 499. 25 schen 834—894 alt er e Monehe Wajdram mit Namen aufweist,‘ die als Zeugen unter den ersten stehen. Besonders bezeichnend ist die Urkunde (nr. 478) vom Jahre 860, Nov. 11, in welcher unter 18 Zeugen zwei verschiedene Waldrame, der erste an 4., der andere an 5. Stelle, vorkommen; 865 (Marž 11) er- scheint ein Waldram an erster Stelle! Wie kann es nun ervviesen \verden, dass unter diesen versehiedenen alteren Monchen Namens Waldram nicht einer — vielleicht auf kurze Zeit nur — Dečan gewesen ist? Da konnte nur die Urkunde Hilfe bringen, wenn alles Material erhalten ware und wenn die Munche als Zeugen auch ihre Wiirden den Namen beigefiigt hatten; beides ist nicht der Fali. In der hinsichtlich der Rang- ordnung geradezu typischen Urkunde (nr. 697) vom Jahre 895 er- scheint z. B. nach dem Abte an erster Stelle «Hartmuotus presbyter», der also Dečan gewesen sein muss, trotzdem er seinen Rang nicht angibt. 1 2 Wir kommen also in die Lage, fur Be- hauptungen, wie es die oben genannten sind, erst einen stich- haltigeren Beweis fordern zu miissen, bevor wir uns denselben anschliessen. Damit glaube ich wenigstens die Haltlosigkeit der fur unsere Untersuchung \vichtigsten und grundlegenden Eimvendungen dargethan zu haben ; sind aber diese nicht zu halten, und unterstiitzen die Urkunden selbst die Angaben Ekkehards, haben \vir keinen Grand, sie als unverlasslich und unglaubwurdig zu ubergehen und deren Inhalt als historisch unrichtig hinzu- stellen. Ohne mich auf die vielen Nebensachlichkeiten einzulassen stelle ich noch eine ubersichtliche Tabelle der Zeitgenossen Salomons zusammen und betone, dass ein gleichzeitiger Schul- 1 Wartmann, UB.. 34 mat zwisohen nr. 351—691. 2 In der den «Casus» Ratperts im Exours I. beigegebenen Officialen- tabelle (Mitth. zur vaterland. Geschichte, N. F., Heft XIII) versucht Meyer v. Knonau eine Reihenfolge der Dečane und anderer Officialen zu constru- ieren; eine Stiehprobe, die ich voruahm, liess mich denn sofort im Stiche. In der Tabelle erscheint d. c , p. 72) fiir das .Jahr 895, unter Berufung' auf Wartmann, UB.. nr. 697 u. 699Folchard als Dečan. In beiden Urkunden kommt Folchard wohl vor, aber beidemale nicht als Dečan. In nr. 697 steht er an 4. Stelle, kann also, selbst nach den Ausftihrungen Meyers v. Knonau (1. c., p. 66) nicht Dečan gowescn sein. 26 besueh aller recht wohl moglich, ja nothwendig ist, und dass Ekkehard an den betreffenden Stellen, wo er Iso und Marcellus ihre Lehrer nennt, nicht an eine und dieselbe Lehrstufe und an dieselben Lehrgegenstande, deren Unterricht sie zu derselben Zeit genossen, denkt, sondern nur betonen will, dass sie alle, wenn auch in verschiedenen Jahren, von den beriihmten Lehrern unterwiesen wurden. Unter Wahrung der Reihenfolge Ekkehards stellt sich, gestiitzt auf die bisherigen Ausfiihrungen, das Ver- haltniss ungefahr so dar: Damit ware nun das Hinderniss der Chronologie aus dem Wege geraumt. Den Besueh Hattos in Constanz halte ich fiir den vor- liegenden Zweck zwar fiir nebensachlich, will ihn aber doch beriihren, um den Vorwurf, Schwierigkeiten aus dem Wege gegangen zu sein, zu vermeiden. Sowohl Hatto I. als Salomon III. waren in Rom; aber ur- kundlich nachweisbar ist die Reise Hattos nur im Jahre 896 im Gefolge Arnulfs; er erhielt damals vom Papste For- mosus das Pallium und Reliquien des heil. Georg fiir Deutsch- land. 1 Salomon dagegen ist in Rom urkundlich nachgewiesen im Jahre 904 ; Papst Sergius bemerkt in der fiir St. Gallen ausgestellten Urkunde ausdriicklich, dass Salomon «orationis causa» dorthin gekommen ware, 2 und bei dieser Gelegenheit die Bestatigungsurkunde der freien Abtwahl erwirkt hatte. Ob- wohl nun urkundliehe Naehweise nicht weiter reichen, ist eine weitere Reise des einen und des anderen Kirchenfiirsten doch 1 Bohmer-Will, Regesta, p. 87. iRegg. 17, 18, 20). 2 JVartmann, UB., (II.) nr. 733 (a. 904, Marž 8.) Jaffe I., ur. 3533, (a. 904 zu. Feb., 22). Ladewig-Miiller, Regesta, p. 31. (Reg. 236) (a. 904, zu Marž, 24.) — Casus, p. 84, Note 282. 27 nieht ausgeschlossen. Was Hatto betrifft, haben die Regesten von Bohmer-Will einen zvveiten italienischen Aufenthalt fur das Jahr 905 sehr wahrscheinlieh gemaeht. 1 Gegen die Behauptung, dass Hatto bald nach der Riickkehr Salomons nach Constanz dessen Gast war, lasst sich kem ab- solut stichhaltiger Grund aufbringen. Salomon diirfte im Monate Juli 904 aus Italien heimgekehrt sem ; 2 auf Hattos Aufenthalt steht uns nach den urkundlichen Regesten fur sein Itinerar und seine Romreise in der That das ganze Jahr 905 unbesetzt zur Verfiigung. 3 Diesbeziiglich kan n also die Darstellung Ek- kehards richtig sein. Was hingegen die Reihenfolge der Erzahlung betrifft, besonders den Inhalt des cap. 21 und 22, so ergibt sich daraus allerdings eine chronologische Schwierigkeit. 4 In der zweiten Halfte des 21. Capitels erzahlt Ekkehard, dass Sa¬ lomon eine Bussfahrt nach Rom angetreten habe («orandi causa» der oben eitierten Urkunde) und zwar vor allem deswegen, weil seinetwegen die drei alamanischen Adeligen, Erchanger, Berthold und Liutfried enthauptet worden seien. Dies geschah 5 6 Jan. 21, 917, also nach Hattos Tode. Ekkehard aber lasst der Erzahlung von der Bussfahrt Salomons jene vom Besuche Hattos folgen, was freilich nicht unbedenklich ist. Festzuhalten ist aber hinwiederum, dass Ekkehard sich sonst gerade beziiglich der beiden Bischofe als wohl unterrichtet zeigt; 0 auch ist nicht zu ubersehen, dass er von den Romreisen der beiden weiss und dass er durch Angabe von Grunden die letztgenannte Reise Salomons sogar zu motivieren sucht und damit das offene Be- streben zeigt, wahr und griindlich zu sein. Dass Salomon in der That auch 917 in Rom war, kann vielleieht nicht urkund- lich erwiesen, ebensowenig aber bestritten werden; denn fur dieses Jahr fehlt ein Itinerar und die Belege fiir Salomons Wal- 1 Bohmer-Will, 1. c., p. 90—9 L (Regg. 42, 43), woselbst auch die Begriindung gegeben ist. * Vgl. Ladewig-Miiller, Regesta, (nr. 236—238). 3 Vgl. Bohmer-Will, Regesta, (nr. 42« u. 43). 4 In «Casus», p. 83 ff. 5 Casus, p. 78, Note 269, woselbst auch die urkundl. Belege. 6 Vgl. Casus. p. 78, Note 269 und p. 86, Note 286, wo selbst Meyer v. Knonau zugestehen muss, dass die Angaben Ekkehards die Kritik aus- halten. 