Jožef Muhovič Kunstform zwischen Logos und Topos - oder: Über die Psychosomatik des Zeitgeistes „Die originale Form ist kraftlos in der Welt, doch hat sie eine be- 253 sondere Kraft darin, dass sie durch nichts ersetzt werden kann." (Hannah Arendt - Paraphrase)1 „Good art (...) is something pre-eminently outside us and resistant to our conciousness." (Iris Murdoch)2 Die Form stellt sich uns heute weder auf praktischer noch auf theoretischer Ebene als Zentrum von etwas Bedeutendem vor, sondern bestenfalls als dessen Epizentrum, als Nebenprodukt und akademische Frage. Die Deposition auf beiden Ebenen, die sich vor den Augen der Öffentlichkeit eine charismatische Koalition mit neumedialen, diskursiven, musealen und publizistischen Unternehmen zu schliessen bemüht, ist ersichtlich, doch ihre praktische Antwort auf die Frage der Form beseitigt nicht alle Fragen im Zusammenhang mit ihr. Zum Beispiel: Worin liegt der Grund dafür, dass die vormodernen und modernen 1 Vgl. Hannah Arendt, Wahrheit und Lüge in der Politik, in: H. Arendt, P. Nanz, Wahrheit und Lüge in der Politik, Berlin: Verlag K. Wagenbach, 2006, S. 54: „Zwar ist Wahrheit ohnmächtig und wird in unmittelbarem Zusammenprall mit den bestehenden Mächten und Interessen immer den Kürzeren ziehen, aber sie hat eine Kraft eigener Art: es gibt nichts, was sie ersetzen könnte. Überredungskünste oder auch Gewalt können Wahrheit vernichten, aber sie können nichts an ihre Stelle setzen". 2 Iris Murdoch, The Sovereignty of Good, London-New York: Routledge, 1971, S. 86. 254 Kunstmentalitäten spontan glaubten, dass das kreative Drama zur Form führt, während die postmodernen das dringende Bedürfnis haben, gerade dieses zählebigste schöpferische Apriori in Frage zu stellen? Ist diese Frage tatsächlich passé, seitdem die Künstler virtueller Welten und die Techniker des InternetGeschäftslebens entdeckt haben, dass das Wort nicht mehr Fleisch zu werden braucht, wenn es auf andere Weise erreicht, dass das Fleisch zu Wort kommt? Gerinnt der tiefste Wunsch der Kunst heute zwangsläufig zum anorexischen Wunsch, „keine Form zu haben"? Was bedeutet eigentlich, „keine Form zu haben"? Kann man von der Form überhaupt noch verbindlich sprechen und dabei Darstellungen der Form als einem Unbehagen aus dem Wege gehen? Welche Prämisse ist der Exodus der Form auf dem Kontinent gefundener Gegenstände und der Prozessualität im generellen Syllogismus der menschlichen Erfahrung? Wie universell ist der Aktionsradius des Formoklasmus und wie gestaltet er unsere Vorstellung davon, was Kunst ist? Wovon erlöst die Inklammersetzung der artefakten Form - und wovon nicht? Ist der Prozess die einzige anthropologische Alternative, die unter heutigen Bedingungen Schritt halten kann mit der Vergänglichkeit und Flüchtigkeit des Lebens? Haben formbildende Motive in Zukunft noch eine Chance? Usw. Es würde mich nicht wundern, wenn Fragen dieser Art bei engagierten Zeitgenossen auf Enttäuschung und Widerstreben stossen würden, denn allein schon ihre bohrende Diktion erweckt den Verdacht, dass es sich bei ihnen nicht um unmotivierte Nachforschungen handelt, sondern um eine theoretische Intrige mit konservativem Vorzeichen gegen die Kunststrategien der Neuzeit. Das Gegenteil zu behaupten, schafft hier natürlich keine Abhilfe. Und es ist auch nicht notwendig, da der Vorwurf der Voreingenommenheit, der auf eine unwiderrufliche Loyalität gegenüber der Zeit appellieren und über gewisse Tatsachen ausserhalb des postulierten Horizonts der Aktualität hinweggehen würde, selbst sehr voreingenommen wäre. Der Status und die Form eines solchen Gegenarguments lösen natürlich zahlreiche Schwierigkeiten aus, doch scheint es mir müssig, über die Form (und auch über anderes) in Umständen zu diskutieren, in denen man der Gottheit der Gegenwart schon ganz zu Beginn die Reflexion und Verifizierung im Tandem opfern müsste. Um auf die gestellten Fragen zu antworten, ist es zweifellos notwendig, ohne Vorbehalte in das postmoderne formoklastische Treiben hineinzuwaten, welches das Ende der Form und den Beginn einer neuen Kunst verkündet.3 Die Kritik verfehlt nämlich stets das Ziel, wenn sie nicht liebt, was sie kritisiert, wenn es ihr - mit Chestertons Worten - an dieser grundlegenden „Treue zur 3 In der kühnen Überzeugung, sie ipso facto zu zeugen. Sache" fehlt.4 Ebenso besteht kein Zweifel daran, dass weder das „Hineinwaten" noch die „Treue" in diesem Fall etwas bedeuten, wenn sie nicht souverän sein können, wenn also ihr Orientierungssystem im Feld der Form von einer instrumentalisierten Auffassung des Verhältnisses zwischen Phänomen und Konzept gesteuert wird. Die Form zwischen Phänomen und Konzept Tatsache ist - dies erscheint zwar trivial, doch ist es meiner Meinung nach wichtig, diese Tatsache im Zusammenhang mit der Form bereits zu Beginn zu bemerken - dass das Wort „Form" ursprünglich zweierlei bezeichnet: das Phänomen selbst und zugleich eine bestimmte Auffassung des Phänomens. Seine von der römischen Antike bis heute in allen Sprachen praktisch intakte lexikalische Form führt uns dazu, hinter diesem Wort explizit das Phänomen zu sehen, das von ihm de-notiert wird. Da uns aber der Terminus mit seiner resistenten sprachlichen Gestalt nicht gleichzeitig dazu führt zu bemerken, dass die in ihm aktivierte Denotation nicht immer aufgrund ein und derselben Auffassung des Phänomens ausgeführt ist, geschieht es, dass wir hinter ein und derselben Aussprache nicht die verschiedenen Inhalte, hinter ein und derselben Uni-Form nicht die verschiedenen Schicksale bemerken. Dies erklärt, warum jemand mit der Form unzufrieden, jemand anders hingegen zufrieden ist, und warum die heutigen Motive der Unzufriedenheit mit der Form nichts mit den Motiven der Unzufriedenheit in der modernen und vormodernen Epoche gemeinsam haben. Dieser Sachverhalt hat zwei Folgen. Erstens kann keine Beschäftigung mit der Form grundsätzlich aus dem Bedürfnis nach einer Überbrückung der Distanz zwischen der Semantik der Phänomenalität und der Semantik der Kon-zeptualität ausgenommen werden, die in ihrer Einstellung das „geburtliche Kraftfeld" (Sloterdijk) jeder Kreation und jeder Reflexion des Phänomens Form ist. Und zweitens ist diesem Unterfangen des Überbrückens nie ein definitiver Erfolg beschert, da die Erfahrung zeigt, dass es weder Konzepte noch Algorithmen noch Ausdrücke gibt, die es uns ermöglichen würden, die Realität dauerhaft zu verstehen. Der Hinweis auf die notorische Differenz zwischen tatsächlich Präsentem und Gedachtem exponiert hierbei das Motiv der „Matrix", die seit jeher die menschlichen Projekte der Kristallisierung der geistigen Spannung gegenüber der Welt zu einer Form bestimmt, während der Hinweis auf die gnostische Unvollkommenheit das süsssaure Imperativ des theoretischen 4 Gilbert K. Chesterton, Orthodoxy, New York: Dodd, Mead and Co., 1946, S. 66. 255 256 Beharrens auf dem undogmatischen und asymptotischen Verhältnis zur grausamen Inkommensurabilität der Phänomene in den Vordergrund schiebt. Durch die bewusste Erkenntnis, dass das, was wir „Form" nennen, immer ein beweglicher und unvollendeter gnostischer Quotient aus Phänomen und Konzept (aus Realem und Symbolischem, aus Empirischem und Postuliertem, aus lokaler Nutzung und transzendierendem Kontext) ist, entdramatisiert im theoretischen Milieu in gewissem Masse die Bedeutung der Antworten auf die Frage „Was ist (der konkrete Inhalt des Begriffs) Form?", weil auch diese Antworten eben nur unvollendete und variable Ausdrücke des Bedürfnisses nach Harmonie in den Bedingungen der menschlichen existenziellen Dissonanz mit der Welt sind. Sie rückt allerdings zwei andere Fragen in den Vordergrund: Die Frage der Identifikation der anthropologischen Funktion der künstlerischen Form sowie die Frage der „koproduktiven" Strategien zwischen dem Begriff und dem Phänomen „Form" in konkreten historischen Matrizen der menschlichen Un-Zufriedenheit mit der Welt. Also zwei Fragen, die wesentliche Elemente zur Beantwortung einer noch wesentlicheren Frage zweiter Ordnung (nach Watzlawik) liefern, nämlich auf die Frage: Ist das, was auf dem Gebiet der Form heute mit sich selbst zufrieden ist, auch am adäquatesten für die Welt und den Menschen? Mit dieser Frage ist auch der Ausgangspunkt für meine Intervention gegeben. Elemente zur Identifizierung des anthropologischen Biorhythmus der künstlerischen Form Um der („adäquaten" und „inadäquaten") Rolle der künstlerischen Form in der menschlichen Welt auf die Spur zu kommen, gibt es für den Anfang meiner Meinung nach nichts Geeigneteres, als die geschaffene Vielfalt der Formen zuerst einmal im (inter)aktiven Milieu der Empirie zu treffen und zu erfahren und sie hier - mit einem analytischen Fuss in der Tür - reflektiert zu beobachten. Ohne Prätention auf „ewig gültige" analytische Destillate, wohl aber mit der Prätention, uns