F/^, ^F^ ^AO^. lA ^ Ä ^ Neisecindnicte von Land und Stadt. Von Ludwig Wrnnier. Vcila^ Vl'n Hcinrick Matthes, 1862. Prci>< >V, ^>'!r. Reiseeindrückc von Land und Stadt. UzzNKnö. Neisttilldrüclc lwn ^aud uud Stadt. Von Ludwig Irumer. Verlag vo n H c > nri ^1, Vtatthe s. Hl o r r e d e. Nenn ich für meine Reiseerfahrungen in den Ostseeprovinzen das Ohr meiner deutschen tzands-leute wünsche, so ist es wahrlich nicht das selbstsüchtige Motiv, von Vielen gelesen zu werden. Ich glaube, daß seit dem Jahre 1848, das in seinem Sturm und Dränge so manche deutsche nationale Hoffnung knickte, jedes nur einigermaßen patriotische Herz alle Eitelkeit und egoistische Berücksichtigung der eigenen Persönlichkeit bei Seite gesetzt hat und stets das Wohl des geliebten Gesammtvcrlandes seinem Pnvatmteresse vorzuziehen geneigt ist. Nicht, was ich in den Ostsccprovinzen erlebte, ist so fesselnd und interessant, daß es von Vielen gelesen zu wer-den verdiente, wohl aber die Wahrheit, daß der deutsche Gcistesstrom ein, so mächtiger und gewaltiger ist, daß er das geleistet hat, was sonst nur die über unendliche Hülfsquellen gebietende Centrall- VI sation eines Großstaates vermag. Dic Potenzen des deutschen Cultur- und Geisteslebens retteten das germanische Princip in den, dem Slavismus unterworfenen Ostseeprovinzen. Kurland, Livland, Esthland . obgleich der deutsche Doppeladler bei der Un-cimgkeit zwischen dem Kaiser und den großen Lehnsträgern, zu dn sich noch die durch die Reformation hervorgerufene religiöse Zerrissenheit gesellte, ihnen feinen Schutz zu geben vermochte, und sie deshalb bei den nächsten nordischen Staaten politische Sicher-hrit suchen mußten, sind nach Geist und Herz durchaus deutsch geblieben und verdienen es deshalb, von ihren vierzig Millionen Brüdern etwas genauer und zärtlicher in'sAuge gefaßt zu werden, als bisher. Ob die Unwissenheit in Betreff der Ostscepro-vinzm in Deutschland eine so große sei, wie Kohl in seinem Werke über diese Gegenden behauptet, möchte ich bis zu dem Grade doch nicht glauben. Allerdings führt er für seine Ansicht eine Anekdote an, die von einer sehr geringen Bekanntschaft mit den Ostsceprovinzen zeugt. Zwar ist es bei der geographischen Unwissenheit der Franzosen durchaus nicht befremdlich, daß, wie Herr von Mirbach in seinen „Briefen aus und nach Kurland" den Herrn VII von Galen im Jahre 1673 aus Paris schreiben läßt, daß sie, sage ich, keine Ahnung davon hatten, wo 1a Oourianäo liege, ja. es meistentheils mit 1'Ir-lunäo verwechselten. Dergleichen wird ihnen noch heutigen Tags begegnen. Was über Königsberg hinausliegt, gehört für sie zn den hyfterborcischen Ländern, zn Scythien. Aber anch mit den geographischen Kenntnissen der deutschen Damen muß es Ulcht allzu glänzend bestellt sein, wenn anders die von Kohl erzählte Anekdote nicht ein wenig von ihm ausgeschmückt ward. Indeß gesellen seine Neisebe-schreidungen zn so vielen andern Vorzügen auch die Tugend der Wahrheitsliebe. Kohl nun berichtet, daß ihm in einer deutschen Stadt, die sich einer zahlreichen Bevölkerung erfreue und sich einer hohen Intelligenz rühme. Folgendes begegnet sei: Er ging in unmittelbarer Nähe hinter zwei Damen, die sich durch Kleidung nnd Haltung als zu den höheren Schichten der Gesellschaften gehörig darstellten. Als sie bei einer neu aufgeschlagenen Bretterbude vorüberkamen, wo irgendwelche zur Belustigung dienende Vorstellungen gegeben werden sollten, hörte Kohl, wie die eine Dame zu der andern sagtei „Hier wird man Samojeden sehen können." „Ja wohl," antwortete die andere, „auch erzählte VIII man rmr, daß em paar Finnen und Kur- und Gsth-länder dabei seien." Jedenfalls liefert diese Anekdote den Beweis, daß Kurland verhältnißmäßig noch sehr wenig gekannt ist, und daß ein eingehender Bericht darüber durchaus am Platze erscheint. Friedrich Baron de la Motte Fouqus hat das Vorwort zu dem früher so gefeierten Ritterromanc: „Der Zauberring," mit der Anrede: „An den günstigen Leser", überschrieben. Dergleichen Anreden sind heutigen Tags ganz aus der Mode gekommen. Findet der Leser in meinem Buche etwas Fesselndes und Unterhaltendes, so wird er mir günstig gesinnt sein, im entgegengesetzten Falle aber sehr verdrießlich die Zeit bedauern, die er bei einem, der Veröffentlichung unwerthen Producte verloren hat. Ich wählte für mein Buch den bescheidenen Titel: „Kurland, Neiseeindrücke für Land und Stadt". Hiermit habe ich mich zu nichts anheischig gemacht, als nach meinen Kräften und wahrheitsgemäß das zu be--richten, was mir als erzahlungswerth aufgcstohen ist. Kohl hat sich in seinem Werke: „Die deutsch-russischen Ostseeprovinzen oder Natur- und Völkerleben in Kur-, Liv- und Esthland", eine viel größere und schwierigere Aufgabe gestellt. Nebrigens weilte ich IX lange genug in Kurland, that meine Augen nach allen Seiten hin auf, las über diese Provinz jedes nur irgendwie tüchtige Werk und zog über Dinge, für die mir zuerst das Verständniß abging, bei den gebildetsten und für den bezüglichen Fall competen-testen Persönlichkeiten die genauesten Erkundigungen ein, so daß man mich bei meinen Berichten über eine der äußersten nordischen Wohnstättcn des deutschen Culturlebens wenigstens wegen Mangels an Mr und Fleiß nicht anklagen darf. Daß ich trotz des sehr liebenswürdigen Empfanges, der mir in Kurland allenthalben zu Theil ward, dennoch im Auge offen behalten habe für das, was mir dort seltsam oder tadelnswert!) zu sein schien, wird man bei unparteiischer Prüfung des von mir Mitgetheilten leicht herausfinden. Ich hatte um so weniger Grund, mich durch die Freundlichkeit und Gastlichkeit der Nordländer zu Schilderungen verleiten zu lassen, die mit zu günstigen Farben gemalt waren, als noch überall, wo ich bis jeht erschienen, die Menschen mich mit großer Zuvorkommenheit und Nachsicht empfingen. Uebrigcns hat mich die freundliche Aufnahme nirgends verwundert, weil ich wegen meiner Liebe zur Menschheit ein Recht darauf zu haben glaube. Ich fand stets das Wort Bettina's bestätigt, „daß dein, der das Herz freundlich schlagen läßt, die Herzen Anderer freundlich entgegenschlagen," Daß die Deutschen bei ihrem liebevollen Eingehen in dte Eigenthümlichkeiten einer jeden Nation vor allen den Beruf haben, die Dolmetscher der Menschheit zu sein und den verschiedenen, durch körperliche und geistige Bildung so himmelweit von einander abstechenden Nacen das Bewußtsein zu erwecken, daß sie einer großen Familie angehören, deren geineinsamer Vater der ewige Gott im Himmel, und deren Wohnplatz, woran sie Alle gleiche Berechtigung haben, dies schöne Erdenthal hienieden ist, das erkannte mit seinem scharfen Auge schon früh Goethe, der von den stillen Ufern der Ilm die Welt überschaute. Er sprach diesen Gedanken nut Mer unübertroffenen Klarheit und Einfachheit aus, die nur ihm undVesswg unter unsern vaterländischen Dichtern eigenthümlich sind, „Die Deutschen," sagt er, „tragen zur wechselseitigen Vermittelung und Anerkennung seit langer Zeit bei. Wer die deutsche Sprache versteht und studirt, befindet sich auf dem Markte, wo alle Nationen ihre Waaren anbieten, er spielt den Dolmetscher, indem er sich selbst bereichert." Wenn nun die Deutschen die Aufgabe haben. X XI und diese auch glänzend lösen, den von einander getrenntesten Völkern das Bewußtsein der Aehnlich-keit und Verwandtschaft zu erwecken, so würden sie sicher eine große Schuld ans sich laden, falls sie, das Nahe über dein Fernen aus den Augen verlierend, ihre Brüder unbeachtet lieiien, die bei der Verwirrung heimischen Haders politisch, aber nicht intellec-iuell von ihnen losgerissen wurden. Die wackern Sachsen in Siebenbürgen, die rings von slavischen und magyarischen Elementen unigeben sind, empfehle ich der dentschen Beachtung weniger, als die ^ur-, Liv- und Esthländer. Stellt doch Siebenbürgen unter österreichischer Herrschaft nnd hat das Haus Habsburg doch das nächste und gewiß nicht