28 ten; das Envahnen Salomons in der Precarie 1 von 917, Marž 7 andert an dieser Sache nichts. Die Erklarung der Angelegen- Jieit liegt indessen wohl ziemlich einfach. Entweder ist die Reihenfolge der Darstellungen bei Ekkehard mit Ziel und Ab- sicht so gefiigt und hat sich Ekkehard eine chronologisehe Ver- wechslung, vielleicht wegen Nichtbeachtung der ersten Reise Hattos, zu Schulden kommen lassen, oder aber liegt hier eine, bei Ekkehard gar nicht seltene oder ungewohnliche chronologisehe Anakoluthie vor. Dieses Letztere halte ich fur uberaus wahr- scheinlich. Keinesfalls aber dtirfen diese Angaben ohne eine ausreichende Begriindung als unglaubwiirdig ubergangen, oder, wenn sie durch Urkunden nicht nachweisbar waren, als falsch gestrichen werden; sie bediirfen nur eventuell einer chrono- logischen Richtigstellung. Die historisch-chronologischen Einwendungen sind somit entkraftet und nicht haltbar. Insoweit nun das ablehnende Urtheil uber die Urheberschaft Tuotilos hinsichtlich der Schnitzereien an den Elfenbeintafeln des «Evangelium longum* auf ihnen basiert, ist es somit haltlos. Das musste jedoch, obwohl sich fiir den specifisch kunsthistorischen Zweck nicht so viel ergiebt, als man nach dem dabei gemachten Aufwande erwarten solite, dennoch beriicksichtigt werden, \veil dadurch die ganze Frage auf ein anderes Gebiet gedrangt, und der Kern derselben zur Nebensache wurde. Der Angelpunkt, um den sich das pro und contra der Tuotilofrage dreht, ist die Zeitgenossenschaft Salo¬ mons und Tuotilos ; mit der Haltbarkeit oder Haltlosigkeit. steht oder fallt auch die Behauptung, dass jene Tafel von Tuotilos Hand geschnitzt wurde. In zvveiter Linie erst fragt es sich, w a n n das Diptychon nach St. Gallen oder nach Constanz kam; dies kann jedoch, angesichts der anderen Umstande von keiner grundlegenden Bedeutung sein. Die Gleichzeitigkeit des Tuotilo mit Salomon nun begegnet keinem Widerspruche; somit ist auch kein ernster Grund vor- handen, namentlich nach den vorausgeschickten Belegen, die Sache von dieser Seite anzuzvveifeln. Es ist also von vornherein 1 Wartmann, UB., (II.) nr. 776. — Ladevdg-Muller, Rcgesta, p. 41, (nr. 327). 29 moglich, dass Salomon diese Tafeln Tuotilo ubergab und die eine sc-hnitzen liess. Selbst dann, wenn wir mit Meyer v. Kno- nau in der Ekkehard’schen Darstellung nur eine Reproduction der Klostertradition annehmen wollten,' andert sich an der Sache nichts; denn diese Tradition verdiente unsere vollste Beaehtung. Doch hatte Ekkehard vvahrscheinlich eine uns nicht mehr zugangliche und unbekannte schriftliche Aufzeichnung darliber zur Beniitzung; denn eine Einleitungsclausel, wie etwa : «ut aiunt» oder Aehnliches, womit Ekkehard seine aus der miind- lichen Tradition geschopften Angaben gerne einfuhrt, fehlt; ausserdem muss man sich auch gegenwartig halten, dass eine miindliche Tradition zwar anekdotenhafte Ziige und selbst Ein- zelheiten bewahrt, nicht aber so iiberaus zutreflende sachliche und technische Bemerkungen; derlei Dinge sind im duftigen Gewebe der Anekdote ein viel zu kraftiger, um nicht zu sagen derber Faden; wie die Erfahrung lehrt, werden sie aus solehen Erzahlungen entweder ganz entfernt, oder aber generalisierend, allgemein verstandlich, ohne bestimmte Einzelheiten umgestaltet. Das lasst sich sehr leicht daraus erklaren, dass technische An¬ gaben nur von Tecknikern verstanden werden und nur diese interessieren; von Laien auf technischem Gebiete werden sie nicht gevviirdigt und konnen demzufolge von ihnen auch nicht behalten werden. Da sich nun diese «Tradition» im St. Gallener Kloster mit ihren Einzelheiten und scharf gefassten technischen Angaben so unverdorben erhalten hat, sind wir zu dem Sehlusse gezwungen, dass sie schriftlich fhciert war und von Ekkehard benutzt wurde, auch wenn sie heute nicht mehr nachweisbar ist. Was den Besuch Hattos bei Salomon betrifft, halte ich den- selben, gestiitzt auf die obigen Ausfiihrungen fiir historisch, umsomehr, als sich auch gewiegte moderne Historiker mit ihm ernst beschaftigen . 1 2 Die anderen, mit diesem Besuche in Zu- sammenhang gebrachten Umstande, wie das Deponieren des Sehatzes von Seiten des Mainzer Erzbischofs und dessen Ver- 1 Casus, p. 93, ^tote 310. 2 Bohmer-Will, Regesta, p. 90—91, nr. 42. — Ladewig-Miiller, Re- gesta, p. 31, nr. 242. — 3o wendung durch Salomon ist z\var keineswegs eine historische Unmoglichkeit: doch bedarf es fur den vorliegenden Zweck keiner naheren Untersuchung dariiber, weil es uns gleichgiltig sein kann, auf welche Art das Diptychon nach St. Gallen kam. Auf keinen Fali aber sind wir, ohne eine stricte Beweisfuhrung berechtigt, das «plump und handgreiflich erfunden* zu nennen, 1 weil es uns sonderbar scheint. Wir k on n e n darin eine sagen- hafte Ausschmiickung sehen, miissen jedoch darauf bedaeht. sein, den historischen Kern zu suchen und ihn herauslosen, ohne das Kind mit dem Bade auszuschtitten. Ich sehe bei mittelalter- lichen Darstellungen ofter — nicht immer — den Fali der homerisehen Kritik sich wiederholen: nach friiheren Ansichten waren Homer’s Schilderungen, namentlich jene der Kunstgegen- stande, als freie Erzeugnisse der dichterischen Phantasie, ohne realen Hintergrund fur die Cultur- und Kunstgeschichte aufge- geben; nach der Auffassung Schliemanns, welche durch jeden neuen Spatenstich neue Unterstiitzung erhielt, sind \vir heute erst emsig daran, die oft sehr «unglaubiichen» Schilderungen zu studieren und konnen sicher sein, dass, wenn uns eine Schilderung nicht klar werden will oder wenn wir manehe Angaben nicht reimen konnen, die Schuld nicht an Homer, sondern an uns ist, weil wir den Dichter noch nicht verstehen. Ekkehard nun spricht 2 3 * * * von z w e i Tafeln ; von der einen sagt er in der bestimmtesten Weise, die nur auf Autopsie sich stiitzen kann: «cum seulptura esset et sit insignissima* — d. h. sie war und ist (noch) durch Schnitzereien besonders ausgezeichnet. 8 Die andere war «planitie politissima*: sie hatte eine fein geglattete Flache; und diese eine glatte Tafel liess Salomon von Tuotilo schnitzen. Dies ist der Angelpunkt der Angelegenheit. Die Mdglich- keit haben wir schon durch die Voruntersuchung erwiesen; nunmehr kann nur noch die Frage der Wahrscheinlichkeit oder 1 Meyer v. Knonau, Casus, p. 87, Note 288. 2 Casus, c. 22. 3 Diese Stelle hat Meyer v. Knonau, wie es seine Uebersetzung in »Geschichtssehreiber d. deutschen Vorzeit, (X. Jh., 11. Bd., p. 35) beveist, nicht verstanden und hat die wichtig'e Zweitheilung zwischen »esset et sit* ganz ausser Acht gelassen und folglich schlecht iibersetzt. 