nicht in die Sphäre der Lebensentfremdung zu verirren. Diejenigen, die im Zusammenhang mit der Kunst heute lieber von Voraussetzungen („Kunstbetrieb") und Absichten (Projekte, Prozesse) als von Erfahrungen sprechen, gehen dem Wort „Form" spontan aus dem Wege. Doch scheint mir die Implikation der Form mit der Erfahrung etwas sehr Wichtiges, etwas, was man nicht zugunsten einer Analyse von - der Form gegenüber kritischen - Wortschätzen übersehen dürfte. Die Erfahrung ist ein geeigneter und traditioneller Name für eine vertraute und volkstümliche Abkürzung von dem, was in grossem Masse ausserhalb von uns existiert und sich unserem Bewusstsein widersetzt,5 aber auch ein geeigneter Name für die Idee einer spontan ambitionierten Aufmerksamkeit gegenüber den Dingen; einer Aufmerksamkeit, die nichts gemeinsam hat mit dem metapositionierten Intellektualismus zeitgenössischer Kunsttheorien. Allerdings habe ich diesen Ausgangspunkt nicht deshalb gewählt, weil ich meinte, dass der empirische Raum der wichtigste oder ausreichend für das Begreifen des Aktionsradius der Form sei (denn er hat, wie ich nachstehend zeigen werde, seine Begrenzungen), sondern deshalb, weil ich meine, dass er der zugänglichste ist. a. Multidimensionalität Sobald die künstlerische Form (egal ob mit „artefaktem" oder „prozessualem" Charakter) in einen pragmatischen Kontext gesetzt wird und empirische Ströme in sie geleitet werden, hat es den Anschein, als ob das Phänomen ... in ein Kaleidoskop von Aspekten und Fragmenten explodieren würde. Auf einen Schlag stellen wir fest: Die Form ist nicht ein- sondern vielfältig. Um sich davon zu überzeugen, genügt es zu betrachten, wie viele unterschiedliche Erfahrungen sich unter dem Gewebe der Grundtermini der Ästhetik - System, Sinnlichkeit, Struktur, Symbol, Invention, Modell6 - verbergen, die von der Antike bis heute die begriffsbestimmenden Aushängeschilder am Wort „Form" wechselten. Wegen der Unterschiedlichkeit der Perzeptions- und Rezeptionskanäle und wegen des gnostischen Bedürfnisses, das Unverständliche in Bestandteile und Aspekte zu zerlegen, entdeckt die Empirie Schritt für Schritt, dass die Form ein vielseitiges und vielschichtiges Phänomen ist und dass sie uns die Erfahrungen mit ihr in aufeinander folgenden kognitiven Partikularitäten vermittelt. So präsentiert sich die Form einmal als Residenz der sinnlichen Konkretheit, ein anderes Mal als Residenz der Gestalt des Schönen, ein drittes Mal als Residenz des „geistigen Wesens", wieder ein anderes Mal als Residenz des „Systems von Bestandteilen" und der „Art der Anordnung der Teile zu einem Ganzen", dann als Struktur, Modell, Ereignis, Prozess u. Ä. Kurzum: forma multipliciter dici- 257 5 Iris Murdoch, The Sovereignty of Good, S. 86. 6 Mehr zur „Begriffsgeschichte" des Phänomens „Forma" in: Wladislaw Tatarkiewicz, A History of Six Ideas. An Essay in Aesthetics, The Hague: Nijhoff & Warszawa: Panstwowe Wydawnictwo Naukowe, 1980; Rudolf Arnheim, The split and the structure. Twenty-eights essays, Berkeley-Los Angeles-London: University of California Press, 1996, S. 151-162; Nik-las Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997, S. 165-215. 258 tur, wie bereits im 13. Jahrhundert Gilbert de Porre schrieb.7 Die unmittelbare rezeptive Erfahrung stellt uns also das Phänomen der Form - psychoanalytisch ausgedrückt - als etwas „inkonsistent Reales", als mehrdimensionalen Komplex von Bestandteilen, Aspekten, Charakteristiken, Dominanten und Realitätswerten vor, in welchem ausserdem auch eine sehr scharfe Demarkationslinie zwischen Konkretem und Kognitivem gezogen ist, zwischen dem, was wir erfahren, und dem, was wir verstehen. Wir machen Erfahrungen, doch wir verstehen nicht; wir verstehen, doch wir empfinden nicht mehr; wir beschäftigen uns intensiv mit der Partikularität, finden aus ihr jedoch keinen Weg zur Universalität; wir fühlen uns angesprochen von einem Konzept, wobei jedoch die libidöse Nähe zu den Dingen auf der Strecke bleibt. Der Grund für das Phänomen dieser Pulsierungen des Erlebens ist verhältnismässig einfach zu erklären. Die menschliche Psyche ist auf spontaner Ebene (was zahlreiche Lebenssituationen vom Zustand der Verliebtheit bis hin zur wissenschaftlichen Forschungstätigkeit) unfähig, gegensätzliche Vektoren wie Nähe und Distanz, Involviertsein und Kritikfähigkeit, Intimität und Objektivität wirksam miteinander zu verbinden. Es ist äusserst schwierig, sich des Eindrucks zu erwehren, dass die künstlerische Form gemäss ihrer Natur aber genau das verlangt. Kurz gesagt: Eine ambitionierte analytisch motivierte Erfahrung erkennt die künstlerische Form als eine Anzahl von Facetten auf einem mehr oder weniger präzise geschliffenen Diamanten. Aufgrund ihrer Sporadizität und Kumulativität steht bei ihr jedoch die dramatische Sichtbarmachung der Unterschiedlichkeit der Blickwinkel und der Ambivalenz der in ihr enthaltenen Zusammenhänge im Vordergrund. Das Resultat ist ein Aggregat heterogener Partikularitäten und die Hybridität der Erfahrung, die in sich mehr oder weniger erfolgreich im Widerspruch zueinander stehende antagonistische, dualistische, hegemonistische und reduktionistische Aspekte vereint. b. Einheit(lichkeit) Die analytische Rationalität mit ihrer Beziehung zur künstlerischen Form könnte aber trotz der inhärenten Fragmentarität relativ zufriedenstellend sein (das fatale Beharren auf einem desintegrierten, ambivalenten und unbeherrsch-baren Verhältnis kann schliesslich bekannterweise auch zur Unvermeidlichkeit und Tugend erklärt werden), wenn es nicht einen gleicherweise realen und berücksichtigenswerten Erfahrungsimpuls mit umgekehrtem Vorzeichen gäbe. Nämlich jenen, dass in der Realität der Form alles, was wir wegen der Unter- 7 Vgl. Tatarkiewicz, A History of Six Ideas, S. 194. schiedlichkeit der Perzeptionskanäle und zwecks Klärung gezwungenermassen voneinander trennen müssen, untrennbar miteinander verbunden ist. Einerseits ist es analytisch evident, dass sich (uns) die künstlerische Form als Sinnlichkeit, Idee, System, Struktur, Ereignis usw. zeigt. Andererseits ist es nicht weniger evident, dass sich die Form in der Kunst nicht nur als Sinnlichkeit zeigt, sondern Sinnlichkeit ist; dass sie sich nicht nur als Idee zeigt, sondern Idee ist; dass sie sich nicht nur als System zeigt, sondern System ist; usw. Mehr noch; dass sie ihrer Natur nach all das zusammen und gleichzeitig ist - oder sein kann; also eine Art ontologischer Kontrapunkt zwischen Materialität, Sinnlichkeit, Emotionalität, Rationalität und Geistigkeit. Und das ungeachtet dessen, welche empirisch-analytischen Probleme sie uns damit verursacht. Wenn in der empirischen Rationalität die Aspekte der Form als Wörterbuchbedeutung der einzelnen Wörter auftreten und sprechen, dann sprechen diese Aspekte aus der Realität der Form als Wörter im Text, d.h., in ihrer schroffen Aussprache und lebhaften wechselbezüglichen Semantik. In der analytischen Filtrierung der Form ist das Gegebene eine derealisierte Landkarte von Abkürzungen, Relikten und Exzerpten, breit gestreut mit weissen Flecken von Mittelbarkeit, Inkompetenzen und Vorurteilen. Demgegenüber ist die künstlerische Form eine Landschaft, die jederzeit vollständig präsent ist, die uns nicht dosiert anspricht, sondern sich uns zum Erlebnis auf allen verfügbaren Ebenen gleichzeitig hingibt, und uns damit die Gelegenheit gibt, uns selbst auf der „Fusionskreuzung" von Aktion und Ausdruck, Sinnlichem und Geistigem, Konkretem und Symbolhaftem, Partikulärem und Universalem zu treffen und zu meistern; also sozusagen in der Quellmatrix unserer Menschlichkeit. Dieser Aspekt der Erfahrung scheint mir überaus wichtig, da die Anbindung des Geistigen an das Körperliche, des Universalen an das Partikuläre, des Symbolischen an das Konkrete ... und umgekehrt für den Menschen keinesfalls etwas Nebensächliches, sondern etwas anthropologisch Zentrales ist. Damit die Bedeutung dieser „Transaktion" klarer wird, genügt es sich vorzustellen, was passieren würde, wenn - pars pro toto - das Geistige sich nicht mehr im Dinglichen überprüfen könnte und das Dingliche nicht mehr Meister des Geistigen werden könnte, sondern beide existenzialen „Kapazitäten" getrennt umherirren würden. Würde das Geistige nicht in Narzissmus und Fiktion verwildern, würde das Dingliche nicht hoffnungslos so bleiben, wie es ist? Ungeachtet dessen, was auch immer man über die künstlerische Form denken und auf wie unterschiedliche Weise auch immer man sie begreifen mag, bleibt es eine bemerkenswerte Tatsache, dass sie in ihren Artikulationen, die unter allen Formen dieser Welt (philosophischen, wissenschaftlichen, techni- 259 260 sehen, politischen) am komplexesten sind, in der Lage ist, im anthropologisch fundamentalen Spiel des asymmetrischen Zusammenpralls und gegenseitigen Bestimmens von arehetypisehen Gegensätzen effizient