uber^hme Interesse, das deutsche Element von dem ftavijchen und magyarischen nicht erdrücken zu l>Mn. Auders aber verhält es sich mit den Bewohnern von Elsaß nnd Lothringen, sowie mit den Deutschen der russischen Ostseeprovinzen. Leider sind die Elsasser und Lothringer fast ganz franzosisch geworden und verdienen dechalb nicht die Theilnahme, wie die Deutschen Kur-, Üio- und Esthlands, die stets aus dem Borne germanischen Geisteslebens schöpften, obgleich ihnen der Zngang dazu weit ferner lag, als unsern früheren Brüdern und jetzigen XII rheinischen Nachbarn. Uebrigens muß man es der russischen Regierung zum Ruhme nachsagen, daß sie die deutsche Sprache in den Ostseeprovinzen weit mehr geachtet hat. wie es die französische in Msaß und Lothringen that. Daher kommt es, daß in den letztgenannten Ländern die Meisten gut französisch und schlecht oder gar nicht deutsch sprechen. Indeß ließe sich auch dort für die deutsche Sprache der Bo-den zurückerobern. Im Allgemeinen sind Kur-, Liv- und Esthland weit weniger russificirt, als Elsaß und Lothringen französirt. Und deshalb war es mir so erquickend, in den deutsch-russischen Ostseeprovinzen zu reisen, weil mich allenthalben die Luft der Heimath umwehte, werl mich überall die lieben, trauten Laute der deutschen Sprache umtönten, schön und rein, wenngleich etwas hart gesprochen. Wie aller Orten die Frauen, wo die Civilisation die höheren Stufen erstiegen hat und die Barbarei glücklich besiegt ist, entschieden auf die Physiognomie eines Landes einwirken, so sichern auch die Damen der Ostseeprovinzen mit ihrem edlen weiblichen Wesen, der durchaus deutschen Art zu empfinden und sich darzustellen, ihrem tiefen Verständnisse und ihrer glühenden Begeisterung für die Schönheiten einer Literatur, deren XIII Primat das Dioskurenpaar, Goethe und Schiller, stets aufrecht erhalten wird, ich sage, die echt deutschen Damen der Ostseeprovinzen, vor denen ich in verehrender Rückerinncrung das Haupt neige, sichern jenen Landen noch lange den deutschen Stempel. Sie werden nicht leiden, daß Kur-, Liv- und Esthland sich auch der Titte und dem Geiste nach loslösen von dem herrlichen Deutschland, welches immer das Scepter der Intelligenz führen wird, mag es auch wegen mangelnden staatlichen Mittelpunktes fremde Reiche politisch nicht beeinflussen können. Gewiß würde es jedem Deutschen, wenn er läiv Me Zeit in Kurland verweilte, ebenso heimathsüh zu Muthe werden, wie mir, trotz des siebmmonat-lichen dortigen Winters, trotz der lettischen Grund-bevölkcrung. trotz der russischen Werstpfahle, trop der entsetzlichen Gänse-, Kohl-, Fisch-. Schweinefleisch-und anderer furchtbaren Suppen, die Dante als ärgste Strafe in seiner Holle die Verdammten würde haben hinabschlucken lassen, wäre ihm in seinem orangeduftenden Vaterlandc je eine Ahnung von so consisten-ten Speisen geworden, und hätte je sein Gaumen sich zu so unästhetischen Gerichten bequemen müssen. Nenn nun auch für den Körper, wenigstens nach weinen culmarischen Principien, ziemlich schlecht in XIV Kurland ssesorgt ist, so findet doch dafür der Geist und das Gemüth desto süßere Erauickungen. Ich bui dort in beiden Geschlechtern, sowohl bei Männern wie Frauen, so hervorragenden Erscheinungen begegnet, daß sie mir sür die ganze übrige Zeit meines Lebens zur Nachciferung dienen werden. Vor allen schwebt eine hohe, edle Flauengestalt mit aschblondem Haar und einem ganzen Himmel in den Augen vor meinem geistigen Blicke, der ich mit jener Andacht die schmale, weiße Hand küsse, wie fromme Italiener und Spanier die Statuen des heiligen Petrus und Paulus oder die Bilder der hochheiligen Iungsrau. In meiner Brust wird es ein milder Frühling, wenn ich an all' die Tugend, Bescheidenheit, Sittsamkeit, holde Natürlichkeit. Gastlichkeit, Wohlthätigkeit denke, die ich in jenen Provinzen antraf. Es würde mir eine süße Genugthuung sein, wenn meine Schilderungen aus dein Norden dazu beitrügen, daß die Blicke Deutschlands sich mit thcil-nahmvollcr Aufmerksamkeit auf jene Gegenden richteten, wo so viele Tausende treuer und herziger Menschen wohnen, die Fleisch oon unserm Fleische und Blut von unserm Blute sind. Dresden, im Mai 1862. Der Verfasser. Inhalt. Am russischen Schlagbaume.......... 1 PolanM,................ 6 D'e Polangeucr Conditorei.......... 11 Vm, PowngM nach Libau.......... 16 Meine Einfahrt in Abau. Ein Gasthüf ohne Kellner . . 30 Das seltsame wrische „Pfui"......... 36 ^etcnnadcn eines Halbvcrhunsscrtcn....... 42 Mein Besuch m der Üibauer „Muße"........ 49 Ich bckmninc zu essen............ 52 Morgeiicrlednissc , . ........... 54 Die Seestadt Libau............. 61 Der Telsscner Park............. 80 Der Strand von Libau........... 89 Dle Libamr Vadesaison von 1856........ 93 Ein Echönheitsstreit............114 Die Engländer vor Libau........... 120 Ob Vcnuspriesterin? ob Bürgertochtcr? oder: Harry der Kühne................ 126 Die kurische Damenwelt........... 135 Der klmschc Adel.......... .... 152 Der lurischs öitl>mtenstaud......' . . . , 179 Ueber das V00S des kurischcn Bauern....... 186 XVI Seile Die kurische Ki'M.............190 Zwcikämftfe eines kunschen Pfarrers mit seiner Ehehälfte. 200 In Kurland ehrt man den Oberrock......< 209 Eine Präsentation kunschcr Freiwilligen beim Czaren Niko- lans 1................214 Eine Lebensstizze des Generals Todleben......224 Der General Todlebcn in Mitau........226 Proben kurischcr Tapferkeit........., . 229 Die Ohrfeiste des Consuls Hagedorn.......244 Kaiser Alerander II. in Mitau.........249 Der Graf Moritz von Sachsen als erwählter Herzog von Kurland...............274 Am russischen Schlagbanme. Als ich an der Grenze bei Polangen des ruffischen Doppeladlers ansichtig ward und mir die deutsche Zerrissenheit vergegenwärtigte, beschlich mich ein unendlich wehmüthiges Gefühl. Doch ich tröstete mich mit der Hoffnung, daß in der Stunde der Gefahr, wenn es sich run die Nationalität handele, von Memel bis zu Trieft Deutschland wie ein einziger geharnischter Ritter dastehen werde. Mir fielen die Verse des Tnchters bei, der von der ^iche, mit welcher er Deutschland vergleicht, behauptet, es würden, wenn der Sturm über sie dahinrausche, ihre Zweige sich eng an einander drängen nnd zärtliche Brndergrüße gegenseitig austauschen. ,,Dl'ch, wmn dio Windo d'n'chcr rauschen. So m'Mn mit Gcftüstcv Die Zwcig omcmdor zu und tauschen Noch Grüsio als Gosckwifm," So trug ick denn den Volten, die uaä)Deutschland jagten, noch zärtliche Botschaft/uif an die vielen dort weilenden theuren Personen, die ich mit heißer Inbrunst umfange, n.id stieg dann schnell in den l 2 Wagen, aus dem ich herausgedrungen war, um kurz vor dein russischen Schlagbaume noch einmal die deutsche Heimatherdc zu berühren. Kuvz vor de>n ruffischen Grenzpfahle befindet sich ein preußisches Zollhaus, wo man mir meinen Paß abforderte. Der Veamte warf einen Blick hinein, schien nicht ganz befriedigt und bemerkte, wenngleich äußerlich mit sehr höflicher Haltung, doch mit tadelndem und, wie es mich bedünken wollte, unpassendem Tone. daß der Paß in Meiuel nicht visirt worden sei. Ich mußte bei diesem Manne in straffer, militärischer Haltung und, wie es mir vorkam, mit bureaukratischem Hochmuthe im Gesichte an Heine denken, der sich am lithein über dicpreufuscheuGrenz-bcamten ärgerte, und sie in seiner koboldhaften, neckischen Weise mit sehr wihigen/aber auch sehr stacheligen Versen züchtigte. Bei meinem nichts weniger als demüthigen Charakter erschöpfte ich mich keineswegs in Entschuldigungen. Auf die Ve« merkung, daß mein Paß in Meinel hätte visirt werden müssen, antwortete ich einfach i Man sagte nur es sei nicht durchaus nothwendig, und betrachtete dann mit philosophischer Nnlie den Men^pfahl. Zu dieser innerlich unerrcgten Betrachtung des russischen Doppeladlers kam ich erst ans künstlichem Wege, nämlich auf dem der histmischen Reminiscenz. Ich vergegenwärtigte nur nämlich