31 eventuell der Gewissheit, und zvvar an der Hand des Kunst- verkes selbst zur Erorterung kommen. Zu beachten ist vor allem die klare Darstellung Ekkehards, welche z\vischen zvei Tafeln den Unterschied raacht; die eine war sehon vor ihrer Ankunft nach St. Gallen geschnitzt, die andere aber glatt poliert; nicht beide also, sondern nur eine, die glatt polierte, erhielt Tuotilo zum Schnitzen. Woher und vozu diese subtile Unterseheidung bei Ekkehard? Wollte der St. Gallener Monch und Chronist «von dem localpatriotischen Bestreben geleitet, seinen Helden auf eine moglichst hohe Staffel zu stellen* 1 sich angelegen sein lassen, dann vare es wahrlich viel einfacher gewesen, \venn er ihm beide Tafeln zugeschrieben hatte; diese kleinliche Unterseheidung erscheint fast wie eine Verkleinerung Tuotilos. Und dennoch unterlasst sie Ekkehard nicht. Wenn wir alles andere zur Seite schoben, mussten vir schliesslich doch als ernste Logiker und Historiker venigstens eine psychologische Erkliirung dafiir suchen; wo und vie fanden vir sie, wenn nicht in der Folgerung, dass Ekkehard ehrlich und verlasslich sein volite, und dass er eine zuverlassige, ge- schriebene Quelle zur Verfugung hatte? Ist es aber nur eine Tafel, die von Tuotilo geschnitzt vurde, dann entsteht die Frage, velc-he von beiden die Arbeit desselben aufveist. Dariiber suchen vir nun freilich bei Ekke¬ hard vergeblich nach einer Andeutung. Da die Quelle sehveigt, miissen vir versuchen aus dem Kunstverke selbst uns zu be- lehren. Die eine Tafel, jetzt der Oberdeckel, ist mit einer Dar¬ stellung geschmuckt, velche sovohl in St. Gallen als auch sonst an irgend einem anderen Orte entstehen konnte. Die An- ordnung der Einzelheiten in der Darstellung ist streng regel- massig und central, die Flaehe nach der Langs- und nach der Queraehse geometrisch in Compartimente eingetheilt, ohne dass diese ausserlieh kenntlich gemacht varen. Die Mitte nimmt Christus in der Mandorla ein; er sitzt auf dem Throne, ist von jugendlichem Typus, in antike Gevandung gehullt, um das Haupt hat er einen Kreuz-Nimbus. Die Arme halt er in Oranten- 1 v. Schlosser, Beitrage, 1. c. p. 181. 32 weise gehoben; die linke Hand weist uns die innere Flache (Palme), die rechte halt ein Bueh. Zu beiden Seiten des Hauptes sind die symbolischen A und O angebracht; die Fusse ruhen auf einem Schemel. Rechts und links von der Mandorla steht je ein sechsfliigeliger Cherub, ein Schwingenpaar am Korper geschlossen, das zweite im Raume halb entfaltet, das dritte liber dem Haupte libereinander geschlagen und in vertikaler Richtung in die Hohe gerichtet; die Arme sind in der Anbe- tungsgeste, horizontal ausgestreckt. In die Ecken sind dann die Evangelisten hineincomponiert: links oben Johannes, auf eine Rolle, rechts Matthaeus, in ein Buch schreibend. Unten links Marcus, seinen Calamus schneidend, rechts Lucas, in der Linken ein Buch, in der Rechten ein Schreibrohr; er sinnt dariiber nach, tvas er schreiben soli. Alle Evangelisten sitzen auf gepolsterten Sitzen. Vor jedem hat der Kiinstler das betreffende Symbol angebracht: den Adler mit einer Rolle in den Fangen, die drei iibrigen mit Buchern. Ueber und unter den Evangelistensymbolen, am aussersten oberen und unteren Rande treten noeh Personificationen hinzu; oben jene fur den Begriff Himmel, unten solche fiir den Begriff Erde. Den ersteren stellen S o 1 und Luna, als Mann und Weib gebildet dar; liber den Haupten das Zeichen ilirer Ge- stirne: Sol den Strahlenkranz, Luna die Mondsichel; jeder von beiden halt eine brennende Fackel in der Hand. Die Erde wird versinnbildlicht durch zwei einander gegeniiber gelagerten Fi- guren, den Ocean us, einen Greis mit der Wasserurne und einem Seeungeheuer, und der Tell us, einer weiblichen Gestalt mit einem Fiillhorne am rechten Arme und einem Kinde an der Brust; zu ihren Fiissen ein Baum. Die freigebliebenen Zvvischenraume sind durch Gebaude ausgefiillt. Streifen mit Blattornamenten schliessen oben und unten die Darstellung ab. Das Schema ist gegeniiberstehendes. Zwischen den ornamentalen Streifen und der Darstellung ist je ein breiterer Steg gelassen, auf welchem die Beischrift ange¬ bracht ist; oben: «HIC RESIDET CHRISTVS VIRTV* und unten: «TVM STEMMATE SEPTVS*. 1 1 Die beste Abbildung des Oberdeckels war bis jetzt immer noch bei Foerster, Denkmale deutscher Baukunst, Bildnerei, etc. I., (Bildnerei) nach p. 10. Zeichnung v. Fcerster, Stich v. H. Walder. 33 Die zweite Tafel nun weist ein ganz anderes Bild und namentlieh in den Darstellungen directe Beziehungen zu St. Gallen und vielleicht auch Constanz auf. Der Lange naeh ist sie in drei gleich hohe Theile untertheilt; der erste enthalt ein schwungvoll componiertes Rankenornament, in dessen obere Mittelschlinge ein Lowe hineincomponiert ist, der ein Thier (Reh oder Lamm) anfallt. Der zweite Theil enthalt die Dar- stellung der Himmelfahrt Mariae ; in der Mitte steht die heil. Jungfrau, mit doppeltem Gewande..angethan, die Arme in Oran- tenweise erhoben, die Handflachen dem Beschauer zugevvendet; das Haupt isl von einem Kopftuehe bedeckt, und von einem kreisrunden Nimbus umfangen. Das Obergewand wird auf der Brust von einer Agrafie zusammengehallen ; die Oberarmel sind 3 34 am Saume mit einer Bordure geschmiiekt, ebenso der Saum des unter den Knien endenden Ueberwurfes. Zu jeder Seite der Madonna sind je zwei Engel in gut ausgedriiekter ehrerbieliger Bewunderung. Auf dem Trennungsstege zwischen dem ersten (ornamentalen) Theile und diesem eben besprochenen stehen die Worte: «ASCENSIO SANCTE MARIE*. Im untersten Theile sehen wir zwei Darstellungen: in der Mitte steht ein Kreuz, durch \velehes die beiden Scenen geschieden werden. Links vom Kreuze steht unter Laubbaumen, auf deren Zvveigen Vogel umherhiipfen, der heil. Gallus, in der Linken einen Štab, die Rechte segnend erhoben, — zugleich ist offenbar die Geberde des Spreehens ausgedriickt — und vornhm ein Bar, aufrecht gehend, in den Vorderpranken einen Baumklotz haltend; im Hintergrunde ein loderndes Feuer. Rechts vom Kreuze, wieder unter Laubbaumen, abermals der h. Gallus, dem aufrecht steh- enden Baren Brot reichend, die rechte Hand in segnender und sprechender Geberde erhoben. Unter dieser Gruppe ist der Be- gleiter des Heiligen im Schlafe liegend dargestellt. Auf dem Scheidungsstege zwischen dieser Darstellung und jener der Ilimmelfahrt Mariae stehen die Worte: «S. GALLVS PANEM PORRIG1T YRSO»; also nur einen Theil der Darstellung erklarend. Das Schema ware somit gegeniiberstehendes. Die beiden Darstellungen auf dem Unterdeckel 1 nun weisen so deuIlich auf St. Gallen hin, dass es von vornherein uberaus schwer wird, anzunehmen, dass sie anderswo als dort entstan- den seien. Es ist die heil. Jungfrau, die Patronin der Cathe- dralkirche von Constanz, \voselbst Salomon, der Abt von St. Gallen, auch gleichzeitig als Bischof regierte und dessen Juriš- diction «in spiritualibus* auch das in seiner Diocese gelegene Ivloster St. Gallen untergeordnet war. Und dann haben wir die markantesten Theile aus der Griindungslegende des Klosters selbst dargestellt, Wunderthaten des Grlinders und Patrons von St. Gallen. Diese Illustration der Lokallegende weist also auf jeden Fali naeh St. Gallen, auch wenn wir die Schriftquelle in Ekkehards «Casus» nieht besiissen ; ich bin uberzeugt, dass 1 Die verlasslichste Reproduction var bislier die Photograpliie bei W e s t w o o d, A Catalogue of the fictile ivories, ur. 85, (p. 119). 35 der kritische Scharfsinn dies langst als unwiderleglieh consta- tiert und hingestellt hatte, wenn nur die deutliche Aussage der Schriftquelle nicht da ware; nun sie aber da ist, muss zum mindesten versucht werden, daran — sagen wir — Kritik zu iiben. Zu diesem Zwecke hat man aber vorerst die Quelle durch unhaltbare Interpretationen getriibt. Rankenornament. 