katalytiseh zu wirken. Und darin ist meiner Meinung nach - ohne dass ich hierfür eine allgemeine Zustimmung verlangen würde - auch ihre differentio specifico zu erkennen. Das geordnete und symmetrische Geflecht von Materie und Energie, Aktion und Reaktion, Anstrengung und Genuss, Arbeit und Nutzen zu entdecken, bedeutet ein grundlegendes Bedürfnis der menschlichen Natur zu befriedigen. Eine asymmetrische Weise zu finden, dass Marmor als „David" und eine abstrakte Idee als materielle Realität aufleben kann, dass der Mensch sich kleinen Sachen hingeben kann, ohne dass ihm deshalb die Erkenntnis der grossen entzogen wird,8 dass er die Universalität begreifen kann, ohne die Empfindung verdrängen zu müssen, dass er subjektiv sein kann und trotzdem mit der Objektivität Schritt hält, dass er das Geistig-Reine empfinden kann, obwohl es durch Materie „verschmutzt" ist9 - dies ist aber eine wahre „anthropologische" Entdeckung; und diese Entdeckung ist eine Entdeckung der Kunst, die in der Form realisiert und verifiziert ist. Die Beschreibung dieser Entdeckung mag vielleicht nicht ganz passend sein, doch ist die Art dieser Beschreibung meiner Überzeugung nach richtig. c. Polarität Die Vorstellung, dass die künstlerische Form zugleich Verschiedenheit und Einheit(lichkeit) ist, ist auf der Erfahrungsebene relativ unproblematisch, auf der theoretischen Ebene verursacht hingegen vor allem die Einheit(lichkeit) viele Probleme. Hauptsächlich deshalb, weil die Form - um es gleich vorweg- 8 Man vergleiche hierzu auch das Beispiel des berühmten Stilllebens von Van Gogh mit alten Schuhen (Vincent van Gogh, Ein Paar Schuhe, um 1886, Öl auf Leinwand, 38x46 cm, Van Gogh Museum Amsterdam) oder aber die fantastische Tatsache, dass Paul Cézanne seine für die moderne Kunst paradigmatische Malerei sozusagen „auf einen ganz gewöhnlichen Apfel" gründet. 9 Man vergleiche hierzu folgende Stelle aus Manns Roman Doktor Faustus: „Man sage wohl, die Musik ,wende sich an das Ohr'; aber das tue sie nur bedingtermassen, nur insofern nämlich, als das Gehör, wie die übrigen Sinne, stellvertretendes Mittel und Aufnahmeorgan für das Geistige sei. Vielleicht (...) sei es der tiefste Wunsch der Musik, überhaupt nicht gehört, noch selbst gesehen, noch auch gefühlt, sondern, wenn das möglich wäre, in einem Jenseits der Sinne und sogar des Gemütes, im Geistig-Reinen vernommen und angeschaut zu werden. Allein an die Sinneswelt gebunden, müsse sie doch auch wieder nach stärkster, ja berückender Versinnlichung streben" (Berlin-Frankfurt am Main: Fischer & Suhrkamp, 1948, S. 100). zunehmen - sozusagen dramatisch auf beiden Seiten einer Barriere lebt und ihr die Theorie wegen der eigenen Begrenzungen nicht auf beide Seiten folgen kann, obwohl sie dies versucht; sogar um den Preis eines Reduktionismus und einer Apokryphie. Ich will dies erklären. In seinem Werk De la grammatologie10 wirft Jacques Derrida der westlichen philosophischen Tradition vor, dass sie das Schreiben stets dem Diskurs unterordnete, d.h., dem lôgos, der ihr als Urquelle der Wahrheit galt und den sie deshalb unmittelbar mit der Seele verband. Im Vergleich zur Stimme (phoné) erschien die Schrift (als formale Artikulation) bisher stets als eine Art Abgleiten in die Äusserlichkeit des Zeichens. Der geschriebene Text als Zeichentextur war stets zweitrangig, weil bereits vor ihm der lôgos die gesamte Wahrheit bzw. Bedeutung hergestellt und aufgesaugt hatte. Auf den ersten Blick zeigt sich die „Grammatologie" daher als Rechtfertigung der Schrift und ihrer Transitivität im Verhältnis zum Logozentrismus der westlichen Philosophie. Wenn sich Derrida fragt, ob ein Austritt aus der diskursiven (logozentrischen) Logik der Identität und des dialektischen Gegensatzes - die offensichtlich beide nicht das gesamte Erlebnis erfassen können - möglich ist (er führt als Beispiel den Ekel an, der nach seiner Meinung kein negativer ästhetischer Wert und auch kein Gegensatz zum Schönen ist, sondern im Kontext des Ästhetischen etwas „Unbeschreibbares", sein Anderssein, ist), stellt er fest, dass man, um eine Antwort auf diese Frage zu bekommen, nicht nur aus dem Logozentrismus in die Ästhetik übertreten muss, sondern aus der Ästhetik in die Anthropologie; d.h., aus der apriorischen und formal-logischen in die empirische Behandlung des Texterlebnisses (im weiten Sinn des Wortes). Derrida rückt uns so weg vom reflexiven und phänomenologischen Rahmen der diskursiven Praxis, der ihm wegen der logozentrischen Natur der Sprache unzureichend erscheint, und hin zu denjenigen Schichten dieser Praxis, die auf Erfahrung und Physiologie basieren, da der Logozentrismus nur von diesen nicht Besitz ergreifen konnte - weil sie ihm der Natur nach eben völlig fremd sind. Er lenkt unsere Aufmerksamkeit auf jene Bereiche des Erlebens, zu denen man nicht allein durch Denken und Konzeptualisierung durchdringen kann, weil hierfür das Empfinden erforderlich ist - allerdings kein kantsches Gefühl, auch kein hegelscher Pathos, kein bergsonscher élan vital, kein hegelsches Kunstwollen, keine crocesche Intuition oder blochsche Utopie, die alle auf der Ebene einer idealisierenden Geistigkeit bleiben, sondern das Empfinden bzw. Fühlen des Unterschieds zwischen Geist und dem, was man nicht begrenzen und auf den Geist „zurückführen" kann; des Unterschieds, den seiner Meinung nach nur 10 Jacques Derrida, De la grammatologie, Paris: Minuit, 1967. 261 die „Wende zur Physiologie" schaffen kann, deren Umfang und Bedeutung noch zu erforschen sind. Ungeachtet dessen, inwieweit man Derridas Dekonstruktionsdoktrin der antimetaphysischen Metaphysik ansonsten zustimmen mag, kann man doch sagen, dass der Hinweis auf den Unterschied „(logozentrische) Konzeptualität" - „Fühlen" im Zusammenhang mit Kunst und Form überaus relevant ist, da man das Geschehen in der künstlerischen Form, solange sie auf Materiellem und Physiologischem basiert (und niemand weiss, ob sie überhaupt noch bestehen würde, wenn sie diese Voraussetzung aufgeben würde11), nie vollständig auf den Geist begrenzen kann, obwohl die Form mit Geist geschaffen und für den Geist bestimmt ist. Da also die bildende Kunst nicht nur Aspekte hat, „die auf den Geist zurückführbar sind" und daher der logozentrischen Natur der Theorie nahe stehen, sondern unweigerlich auch Aspekte, „die nicht auf den Geist zurückführbar sind", ist die Theorie der unentwegten Versuchung ausgesetzt, diese anderen Aspekte entweder als „unbedeutend" zu ignorieren oder ihrem 262 logozentrischen Prokrustesbett anzupassen. Beides aber macht alles, was in der Theorie folgt, nicht nur weniger überzeugend, sondern unglaubwürdig. d. Dazwischensein Die Form lebt in der Kunst gleichwertig beiderseits der Barriere zwischen Sinnlich-Anschaulichem und Geistigem und es ist nicht falsch festzustellen, dass gerade dieser „beidseitige Zustand" der Grund für ihre Unbestimmbarkeiten ist. Doch lasse ich die Feststellung, dass die künstlerische Form sich auf beiden Seiten der Barriere „ansammelt",12 vorerst beiseite. Vor der Konfrontation mit ihr möchte ich nämlich noch auf eine ursprünglichere existenziale Barriere hinweisen, die von der Kunst osmotisch durchdrungen wird, ohne dass sich die Kunst dabei in kompromisslerischer Lauheit verlieren würde. Und diese zweite Barriere ist eine operative Voraussetzung der ersten. Die französischen Poststrukturalisten (z. B. M. Foucault), die den geschichtlichen Wechsel von Denk- und Ausdruckssystemen untersuchten, stellten fest, dass das, was in den jeweiligen gesellschaftlichen Umständen als „wirklich" und „sinnvoll" gilt, weder Sache eines Diktats noch Sache eines Konsenses ist, sondern die Wirkung diskreter „geschichtlicher Kraftspiele", welche die 11 Die bisher trotz beharrlichster Bemühungen weder der radikalste Konzeptualismus (Y. Klein) noch der raffinierteste Virtualismus ins Wanken zu bringen oder zu zerstören vermochten. 