Karl I. von England, der mit vollkommenster Nuhe das haarscharfe Beil prüfte, das ihm den Hlopf vom Rumpfe trennen sollte, und ich sagt» mir, daß ein hölzerner Grenzpfahl nut einem schlechtgemalten Naubthiere, hinter dem mir höchstens einige Plackereien bevorständen, doch schicklicher Weise mir kein Herzpochen verursachen dürfe. So bewältigte ich denn glücklich jedes bängliche Gefühl. Ich hatte übrigens sehr lange Zeit, mir den russischen Doppeladler anzuschauen, da der preußische Beamte ins Hans gegangen war und erst nach zehn Minnten mit dem darauf gedruckten M Wm zurückkehrte. Bei meiner mir zum Bedürfniß gewordenen Höflichkeit richtete ich jetzt einige Worte an den Beamten und fragte ihn, ob die rnssische Visitation (anf deutsch Beschnüffelnng) gleich hinter dem Grenzpsahlc in dem unscheinbaren Hause, das ich vor mir sähe. in Kollzug geseht werde. Er ant wortcte mir, daß ich dort allerdings meinen Paß abgeben müsse, daß aber die eigentliche Visitation "st in Polangen, das .jenseits 'des Waldes liegc, den ich von hier aus sehen könne, Statt haben werde, und daß ein Soldat, der meine Papure den dortigen Beamten zur näheren Prüfung zu überreichen habe, mir zur Begleitung würde mitgegeben werden. Ich schwenkte höflich meine Mütze, er verneigte sich artig, und diese Unterhaltung von wenigen Minuten hatte mein sehr zur Versöhnung ge-neigtcs Gemüth die bureautratischen, mich so unangenehm berührenden Worte schnell vergessen lasftn, die er im Anfange unserer Bekanntschaft 3 gesprochen hatte: „Aber Ihr Paß ist in Memel nicht visirt worden." So hielt ich denn jetzt am russischen Schlagbaume, den mir ein nicht mehr junger, wcttcrge-bräunter Soldat aufmachte. Der Wagen fuhr vor ein kleines, unscheinbar aussehendes Haus, wo ich einer heraustretenden Person, — ich glaube, es war ein niederer Beamter — schweigend meinen Paß überreichte. Er ging hinein und ließ mich eine geraume Zeit warten, bevor etwas über seine gnädigen Entschließungen verlautete. Indeß verharrte ich in der größten Gemüthsruhc, da mein Paß in bester Ordnung war, und ich mir vor dem Betreten des russischen Reiches die kleinen Unannehmlichkeiten nicht verhehlt hatte, die nur bei der Berührung mit mißtrauischen Beamten erwachsen konnten. Uebrigens hatte das Antichambriren im Freien doch immer sein Lästiges, wenngleich ich im bequemen, warmen Wagen saß. Natürlich trug meine unbehagliche Stimmung wesentlich dazu bei, mich in der Ueberzeugung von der Ueberflüssigkeit aller Pässe zu bestärken. Wegen der überaus tramigen Natur zog ich mich in mein Inneres zurück und würde wohl m einigen Versen das lästige Pahwesen verspottet haben, wenn mir nicht eingefallen wäre, daß Prich dies schon in sehr gelungener Weise vor mir zuthun die Gefälligkeit hatte, in jenen Gedichten nämlich, die er in der Schweiz erscheinen lassen mußte, weil 4 die freie Presse damals in Deutschland noch keine gesicherte Heimath besaß, sondern dem edlen Hoch-wilde glich, aus welches die Herren des Mittelalters so leidenschaftlich Jagd zu machen Pflegen. Zur Bestrafung für diese durchaus unpassenden Reflexionen über eine Negierungsmaßrcgel, die sich dem „beschränkten Unterthancnverstande" entzieht, erschien jetzt ein Soldat, wie es mich bedünten wollte, mit geladenem Gewehr und mit einer ledernen Tasche um den ^eib, in welcher sich wahrscheinlich mein Paß besand. Ohne weitere Einladung schwang er sich aus den Bock; der Postillon, der dies Manöver aus häusiger Erfahrung wahrschein-lich sehr gut verstand, erblickte hierin das Zeichen zur Abfahrt und fortsaustcn wn in den grünen Tan« nenwald hinein. übrigens, um nicht ungerecht gegen Nußland zu sein, muß ich hier die Bemerkung einschalten, daß die französische Polizei, die bei artigen Formen seit iclicr etwas überaus Einmischendes und Bevormundendes hatte, unter der Regierung ^onis Napoleons das gehässige Umherspionircn des ersten Kaiserreichs nut wenig beneidenswerther Treue nachahmt und du russischen Ebirren in Bezug ans ver,atorische Maßnahmen weit hinter sich läßt'. Einmal über die russische Grenze hinüber, schwanden meine unbehaglichen Empfindungen. War ich mir doch keines Unrechts gegen Nußland bewußt; betrat ich doch dessen Boden mit der red- 5 6 lichen Absicht, unbefangenen Auges die dortigen Zustände, ebenso fern von Haß wie von Voreingenommenheit, zu prüfen und sie meinen deutschen Landsleuten in reinster Objectivität darzustellen, ohne diese durch meine subjective Vorliebe für Demokratie oder Absolutismus zu beeinträchtigen. P o l ll n n e n. Nach kurzer Fahrt im Wald kam ich in Polan-gen an, das man wohl kaum einen Flecken, sondern nur ein großes Dorf nennen kann. Das einzig Merkwürdige, was von Polangen zu sagen sein möchte, ist das Gefecht, welches hier im Jahre 1831 bei dem letzten polnischen Ausstände stattfand. Sonst ward Kurland durch die große polnische Revolution von 18Z0 auf keine Weise beunruhigt. Ferner ist von Polangeu noch zu bemerken, daß die Geogra« phen es verschiedenen Gouvernements zuweisen. So erwähnt Verghaus es als einen kurländischen Flecken an der Ostsee, mit einer Kirche der NMolnikcn, während Ritter (nicht der große Karl, sondern der kleine Benjamin) Polangen eine Stadt im Gouvernement Wilna sein läßt. Es soll in Polangen von Juden wimmeln, die gleich über den Reisenden mit Zudringlichkeit herfallen und ihm ihre Waaren und Dienste anbieten. Zum Glück entging ich diesen stets geschäftigen Enkeln Abraham's, da gerade Sonnabend war, und sie diesen ihren Sabbath in Nußland, wo sie noch orthodoxer, als sonst irgendwo, sind, niemals durch Handel entweihen. Das der Krone in Polangen gehörige Gebäude, wo die Neiseeffectcn durchsucht werden, war, so viel ich mich besinne, ziemlich groß und sali ganz anständig von außen aus. Aor der Thür befanden sich viele niedere Beamten, die alle heiter plauderten, und deren Physiognomie einen sehr vergnügten Ausdruck zeigte. Ich hatte mir bis dahin eingebildet, daß die russischen nicht vornehmen Leute, weil alle von der Knute bedroht, nie ganz sorglos sich der süßen Gewohnheit des Daseins erfreuen tonnten. Nebrigcns waren die Leute erstaunlich höflich und schoben nur einen Stuhl in die Sonne, auf dem sie mich einluden, Platz zu nehmen, bis man mich nach oben rufen werde. Unter den niedern Beamten hörte ich keinen einzigen deutschen Laut; es schienen sämmtlich Nüssen zu sein. Indeß giebt es auch Deutsche, die bei dem Polangcnschcn Grenzamte angestellt sind: so ist der Polizeimeister des Fleckens ein Knr< ländcr; er heißt, wenn ich nicht irre, Varon Vehr. Um es hier gleich vorwegzunehmen, weil ich es sonst vergessen könnte, so war mein Erstaunen nicht ge-rmg, auf meinem Passe, der natürlich in Polangen visirt ward, einen adeligen Namen aus einer guten irländischen Familie als „Polizcimeister-Gehülfe" verzeichnet zu finden. Man hat sich an den Gedan- 7 8 ken gewöhnt, daß die Polizei, die doch immer etwas Vezatorisches und mindestens etwas Unliebenswürdiges an sich hat. wenigstens für die untern Posten nur solche Menschen bekommen könne, di< wegen Beschränktheit der materiellen Mittel oder wegen niederer Geburt in der Wahl ihrer Lebensstellung nicht allzu peinlich sein dürfen. Dieser mich befremdende Umstand ward mir später dadurch erklärt, daß jener Polizeimeister-Geliülfe einerverarmten adeligen Familie angehöre. Doch jetzt ladet mich ein Beamter höflich ein — natürlich durch Pantomime, da er nicht deutsch, und ich nicht russisch verstand — in das erste Stockwerk hinaufzusteigen, um bei der Eröffnung des Gepäcks zugegen zu sein. Ich willfahre natürlich mit freundlicher Miene seiner unabweislichcn Aufforderung und befinde mich, als ich, oben angelangt, rechts durch eine Flügelthür trete, einem Heere von untern Beamten gegenüber, die meinen Koffer und Reise-sack öffnen, aber dabei mit ausgezeichneter Höflichkeit verfahren, so daß die Gerechtigkeit mich zwingt, ihnen in der Nückcrinneruug das