0> bn e W o bjj C A s s tč p a u l n £ bX) C W Baumkronen. Feuer. BSume. Schlafender Begleiter G. Doeh auch die kunsthistorische Kritik wurde weder der Quelle noch dem Werke gerecht; verschiedene, ganz oder theil- weise sich vvidersprechende Ansiehten sind iiber den Stil ge- aussert worden und verlohnt es sich der Muhe, die wiehtigeren und verbreiteteren zusammenzustellen. Zuerst ausserte sich dariiber J. v. Arx in den Anmerkungen zu seiner Ausgabe der Ekkehardschen «Casus» dahin, dass der 36 Oberdeekel die altere Schnitzerei enthalte, wahrend der untere der von Tuotilo geschnitzte sei. 1 2 Diesem zunachst folgt Schnaase, 3 der zwar die von Arx ausgesproehene Meinung kritisiert, jedoch offenkundig ohne ge- naue Kenntniss des Wortlautes in Ekkehards Darstellung beide Tafeln Tuotilo zuschreibt, sich dagegen iiber die Discrepanz seines Urtheiles mit der Quelle, der einzigen historischen Notiz iiber die Tafeln, nieht verbreitet und es einfach dahinstellt, wie sich seine Ansicht mit jener vertragen mag. Jlitn ist die Quelle nichts, der Stil alles, und Ekkehard mtisse wohl schlecht dariiber unterrichtet gewesen sein, da er ja das Todesjahr Tuotilos nieht zu kennen gesteht, wahrend es doch im Nekrologe stehe. Schnaase rneint hiemit das Jahr 915, das zwar nieht im Nekro¬ loge steht, — denn das Jahr fehlt daselbst; wohl aber ist das Nekrolog im Codex nr. 915 enthalten ! Damit war eine neue Ansicht geschaffen, dass namlich beide Tafeln, der Stilkritik zu- folge, von derselben Hand herriihren miissen. Diese Annahme wurde nun auch von anderen Gelehrten aufgenommen, ohne dass sie der Sache auf den Grund gegangen waren. Wie Schnaase nimmt auch Foerster 3 ohne weitere Begriindung an, dass Tuotilo beide Tafeln geschnitzt habe. Dieser Behauptung schliesst sich auch Rahn an; 4 doch hat er sich die Originale angesehen und sie auf ihren Stil hin ge- pruft; desungeachtet verharrt er bei Schnaase’s Urtheil und sucht dasselbe durch seine Autopsie zu stiitzen. Gleichzeitig mit Rahn sprach sich auch Westwood in gleichem Sinne aus, 5 indem er von «two Plaques of a Book Cover, carved by the monk Tutilo* spricht und sie in das «9 th . century» ver- legt — alles ohne jede Begriindung. Etwas weiter noch geht Bode, 6 obschon in stilistischen Wendungen etwas verhullt. Unbekummert um die urkundlichen Angaben lasst er Tuotilo 911 sterben; die Schnitzerei auf den ' M G. SS., II. p. 89. 2 Geschichte der bildenden Kunste (II. Aufl., 1869.) III., p. 656. (Anm.) 3 Denkmale deutscher Baukunst, etc I., (Bilduerei), p. 7. 4 Geschichte der bildeiden Kiinste in der Schvveiz (1876) p. 113. 5 A deseriptive Catalogne of the fletile ivories, (1876) p. 119. 6 Geschichte der deutschen Plastik, (1887) p. 8 f. — 37 Tafeln ist fur ihn die Arbeit eines Kiinstlers ; zwar kiindigt Bode an, er wolle «gleich erdrtern* ob diese Arbeit mit Recht Tuotilo zugesehrieben werde, bleibt aber diese Erorterung sehuldig und behauptet dafiir, dass die in Frage stehenden Tafeln «als erste deutsche durch Inschrift sicher datierbare E1 f e n b e i n ar b ei t» bezeichnet zu werden «pflegen», dass sie aber eigentlieh gar nicht wert seien, dass man so viel Wesens davon macht. Bemerkt muss \verden, dass eine solche Behauptung iiber die Datierbarkeit und liber den geringen Wert der Arbeit Bode zuerst ausgesprochen hat. Auch Liibke vertritt noch in seiner «Geschichte der Plastik* 1 2 die Ansieht, dass beide Tafeln von demselben. Kiinstler herriihren, von Tuotilo namlich, den er Abt von St. Gallen nennt und ihn 915 sterben lasst. Spater anderte er seine An- sicht dahin,* dass sich «aus der Uebereinstimmung des Stiles beider Tafeln kein Grund gegen die Glaubwiirdigkeit der Ueber- lieferung schopfen* lasse, dass somit Arbeiten verschiedener Kiinstler vorliegen. Der Fehler des Sterbedatums (915) blieb auch in diesem Buche stehen. Diesen allen schliesst sich v. Schlosser 3 an auf Grund des Urtheiles, das er sich aus eigener Anschauung gebildet hat; die Stilkritik ist ihm, wie Schnaase, geniigend, um die viel altere historische Quelle umzustossen, wie auch Meyer v. Knonau 4 es that. Eine ausreichende Begrtindung fehlt. Dieses Urtheil v. Schlossers ist umso vvichtiger, als es in den Paralegomenis zu seinen Schriftquellen ausgesprochen wurde, somit von vorne- herein als wohlerwogen und begriindet bestechen muss. Auch K r a u s 5 denkt an beide Tafeln, zweifelt aber, ob sie dem Tuotilo zuzusehreiben sind, oder nicht. Diesen Ansichten gegeniiber steht, mit Uebergehung der beiden schon oben citierten Urtheile von J, v. Arx und Liibke’s in der Geschichte der deutschen Kunst, jene von Alwin Schultz 6 1 Geschichte der Plastik, III. Aujj. (Leipzig 1880) I., p. 395 ff. 2 Geschichte der deutschen Kunst, (Berlin, 1888) p. 53 f. 3 Beitrage, (Sitz.-Ber. d. Wiener Acad. Bd. 123) II. Abli, p. 184. * Casus, p. 93, Note 310. 5 Geschichte der christliclien Kunst (Freiburg, 1897) II/l p. 20. 6 In Dohme, Kunst und Kiinstler des Mittelalters und der Neuzeit (Leipzig, 1877) 1/1, p. 31 ff. 38 der sich mit Umsicht und Hingabe mit diesem ehrwiirdigen Kleinkunstwerk beschaftigt hat, dabei sowohl die Darstellung Ekkehards als aueh den Stil der Sehnitzerei seiner Kritik unter- zog und zum Ergebniss gelangte, dass nach beiden Mo¬ ment en zwei verschiedene Tafeln zu unterseheiden sind. Die Frage entsteht nun, wer hat Recht, d. h. welehe Ansicht lasst sich quellen- und stilkritisch besser stiitzen? Man halte sich einmal die Abbildungen der beiden Tafeln,. (da die Originale nicht zu jeder Stunde und fiir jedermann zu priifen sind) gleichviel in welcher Reproduction, zusammen. Die Auftheilung der zu schmiickenden Flachen ist nach so grundverschiedenen Gesiehtspunkten ausgefiihrt, dass es schon desshalb sehr schwer wird, an einen und denselben Kiinstler zu denken. Die beiden oben angegebenen Schemen werden im Stande sein, diese Behauptung nachdriicklich zu unterstiitzen. Man muss dabei bedenken, dass es die Arbeit eines erst am Anfange der \verdenden nationalen Kunst stehenden Kiinstlers ist, den erfahrungsgemass keinen Ueberfluss solcher Eintheilungsschemen zur Verfiigung hat, und naturgemass auf die alteren Vorbilder angewiesen ist. In einem solchen Falle wird aber der Kiinstler ganz gleichmassig vorgehen und sich keine grossen Schwierig- keiten durch die Fiille und Verschiedenartigkeit des Stoffes bereiten, wie es bei diesen Tafeln der Fali gewesen ware, und das umsoweniger, als die voraufgehenden Muster der Diptycha in ihren Darstellungen gleichartige Stoffe und zusammenhangende Gedanken zeigen. Uebrigens deuten die beiden Compositionen auf verschiedene Zeiten hin; die central angelegte Darstellung auf dem Oberdeckel gehort einer friiheren, die auf nacheinander sich folgende Streifen vertheilten Darstellungen des Unler- deckels einer etwas spateren Zeit an. Ein Mittel zur Beur- theilung dessen gibt uns die