12 Mit der sie uns erfolgreich daran hindert, uns lediglich mit unserer („sonnigen") Seite des Phämomens zufriedenzugeben. in den Augen dieser (Über-)Mächte adäquaten Vorstellungen von den Dingen favorisiert. In diesem Zusammenhang ist es kaum notwendig zu erwähnen, dass - ähnlich wie die Religion, Philosophie und Wissenschaft - auch die Kunst als „Ausdruckssystem" von einem Netz begrenzter „Spiele" abhängig ist und ihnen gewollt oder ungewollt dient. Relevant scheint mir aber die Bemerkung, dass wegen der Natur der Sache in der Kunst die Durchdringung des Einflusses dieser Kräfte durch die künstlerischen Artikulationen derartig ist, dass die gesellschaftlichen Übermächte, auch wenn sie dies wollten, sie nie vollständig kontrollieren können. Der Grund hierfür liegt in der Besonderheit dieser Durchdringung, die in der Kunst in der Regel persönlich ist. - Kunst, wie wir sie heute auffassen, ist ein Fluss von „artikulierten Vorstellungsmodellen", die der gesellschaftlichen Gemeinschaft noch immer vorwiegend von Künstlern als Einzelpersonen vorgeschlagen werden. Deshalb ist es verständlich, dass das Praktizieren der Kunst wesentlich abhängig ist vom Leben und tätigen Beharren im Zwischenraum zwischen den (steifen) Regulierungen der gesellschaftlich normierten (anschauungsmässigen, stilistischen) Makrosysteme und dem unregulierten „Chaos" der subjektiven Mikro-Vorstellungen und Mikro-Interessen, die der gesellschaftlichen „Wahrheit" und „Akzeptanz" vom Standard abweichende Bedingungen setzen wollen und sich manchmal so zu benehmen wagen, als ob die gesellschaftlichen Reglementierungen in manchen Bereichen kein Mandat besässen. Wenn man in die Diskussion über Kunst und Form als zwei gesellschaftlichen Erscheinungen die bescheidende Voraussetzung der „Persönlichkeit" (und damit Besonderheit) „hineinlässt", muss man über manche Sachen anders denken und sprechen. Die Idee von den „geschichtlichen Kräftespielen" zum Beispiel ändert sich in ihrem Determinismus wesentlich, wenn man weiss, dass das kreative Individuum trotz der objektiven gesellschaftlichen Ohnmacht die Möglichkeit hat, untypische und sogar historisch beachtete Interventionen in sie vorzunehmen (Beispiele hierfür gibt es in der Kunst zu Genüge). Wenn man die Tatsache berücksichtigt, dass die gesellschaftlich etablierten Artikulationsmuster im Vergleich zu den persönlichen keinen exklusiven Zugang zum „anthropologisch Wesentlichen" haben, transformieren sich ebenso die Ideen von „Modernität", „Hauptströmung" und „Erfolg" in ihrem Inhalt und Umfang. Nicht zuletzt zeigt sich im Hintergrund dieser Einführung auch der Topos der künstlerischen Kreativität in neuem, asymmetrischem Licht - nach aussen im asymmetrischen Antagonismus kollektiv-individuell, nach innen in der asymmetrischen Differenz des Konzepts und der Physiologie -, nämlich der Topos der Lücke, die man in beiden Richtungen spontan als Unvollständigkeit 263 bzw. Spaltung erkennt. Alle aufgezählten Aspekte werde ich nachstehend zu berücksichtigen versuchen. Ich beginne mit dem Letzten. 264 Die Geburt der Form aus der Realität der Spaltung Ich behaupte also kühn, dass die Basismatrix, die seit jeher die menschlichen Projekte der Einschliessung der geistigen Spannung zur Welt in Formen definiert, die Offenheit ist, d.h., die Lücke zwischen Tatsächlichem und Gedachtem, der Unterschied zwischen alten Artikulationen und neuen Forderungen, die Dissonanz zwischen Individuellem und Kollektivem, die Distanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Von aussen, vom Standpunkt der alltäglichen Pragmatik aus betrachtet, ist diese Offenheit eine kleine Erfahrung einer uneinheitlichen Realität, d.h., eine Erfahrung konkreter Frustrationen und kreativer Gelegenheiten. Von innen, von einem fundamentaleren Standpunkt aus betrachtet, ist diese Offenheit eine Tiefenerfahrung der uneinheitlichen Realität, die von der Interaktion aus dem Abenteuer des Menschen, „nicht natürlich zu sein",13 und seiner archetypischen Nostalgie, „eins mit der Welt zu sein", um das exzentrische Subjekt gesponnen wird.14 Dass wir im Offenen in dessen erster Bedeutung stehen, erkennen wir stets daran, dass wir uns in ihm unbehaglich fühlen; dass wir im Offenen in dessen zweiter Bedeutung stehen, erkennen wir hingegen daran, dass wir ihn ihm einfach „existieren", noch bevor die Offenheit in konkreter Gestalt auftritt (einer der Ausdrücke für ein solches Existieren ist z. B. das in der modernen Psychologie und Philosophie unter dem Begriff „Existenzialangst" bekannte Phänomen).15 Die Offenheit des ersten Typs ist der Bereich von praktischen Problemen und Ambitionen, die zur konstruktiven Eliminierung der Offenheit tendieren (meist unter dem Taktstock einer Energie egozentrischer und profitorientierter Art). Die Offenheit des zweiten Typs ist ein „existenzialer Zustand", in welchem der Mensch - konstruktiv oder chaotisch - mit dem „Schicksal" und der „Ungestilltheit" seines Daseins konfrontiert ist (in ständigem Wettstreit mit den Idealen, die 13 Vgl. Peter Sloterdijk, Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989, S. 263. 14 Vgl. dazu beispielsweise die biblische Erzählung über den Garten Eden und die Erbsünde oder aber „die Erfahrung der einheitlichen Wirklichkeit", über die Erich Neumann in seinem Werk Der schöpferische Mensch und die grosse Erfahrung (Zürich: Rhein-Verlag, 1959) berichtet. 15 Bearbeitet von Sloterdijk, Eurotaoismus, S. 153. von der Pragmatik laufend durch ein Gefühl für das „im Rahmen der menschlichen Begrenzungen" Erreichte gedämpft werden). In den Räumen des ersten Typs der Offenheit ist heimisch, was von der Neuzeit „Technik" und von der klassischen Tradition „techne" genannt wird; in den Räumen des zweiten Typs der Offenheit ist heimisch, was die Neuzeit „Kunst" und die Antike „poiesis" nennt. Beide Tätigkeiten dienen hierbei der „Vermittlung" zwischen den beiden Polen der existenzialen Lücke (alter Zustand - neue Bedürfnisse, Wirklichkeit - Ideal usw.). Da aber der Interaktionsraum zwischen den beiden Polen kein Vakuum ist, in welchen man einfach den erstbesten verfügbaren technischen oder poetischen Füllstoff einbetonieren könnte, müssen beide Tätigkeiten Formen produzieren; Formen als Modalitäten einer aktiven und inventiven „Vermittlung" zwischen Wirklichkeit und Mensch, die sich in ihrer komplizierten Natur darum bemüht, mit der Welt auszukommen. Und weder in der Technik noch in der Kunst ist es leicht, die Form als Modalität der Vermittlung zu verstehen. Teilweise deshalb, weil sie sich, wie gesagt, in vielen Kontrastgestalten zeigt, die im Zusammenhang mit ihr von der Erfahrung fixiert wurde, insbesondere deshalb, weil sie nicht auf Annäherung basiert, sondern fast auf einer „Gleichsetzung" dieser ontologischen Kontrastzustände. Wenn man in eine aktive Beziehung mit ihr eintritt, bemerkt man, dass sie zwar etwas unverhohlen Materielles ist, dass aber diese Materialität keineswegs „ohne Geist" (Abb. 1) ist; dass sie etwas betont Sinnliches ist, dass aber diese Sinnlichkeit bei weitem kein Selbstzweck ist (Abb. 2); dass sie nur deshalb ein „Mehrwert" ist, weil sie auch ein „Artikel" ist; u. Ä. Kurzum: Eine adäquate und ernsthafte Benutzung des Ausdrucks gibt zu verstehen, dass die „Form" weder Materie noch Idee, weder Produkt noch Wert, weder Gestalt noch Inhalt, weder Physik noch Metaphysik ist ..., sondern genau das, was zwischen beiden vermittelt.16 Genau „das", was greifbar (Materie, Präsenz, Empirie) und zugleich entweichend (Idee, Struktur, Sinn), zugleich sichtbar und unsichtbar, simultan Quantität und Qualität ist. Mit anderen Worten: Die Form ist das, was sich - ähnlich wie z. B. das Atom - je nach der Beobachtungsmethode auf verschiedene Weise zeigt; jedoch ist sie aus dem einfachen Grund, weil sie die Eigenschaft eines nicht eindeutig lokalisierbaren „Vermittlers" und „Zwischengliedes" hat, etwas völlig Einheitliches, Unteilbares. Auf den Aspekt der „Zwischenheit" wies im Zusammenhang mit der künst- 16 Auf eine analoge Idee von „Vermittlung" kam der junge K. Marx beim Nachdenken über den Begriff, als er in einem Brief an den Vater (1837) schrieb: „Der Begriff ist ja das Vermittelnde zwischen Form und Inhalt." (Karl Marx, Brief an den Vater, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Izbrana dela, zv. I, Ljubljana: Cankarjeva založba, 1979, S. 23). 265 Abb. 2: Die Form ist etwas betont Sinnliches, doch ist ihre Sinnlichkeit kein Selbstzweck: Joseph Beuys, Stuhl mit Fett, Darmstadt. lerischen Form explizit (damals jedoch wenig beachtet) Jacques Derrida hin, als er in seinem Aufsatz La parole soufflée (1967)17 schrieb, dass jeder „Kunstgegenstand" zwischen der Sache und dem Zeichen steht, dass er eine „Zwischen-heit" ist, das Verhältnis zwischen der Sache und dem Zeichen, und dass seine Kraft genau aus der Tatsache hervorgeht, dass er in der Lage ist, sich in dieser Zwischenlage zu erhalten, d. h. darin, dass er nicht völlig in eine der beiden ontologischen Kategorien verfällt, in welche man die Welt gliedert: weder in die Sphäre der Natur (Gegenstände) noch in die Sphäre des Geistes (Zeichen). Ausdruck und offensichtliche Folge dieser Tatsache ist, dass sich die künstlerische Form in hermeneutischer Hinsicht sowohl der erklärenden Wissenschaft von den Sachen und ihren kausalen Verhältnissen als auch der erläuternden Erklärung der Zeichen und ihrer Bedeutungen erfolgreich widersetzt.18 Die ontologische Beschreibung des „Zwischen"-Topos der Form macht natürlich eine Ergänzung erforderlich, die wenigstens halbwegs erklärt, wie die Form als „Zwischenheit" in operativem Sinn Vermittlerin zwischen den antagonistisch auseinander klaffenden Ufern der existenzialen Lücke sein kann - zwischen Materialität und Geistigkeit, Wirklichkeit und Wunsch, Physik und Metaphysik, Inhalt und Gestalt. Ich