reichste Lob zu spenden. Ich theile keineswegs den Fehler, in den viele Reisende verfallen, individuelle Fälle zu gene-ralisiren, nämlich behaupten zu wollen, daß, weil mich die russischen Beamten mit der größten Artigkeit behandelten, dies bei allen Ucbrigcn auch der Fall sein müsse. An die russischen Zollbeamten sind übrigens. wie ich später aus zuverlässiger Quelle erfuhr, aus St. Petersburg die eindringlichsten Ermahnungen oder vielmehr strengsten Einschärfungen wiederholt ergangen, gegen das reisende Publikum sehr aufmerksam und zuvorkommend zu sein, auch nur in die Koffer der Kaufleute ein besonders prüfendes Auge zu werfen, ohne natürlich sich der Vexation ichuldig zu machen. Was mich während derDurch-!uchung meines Gepäcks betras, so war ich in vollkommenster Gemüthsruhe, die immer das Bewußtsein eines reinen Gewissens gewährt. Ich betrat Rutland's Boden ohne alle Voreingenommenheit, allerdings mit glühender Liebe für Freiheit, aber deshalb Uni so mehr geneigt, einem Volke mein zärtlichstes Mitleid zu schenken, dessen Frühstück und Abendbrod, wie die Mehrzahl Europa's sich fälschlich vorstellt, die Knute ist. In meinem Koffer, den man nur oberflächlich untersuchte, fand sich nichts Steuerbares. Ich war übrigens gegen die Ahndung des Gesetzes geschützt, wdem ich die Vorsicht gebraucht hatte, die ich stets beim Vetreteu eines fremden Landes beobachte, daß lch auf die Anfrage, ob ich irgend etwas zu Verzollendes bei mir führe, die Antwort gab, wie ich mit dm einzelnen Paragraphen des Douanenreglements nicht vertraut sei, wie meines Wissens sich unter meinen Sachen nichts zu Versteuerndes befinde, daß ich indeß meinen Koffer nicht selber gepackt habe, mithin keine Verantwortung übernehmen könne 9 10 und deßhalb bitt», sick durch einen genauen Angen-schein über die Beschaffenheit desselben vergewissern zu wollen. Nie gesagt, die Prüfung war eine sehr oberflächliche, und für mehrere Flaschen Kölnisches Wasser verlangte man nur gar keine Steuer ab. Einige Licblingsbücher, die ich mit mir genommen hatte, um sie auf dem Lande zu lesen, hätte ich bequem bei nur behalten können, ohne sie der Censur-behördc in Niga übersenden zu lassen. Doch da ich nie ein Land betrete, bevor ich mich über seine Gesetze, wenigstens ibrem Hauptinhalte nach, unterrichtet habe, so sagte ich, als niedere Beamte mir die Bücher in den Koffer zurücklegen wollten, daß dieselben nach Niga zn schicken seien, und ich sie, mir dort würde abfordern lassen. Es wäre mir unmöglich gewesen, em entgegengesetztes Benehmen zu beobachten. Etwas Anderes ist es, offen für die Segnungen einer freien Presst zu streiten, etwas Anderes. Bücher in einen Staat hineinzuschmuggeln, der sich dnrch seine Gesetzgebung das Recht vorbehalten hat. jedes geistige Erzeugnis;, ehe es in den Strom des Verkehrs sonnnt. zuvor prüfen zu lassen. Bei meinem Frcimuthe machte ich indeß während meiner nordischen Neise niemals Hehl aus meinen Gesinnnngen, sondern sprach gegen Jeden, bei irgend sich darbietender Gelegenheit, meine Ueberzeugung dahm aus, wie eine von den Fesseln der Censar erlöste Presse für Rußland mit seiner loyalen und zum KnNcisnms nicht geneigten Be- 11 völkerung viel weniger Bedenkliches habe, als für manches andere Land Vuropa's. Die sehr höflich gethane Frage, ob ich viel Gcld bei mir führe, der Wahrheit gemäß beantwortend, stieg ich, nachdem ich den Beamten eine artige Verbeugung gemacht und den niedern Angestellten sehr reichliche Douceurs für ihre manierliche Behandlung meiner Neiseeffecten auf zarte Weise hatte in die Hand gleiten lassen, die Treppe hinnnter und gab den Auftrag, mir meine Sachen nach einer gegenüber liegenden Conditorei zu bringen, die man mir in Mcmel empfohlen hatte. Dic PolaiMner Couditorei. Pulangen erfreut sich keines Straßenpsiasters, wohl aber eines gründlichen Schmutzes. Weil ich große Sehnsucht nach dem Thee in der Conditorci hatte, so patschte ich heldenkühn durch den dicksten Koth, in den ich llafterticf versank. Mir siel hierbei der Marschcill Davoust ein, der einst auf einem Nittc durch eine elende polnische Stadt bis über die Kniee mit fingerdickem Kothe eingespritzt wurde. Beim Absteigen von seinem Pferde, als er sich vermittelst seiner Reitpeitsche von diesem, unterdeß hart gewordenen und sich eigensinnig anklammernden Kothe zu befreien suchte, brach er mit verächtlichen: 12 Zucken der Nascnnüstern gegen seine Adjutanten in die Nortc aus: „Da sehen Sie, meine Herren, was diese polnische Canaille ihr Vaterland zu betiteln wagt!" Heine hat sich in seinem Romanzero über die armen Polen, die, wie alle Unglücklichen, wenn sie Schaden erlitten, für Spott nicht zu sorgen brauchen, noch viel herabwürdigender ausgedrückt. In der Konditorei traf ich die Besitzerin des Ladens in einem Hinterzimmer beim Kuchenbackcn beschäftigt. Sie sah sehr reinlich, behäbig und gutmüthig aus. Bei einer längeren Unterhaltung fiel mir ihr zwangloser Frohsinn und die Heiterkeit auf, die über ihr ganzes Gesicht gebreitet waren. Ich befand mich nämlich noch in der von Deutschland mit hinüdergmommencn Voraussetzung, daß man in Nußland, dieser Heimath der Leibeigenschaft, nicht so aus vollem Herzen glücklich und fröhlich sein könne. Als ich sie bat, mir Thee zu bereiten, ließ ich die bei meinem sonstigen Wanderungen in Europa stets folgenden Worte i Aber ja recht guten! fort, da ich wußte, wie Nußland in geschickter Bereitung dieses meines Lieblingsgetrünkes mit England und Hamburg wetteifern t'ann. Da Polangen nichts Schcns-wetthes darbietet, so wünschte ich, schnell weiter zu reisen, und benutzte, um mir Extrapost zu bestellen, einen alten Italiener, von dcm man mir schon in Memel gesprochen, und den man mir, als zur Besorgung von Aufträgen sehr geschickt, warm em- 13 ftfohlcn hatte. Dieser alte Italiener, mit schneeweißem Haar, aber noch südlich glänzendem Feuer in den Augen, war ein ziemlich wohlhabender Con-diwr in der Warschauer Vorstadt Praaa gewesen, hatte aber, als diese von den Nüssen unter Paske-witsch gestürmt wurde, alle seine Habe verloren und War jcjzt durch des Schicksals seltsame Fügung nach Polangm verschlagen, wo er seinen bescheidenen Lcbensansplüchen ausreichend mit den Trinkgeldern genügt, welche ihm die Reisenden sür die von ihm besorgten Aufträge zufließen lassen. Der gute Eindruck, den der weißhäuptige und rothwangige alte Italiener auf mich hervorgebracht hatte, ward noch durch die Erzählung eiucs kaiserlichen Stallmeisters erhöht, mit dem ich auf einem Gute in Kurland zusammentraf, wo er mit achtzig, für den Petersburger Marstall bestimmten Wagenpferden für eine Nacht Quartier genommen hatte. Der kaiserliche Stallmeister hatte auch die Bekanntschaft des alten Italicners in Polangcn gemacht und lobte ihn nicht minder, als ich. Äei ihrer Unterhaltung hatte es sich herausgestellt, daß der Stallmeister bei dem Schwiegersohn des alten Italieners, einem Damen-schuhmacher in St. Petersburg, für seine Frau und Tochter arbeiten ließ. Nun war dein Stallmeister von dem alten Italiener eine für seine Verhältnisse bedeutende Summe Geldes eingehändigt worden, mit dem Ersuchen, dafür seinen kleinen Petersburger Enkeln und Enkelinnen Geschenke kaufen ;u wollen. 