Durchschnittscomposition der gleich- zeitigen Miniaturen an die Hand. Dieser Unterschied konnte natiirlich nicht verborgen bleiben und die «strengere Gesetzmassigkeit® der Composition des Oberdeckels wurde dadurch zu erklaren gesucht, dass man den betreffenden Kiinstler, sei es Tuotilo oder ein anderer, dieselbe nach alteren und besseren Vorlagen copieren liess, wahrend er 39 bei der Anlage der Darstellungen auf dem Unterdeckel auf sich selbst angewiesen gewesen sei. 1 * Dagegen ist zu erwidern, dass hier eine Alternative zu discutieren ist: entweder war der Kiinstler so unselbststandig, dass er zwar eine Copie machen konnte, dagegen ohne Vorlage sehr sch\ver arbeitete, oder aber war er fahig, auch ohne Vorbilder frei und geschickt zu com- ponieren. Im ersten Falle miisste die Darstellung auf dem Unterdeckel ahnlich ausgefallen sein, wie jene des Oberdeckels; im letzteren Falle hatte er in die Composition des Oberdeckels seine individuellen Ziige hineingebracht, auch dann, wenn er nach einer Vorlage gearbeitet hatte. Man halte sich z. B. die beiden Apostelfiguren von der Kathedra Maximianus’ in Ra- venna 3 und jene von Beromiinster 3 zusammen und beurtheile, was aus einer Copie werden kann, wenn sich individuelle Ziige eines Kiinstlers, namentlich eines dem Original nicht gewach- senen, hineinmengen. Doeh anerkenne ich, dass diese Frage sich so sehr auf dem Gebiete des Schlusses bewegt, dass ein verniinftiger Widerspruch immerhin noch moglich ist. Gehen wir aber auf die Einzelheiten liber, und die Sache wird sich klaren. Waren die beiden Tafeln Arbeiten desselben Kiinstlers, so miisste auf den ersten Blick auffallen, dass die ornamentalen Rankenstreifen auf dem Oberdeckel mit jenen des Unterdeckels in k e in er Hinsicht stimmen ; denn am Ober¬ deckel schliessen sie die Darstellung nach Oben wie nach Unten ab, wahrend am Unterdeckel nur oben ein mit Rankenornamenten ausgefiilltes Abschlussfeld angebracht ist. Dann stimmt aber auch weder die Grosse des Feldes noch auch das Detail des Ranken- schmuckes. Der Letztere besteht am Oberdeckel in jedem der beiden Felder aus zwei Reihen von je v i e r, einmal zu einan- der einmal im Gegensinne eingerollten Rankenvoluten, welche an den Beriihrungspunkten der Curven entweder durch Quer- bander gleichsam zusammengehalten oder durch iiberfallende Blattlappchen maskiert werden; die Zwischenraume sind mit 1 Kahn, Geschichte der Kild. Kunste in der Schweiz, p. 113. — v. Schlosser, Beitrage, p. 184. a Oefter abgebildet; z. B. bei Liibke, Gesch. d. Plastik. (III. Aufl.), I,, p. 383, u. v. a. s Abbildung bei Balin, 1. c., p. 116, u. 6. 40 Blattpalmettchen ausgefullt; die Ranken selbst enden in den Mittelvoluten in drei, schwungvoll und frei modellierte Blatt- lappen, in den Endvoluten in vier Lappen, von denen aber zwei iibergeschlagen sind. Grundverschieden von diesen sind die Ran¬ ken und deren Anlage auf dem Ornamentfelde des Unterdeckels. Diese bestehen aus zwei Parallelreihen zu je drei Schlingen ; die zu beiden Enden bilden eingerollte Voluten, die mittlere aber ist eine gesehlossene Schlinge, die einerseits vom gekriinim- ten Rankenstamme, andererseits aus abzweigenden, sich naeh einwarts zusammenbiegenden und in ein fiinflappiges Blatt sich ausbreitenden Schosslingen gebildet wird. Die obere Mittel- sehlinge enthalt eine Thierscene, einen Lowen in heftiger Be- wegung, der ein Thier — es ist \vahrscheinlich ein Lamm oder ein Reh gemeint — iiberfallt. Wie man behaupten kann, dass auf beiden Tafeln «das Ornament ganz ubereinstinnnend» ist, 1 das zu fassen gestehe ich, nicht klug genug zu sein; denn die Unter- schiede drangen sich auf. Ist es nun vvahrscheinlich, dass ein fruhmittelalterlicher Iviinstler, wenn er Deckel fiir dasselbe Buch schnitzen solite und auf dem oberen bereits ein gut ausgeson- nenes Rankenornament zvveimal ausgefiihrt hatte, fiir den un- teren ein neues, mit ahnlichen Motiven componieren wiirde? Ueberdies sind in beiden ornamentalen Streifen des Oberdeckels in den Endranken nicht ganz gliickliche Conflicte bei der Blattbildung zu constatieren, da infolge Raummangels die Enden einzelner Blattlappen iibergeschlagen werden mussten. Diesem ist auf dem Unterdeckel uberaus geschickt ausgewiehen, der Fluss der Linien ist klar, die Blattforinen iippig und strannn. Nun hat Rahn 2 erkannt, dass fiir die Rankenmotive des Unterdeckels eine Elfenbeintafel des St. Gallener Codex nr. 60 als Vorbild gedient hat und vermuthet, dass diese letztgenannte (irische) Handschrift «wahrseheinlich» žil ter e Elfenbeinschnitze- reien aufvveist, obschon er in der dazu gehorigen Anmerkung (nr. 2) zweifelt, ob nicht etwa die Einbanddecken die s er Hand¬ schrift jene von Ekkehard ervvahnten Tafeln enthalten. In der 1 So v. Schlosser, Beitrage, 1. c. p. 184. 2 Geschichte d bild. Kunste, p. 114. 41 That folgt Meyer von Knonau 1 diesen zweifelvollen Andeutungen Rahns mit der Bemerkung auf dem Fusse nach, dass dieses Letztere unmoglich ist, da der Codex nr. GO schon in dem zu Grimalds Zeiten (f 872) angelegten Biicherverzeiehnisse an- gefiihrt ist. Man sieht, dass dureh die Gewaltinterpretationen sich eine Verlegenheit aus der anderen entwickelt. indessen kann nicht gelaugnet werden, dass sich in der That auch «eine Reihe ubereinstimmender Ziige» 2 — somit nicht alle — an den beiden Deckeln des Codex 53 feststellen lassen. Daraus jedoch auf dieseibe Hand zu schliessen, hiesse iiber das Ziel schiessen. Ware es nicht das Natiirlichste ge- wesen, aus den Uebereinstimmungen der einzelnen Ziige und aus dem Umstande, dass die Blattornamente des Unterdeckels nach dem Vorbilde eines alteren Inventarstiickes gebildet sind, auf dessen Einfluss zu schliessen ? Freilich kihne hiebei dann ebensowohl eine Reihe von Abweichungen in Betracht, welche den tibereinstimmenden Ztigen gefahrlich werden konnten ; dess- halb sind sie moglichst. vermieden worden. Sieht man den Oberdeckel an, so muss sofort auffallen, dass iveder Christus in der Mandorla, noch die Cherubim zu ■dessen beiden Seiten — welch’ Letzteres ja noch erklarlich vare —■ irgend einen Standboden haben. Was will man ferner dazu sagen, wenn die Gebaude, Hauser und Thiirme, Oceanus und Tellus, die Evangelisten auf ihren Sitzen und ihre — allerdings mit Fliigeln versehenen — Symbole frei in der Luft ,schweben und hangen ? Am Oberdeckel finden wir nirgends einen Boden angedeutet. Ganz verschieden davon ist der Unterdeekel. Hier hat der Kunstler seiner Darstellung uberall Boden gegeben; selbst die in den Himmel entschwebende Gestalt der heiligen Jungfrau ,sowie die gefliigelten Engel zu beiden Seiten hat er auf festes Erdreich gestellt. Hier wachsen die Baume aus der Erde, wahrend auf dem Oberdeckel der einzige dargestellte Baum, ebenso wie alles iibrige, in Luft hangt. Nur in einer Darstellung, wo namlich der h. Gallus dem Baren Brot reicht, ist diese Regel 1 Casus, p. 93, Note 310. 