gebe zu, dass es an dieser Stelle schwer ist, präzise zu sein. Bei der ersten Annäherung scheint es dennoch adäquater, der operativen Rolle der Form im „Zwischenzustand" die Metapher eines Magnetfeldes zwischen zwei Polen oder eines synaptischen Kontaktes zwischen zwei Neuronen zuzuschreiben als die Metapher einer knorpeligen Bandscheibe zwischen zwei Wirbeln, also eine Metapher, die eine interaktive und katalysatorische Rolle auf Kosten einer stossdämpfenden Passivität favorisiert. Dieser Aspekt scheint aus zwei Gründen adäquater. Erstens, weil eine Auffassung der Form als inerte Verpackung von Inhalten, „um die es eigentlich geht", heutzutage nur noch auf den unverbindlichen Abkürzungen eines spontanen Assoziierens, die das romantische Ich trösten, und auf den bevölkerten Hauptstrassen des sozialkritischen „Lesens", die das heutige aktivistische Ich trösten, am Werk ist. Und zweitens deshalb, weil - trotz der neuzeitlichen elektronisch-prozessualen „Dematerialisierung" - nichts darauf hinweist, dass die geistigen Phänomene in der Form von nun an „frei von der Welt" wären, sondern in der einen oder anderen Modalität wie bisher zwischen der Vernunft, die nach der Wahrheit sucht, und der wirklichen Welt gespannt sind, weswegen die Autorität der Form weiterhin die Autorität ihrer Realität ist, d.h., ihrer „realen Präsenz" 267 17 Vgl. Jacques Derrida, L'écriture et la différence, Paris: Éditions du Seuil, 1967, S. 253-292. 18 Vgl. Christoph Menke, Einführung, in: G. Koch & C. Voss (izd.), Zwischen Ding und Zeichen. Zur ästhetischen Erfahrung in der Kunst, München: Fink Verlag, 2005, S. 15-19. (wenn ich G. Steiner folge). Diese beiden Hinweise wiederholen dieselbe dicho-tome Geschichte, mit der ich diesen Abschnitt begonnen habe: Der erste versucht zu sagen, dass die Form eine Hülle ist, in der sich die Wahl des Menschen souverän bewegt, ohne sich mit der Entwicklung eines realen Verhältnisses zur Welt zu belasten,19 der zweite suggeriert, dass die Entwicklung eines realen Verhältnisses zur Welt nicht nur eine Last, sondern ein belebender Eintritt in die Wirklichkeit ist. Aus ihnen weht eine „Spannung" zwischen Geist (der sich Freiheit wünscht) und Materie (die sich an die Realität klammert), ebenso auch ihre Verbundenheit und „Wechselbeziehung", da der Geist, der in die Freiheit hechten möchte, hierfür ein Sprungbrett braucht, und die Materie, welche die Grenzen ihrer Prosaik übertreten soll, einen gestaltenden Geist benötigt. Es gilt also festzustellen, dass der Geist in der künstlerischen Form zwangsläufig in der Materie „dokumentiert" ist und die Materie zwangsläufig mit dem Geist „in-formiert" ist und dass sich die Operativität der Formvermittlung zwischen beiden Polen der existenzialen Lücke genau auf diesen diskreten und 2ö8 entweichenden funktionalen „Austausch" bezieht. Die Künste zeigen uns eine besondere Weise, auf die der Status der Materie mit der menschlichen Situation verbunden ist. Sie zeigen uns die absolute Sinnlosigkeit der Materie, zugleich aber zeigen sie uns ihre äusserste Wichtigkeit; sie zeigen uns die Lokalität des Geistes, zugleich aber zeigen sie seine universale Lebhaftigkeit und Relevanz; all dies zusammen mit einem Gefühl für die Einheit(lichkeit) und Gestalt, die uns oft geheimnisvoll erscheint, weil sie sich, indem sie sich vom Egoismus und von der Tendenziösität entfernt, gegen oberflächliche Phantasiemuster zu verteidigen weiss (während es bei den Formen schlechter Kunst nichts Geheimnisvolles gibt, da sie eine erkennbare Abkürzung der egoistischen Träumerei oder der ideologischen Beschränkung ist).20 Eine Theorie, welche die Form ohne beschriebenen interaktiven Kontext lässt und in ihr lediglich die Idee von der Freiheit und vom Einfluss verherrlicht (was, wie I. Murdoch bemerkt, zwei problematische Werte auf jeder Ebene sind, ausser auf der höchsten21), vernebelt die Sachen in der Konfrontation mit dem Phänomen „Form". Einfach deshalb, weil sie dazu beiträgt, dass sie bestimmte, potenziell unklare Erfahrungsbereiche der Matrix ihrer Komplexität entzieht und sie dadurch weniger offen für Überprüfungen macht. Es scheint mir, dass die Idee des Interaktiven in der einen oder anderen Form unweigerlich der 19 Deswegen hat man heute oft das Gefühl, dass die Form etwas Arbiträres sei, eine Sache für den persönlichen Willen und nicht für eine sorgfältige Untersuchung. 20 Vgl. Iris Murdoch, The Sovereignty of Good, S. 84-85. 21 Vgl. ibidem, S. 55. Form zusteht, doch ist es nicht einfach, sie zu erklären. So wie viele andere entweichende Ideen nimmt sie nämlich Gestalten an, die entweder unecht oder inoperativ sind. Trotzdem versuche ich es mit einer präliminären Definition, die an wesentlicher Stelle die Idee der Interaktivität berücksichtigt: Die Form ist ein Seismograf der Entwicklung des Geistes in der Materie, des Inhalts in der Gestalt, des Wunsches in der Realität, des Metaphysischen im Physischen. Die Form ist meiner Auffassung nach kurzum eine Folge, also ein Querschnitt der interaktiven Artikulation des Geistes in der Materie, ein Querschnitt, bei dem sich die Natur der geistigen Inhalte in der Materie endgültig entwickelt und offenbart und ebenso die bezeichnende Materie entsprechend der Natur der geistigen Inhalte endgültig ordnet. In der künstlerischen Form wird der Geist inkarniert und die Materie in-formiert (in-formare, in-Form-bringen). Dies bedeutet, dass die Materie, die wir in ihr erleben, nicht mehr nur eine Substanz mit der Energie eines physikalischen Reizes ist, sondern eine Information, die durch die geistige Kybernetisierung solcher Reize entstanden ist. Die Energie des physikalischen Reizes variiert entlang einfacher Dimensionen, die durch die Organisierung dieser Reize entstandene Information hingegen entlang vieler komplexer Dimensionen, die nicht physikalisch messbar sind. Die Form ist meiner Meinung nach kurzum ein angemessener Name für die Inkarnation geistiger Inhalte in der informierten Materie, was auch die Idee von der Qualität der Erfahrung während der Änderung des Bewusstseins in die informierte Materie und zurück recht gut erklärt (Abb. 3).22 In der Kunst besteht eine ständige funktionale gegenseitige Abhängigkeit von Geist und Materie, ein Verhältnis der gegenseitigen Artikulation, die keine Substanzen, sondern Formen als verdichtete, saturierte Phänomene herstellt (um einen Begriff von J. L. Marion zu verwenden23). Jetzt möchte ich mich näher mit den von der Technik und Kunst hergestellten Formen beschäftigen. Obwohl die Technik und die Kunst beide den Charakter eines „Formherstellers" haben und beide auf der gedeihenden „Kunst" (techne = ars) basieren, unterscheiden sie sich nach dem anthropologischen Status ihrer Formen radikal voneinander. Die Technik betont Fertigkeit - für sie ist die Herstellung eine methodische Produktion des brauchbaren Produktes. Ihr Resultat sind Formen, denen es gelingt, die Lücke zwischen Faktischem und Ideellem, zwischen Bestehendem und Gewünschtem, zwischen Gegebenem und Erwartetem ... auf mehr oder weniger ausgefeilte Weise zu mildern, zu über- 269 22 Näheres vgl. Jožef Muhovič, Likovna umetnost kot področje semiotične artikulacije, in: An-thropos 5-6 (1994), S. 13-56. 23 Vgl. Jean-Luc Marion, De surcroît. Études sur les phénomènes saturés, Paris: P.U.F, 2001. 270 Abb. 3: Die Form - ein Name für die Inkarnation geistiger Inhalte in der informierten Materie: a. Tony Cragg, Great Britain, seen from the North, 1981, London, Tate Britain; b. Paul Cézanne, Les grandes baigneuses, 1899-1906, 208x249 cm, Philadeplphia, Philadelphia Museum of Art. brücken oder mit Artikeln auszufüllen; ihr Modus ist ein techno-prothetisches Zwingen der Sachen, so zu funktionieren, wie wir es möchten. Das Ergebnis der Kunst sind im Gegensatz dazu Formen, die so hergestellt sind, dass sie „im Offenen stehen",24 Formen, die zwar eine Fortsetzung des natürlichen Konti-nuums der Herstellung mit kulturellen Mitteln sind, jedoch eine Realisierung der Gestaltbildenden Möglichkeiten darstellen, die der Natur „nicht eingefallen wären". Die Formen der Kunst bieten einerseits „reine Freude über das unab- 24 Sloterdijk, Eurotaoismus, S. 154. Abb. 4: Die Form als Kontext, in welchem kontempliert werden kann: Galerie Toni Tapies, Barcelona, Antonio Tapies gewidmete Ausstellung, 2005. hängige Bestehen von etwas Hervorragendem",25 andererseits bieten sie uns ein reales Bild der Situation des Menschen in einer Gestalt, mit der wir ungestört 271 kontemplieren können (und in der Tat ist dies einer der seltenen Kontexte, in denen so mancher von uns heutzutage überhaupt in der Lage ist zu kontemplieren; Abb. 4).26 Das, was die poiesis herstellt, schüttet die existenziale Lücke nicht zu, mildert sie nicht und versucht sie nicht zu verdecken. Manchmal vertieft und erschwert sie sie noch, damit wir uns ihres tektonischen Bruches tiefer bewusst werden. Die Kunst artikuliert Formen, welche die beiden Extreme der existenzialen Lücke nicht „zusammenziehen", sondern gegeneinander stellen, gegeneinander prallen lassen, so dass sie sich in ihnen gegenseitig schleifen und artikulieren: das Faktische entsprechend den kreativen Potenzialen der Idee und die Idee entsprechend den Gesetzmässigkeiten und Möglichkeiten des Faktischen. So, dass wir dann auf dieser Grundlage die Uhren unseres Lebens in neuem Licht einstellen können. Der Modus der Kunst ist keine prothetische Kompensation von Gegensätzen und keine Reklame für die „goldene Mitte", sondern ein reziproker artikulierender Zusammenstoss von Gegensätzen, der im „Paradox paralleler Leidenschaften" beharrt.27 Die Formen der Kunst sind geistig, ohne dabei aufzuhören, materiell zu sein; sie sind sinnlich, ohne dabei auf die Imagination und das Denken zu verzichten; sie sind persönlich und dennoch in völligem Widerspruch zur „Besessenheit mit dem Ich".28 25 Iris Murdoch, The Sovereignty of Good, S. 83. 