14 Der Stallmeister, der einen sehr menschenfreundlichen Charakter zu haben schien, hatte dies bereitwillig zugesagt. Mich rührte es unendlich, daß dieser silberhaarige Greis, der mit Mühe sich seinen Lebensunterhalt erwarb, vielleicht für längere Zeit auf Kaffee, oder sonstige kleine, besonders dem Alter erquickliche Annehmlichkeiten verzichtete, um fernen Enkelkindern, die er vielleicht nie in seine Arme schließen sollte, eine Freude zu bereiten. Mir siel dabei ein, wie die Liebe der Großältcrn und Aeltern zu ihren Descendenten so unvergleichlich inniger und opferbereiter ist, als umgekehrt. In kürzester Zeit hielt die, von dem alten Italiener bestellte Post vor der Thür. Nach herzlichem Abschiede von der wackern Conditorfrau bestieg ich meinen Wagen, dessen Aeußeres nichts Einladendes hatte; auch versprachen die davorgespannten kleinen Pferde keine windschnellen Leistungen. Indeß hatte das liebe, zutrauliche Wesen der wackern Conditor-frau und des alten Italieners mein Inneres so angenehm gestimmt, daß ich ganz über die Unbequemlichkeiten und Strapazen hinwegsah, die mir in drohender Nähe und für längere Zeit bevorzustehen schienen. Von Polangcn nach Mau. Der mir von der Postanstalt gelieferte Wagen wies dem Luxus von Springftdcrn, gepolsterten 15 Vänken und anderen, sin die Behaglichkeit dcr Rei-senden erdachten Annehmlichkeiten mit verächtlicher Naturwüchsigkeit den Nucken. Es war ein hölzerner, viereckiger Naum, den man auf Näder gestellt, und wo man für mich einen Sitz in der Art zurecht gemacht hatte, daß über meinen Koffer eine ziemlich dünne Schichte von Stroh gebreitet war. Ich muß hier gleich meine Dummheit erwähnen, daß ich mir die^n, auf die Länge unerträglich werdenden Sitz gefallen ließ, statt den Auftrag zu geben, daß man wir ein weiches Lager von hochaufgcschichtetem Stroh bereite, und den po^erior«, meines lettischen Kutschers, die ohne Zweifel nicht so wcichhäutig wie die meiuigen waren, den Koffer zuzuschieben. Ich kann meinen Wagen an Unbequemlichkeit nm mit denjenigen vergleichen, die der armen George Sand solche Angstseufzer auspreßten, als sie während ihres Winteraufenthaltes auf Majorka bei ihren Reisen durch die Iusel die, jmcm Lande eigenthümlichen Fuhrwerke benutzen mußte. Sie bemerkt von diesen Fuhrwerken ungefähr ähnliche schreckliche Dinge, w" ich an meinem abscheulichen Wagen entdeckte, Vor Allem, daß sie auch ,^ncunO l^öc^ ä^ic^oi t" an sich trugen. Ferner hatte sie noch das Unglück, daß die Wege auf der Insel die abscheulichsten waren, während die Landstraßen Kurlands fast uichts zu wünschen übrig lassen; überdies fluchten ihre Kuychcr, als ob sie aus Schweden wären, in welchem Reiche, wie Mügge versichert, die ^erwünschnngen 16 mit unglaublicher Virtuosität von den Lippen fließen. Was meine lettischen Rosselenker anlangt, so schienen sie von der rührendsten Sanftmuth zu sein. Einem fluchenden, unchristlich sich geberdenden Kutscher hätte ich durch den gezwungenen Sitz auf meinem Koffer sicher die Hölle ans (irden bereitet. Aber. da die lettischen Postjungen mir keine Veranlassung zu einem berechtigten Unwillen darboten, so duldete ich noch länger die unbarmherzigen Stöße meines Koffers. Ucberhaupt gestattet mir meine vielleicht übertriebene Zärtlichkeit für die niedere Volksklasse, mit der ich ein besonderes Mitleid fühle, weil sie für geringen Lohn oft die größten Mühseligkeiten erdulden und dabei noch manche Nnbilligkeiten ertragen muß, niemals eine besondere Berücksichtigung meiner Individualität. Indeß hatte ich den, dem äußern Anscheine nach kraftlosen Pferden Unrecht gethan; sie eilten windschnell dahm, so daß ich auf meinem unbequemen, harten Koffer, von dem ich hoch in die Luft flog, um mit innerlichem Nehrufe wieder auf ihn zurückzufallen, cft wünschte, es möge weniger dahingc-braust werden, damit mir diese furchtbaren Stöße erspart würden. Mit dem Kutscher versuchte ich sogleich nach meiner Gewohnheit eine Unterhaltung anzuknüpfen, da man von den eigenthümlichen Sitten und der Anschauungsweise des Volks nur durch den Verkehr mit demselben unterrichtet wird. Die vornehmen Classen sind fast in allen Ländern 17 sich nicht nur ähnlich, sondern fast gleich. Da ick, von memem Kutscher keine Antwort erhielt, so merkte ich, daß er ein Üette sei/und ich mußte zu meinem lebhaften Bedauern die Unterhaltung mit dem blonden, rothbäckigen Burschen aufgeben. Die Kruge, an welchen er anhielt, und wo icl, abstieg, weniger, um zu essen, als um mich von dem Zustande des Innern zu überzeugen, ließen an Ncinlickknt nichts zu wünschen übrig. Wenn ich mich auf dem meist vorhandenen, aber freilich nicht uon einem Pariser oder Berliner Tapezierer gepolsterten Sopha ausgestreckt hatte, ließ ich die Wirthin zu mir hereinrufen, d" diese fast immer entweder eine Deutsche war, "der doch deutsch verstand, mir mithin, wenn ich mich über örtliche Verhältnisse unterrichten wollte, die gewünschten Anfschlüsse zu geben vermochte. Die Wirthinnen waren meist wohlgemuth und batten über Plackereien der Beamten nicht zu klagen. Fast allen war etwas Herzliches und Zutrauliches "gcnthümlich. und sie kränkten mich nicht durch kriechendes Betragen, vor dem ich mich in Nußland bei der niedern Volksclasse so sehr gefürchtet hatte. Auch meine Besorgnih, daß die Bauern und andere geringen Leute aiif der Landstraße immerfort die Mütze ziehen würden, erwies sich zu meiner Freude als ungegründct. Man verneigte sich hier und da. "ber selten. Mir war dieses (5ntferntsein von Knechtssinn um so wohlthuender, als man nuch auf mehreren Gütern, wo ich Besuche machte und 2 18 Bekanntschaften erneuerte, bei meiner Ankunft, so lange ich im Wagen saß, für einen russischen Officier gehalten hatte. Ich war nämlich in einen Mantel von dem bekannten russisch-grauen Tuche mit Pelzkragen eingehüllt und hatte eine leichte Mütze auf dem Kopfe. Man ersieht aus diesem Beispiele, daß die geringen Leute in Kurland nicht bloß vor den höheren Ständen keine knechtische Furcht haben, sondern nicht einmal vor den russischen Officieren, von denen ich nur immer vorgestellt hatte, daß sie um die Ohren der Bauern stets die Reitpeitsche sausen ließen oder ihnen Fußtritte versetzten. Denn mögen mich nun die Bauern für einen Osficier gehalten haben oder nicht, so fand ich doch. da ich während meines Neisens in Nußland mit Militär viel verkehrt habe und oft an der Seite von unifor-mirten Menschen über die Straße fuhr, hinreichende Gelegenheit zu der Beobachtung, daß der Nock des Kaisers ebensowenig, wie ich, gegrüßt werde. Bei dieser meiner Behauptung von dem nicht-knechtischen Sinne der kurischen niedern Bolköklassen könnte ein Kritiker eine anscheinende Achillesferse an dem Wahr< heitskörper meines Reiseberichts auffinden und nur mit Ironie zurufen i „Aber vergißt Du absichtlich oder nm in Folge eines Gedächtnißfehlers, daß die kurländischc niedere Bevölkerung, sowohl Männer wie Frauen, den höheren Ständen die Hand, den Arm, das Kleid küssen?" Ich antworte darauf, daß es keineswegs in meiner Absicht lag, diesen Umstand 19 zu übergehen, daß ich davon weiter unten ausführlich sprechen und ans tiefster Ueberzeugung, nach wiederholter Ueberlegung. die Behauptung aufstellen werde, diese Höflichkeitsformel sei bei den Letten nichts anderes, als bei uns das Hutabneh-men von Seiten der Männer und der Knicks von Seiten der Frauen. Niemand konnte von diesem Handküssen beim ersten Male unangenehmer, ja schmerzlicher berührt werden, als ich; doch, nachdem ich mich überzeugt hatte, daft diese Höflichkeitsformel keineswegs von Wesen ausgehe, mit denen Ueber-nmth und Rohheit machen tonne, was ihnen beliebe, seitdem duldete ich diese Artigkeit mit derselben Gemüthsruhe, wie ich den Bedienten in Deutschlc nd das Hutabnehmcn gestatte. Die großen Tannenwälder, durch die,ich fuhr, gaben mir die Gewißheit, daß die Klage über Holz« mangel, der sich in manchen Gegenden Kuropa's icht bedenklich hören läßt, woran theilweise eine unverantwortliche Furstcultur Schuld ist, in Kurland für's(5rste noch nichtwn'd vernommen werden, und daß die Einwohner bei ihren langen und strengen Wintern sich dort gemüthlich-warme Zimmer zu schaffen in, Stande sind. Die (Einförmigkeit der Wege wird durch Werstpfähle unterbrochen, die sich siebenmal während einer Meile wiederholen. Ich Würde mich nicht vermessen, genau die Höhe der Werstpfähle anzugeben, da das bloße Augenmaß ^icht täuscht, wenn nicht der englische Secofficier, ' 2» 20 Alfred Noyer, der bekanntlich auf der Fregatte Thetis bei Odessa strandete, und dessen Beschreibung seiner Gefangenschaft in Nußland, wo man ilm überaus zart