2 Kahn, L c., p. 113, Anm. 2 . 42 durchbrochen; wahrend der schlafende Begleiter des h. Gallus auf festera Boden ruht, scheinen Gallus und der Bar frei zu schweben. Allein auch hier hat der Kunstler fiir den h. Gallus durch einen jungen Baumzweig, auf welehem der Fuss des Hei- ligen zu stehen scheint, und dadurch, dass er der Reliefgrund sanft ansteigen lasst, wenigstens eine Scheinstiitze schaffen wollen. Die Verlegenheit entstand durch den im Vordergrunde liegenden und schlafenden Monch, wesshalb die beiden anderen Gestalten gehoben wurden, um dem Mangel der Perspektive zu begegnen; aber der Grundsatz, festen Boden fiir die Scenen zu schaffen ist unverkennbar. Diese Unterschiede sind von der einsehneidendsten Bedeu- tung, weil sie ja eine Principienfrage der Compositionstechnik beriihren. Ein Kunstler des Mittelalters kennt, namentlich wenn er so eingeiibt ist in seiner Kunstrichtung, wie der Schnitzer der in Rede stehenden Tafeln, nur ein Princip; auf keinen Fali ist es also moglich, den Principienwechsel bei einem und demselben Kunstler wahrend einer und derselben Arbeit anzu- nehmen. Das ist ja ein empirisches Axiom, das jeder Kenner der mittelalterlichen Kunst unterschreiben wird. Da aber in dem vorliegenden Falle ein solcher Wechsel constatiert ist, so folgt daraus mit zwingender Nothwendigkeit, dass es zwei Kunstler waren, von denen die Schnitzwerke herriihren. Ausser diesen in die Augen springenden, geradezu grund- legenden und von vorne herein planmassig in die Arbeit aufgenommenen Unterschieden konnen aber noch andere Be- lege fiir die Verschiedenheit der Kunstlerhande angefuhrt werden. Die Cherubim zu beiden Seiten des thronenden Heilandes sind von den Engeln an der Seite Mariae grundverschieden. Die Ersteren haben drei Paare von Flugeln, die Letzteren nur ein Paar. Die Einwendung, dass auf dem Oberdeckel der Kiinstler wohl Cherubim, also eine hijhere Ordnung von Engeln, auf dem Unterdeekel jedoch nur einfache Engel darstellen wollte, wiirde das kiinstlerische Wesen nicht treffen ; denn wenn man sich mit einer solchen Erklarung auch befreunden wollte, steht ihr doch die planmassig technische Ausfiihrung der Engelge- stalten entgegen. Die Cherubim sind hart gezeichnete, mit dem 43 ganzen Korper, — die Kopfe ausgenommen — en face gestellte Gestalten; die Hande und Fusse sind platt gebildet, schwach modelliert und machen den Eindruck, als ob sie einzeln ge¬ bildet, eingefiigt und angeklebt worden waren; auch sind sie alle nach einem Schema gearbeitet. Ihre Schwingen bestehen aus drei parallelen Reihen von angedeuteten Federn, welche mit sogen. «Augen» geschmiickt sind. Ihre teehnische Her- stellung geschah derart, dass der Kiinstler die Querriefelung fiir alle drei Reihen in einem Zuge herstellte, und dann die Scheidungsriefen nach der Lange zog. Die Kopfe sind beinahe im Profil gegen Christus gewendet und sanft geneigt; das Haar wird von einem verhaltnissmassig kraftigen, glatten Reifen zu- sammengehalten. Das trifft bei den vier Engeln des Unter- deckels alles nicht zu. Diese sind sammtlieh zweckentsprechend bewegt, aus ihren Gesten und ihrer Korperhaltung spricht deutliche Bezugnahme zum geschilderten Vorgange und keine dieser Engelsgestalten ist nach einem schon angewendeten Schema gebildet; daher wir auch bei einer halbwegs aufmerk- samen Betrachtung eine Steigerung des Ausdruckes in den Ge- berden unschwer erkennen miissen. Die Kleidung ist verhalt¬ nissmassig natiirlich angeordnet und widerspricht den Korper- bewegungen nicht. Die Sprache der Hande ist individualisiert, jede sichtbare Hand driickt sich anders aus. Die Behandlung der Haare aber ahnelt jener auf dem Oberdeckel. Eine tief- gehende Discrepanz aber ist wieder in der technischen Aus- fiihrung der Fliigel zu constatieren. Der Kiinstler des Unter- deckels schuf durch die Langsriefung zuerst die Parallelstreifen, welche er dann jedoch einzeln nach der Quere riefte, um die Federn anzudeuten. Ich vermuthe, dass er nur das Aussplittern verhiiten wollte; er erreichte dadurch einen guten Effeet, weil die Anordnung der Federn sehr lebendig erscheint. Bei den beiden aussersten Engeln kam aber der Schnitzer mit den Fliigeln in Collision, — und das ist ein Punkt, der allein im Stande ware, die Verschiedenheit der Kiinstler schlagend darzuthun. Bei dem letzten Engel rechts von der hi. Jungfrau ist der linke Fliigel, bei jenem links von der Madonna der rechte Fliigel v er kiimme rt. Warum? Damit er den anderen nicht dečke oder kreuze. Ware nun der Schnitzer des Unterdeckels 44 derselbe gewesen wie der des Oberdeckels , 1 * hatte er sieher nach dem schon ausgefiihrten Muster bei den Cherubims die beiden collidierenden Schwingen sich kreuzen lassen. Wie tief muss also das kiinstlerisehe Compositionsprincip festgesessen sein, dass ihm der Schnitzer je einen Flugel, zum Naehtheile der Darstellung, opferte P Zur Andeutung der Landschaft schuf der Kiinstler des Unterdeekels an der linken Seite Maria einen Straueh oder Baum. Der Stil und die Technik sind von jenem, zu Fiissen der Tellus auf dem Oberdeckel ganz und grundverschieden, \vobei nicht zu iibersehen ist, dass diese Pflanze in beiden Fallen dieselbe Function hat, das Erdreich anzudeuten. Auf dem Oberdeckel finden \vir ein wenig tibliches Schema, eine Form, die am ehesten mit dem Parasolpilze (Agaricus procerus) sich ver- gleichen liesse und offenbar nur eine missverstandene Form einer Palmenkrone ist; die Technik ist denkbar einfach . 3 Der Unterdeckel weist schon die spater iibliche, ornamental- sehematische Form auf. Allerdings steht nichts im Wege, diesen Reprasentanten der Vegetation auch als eine Kraut- pflanze zu erklaren, wonach die oben aufgestellte Parallele flir die Darstellung Maria Himmelfahrt gegenstandslos wiirde. Dagegen tritt dann die Scene aus dem Leben des hi. Gallus mit ihrer ganzen Wucht in die Schranken; hier haben \vir zum Vergleiche nicht nur einen Baum, sondern einen Wald. Alle Baume dieses Waldes sind naiver Weise vollkommen gleieh- artig in Zeichnung und Sehnitztechnik , 4 aber von jenem 1 Die gegentheilige Ansiclit bei Kalin, 1. c. p. 113. Anm. 2. ž Eine ahnliche Collision lasst sich wohl auch auf dem Oberdeckel beim Lo\ven und Ochsen unter der Mandorla constatieren; aber da ist die Mandorla das Hindernis. 3 Beispiele fiir diese Form und Auffassung sind mir nur aus spaterer Zeit bekannt; so z. B alsKeliefbei West’vvood, Fictile ivories, (Plate XVIII — p. 206) eine ital. Arbeit des 13. Jhdts. und als Miniatur in dem Hiidesheimer Psalter bei Goldschmidt, Der Albanipsalter in Hildeslieim (1895), p. 146, Fig. 43. 4 Beispiele fiir diese Baumformen finden sich in gleichzeitigen Elfen- beinschnitzereien ; z. B. auf einem byzant. Elfenbein-Relief bei Bode, Bildwerke der christl. Epoche, Taf. 55 nr. 433, (ivo allerdings eine Rebe ge- meint ist) aus dem 8.