26 Vgl. ibidem, S. 84-85. 27 G. K. Chesterton, Orthodoxy, S. 93. 28 Iris Murdoch, The Sovereignty of Good, S. 83. Die provokanteste praktische Frage, welche die künstlerische Form an den Menschen stellt, lautet: Kann das Universelle artikuliert und erlebt werden, ohne dafür die empirische Unmittelbarkeit des Partikulären opfern zu müssen? Die künstlerische Form in flagranti - ein Panoramablick Bei der Suche nach der „Vermittlung" zwischen den beiden Polen der exis-tenzialen Lücke und der Erforschung dieser „Vermittlung" hat der Mensch bisher zahllose konkrete Artikulationen künstlerischer Formen entwickelt -und er entwickelt sie weiterhin. Wenn man ihre formbildende Logik länger untersucht, stellt man fest, dass eigentlich alle aus drei grundlegenden formbildenden Strategien hervorgehen, die ich sehr bedingt „altertümlich" (oder metaphysisch), „neuzeitlich" (oder antimetaphysisch) und „postmodern" nennen werde.29 Die Benennungen zeigen offen, dass sich diese Makrostrategien in bestimmten Geschichtsepochen entwickelt haben bzw. vorwiegend gebraucht 272 wurden - nämlich die altertümliche im Intervall zwischen Altamira und dem Ende des Mittelalters, die neuzeitliche im Intervall zwischen Frührenaissance und Mitte des 20. Jahrhunderts sowie die postmoderne in der heutigen posthistorischen Zeit. Die Attribute „metaphysisch" und „antimetaphysisch" zeigen nicht weniger offen, dass diese Strategien nicht nur historisch, sondern auch „methodisch" sind. Ganz einfach deshalb, weil sie weniger ein Ausdruck der Zeit als vielmehr der Ausdruck einer Methode der Beherrschung eines bestimmten Typs von Beziehungen zwischen Realem und Symbolischem in konkreten geschichtlichen Matrizen der menschlichen Un-Zufriedenheit mit der Welt sind. Und als solche sind sie überall dort verwendbar, wo der analoge Typ des Verhältnisses zwischen Mensch und Welt zu Wort kommt. a. Metaphysische Makrostrategie: das Abenteuer der Inkarnation Der metaphysische Impuls basiert auf zwei Abwendungen von der Physik des Lebens - auf der Abwendung vom „Oberflächlichen" und auf der Abwendung vom „Vergänglichen". - Der Bruch mit dem „Oberflächlichen", der in der philosophischen Metaphysik am augenscheinlichsten ist, erfasst zuerst die Sinnlichkeit und die Sinne. Um vom Flüchtigen zum Wesentlichen zu schreiten, müssen sich die Sinne vergeistigen. Dies bedeutet, dass sie aus dem Bereich 29 Vgl. hierbei Welschs Gliederung der Makrostrategien des Philosophierens in der Geschichte der okzidentalen Philosophie; Wolfgang Welsch, Ästhetisches Denken, Stuttgart: Ph. Reclam jun. Verlag, 1990, S. 23-30. der natürlichen Beleuchtung und Verdunklung der Sache in den Zustand einer „logischen Durchleuchtung" durchbrechen müssen, die ein aktuell empfundenes Aussehen hinterlässt. Den vergeistigten Sinnen erscheint die Welt nicht mehr als souveränes Spiel von Licht und Schatten auf Objekten, sondern als Gegenstand einer dauerhaften „Röntgen-Durchleuchtung", in der geistiges Licht durch die oberflächlichen Erscheinungsbilder fällt und auf einem metaphysischen Film „Röntgenbilder" ihrer ewigen Strukturen und Bestimmungen entstehen lässt. Von den Gegenständen und Körpern bleibt am Ende nichts anderes als ihre letzten, „ewigen" Tiefendestillate übrig, in denen die metaphysische Alchimie schliesslich das Oberflächliche vom Wesentlichen, das Zeitliche vom Zeitlosen, das Immanente vom Transzendenten trennt.30 - Die entscheidende Rolle beim Bruch mit dem „Vergänglichen", dessen markante Zeugen auf jeden Fall die beharrlichen Denkmäler der Architektur und der Bildhauerkunst sind, spielt die Erfahrung der Zeitlichkeit und Sterblichkeit eines jeden einzelnen Lebens. Alles, was in der Zeit ist, schuldet der Zeit den Tod. Diese Erfahrung prägt tief den westlichen Zivilisationsprozess, seitdem die Irreversibilität der Lebensprozesse nicht mehr mit älteren zyklischen Ideen kompensiert werden konnte, die für eine mythische Erklärung der Welt ausreichten (mythischer Kreis der ewigen Rückkehr des Gleichen). In historisch mobilisierten Kulturen herrscht ein Nichtabfinden der Menschen mit der Vergänglichkeit vor. Und dieses Nichtabfinden kann in der „natürlichsten" Alternative mit meta-physischen Strategien überwunden werden, die Dinge gewährleisten, welche über das Leben hinausgehen und es damit noch erträglich machen. Dem Verfallenden (Holz, Fleisch, Kapital) muss etwas Festes, Dauerhaftes, Petrifiziertes entgegengestellt werden. Und tatsächlich hat sich die metaphysische Alternative dem geschichtlichen Auslaufen der Zeit gerade mit der Aufstellung steinerner Formen entgegengestellt - Menhiren, Pyramiden, Obelisken, Tempeln, Kathedralen, Triumphbögen, Türmen, Wolkenkratzern -, die bis zum heutigen Tag ein äusserst verlangsamtes Vergehen und einen unsterblichen Eintrag ihrer Schöpfer in die Welt veranschaulichen (Abb. 5). In diesen Formen illustriert die Metaphysik die These, dass der Schmerz des Vergehens nur durch ewigen Stein, ewigen Zement und ewiges Eisen geheilt werden kann, d.h., durch das Physische selbst, indem dieses durch eine monumentale Form einen metaphysischen Inhalt bekommt.31 In Umständen, in denen der Geist auf die Realität des Oberflächlichen symbolisch mit dem „Wesentlichen", auf die Realität der Vergänglichkeit mit dem 30 Nach Sloterdijk, Eurotaoismus, S. 129-134. 31 Nach ibidem, S. 135-142. 273 Abb. 5: Die metaphysische Alternative hat sich dem geschichtlichen Ablauf der Zeit durch die Aufstellung von Stein- und Stahlbetonformen entgegengestellt: a. Pyramiden in Gizeh; b. Obelisk auf dem Place de la Concorde in Paris; c. Stone Henge; d. Ulmer Münster; e. zeitgenössischer Wolkenkratzer (Commerzbank, Frankfurt am Main). „Ewigen" und auf die Realität des Todes mit der „Unsterblichkeit" antworten musste, ist es verständlich, dass die Vorstellungskraft nichts weniger als die fixe und dauerhafte Form akzeptieren konnte. Nur das nämlich, was auf potenzierte Weise zur (Arte-)Faktizität konvergiert, kann der metaphysischen „Verewigung der Seele" dienen. Und das in doppeltem Sinne. Einerseits dadurch, dass es dem Seienden, das auf Skelett, Begriff und Geist geschrumpft aus der metaphysischen Destillation des Wesentlichen herauskommt, ein „Gesicht" verleiht. Dies hat sich aus einem sehr praktischen Grund als bedeutsam erwiesen, da die Menschen zum Wesentlichen - das äusserst abstrakt und in strengem Sinn unvorstellbar, doch wegen der Wesentlichkeit auf symbolischer Ebene lebenswichtig ist - langfristig kein fruchtbares, kein respektives, insbesondere aber kein vertrauliches Verhältnis herstellen können. Wie könnte der Motivationsgenerator etwas sein, was noch nie jemand gesehen hat? Hierbei genügt es, an die Schlüsselrolle der Kunst bei der Artikulierung der für die Mobilisierung bedeutenden (religiösen, geschichtlichen, politischen) symbolischen Inhalte von Altamira bis heute zu denken (Abb. 6). 32 Andererseits dadurch, dass es eine relativ dauerhafte Eintragung des Autors und/oder Auftraggebers in die Welt ermöglicht.33 Artefakte Formen mit ihrem „In-die-Welt-Hineingestelltsein" bieten dem Menschen die nächstliegende, monumentalste und langfristigste Möglichkeit, in ihrer materiell-unbeweglichen Weisheit eine Garantie für das „eigene Überleben" zu finden (es genügt hierbei an Persepolis, die Pyramiden und die Medici-Kapelle zu denken). Oder wie der Dichter sagt: „... in deinen Werken wirst du selbst ewig leben".34 In der metaphysisch strukturierten Matrix der Beziehung zur Welt ist das Spannungsfeld zwischen Faktischem und Ideellem so geartet, dass in ihm die Ströme vom überzeugend definierten symbolischen Inhalt intensiv hin zur monumentalisierten und exemplarischen Realität fliessen, d.h., hin zur Artikulation der impressiven artefakten Form. Ihre Materialität und Festigkeit ist nämlich der Garant für das „geschichtliche Überleben" des Inhalts, der auf diese Weise meta-physisch wird (Abb. 7). Der Begriff der Form und das Phänomen der Form haben im metaphysischen Milieu betont inkarnationsmässige Züge,35 gegründet auf Abstrahierung, stilisierter Bildschöpfung, Anthropomor- 32 Näheres vgl. Jožef Muhovič, Umetnost in religija, Ljubljana: Logos, 2002, S. 346-350. 