behandelte, wahrscheinlich viele Leser fand, da sie mit einer, für einen Nicht-Schriftsteller ungewöhnlichen Gewandtheit abgefaßt ist, wenn nicht dieser Sohn Albions, der, wie seine übrigen Landsleute, gewissenhaft und genau in seinen Neise-angaben sein wird, von säst zwanzig Fuß spräche, die sich diese Wegweiser über den Erdboden erheben. Nach meinem unstchern Augenmaße angegeben, würde ich nur von zwölf bis fünfzehn Fuß gesprochen haben. Sie sind deshalb so hoch gemacht, damit sie im Winter, wenn die Wege verschneiet sind, zum Nompasse werden, der sicher durch dieses weiße Meer hindurchleitet. Man kann nämlich mit bloßem Auge von einem Werstfpahl zum andern sehen. Dieser Satz erleidet natürlich die Einschränkung, daß die beabsichtigte Wirkung nur dann erreicht wird, wenn die Landstraße keine allzugroßen Biegungen macht. Die Werstpfähle sind schwarzroth-weiß angestrichen, und oben an ihrer Spitze ist auf ieiner Platte die Entfernung von der letzten Station und die bis zur nächsten angeschrieben. Ich darf hier nicht vergessen, zu bemerken, daß der englische Ofsicier, bei sonstiger sehr günstiger Beurtheilung Nußlands, nicht in die Behauptung miteinstimmt, die gewöhnlich aufgestellt wird, daß man im Reiche des Czaren — das Dampfroß natürlich 21 abgerechnet — unter allen europäischen Ländern am schnellsten reise. Ich meinerseits habe gogen diese geltende Ansicht keine Einwendungen zu machen. Allerdings din ich, wie Leutnant Noyer, nie schneller als zwei Meilen die Stunde, gewöhnlich aber nur anderthalb, gefahren; aber dies war meine Schuld. Denn da ich ziemlich weichlich bin und Strapazen nicht gut vertragen kann, so hemmte ich stets durch Geberden — mcuie deutschen Laute verstanden die blondköpfigcn Letten nicht — das Antreiben meiner Rosselenker. Man hat mn'wicderholemliäi in Nuß» land versichert, daß man, mit der Post sahrend, nie "lehr als zwanzig Minuten die Meile gebrauche, wofern natürlich die Wege eben und gut snen. Ob d^,e Behauptung nicht etwas bei dcr Wahrheit vor» bnspaziere, hatte ich nicht Gelegenheit zu untersuchen, da ich hierin eine Ucberanstrengung der Mrde fand. Denn, wennschon ich keinem Vereine stt^ ^eMälerei angehöre, so gestattet mir mein Gchchl doch nicht, Wesen, die Schmerz gleich uns empfinden, und von denen viele mcht einfältige Naturforscher behaupteten und noch behaupten. w,r mlocten nur die erste Classe derselben, und seien wohl dem Grade, aber nicht der Art nach von ihnen verschieden, wie gesagt, mein Gefühl erlaubt mir lucht. Wesen, die körperlichen Schmerz gleich nns ^npfinden, zu meinen Gunsten peinigen zu lassen. ^ gestehe, daß es mich oft sehr verstimmte, wenn du kurländischen Herren über sich gewinnen tonn« 22 ten, bei strenger Winln kalte noch eine halbe Stunde im Vorhause zu plaudern und es gar nicht zu berücksichtigen, daß ihre Pferde seit lange angespannt vor der Hausthür standen. Zur Steuer der Wahrheit muß ich noch hinzufügen, daß ein sehr zerstreuter Pastor, mit dem ich auf einigen kurländischcn Gütern znsamment'am, und von dem man mir schon im Vorans erzählt, daß er ein ^lon, plus nltiu von Konfusion sei, von diesem Verkünder der christlichen Bruderliebe habe ich leider zu melden, daß er seinen armen lettischen Kutscher uud seine incht minder bcklagenswerthen Pferde oft zwei Stunden spät Abends bei schärfster Kälte warten lieh. Freilich, er wußte nicht, was er that, denn im leiser dcü Gesprächs hatte er vollkommen vergessen, daß er beim Aufstehen vom Abendessen den Bedienten des Hauses ersucht, ihm seinen Wagen zu bestellen. Obgleich ich dem seltsamen Confusionarius sonst ganz gut war. so konnte ich mich doch nicht entschließen, wenn er mir beim Abschiede seii'e Verbeugung machte, die er bei einen: Hampelmann gelernt haben mußte, ihn mit einigen artigen Worten zu entlassen. Der Unwille über den armen, frierenden lettischen Kutscher und die gequälten Pferde hatte jedes liebenswürdige Lächeln auf meinen Lippen erstarren gemacht. Wenn ich voll Wuth in dem großen Maal, in dein ich mich mit dem Pastor und einigen turländischen Edelleuten befand, spornstreichs auf- und nieder rannte, im- 33 mer in mir don einzigen Gedanken wiederkäuend: Wird der Schwarzrock'sich nicht endlich seines Kut< schcrs und seiner Pferde entsinnen? da sagte ich mir denn zuletzt, das; diese anhaltende zoruige Aufwallung meiner Gesundheit schaden könne, und daß es deshalb wohl klug sei, wenn ich in mir sanftere Empfindungen heraufbeschwöre. Und da gedachte ich denn der guten mildherzigen Lorle in Auerback's „Die Frau Professorin/' die auch in fiederische Ungeduld gerieth. wenn man emen vor der Thür stehenden Wagen warten lieh. Ihr liebenswürdiger Ausdruck für diese Gemüthsstimmung war. wenn lch nicht irrei „Es ist nur. als ob ich selber angespannt wäre/' Solche Gedanken, von denen ich dann auf eine Menge anderer übersprang, ließen mich endlich den confusen Pastor und seine armen Pferde vergessen, dis ich wieder an ihn erinnert ward. wenn er nur seine seltsamen Verbeugungen beim Abschiede machte. (5s war nicht anders mög-lich, aw d^ß i,^. z-^scr Pilger bei meiner Phi-llpvica liegen die Thierquälerei in den Sinn kom-mm mußte. Bei meinem Abscheu gegen scde Marter fühlender Wesen habe ich natürlich mit Freuden begrüßt, daß in verschiedenen Zeitungen die Hausfrauen aufgefordert wurden, den Krebsen nicht solche Höllenqnalcn dadurch zu bereiten, daß man. wenn sie gekocht würden, das Wasser allinälig heiß werden lasse, statt sie in schon siedendes hinemzuwersen uud ihnen so schnell über den Todeökampf hinweg- 24 zu helfen. Auch das Schupften der Fische bei lebendigem öeibc ist cm unerträglicher Gedanke, und doch kommt es leider nur zu oft vor. Indeß ich kehre von meiner zärtlichen Fürsorge für die .strebst, Fische und andere Märtyrer des menschlichen Magens zu den russischen Pferden zurück, denen man unendlich viel soll bieten können, was ich allerdings, wie ich schon oben bemerkte, nicht erprobte, da ich mein Mitgefühl für die Leiden und Schmerzen der Menschheit (ich muß hier streng logisch eigentlich „Thier-heit" sagen) an dem Schlagbaume des Czarcnreiches nicht zurückgelassen hatte. Als ich von Polangen aus das erste Mal die Pferde wechselte, so traf ich in der Person des Post-schrcibers, oder wie sonst sein Titel sein mag, einen sehr guten, angenehmen Menschen, der, aus Deutschland nach Kurland gekommen und freiwillig dort geblieben, auf seiner einsamen Station lange keine Gelegenheit gehabt hatte, deutsch zu sprechen, und deshalb außerordentlich glücklich war, sich mit nur unterhalten zu können. So sehr ich auch wünschte, zu rechter Zeit nach Libau zu kommen, so konnte ich mich doch nicht schnell von einem Menschen trennen, den ich freilich zum erstell Male ill meinem Leben sah, den ich vielleicht nie wieder sehen werde, aber dem ich, als meinem Bruder in sshristo, verpflichtet war, eine Freude zu bereiten, umsomehr, da das Opfer, was ich brachte, kein großes genannt weiden konnte. Vei meinem Mitleide mit diesem armen 25 Menschen, der stets von Letten umgeben, oder, um mich eines Bildes aus Schillers Taucher zu bedienen, der unter Larven die einzig fühlende Brust war, sann ich mühsam nach, wie ich ihm deutsche Unterhaltung verschaffen könne, und plötzlich auf einen — so bcdünkte es mich wenigstens — prächtigen Einfall kommend, rief ich' Aber es muß hier la nicht weit von Ihnen ein lutherischer Pfarrer wohnen! Machen Sie doch diesem einen Besuch. Ich bin sicher, daß der Pastor Sie zu sich einladen, Ihnen Ihre Einsamkeit weniger schrecklich machen und sie vor Allem mit dem deutschen Lcbensstrome in Verbindung halten wird. Der arme Postschreiber aber antwortete mir sehr kleinlaut. ,daß er einen wlchen Besuch niemals wagen dürse. da die Pastoren in Kurland theilweise sehr stolz seien, und man lwi Erscheinen m ihren Kreisen für höchst anmaßend halten werde. Ich widersprach dem, freilich mcht aus vollster Ueberzeugung, weil