—10. Jhdt., und ein zweites, (italien. Arbeit) eben- dort, Taf. 58, nr. 455, aus dem 10. Jhdt. 45 auf dem Oberdeckel so grundverschieden, dass dieselbe Hand ausgeschlossen ist; man- sehe die Sehnitzereien an und ziehe den Schluss selbst. Die ktinstlerische Auffassung und technische Behandlung der Thiergestalten auf den beiden Tafeln bestatigt nur die oben angefuhrten Wahrnehmungen auf das Nachdriick- lichste. Der Adler, der Lowe und der Ochs des Oberdeckels sind sammtlich schematiseh aufgefasst, schwach in der Bewegung und ohne individuelle Ziige; Lowe und Ochs haben nach dem- selben Schema gebildete, zwischen den Hinterbeinen an der Flanke hervorgezogene und frei in die Luft ragende Schwanze; die Pranken des Lowen sind klobig und unklar modelliert, der Korper ist glatt, die Mahne in grossen Compartimenten ange- deutet. Man sehe dagegen den Baren des Unterdeckels an und man wird den Vorzug einer gliicklichen Naturbeobachtung, wenn auch mit naiven Zugen untermengt, dem Kiinstler zuer- kennen miissen. Die Einwendung, dass der Kiinstler den Oberdeckel nach anderen Vorlagen gearbeitet habe, beim Unterdeckel aber auf sich selbst angewiesen gewesen sei , 1 ist nicht stichhaltig. Denn ware der Schnitzer so sehr auf die Vorlage angewiesen ge- wesen, dass er sich angstlich an die Formen derselben hatte halten miissen, dann miisste er, wenn er auch der Schnitzer des Unterdeckels \vare, diese Unselbstandigkeit auch auf diesen iibertragen haben, und wir miissten, wenn schon nicht bei der Anordnung der Darstellung, doch jedenfalls in den Formen durchaus gleichmassig angebrachte Ziige der Nachahmung eonstatieren konnen : das ist aber nicht der Fali. Umgekehrt: wenn der Kiinstler der beiden Tafeln selbstandig arbeiten konnte, dann hatte er trotz der Vorlage auch in die Formen des Oberdeckels, schon infolge seiner technischen Sicherheit, indivi¬ duelle Ziige, namentlich bei jenen Partien, die seinem Verstand- nisse naher lagen, hineingebracht. Das Einzige, was in beiden Tafeln zutn grossten Theile, aber durchaus nicht ganz — tiberein- stimmt, ist die Faltengebung; aber selbst daran lassen sich bei einiger Genauigkeit entscheidende tlnterschiede feststellen. Man untersuche zunachst die beiden Hauptfiguren: Christus und 1 So v. Schlosser, Beitrage, 1. c. p. 184, nach Springer. 46 Maria. Letztere ist — wohl die einzige Figur, von welcher das mit Recht behauptet werden kann, — steifer und lebloser als der Erstere ; aber die Oberarmel und der Saum des iiber die Kniee reichenden Obergewandes sind bei ihr mit einer or¬ namentalen Borte versehen, wahrend sie bei Christus fehlt. Der untere Saum an den Kleidern der Evangelisten Johannes, Matthaus und Lukas ist ganz anders gefaltet, als bei den Engeln und bei Gallus auf dem Unterdeckel, von der Lage um die Kniee gar nieht zu reden. Aus der Fulle von diesen constatierten und leiclit zu prti- fenden Unterschieden, ist der Schluss auf zwei verschiedene Kiinstler nieht nur correct, sondern einzig moglich. Was dagegen die Uebereinstimmungen, \velche ieh weder bestreiten; kann noeh will, betrifft, ist es nach dem vorstehenden Schlusse eine Leichtigkeit, ftir dieselben eine ausreichende Er- klarung zu geben. Der Kiinstler des Unterdeckels ahmt einzelne, ihm zusagende Formen und technisclie Einzelheiten nach. Diese Nachahmung lasst sieh fiir zwei verschiedene Partieen des Unterdeckels sogar nachweisen. Zunachst sind es die schon friiher angedeuteten Wechsel- beziehungen der Ornamentfelder der beiden Handschriften (nr. 53 Evangelium longum) und nr. 60 Evangelium secundum Johannem). Da erwiesenermassen diese letztgenannte alter ist, als unser Codex, dessen ornamentale Darstellung aber offenkundige Be- ziehungen zu jenem iilteren aufweist, so kann nur eine Nach¬ ahmung des Rankenornamentes nach dem Ober-Deckel der Hand- schrift nr. 60 durch den Schnitzer des Unterdeckels des Codex nr. 53' angenommen werden. Beziiglich dieses Rankenfeldes und der hineineomponierten Scene eines Lowen, der ein Thier iiberfallt, gebiihrt dem Kiinstler nur die Ehre, ein formvollen- detes und schones Motiv erkannt und sich zum Muster ge- nommen zu haben. Ebenso ist die Behandlung der verkiirzten Engelfliigel auf dem Unterdeckel eine zwar bessere, aber nieht gliickliche Nach¬ ahmung desselben Versuches bei den Evangelistensymbolen des Marcus und Lucas auf dem Oberdeckel, der freilich geradezu misslungen ist, trotzdem die Mandorla ihn einigermassen recht- fertigt. 47 Die Blatter der Baume auf dem Unterdeekel stimmen zwar in Zeichnung und Technik mit den Centralrosetten der Ranken- felder am Oberdeckel iiberein, was mir jedoch naeh den oben angefiihrten Beobachtungen und Beispielen nicht sicher genug fur eine Nachahmung zu sprechen seheint. Nun kommt noch ein schwerwiegender Umstand in Rech- nung. Es ist sehon mehrfach betont worden, dass der Unter- deckel wegen der so deutlieh nach St. Gallen weisenden Dar- stellungen nur daselbst entstanden sein kann. Denn das Vor- bild fiir das Rankenfeld war in St. Gallen; die Darstellung der Himmelfahrt Maria, von jeber der Patronin des Benediktiner- ordens weist nach dem Benediktinerstifte hin, und da Salomon III. Abt von St. Gallen und zugleieh Bischof von Constanz war, woselbst die Kathedrale die hi. Jungfrau zur Titelheiligen hatte, lasst sich die Aufnahme einer derartigen Darstellung doppelt rechtfertigen, von den Bildern aus der Galluslegende ganz zu schweigen. Die Beziehungen von St. Gallen, besonders zum benach- barten Reichenau, sind fiir die Entwickelungszeit des ersteren Klosters iiberaus \vichtig. Der Einfluss Reichenaus macht sich auch auf ktinstlerischem Gebiete sehr fiihlbar. Speciell fiir un- seren Fali ist zu constatieren, dass der beriihmte Walafrid Strabo einige Hexameter iiber das Leben des hi. Gallus ge- dichtet hat, und dass diese kaum etwas anderes, als Beisehriften (Tituli) fiir Bilder sein konnten. Der dritte dieser Doppelverse 1 2 entspricht inhaltlich vollkommen der letzten Darstellung auf dem Unterdeekel. Er lautet: «En ursus Gallo famulatur pane recepto, Dum simulat somnum levita cubando per arvum.» Dasselbe wird auch in der Vita s. Galli erzahlt - — nur mit der kleinen Abanderung, dass der Bar zuerst seine Hilfe leistet und darnach erst Brod erhalt., eben als Lohn fiir den ge- 1 M. G. P. L. (aevi Karolini) Tora. II., p. 400, nr. 53. — Auch bei v. Schlosser, Sehriftquellen, p. 344, nr. 957. 2 M. G. SS. II., p. 9. 