33 Hierbei braucht man kaum auf die prosaische Tatsache hinzuweisen, dass die Dauerhaftigkeit des Kunstwerks (in der bildenden Kunst) - leider - genau so lange währt wie die Dauerhaftigkeit der Materie, in welcher ihre Form artikuliert ist. 34 Anton Aškerc, Čaša nesmrtnosti, in: Peter Kolšek & Drago Bajt (Ausw. und Red.), Sončnice poldneva. Antologija slovenske poezije, Ljubljana: Mihelač, 1993, S. 117. 35 Hierbei sei darauf hingewiesen, dass - zumindest im Kontext dieser Erörterung - drei Be- 275 Abb. 6: Die Rolle der Kunst bei der Artikulierung von symbolischen Inhalten, die für die Mobilisierung bedeutsam sind: Michelangelo, Jüngstes Gericht, 1537-1541, Freske, 1370x1220 cm, Rom, Sixtinische Kapelle. phismus, Symbolisierung, vor allem aber auf Monumentalität. Sie stellen also zwei Paradigmen dar, in denen sich das Symbolische und Reale gegenseitig artikulieren, jedoch so, dass das Symbolische den Dirigentenstab in Händen hält. Ihr „Quotient" bewegt sich von den Parametern des Archaischen zu den Parametern des Klassischen. b. Neuzeitliche Makrostrategie: das Abenteuer der De-Realisation So wie für den metaphysischen Impuls ein Abrücken von der Physik des Lebens charakteristisch ist, ist für den neuzeitlichen Impuls die Wende hin zu ihr charakteristisch. Und zwar ebenfalls in zweifacher Weise: vom passiven zum aktiven Verhältnis und vom aktiven Verhältnis zum Aktivismus. - Wende zum Aktiven: Die Metaphysik als Leidenschaft zur Vertiefung und Ruhe kann griffe strikt voneinander zu unterscheiden sind, die wegen ihrer gemeinsamen Wortwurzel leicht verwechselt werden. Diese Begriffe sind: „Form", „Formalität" und „Formalismus". „Form" ist hierbei definiert als „dasjenige, das zwischen Gestalt und Inhalt vermittelt", „Formalität" als „materielle Basis dieser Vermittlung", „Formalismus" als „übertriebene, einseitige und unfunktionale gestaltbildnerische Ausnutzung dieser Basis". 277 Abb. 7: Im Rahmen der metaphysischen Makrostrategie ist die Materialität und Festigkeit der Form ein Garant für das „geschichtliche Überleben" des Inhalts, weshalb ein Angriff auf diese Materialität auch ein Angriff auf das geschichtliche Überleben symbolischer Inhalte ist (vgl. die Ereignisse vom 11. September 2001 in New York; a, b und c). keinen einzigen Moment lang vergessen, dass sich die menschlichen Pläne und Handlungen im Strombecken einer unüberwindbaren Passivität bewegen. Die Verhältnisse prädominieren a priori über die Grundsätze. Auch dann, wenn das Denken und die Praxis den Menschen eigen sind, ist der Erfolg Sache der Gunst der Götter. Mit dem Eintritt der Moderne, in welcher der Mensch gelernt hat, das Leben so zu organisieren, dass sich in ihm die Forschung und das Experiment als zwei technische Hände zum Denken hinzugesellen, wird der Erfolg hingegen nicht mehr als Sache der Götter aufgefasst, vielmehr geschieht das Neue so, wie es gedacht war. Angetrieben von einer Mischung aus Optimismus und produktionsmässiger Offensivität, verspricht die Moderne eine Welt, in welcher das geschieht, was man plant, weil man das machen kann, was man will, und weil man willig ist, das zu lernen, was man noch nicht kann. Die Grundlage von allem ist nicht das „Schicksal", sondern die eigene Fähigkeit des Menschen, über sich selbst hinauszugehen, und sein eigener Wille dazu. Überhaupt besteht die Epoche, die „Moderne" genannt wird, nur deshalb, 278 weil die Fähigkeit des Handelns einen so grossen Eindruck auf die westlichen Menschen gemacht hat, dass sie zu glauben begonnen, dass sie aus eigener Initiative von nun an nicht nur die Geschichte, sondern auch die Natur kreieren können.36 - Wende zum Aktivismus: So wie die Metaphysik ihre Antwort auf die brennende Frage der Vergänglichkeit in der „Materialisierung des Geistes" gefunden hat, hat der neuzeitliche Impuls - so Sloterdijk - seine Antwort in der antimetaphysischen Geste der Mobilisierung gefunden. Die neuzeitlichen Mobilisatoren versprechen, dass sie die Endlichkeit und Vergänglichkeit der Verhältnisse durch eine Mobilisierung derselben endlichen und vergänglichen Verhältnisse überwinden werden. Die schnelle, planetare Durchsetzung dieses Prinzips zeugt von der Not, mit welcher das Leben in der postmetaphysischen Zeit versucht, seinen unweigerlich auf den Tod ausgerichteten Lauf zu beherrschen. Hierbei werden anstelle von Versuchen der Verewigung in monumentalen und dauerhaften Artefakten, die unglaubwürdig geworden sind, Strategien der Dynamisierung (der Geschichte, der Wissenschaft, der Industrie, der Massenkommunikation, der Kunst) in grossem Format ins Spiel gebracht. Urbilder, Urtöne und Urerfahrungen betrachtet die Moderne nicht mehr durch Rauch, Rauschen und Respekt hindurch, vielmehr hat sie gelernt, Bilder durch noch mehr Bilder zu vertreiben, Töne durch noch lautere Töne, alte Erfahrungen durch immer neue Erfahrungen. Dem Grauen des Irreversiblen stellt sie nicht mehr eine metaphysische Flucht in die Unbeweglichkeit entgegen, sondern sie schlägt ihm eine Flucht ins Flüchtige vor. Wobei es - wie Sloterdijk heraus- 36 Nach Sloterdijk, Eurotaoismus, S. 21-24. stellt - auf jeden Fall ungewöhnlich ist, dass der neuzeitliche Immanentismus mit seinem Verzicht auf die Welt „dahinter" und auf das Jenseits kein solides Diesseits geboren hat, sondern das Diesseits in einen Alptraum schneller Aktualisierungen und noch schnellerer Deaktualisierungen verwandelt hat.37 Was geschieht also mit der Form in Umständen, in denen es notwendig ist, mit ihr auf den Appell des sich auf sich selbst stützenden Willens zur Überwindung des Gegebenen sowie auf den noch lauteren Appell der vermeintlich erlösenden Beschleunigung von Veränderungen zu antworten? Vom Standpunkt der Überwindung der Welt bzw. der Selbstüberwindung des Menschen aus betrachtet, braucht die formbildende Imagination in der Kunst weder sofort aus den Grenzen metaphysischer Themen noch aus den Grenzen des Artefaktischen auszutreten, vielmehr genügt bereits eine Korrektur in der formbildenden Methode. Der Beweis dafür sind die Kunstwerke der Renaissance, die in der Ikonographie problemlos metaphysischen Themen folgen und das artefaktische Apriori in keiner Weise in Frage stellen sowie in der Methode der Artikulierung metaphysischer Themen nicht mehr von der metaphysisch inspirierten Imagination ausgehen, sondern von einer planmässigen Beobachtung und Erforschung der Realität (vgl. Luftperspektive, Linearperspektive, Anatomie, Modellierung u. Ä.; Abb. 8). Wobei es verständlich ist, dass die Künstler unter den metaphysischen Themen diejenigen favorisieren, die ihnen in grösstmöglichem Masse ermöglichen, die Ergebnisse aktueller Untersuchungen zu verwenden, und dass sie in den Zusammenhang mit ihnen immer mehr Umstände und Motive einbringen, aus denen die Ergebnisse gewonnen wurden (Plastizität der Objekte, perspektivischer Raum, Landschaft, Morphologie natürlicher Formen u. Ä.). Und zwar so lange, bis diese Umstände, diese Motive und diese Erkenntnisse die metaphysischen Themen allmählich aus der künstlerischen Artikulation verdrängen wie der Igel den Fuchs (Genrebilder, Realismus, Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts, Impressionismus, Pointillismus u. Ä.). Ganz einfach deshalb, weil sie nicht nur in den Augen der Künstler, sondern auch in den Augen der Öffentlichkeit sich-selbst-genügend geworden sind. Die metaphysischen Imaginationsinhalte werden jetzt durch thematische und formbildende Inventionen der Autoren ersetzt, die aus ihrem Erleben und Begreifen der Welt entspringen, während die artefakte Form, in der sich diese Inhalte verifizieren, weiterhin ungehindert im Spiel bleibt. Mit der Zeit übernimmt sie lediglich die Modalitäten der betonten Materialität (Arte povera, Informel), der Gegenständlichkeit (Installationen) und sogar der unmittelbaren Körperlichkeit (Body-Art; Abb. 9), da die Künstler ihre Inspira- 37 Nach ibidem, S. 143-145. 