mir in dem-lelben Augenblicke eine Menge von geistlichen Herren vor die Augen traten, die den Kopf gewcü-Ug in den Nacken zu werfen und sich Mienen zu geben wußten, wie sie sich wohl für einen Hohenpriester des alten Jerusalems und einen Gregor VII. patzten, aber nicht für Jünger des Heilandes, in dessen himmlischer Krone die Demuth ja die schönste Perle ist. 26 Ich darf hier nock zuiei Beispiele nicht unerwähnt lassen, die gleichfalls dafür zeugen, wie die kurlän-dische nicdero Bevölkerung keineswegs eine knechtische furcht gegenüber Vornehlneren hegt, sondern, nachdem sie dem Gebote der Höflichkeit genügt hat, das hier im Handküssen besteht, sich ganz frei und ungezwungen benimmt. Als ich vor Üibau zum lehren Male die Pferde wechselte, traf ich auf der Station beide Zimmer voller Bauern, die sehr lebhaft und eifrig verhandelten und sich durch meine Anwesenheit durckaus nicht stören ließen. Ich, dem es widerstrebt, irgend Jemanden zu kränken, am allerwenigsten geringe Leute, die ohne den Neber-muth der Vornahmen schon arm genug an Lebensfreuden sind, drückte mich ganz bescheiden in eine Me des zweiten Zimmers nnd betrachtete neugierig die verschiedenen, lebhaft gesticulirenden Gruppen. Doch nach wenigen Minuten trat der Postschrciber lhatte er einen höheren Nang, so bitte ich demüthig um Verzeihung, da mit der Bureaukratie, weun man sich in ihren Titeln irrt, kein gutes Kirscheneffen ist), also der Postschreiber trat zwischen die Bauern des zweiten Zimmers und befahl ihnen in lettischer Sprache, die Stube zu räumen. Alsdann wandte er sich mit artigen Worten an mich, entschuldigte, daß ich nicht sogleich ein besonderes Zimmer bekommen habe, und erklärte die Anwesenheit der Bauern dadurch, daß in dem Postlocale zugleich das Gemeindegericht abgehalten werde. Ich antwortete 27 ihm nüt gebührender Höflichkeit und bemerkte, wie die längere Auwcsenheit der Bauern mir durchaus nicht beschwerlich gefallen sein würde. Aus dem harmlosen Treiben der betten, die sich durch meine An-wesenheiit qar nicht zur flüsternden Nede Herabstim« men ließen, ersiebt man, daß die Vornehmeren für dieselben keineswegs der Gegenstand blinder Furcht oder scheuer Aengstlichkeit sind. Noch ein anderes Beispiel fällt mir zum Beweise meiner Behauptung ein, daß die Letten keineswegs sich in sklavischer Aengstlichkeit befinden, sobald sie mit Personen zu lhuu haben, die im Range über ihnen stehen. Auf dem Nege zwischen dieser letzten Etation vor Libau und der freundlichen Seestadt selbst hielt mein Kut-Icher vor einem.Kruge und ging hinein. Da ich mich schon mit mehreren Wirthen unterhalten hatte und hier nichts zu finden glaubte, was mcine Erfahrung über Kurland bereichern könnte, so stieg ich gelbst nicht ans, sondern wartete geduldig ab, bis 'nein Kutscher seinen Schnaps getrunken oder soust das vorgenommen hätte, was ihn zum Hineingehen in den Krug veranlassen mochte. Aber mein Kut. Her blieb fast eine Biertelstunde in dem Kruge — gewiß hatte er dort eine Braut, die er abschmatzte — und lies; mich warten, biö ich zuletzt alle Geduld verlor und mit meinem Stocke wüthende Bewegungen machte, die ihm andeutcu sollten, daß die Schlüge hageldicht auf seinen Nucken herabfallen würden, wenn er nicht sofort herauskäme. Vielleicht saß er, W seine Herzliebste auf dem Schooße, und spottete meiner drohenden Armbewcgungen. Als er endlich ganz phlegmatisch aus der Hausthür trat, durch-blauete ich ihn allerdings nicht, weil eine solche Entweihung des Ebenbildes der Gottheit mir mehr Schmerz verursacht haben würde, als ihm; wohl aber ergoß ich meinen Unwillen in eine heftige Anrede und in die Bemerkung, das; er alles zu besorgen habe, wenn er mich nicht rechtzeitig nach Libau schaffe. Obgleich ich gar nicht darauf rechnete, daß meine deutschen Laute von dem Letten würden verstanden werden, so hoffte ich, daß meine Mimik redender sein würde, wenn ich sie durch Worte begleitete. Zu meinem großen Erstaunen sprach aber mein Lette ein sehr gutes Deutsch, und antwortete mir, ich brauchte mir wegen der Ankunft in Libau keine Sorge zu machen; er werde dort zur guten Zeit mit mir einfahren; überdies hätten wir vor der Dunkelheit nichts zu befürchten, da Viondenschein wäre. Ich freute mich über das gute Deutsch, was der lettische Kutscher sprach, nicht wenig und erließ ihm alle Schelte. Bei ruhigem Nachdenken sagte ich mir auch, daß man es dem Kutscher nicht verargen könne, mit seiner Braut lange gekost zu haben, da ihm die Gelegenheit hierzu wahrscheinlich nicht oft geboten werde. Ncbrigens hält dies Abküssen in der Eile die Liebe frisch. Die vornehmen, welche den ganzen Tag über Zärtlichkeiten mit einander austauschen dürfen, werden, wie in Allem, so 29 auch in der Liebe blasirt. Als der Vater des Herzogs Enghicn seine junge Gemahlin aus dem Kloster, von glühendster Liebe zu dieser unerlaubten That getrieben, geraubt hatte, wurde er in taglichem Umgänge ihrer bald überdrüssig, und, wenn ick nickt irre, endete die Anfangs vulcanische Liebe mit einer eiskalten Trennung. Wie ich mich der Stadt Libau mehr und mehr näherte, tauchten natürlich in meinem Geiste alle die historischen Erinnerungen aus, die sich an diesen Ort knüpfon. In Libau verweilte Peter dcr Große aus der Duchreise, als ihn der Drang, sich und sein Neich zu rcformiren, m civilisirte Gegenden tried. Außer ihm wandelten hier noch die Heldenschritte Gustav Adolphs und Karls XII. Die Gemahlin Ludwigs XVII l. und die Herzogin vonAnaMme, die Waise des Tempels, schifften sich in Liban nach England ein, als wegen der Freundschaft Alezanders I. mit Napoleon I, Nußland aufgehört hatte, für sie ein passendes Asyl zu sein. Auch stiftete in Libau der Herzog Friedrich Wilhelm von Kurland, dcr Enkel des grohen Kurfürsten, den Onl^ ät> 1a I^0nnai88nnQe. Neberhaupt findet man, wenn wan nur das Suchen nicht scheut, manches historisch Interessante in Kurland, und jedenfalls in Bezug auf Lebensweise und Sitte viel Charakteristisches. Als Libau dicht vor mir lag, schloß ich, nach-dem ich für einen Augenblick der sich weitläufig ausdehnenden Stadt meine Aufmerksamkeit geschenkt 30 hatte, für längere Zeit meine Augen, mich ganz in mcin Inneres versenkend und mir vieles Merkwürdige vergegenwärtigend, was ich aus meinen Slu-dien über Kurland und Libau gelernt und in treuem Gedächtnisse bewahrt hatte. Meine Einfahrt in Mau. VW Gasthof ohne Kellner. Weil es Einem auf Reisen gar schlecht ergeht, wenn man seine Pflichten in Bezug auf das Trink-geldgcben nicht überaus gewissenhaft erfüllt, so benutzte ich meine erste Unterredung nut einein kmi-schcn Postschreiber, um mich zu erkundigen, ob man außer dem Postillon noch sonst irgend einem Individuum etwas von dein N(?1 VN8 I^IUNI Ferenä^l^lii zufließen lassen müsse. Der Postschrciber belehrte mich, daß es üblich sei, dem Stallmeister einige Kopeken zu geben. Dies Wort verwunderte mich mit Necht, da „Stallmeister" und „Kopeken" offenbar eine cunti-lll1ic:tio i,l üHl^lu bilden. Nach meiner deutschen Erfahrung wurdeu Stallmeister nur Personen aus regierenden Häusern attachirt, und man erwies sich gegen sie nicht durch Kopeken, sondern durch goldene Dosen nnd andere kostbare Geschenke erkenntlich. Es lag also nahe. mir eine Belehrung anszubitten. Dein Postschrciber schien es nun nicht gerathen, sich in eine Definition einzulassen, sondnn 31 er hielt cs offenbar für praktischer, nur diese „Stallmeister-Species" in nnwr^ zu zeigen. Er führte mich deshalb an s Fenster und wus nach der Hausthür, vor der mein angespannter Wagen stand, an dessen einem Nade ein Vauerbursche von ungefähr achtzehn Jahren, in „Wand" gekleidet — ein von den kurischen Landfrauen sclbstverfertigtcs, grob-wollenes Zeug — sichtbar ganz unnöthiger Weise sich etwas zu schassen machte.' Das Nad war offenbar ohne allen Schaden, und er wollte nur beim Heraustreten nur gleich in die Augen fallen, damit er seines Trinkgeldes nicht