48 leisteten Dienst. Das scheint Ekkehard aufgefallen zu sein, als er auf Geheiss des Abtes Burchard II. (1002—1022), die Bei- schriften zu den unter Abt Immo (975—984) ausgefiihrten Ge- malden dichten solite ; er machte also nach dem Vorbilde Wala- frids, aber sich genauer an den Wortlaut der Vita haltend, einen neuen Titulus: 1 «Ursus adest operi. Diacon recubando sopori Clam contemplatur, merito fera pane cibatur.» Der erste Theil (= Ursus — operi) entspricht der Darstellung links vom Kreuze, der zweite, grSssere, (Diacon — cibatur) jener rechts von demselben. Die litterarische Continuitat und Filiation nach der Vita, den Versen Walafrids und jenen Ekkehards ist erwiesen. Esistaber auch iiberaus wahrscheinlich, dass Walafrid fiir schon zu seiner Zeit vorhandene Gemalde, welche die Galluslegende darstellten, die Verse dichtete; somit hatte der Schnitzer des Unterdeckels schon eine fertige Vorlage fiir seine Darstellung gehabt. Wer kennt jenes langst verschwundene, bildkiinstlerisehe Material? Und die eben angezogenen Wandgemalde waren vielleicht wieder eine Copie im grosseren Massstabe nach Miniaturen eines heute nicht mehr existierenden Manuscriptes. Eine Ana- logie aus demselben Gebiete ist z. B. das enviesene Wechsel- verhaltniss zvvischen dem Codex Egberti und den Wandmalereien zu St. Georg in Oberzell. Jedenfalls haben \vir uns die etwa 70 Jahre nach Tuotilos Tode ausgefiihrten Gemalde ganz ahnlich zu denken, wie die Darstellung auf der Elfenbeintafel; nicht weil der Maler diese zu Rathe zu ziehen nothig gehabt hatte, sondern weil die Darstellung im Kloster typisch und traditionell festgelegt war. Ausser allen diesen Beobachtungen muss ich noch auf einige ausseren Umstande hinweisen, die das Kunstwerk fest- legen helfen. Nach der Darstellung Ekkehards ist eigens ein Evangelium geschrieben worden, dessen Masse den Deckeln entsprachen. Die Masse der Pergamentblatter sind 39' 5 x23‘ 5 , 1 Haupt’s Zeitschrift fiir deutsches Alterth., N. F., II. (1869) p. 34—42. 49 ein Format, welches unter den Handschriften St. Gallens nicht wiederkehrt, also in der That eine Ausnahme bildet . 1 Die Einbanddecken sind noch nie erneuert worden und die Elfen- beintafeln sind seit ihrer Fassung an dem genannten Codex, welcher seiner abnormen Massverhaltnisse wegen den bezeich- nenden Namen «Evangelium longum* erbielt, festgemacht: alles Umstiinde, welehe die Angaben der Casus auf das nach- driicklichste unterstiitzen und belegen. Es kann also kein an- deres Buch von Ekkehard gemeint sein, weil er von Ausnahms- massen spricht, diese aber nur beim Evangelium longum zu- treffen , 2 wiihrend andere sich wiederholen. Hiemit, ist aber die sichere Zugehorigkeit der in Rede stehenden Tafeln zum Evangelium longum dargethan, und zugleich erwiesen, dass Ekke¬ hard nur von diesen spricht und wir die Schnitzkunst Tuotilos an denselben suchen miissen. Ueberblicken wir noch einmal die Ergebnisse dieser Ausfuhrungen. Die historisch-chronologischen Einwendungen, welche gegen Ekkehards Angaben gemacht wurden, sind sammtlich nicht stichhaltig, da sich gegen jede einzelne derselben schwerwiegende Bedenken, zumeist sogar Gegenbeweise erbringen lassen; die Darstellung der Casus muss somit in allen wesentlichen An¬ gaben aufrecht erhalten werden. Die kunsthistorisehe Kritik ist durch die gliicklicher Weise erhallenen Tafeln ermbglicht, und hat ergeben, dass der Stil der beiden Tafeln der Darstellung Ekkehards vollkommen ent- spricht, dass wir es in der That mit zwei verschiedenen Kiinstlern zu thun haben, von denen sich der Schnitzer des Unterdeckels zu jenem des Oberdeckels theilweise als Nachahmer verhalt, dagegen vom abgewogenen gesetzmassigen Schema des Oberdeckels in seine Darstellung nichts iibernimmt. Da nun die Tafel des Oberdeckels nicht nur stilistische Unterschiede, sondern aueh eine allgemein gelaufige und iibliche Darstellung aufweist, jene des Unterdeckels aber auf das Ent- 1 Ich verdanke die Nachpriifnng dieser meiner Beobachtungen der Giite des H. Stiftsbibliothekars Dr. Ad. Fali in St. Gallen. 2 Die Andeutung Rahns, 1. e., p. 114, Anm. 2, dass die von Ekkehard besproclienen Tafeln etva jene am Codex nr. 60 waren, liat schon Meyer v. K., Casus, p. 93, Note 310 widerlegt. 4 — 50 — schiedenste St. Gallen als Entstehungsort beansprucht, bleibt uns doch nur ein correcter Schluss iibrig, der den Ekkehard’schen Angaben conform ist. Darnach haben wir also in der That an der Tafel des Unterdeckels vom Evangelium longum in St. Gallen eine eigenhiindige Arbeit des wiirdigen Monehkiinstlers Tuotilo, die erste historisch beglaubigle deutsche Schnitzerei vor uns. STUDIEN ZUR DEUTSCHEN KUNST6ESCH ICHTE HEFT 24. VERI.AG VON J. H. ED. HEI 1 Z (HEITZ & MU ND El.) STRASSBURG. '/V« io. Die Bamberger Domsculpturen. Ein Beitrag zur Ge- schichte der deutschen Plastik des XIII. Jahrhunderts. Von Artur Weese. Mit 33 Autotypieen. M 6. — n. Ueber den Humor bei den deutschen Kupferstechern und Holzschnittkunstlern des XVI. Jahrhunderts. Von Dr. Reinhold Freiherr von Lichtenberg. Mit 17 Tafeln. Jk 3. 5o 12. Studien zur EIfenbeinplastik der Barockzeit. Von Dr. Chr. Scherer. Mit 16 Abbildungen im Text und 10 Tafeln. M 8. — 13. Tobias Stimmers Malereien an der Astronomischen Munsteruhr zu Strassburg. Von A. Stolberg. Mit 3 Netz- atzungen im Text und 5 Kupferlichtdrucken in Mappe. M 4- — 14. Die mittelalterlichen Grabdenkmaler mitfigurlichen Dar- stellungen in den Neckargegenden von Heidelberg bis Heil¬ bronn. Aufgenommen und beschrieben von Dr. Hermann Sch weitzer. Mit 21 Autotvpieen und 6 Lichtdrucktafeln. Jis 4- — 15. Zur Geschichte der oberdeutschen Miniaturmalerei im XVI. Jahrhundert. Von Hans von der Gabelentz. Mit 12 Lichtdrucktafeln. M 4. — 16. Der Skulpturencyklus in der Vorhalle des Freiburger Munsters und seine Stellung in der Plastik des Oberrheins. Von Kurt M or i z - E i c h b o r n. Mit 60 Abbildungen im Text und auf Blattern. M 10. — 17. Die Basler Galluspforte und andere romanische Bild- werke der Schweiz. Von Arthur Lindner. Mit 25 Text- illustrationen und 10 Tafeln. •• J(, 4. — 18. Hollandische Miniaturen des spateren Mittelalters. Von Willem Vogelsang. Mit 24 Abbildungen im Text und 9 Lichtdrucktafeln. M 6. — 19- Die Chronologie der Landschaften Albrecht Diirers. Von Professor Dr. Berthold Haendcke. Mit 2 Licht- drucktafeln. Jt> 2. — 20. Der Ulmer Maler Martin Schaffner. Von S. Graf Piickler-Limpurg. Mit 11 Abbildungen. M 3 . — 21. Deutsche Mystik und deutsche Kunst. Von Alfred Peltzer. M 8. — 22. Leben und Werke des Wiirzburger Bildschnitzers Til- mann Riemenschneider i 468- i 53 i . Von Eduard Ton nies. Mit 23 Abbildungen. M 10. — 23 . Beitrage zu Diirers Weltanschauung. Eine Studie iiber die drei Stiche Ritter Tod und Teufel, Melancholie und Hieronymus im Gehaus. Von Paul Weber. Mit 4 Licht- drucktafeln und 7 Textbildern. M 5 . — 24. Tuotilo und die Elfenbeinschnitzerei am «Evangelium longutru) (= Cod. nr. 53 ) zu St. Gallen. Eine Untersuchung von Jos. Mantuani. Mit 2 Tafeln in Lichtdruck. M 3 . — Weitere Hefte befinden sich unter der JPresse. Die Studien \ur Deutschen Kunstgeschichte erscheinen in \wanglosen Heften. Jedes Heft ist ein\eln kaujlich. Die Anfange des Monumentalen Stiles im Mittelalter. Eine Untersuchung iiber die erste Bliitezeit franzosischer Plastik von Dr. Wilhelm Voge. Mit 58 Abbildungen und 1 Lichtdrucktafel. 8°. Preis M. 14.—