279 Abb. 8: Renaissancistische Kunstwerke folgen in der Ikonographie problemlos metaphysischen 280 Themen, in der Methode der Artikulierung dieser Themen gehen sie aber nicht mehr von der metaphysisch inspirierten Imagination aus, sondern von der planmässigen Beobachtung und Erforschung der Realität: vgl. Leonardo da Vinci, Skizze für L'Adorazione dei Magi (Anbetung der Hl. Drei Könige), ca. 1481, Florenz, Uffizien. tionen und Erkenntnisse nicht nur aus der Erforschung der Gesetzmässigkeit des Realen schöpfen, sondern auch aus der eigenen Beziehung und aus der Beziehung des Publikums zur Realität des Realen (vgl. hierbei die modernen Phänomene der Ästhetisierung, Derealisation u. Ä.). Anders verläuft die Story der artefakten Form im Rahmen der neuzeitlichen Makrostrategie dann, wenn mit der Form auf einen modernen Appell der aktualistisch revolutionierten Beschleunigung von Veränderungen, also auf das „Blitzschachspiel" von Aktualisierungen und Deaktualisierungen zu antworten ist. Den Eröffnungszug der Vertreibung von Bildern durch noch mehr Bilder, alter Erfahrungen durch immer neue Erfahrungen, ist in einem Phänomen zu beobachten, welches auf den ersten Blick seine Karten noch nicht erahnen lässt. Dieses Phänomen ist das Phänomen des Minimalismus, das in der Matrix der Ströme zwischen dem Phänomen und dem Konzept der Form augenscheinlich die Grenzsteine zugunsten des Letzteren verschiebt und mit seiner Morphologie immer klarer die Vorteile eines freiwilligen Aushungerns der artefakten Form zu einem „blossen Erscheinungsbild" propagiert, welches der Imagination des „reinen" Geistes immer freiere Hände lässt. Die Formel Abb. 9: Die artefakte Form übernimmt im 20. Jahrhundert allmählich die Modalitäten einer betonten Materialität (a), Gegenständlichkeit (b) und Körperlichkeit (c): ad a) vgl. Alberto Burri, Sacco IV, 1954; ad b) vgl. Robert Rauschenberg, First Landing Jump, 1961, Mischtechnik, 226x183x22,5 cm, New York, MoMA; ad c) vgl. Yves Klein, Performance Les Anthropometries, 1960. 282 Abb. 10: Das Konzept, das durch Interferenz und Substituierung die artefakte Realität „verzehrt": vgl. Piero Manzoni, Socle du Monde, 1961. dieses Unterfangens besteht darin, dass das Konzept durch Interferenz und Substituierung die artefakte Realität „verzehrt" (Abb. 10). Der zweite Gesichtspunkt, welcher der artefakten Form einen Nekrolog schreibt, ist die langsame Produktion der „alten Medien" und ihr peinliches Zurückbleiben hinter den enormen Bildschöpfungsbedürfnissen der modernen Zeit. Wenn es kein Ideal gibt, das lange genug dauern würde, um sich wenigstens teilweise verwirklichen zu können, kapitulieren die „alten Medien". Maler haben manchmal die Angewohnheit, viele schnelle Studien ihres Modells zu machen. Es macht nichts, wenn der Maler zwanzig Skizzen verwirft, schlimm wäre es aber, wenn er zwanzigmal aufschauen und jedes Mal eine andere Person posieren sehen würde. Führt man diese Metapher von Chesterton weiter, so kann man sagen, dass es unbedeutend ist, wie oft es der Menschheit nicht gelingt, ihr Ideal zu realisieren, da in diesem Fall alle alten Misserfolge ihren Nutzen haben. Sehr bedeutend ist es allerdings, wie oft sie ihr Ideal wechselt, da in diesem Fall alle alten Misserfolge unnütz werden.38 Der schnelle Wechsel der Ideale sagt den Parametern der artefakten Form den Kampf an. Damit der Geist dem hektischen Geist folgen kann, muss er von allem, was ihn „erdet" und beschränkt, mit einer neurotischen Geste Abschied nehmen. Und dies ist in der Kunst vor allem die artefakte Form. Kurzum: Im Crescendo der Aktualisierungen und Deaktualisierungen weicht die artefakte Form nach einer lang andauernden minimalistischen Diät und nach einem peinlichen Zurückbleiben hinter den beschleunigten Bildschöpfungsbedürfnissen der modernen Zeit immer mehr in die Defensive eines „prozessualen" Aggregatzustands zurück, bis sie sich schliesslich der 38 Vgl. G. K. Chesterton, Orthodoxy, S. 104-105. Liquidation des Fleisches zugunsten des Wortes und des beweglichen Bildes beugt. Und dadurch wird der „natürliche Kreis" der gegenseitigen Artikulation des Symbolischen und Realen bis zu den äussersten Grenzen geöffnet; diese irren von nun an als „Konzept" und „Faktum" auf fetischierte Weise allein durch die Welt - in der heroischen Illusion, dass sie einander nicht suchen. c. Postmoderne Makrostrategie: das Abenteuer der Unvollendetheit Wenn die Postmoderne in irgendetwas an die Moderne anknüpft, dann auf jeden Fall darin, dass in ihr das Moderne völlig anders geschieht, als es gedacht war. Nicht deshalb, weil der Mensch denkt, Gott aber lenkt, sondern deshalb, weil uns durch das Projekt der Moderne nun die Rechnung für die Illusion, dass durch Aktivismus die Natur der Welt und des Menschen überholt werden kann, präsentiert wird. Es geschieht anders, als wir geplant hatten, weil wir die Rechnung ohne „die Natur der Sache" gemacht haben.39 Es geschieht, dass die alten Fundamente mit der Zeit nicht mehr den Anforderungen standhalten, die wir an sie richten, und den Gehorsam verweigern.40 283 Werte, die früher in gewisser Bedeutung in den Himmel eingeprägt waren und für die Gott Bürge war, sind in der Postmoderne in den menschlichen Willen eingebrochen. Es gibt keine transzendente Realität. Die Idee der Form bleibt undefiniert und leer, so dass sie von der Wahl des Menschen aufgefüllt werden kann.41 Auf die klassische „Konstante" der Artikulation der Formen, d.h., gegen die Lücke zwischen Realem und Symbolischem, in welcher sich das Faktische und das Ideelle durch Vermittlung der Imagination gegenseitig artikulieren, wird in der Postmoderne eine dreifache Mobilisationsoffensive gestartet: die Offensive der bildererzeugenden Unersättlichkeit, die Offensive der aktualistischen Ambition und die Offensive der formalen Mobilität. Angefeuert von der neuzeitlichen Projektenergie fassen die Subjekte der Postmoderne die Fundamente dieser real-imaginativ-symbolischen Matrix als Requisit für ihre dramatischen „geschichtsbildenden" Szenarien auf. Da die Ganzheitlichkeit und funktionale Verbundenheit dieser Matrix als etwas Altmodisches verworfen wird, kann die Postmoderne von einer „Ordnung" der Welt träumen, in welcher alle Beschränkungen des Realen, Imaginären, Symbolischen, Produktiven und Natürlichen beseitigt wären. Die Matrix als Realität mit eigenen 39 Mehr zum „Konzept der gemeinsamen menschlichen Natur" vgl. z. B. Francis Fukuyama, Our posthuman Future. Consequences of the biotechnology revolution, New York: Farrar, Strauss and Giraux, 2002. 40 Nach Sloterdijk, Eurotaoismus, S. 23, 143-144 und 316. 41 Vgl. Iris Murdoch, The Souvereignty of Good, S. 78-79. Gesetzmässigkeiten, „Bedürfnissen" und „Rechten" ist in Klammern gesetzt. Von ihr verlangt man nur, dass sie als Grundlage für immer neue dramatische Projekte dient. Doch zeigen die Umstände, dass diese unentwegt fordernde Haltung gerade in der Postmoderne vor dem Bankrott steht. Es zeigen sich zwei Symptome dieses Zustands: die Emanzipierung des Schaffensprozesses zu einer narrativ kalibrierten Prozessualität und die gleichzeitige Auto-Thematisierung des schöpferischen Hintergrunds. Prozessualität. Tatsächlich hatte bereits die Moderne an die Tür des prozessualen Aggregatzustands der Form geklopft. Die Postmoderne ist lediglich optimistisch vorangeschritten. Die Vermittlung zwischen Inhalt und Gestalt stellt sie sich nicht mehr als „geschlossene Form" vor, in welcher die Vermittlung auf nichtevidente und endgültige Weise in der Dauer des artefakten Objektes zusammengefasst ist, vielmehr sucht sie „offene" und flexiblere Wege. Sie schwört auf das Geschehen anstatt auf das Ereignis, auf Mobilität anstatt auf Dauerhaftigkeit, auf Sukzessivität anstatt auf Simultanität, auf Virtualität 284 anstatt auf Realität, vor allem aber auf die Erzählung und Story. Der äussere Ausdruck dieser Suche sind produktive Strategien wie z. B. work in progress, Performances, Aktionismus, Virtualisierung, Projekt usw. (Abb. 11). Diese Artikulationsarten weisen ikonoklastische, dekonstruktive und anti-artefaktische Züge auf. Nichts mehr ist so, wie es an Kunstakademien noch vor Kurzem gelehrt wurde. Die Beherrschung des Metiers wird nonchalant durch das Konzept beiseite geschoben, das Wissen durch die „Metatheorie", die Artikulierung in der Materie durch den Pathos der sozialen Subversion, die Form durch die Performativität. Wenn die traditionellen Kunstmentalitäten die Möglichkeit untersuchten, wie man das Verhältnis zwischen Inhalt und Gestalt in einer empirisch-kontemplativen Konfrontation des Subjekts mit dem Artefakt verdichten könnte, sucht die postmoderne Kreativität mobile und diskursive Arten dieser Verbindung, um durch den Prozess, d.h., durch eine Aufeinanderfolge von Handlungen und durch eine allmähliche Entwicklung der Verbindung zwischen Inhalt und Gestalt, klarer und begreifbarer zu werden. Unangenehm hierbei ist nur, dass diese erleichternden kulturellen Anstrengungen heutzutage auch selbst langweilig und zu einer Last geworden sind, obwohl sie eine Erleichterung bringen sollten. Wenn nämlich alles, was ist, am Glanz dessen gemessen wird, was (prozessual erst) werden soll, ist die Realität stets auf den nackten Schein des erst kommenden Wesens degradiert. Das bereits Entstandene ist durch das noch Unerfüllte ausgewischt. Eine solche permanente Verschiebung der „Befriedigung", die ausserdem nichts wirklich Grosses und Glühendes verspricht, wird mit der Zeit lästig. Al