verlustig gehe, „Das also ist der Stallmeister!" rief ich aus und athmete erleichtert auf, denn zu einem anständigen Trinkgelde für den Pferdcjungen war meine Börse voll« kommen ausreichend. Uebrigcns war mir der Herr Stallmeister beim Einsteigen doch sehr nothwendig. Da der Wagen nämlich gar keinen Tritt hatte, der herniedergescyla-gm werden konnte, so mußte ich über das Rad zu meinem Koffer emporklimmen. UebrigeM ist "Wagen" für daö Gefährt, auf dem ich fortgeschafft wurde, ein viel zu euphemistischer Ausdruck. Herr von Kotzebue, der bekanntlich die Unannehmlichkeit hatte, im Jahre 1800 auf Befehl des Kaisers Paul I. nach Sibirien transports zu werden, spricht stets von einem Karren, auf dem er fortgeschafft wurde, und ich darf, um der Wahrheit treu zu bleiben, der hölzernen viereckigen Construction, auf der ich alle 32 Qualen eines Geräderten erlitt, keine höhere Bezeichnung beilegen. Nenn Ludwig Rellstab schon eine Droschke eine„Menschen-:)tädcr!naschinc" nennt, so weiß ich nicht, nrit welchem niederschnietterudenAus-drncke er meinen darren belegt hätte. Doch genug der Klagen! Da der Strand der Ostsee an der lurischen Küste sehr flach und sandig ist und nirgends den Anlauf zu felsigen Gestaltungen nimmt, so sieht man den Thurm der ^ibauer Küche schon von Weitem und wird dadurch leicht zur Ungerechtigkeit gegen den Kutscher verführt, daß er uns so spät an einen Ovt schafft, dem man seit geraumer Zeit ganz nahe zu sein glaubte. Auch ich ward dieser Geduldsprobe unterworfen, in der ich um so schwerer zu besteben vermochte, als die unbarmherzigen Stöße, die nur mein Koffer versetzte, mich sehnsüchtig nach dem weichen Sopha eines Libauer Gasthofes verlangen ließen. Endlich, endlich fuhr ich in Lidau ein und hielt auf einem Marktplätze vor einem Hause, zu dem eine Freitreppe hinaufführte, und vor dem Väume standen, natürlich jetzt ohne allen Schmuck der Blätter. Ich erwartete, geschäftige Kellner mir cntgegensiiegen zu sehen, auch rechnete ich auf einen stämmigen Lettm, dem ich nicht blos; meinen Koffer, sondern meine hocheigene Person anvertrauen, und dem ich den Befehl geben wollte, mich, der ich mich in dem Zustande eines Geräderten befand, recht zart aufzuheben, die Stufen emporzutragen und mich 33 auf die schwellenden Kissen eines sÄM gepolsterten Sophas sanft niederzulegen. Doch ich harrte und harrte—kein Kellner, kein Hausknecht, keine lebende Seele ließ sich sehen. Ich saß regungslos auf meinem harten Koffer, gleich dem steinernen Gaste im Don Juan; fest entschlossen, mir für die erduldeten Qualen die Genngthnnng zu verschaffen, die anscheinend unbequeme, wenngleich wenige Stufen zählende Freitreppe nicht mit meinen wie abgehauenen Füßen erklimmen zn müssen, sondern über ihr dahin zu schweben, mochte immerhin der mich forttragende Luftgeist die unätherische und unästhetische Gestalt eines lettischen Hausknechtes annehmen. Aber kein dienendes Wesen erschien, sich nach mci-uen Befehlen zu erknndigen. Ich saß und saß, oder ritt vielmehr, wie der Fürst von Reuß Schlciz-Lobenstein sich in einem Erlasse "n »eine Unterthanen so eigenthümlich ausdrückte, auf ein^m Principe umher. Mein Princip mm war, nlcht eher anfznstehen, als bis mir irgend ein dienendes Wesen des Gasthoscs zu Gesichte gekommen. Endlich, nachdem ich lange geharrt hatte, kam aus einem Laden, der in den Keller hinabführte, ein altes Männchen heraufgestiegen und fragte nach meinem Begehren. Ich antwortete ihm. wie es meine Absicht sei. hier ein Nachtquartier und alle Bequemlichkeiten zu suchen, die ein gutes Gasthaus darbiete, und wie es mich mit dem größten Erstaunen erfülle, daß mir keine Kellner entgegenkämen. 34 Das alte Männchen erwiderte in einem sehr langsamen und gemüthlichen Tone, der mich aber aus meinem harten Kusser äußerst ungeduldig machte, daß er der Besitzer dieses Gasthauses sei. und daß in demselben sich keine Kellner befänden. Schon wollte ich seufzend fragen: „Auch kein kräftiger lettischer Hausknecht, der mich die Treppe hinauftragen kann?" als ein sehr frisches, hübsches, blondes Mädchen in der Thür erschien und mich durch eine Verbeugung einlud, näher zu kommen. Obgleich diese kurländische Blondine sehr kräftig und handfest aussah, so erlaubte mir meine <^ourtoisie doch nicht, sie aufzufordern, meinen müden Korper bis in das nur bestimmte Zimmer hinaufzutragen. Freilich, die wackern Weiber von Wcinsbcrg, denen ich das ihnen zugedachte Monument herzlich gönne, beugton ja willig ihre zarten Nucken unter die Last männlicher Körper, von denen doch mancher ein Falstaff sein mochte. Ich darf nun der Wahrheit gemäß behaupten, daß meine Statur schlank ist und keineswegs die Dicke eines Grafen Dyhern oder Doctors Be-ron hat. Um die Blondine nicht warten zu lassen, schwang ich mich, so leicht es gehen wollte, von dem Wagen herab und klomm die Treppe empor. Ich konnte unten kein Zimmer mehr bekommen, da links der Wirth mit seiner Familie wohnte, und rechts eine Gräfin Mmgden sich Quartier im Voraus hatte bestellen lassen. Es blieb mir nichts übrig, als eine 35 Treppe in die Höhe zu steigen und der hübschen Vlundine zu folgen, dic mir voranleuchtcte. Wenn ich zum ersten Male ein Gasthaus betrete, so lasse ich schnell meine Blicke nach allen Seiten hingleiten und mir nichts entgehen, run zu beurtheilen, was ich zu erwarten habe. Zu meiner Beruhigung trug Ales, was ich sah, den Stempel der höchsten Reinlichkeit. Mr ward cine Art Salon eingeräumt, in welchen zwei Ncbenthüren mündeten. Ich konnte mich bei meinem angegriffenen Zustande auf eine nähere Untersuchung des Quartiers nicht einlassen, sondern spähte sehnsüchtig nach einem Sopha und sank bald darauf nieder. Aber. o weh! mein Ruhe-Utz war abscheulich hart, und ich konnte glanben, ^neckenderKobold habe mir meinen vermaledeiten Koffer untergeschoben. Doch der Vortheil, nicht ge-Ichüttelt zu werden, sondern ruhig sitzen zu können, war schon ein großer, und als ich eine Flasche köl-'"Ichos Wasser aus meinem Reisesacke hervorgcsucht und durch häusiges Riechen mcine Lebensgeister gc-stärkt hatte, fing ich an, mich ganz behaglich zu fühlen. Wie ich so dalag und mit der Blondine plauderte, trat mein lettischer Kutscher herein und brachte wn meinen Koffer. Ich gab ihm ein reichliches Trinkgeld; doch der schlaue'Mensch, der mir meine dumme Gutmütigkeit angesehen haben mußte, bat mn mehr. Die Blondine, die bemerkt hatte, wie viel lch chm gegeben, schrie über Frechheit und machte Mir entschlossene Bewegungen, ihn zur Thür hinaus 2* 36 zu transftortiren. Doch, ich nahm cm blankes Fünfzig-kopekenstück, überreichte es dem sich demüthig Ve-dankenden und sagte zu der Blondine, daß ich ihm noch mehr würde gegeben haben, um ihn nur los zu werden, da jeder Augenblick, den mich seine lüstige Bitte länger um ihre Unterhaltung gebracht hätte, mir wie ein Jahrhundert vorgekommen sein würde. Das niedliche Naturkind lachte mit einem ziemlich großen Munde; doch ihre Lippen waren wie Rubin und ihre Zähne wie Elfenbein, Ich sagte ihr, daß ich unterwegs zwar sämmtliche Kruge sehr reinlich gefunden hätte, daß es mir aber unmöglich gewesen sei, von dem zu essen, was man mir vorgesetzt, weil ich, gewiß mit großem Unrecht, bei näherer Besichtigung irgend etwas den Gaumen Verletzendes anzutreffen befürchtet, und deshalb zu fasten vorgezogen. Tie antwortete i „Pfui, das Hütten Sie nicht nöthig gehabt." Das seltsame wische „Pfui". Nach langer Zeit hörte ich das seltsame kurischc „Pfui" wuder. Ich entsinne mich, dies für die Deutschen Kurland's, Livland's und Esthland's so charakteristische „Pfui" zuerst uon zweien meiner guten und lieben Bekannten. Alvil und Rudolph von T —e, die in Berlin meine Studimgenossm waren, 37 sehr häusig gehört, dasselbe aber gar nicht für ein deutsches Wort gehalten zu haben. Da diese jungen Herren aus Livland waren und zuweilen nnter sich lettisch sprachen, wenn sie von mir oder einem andern Vekanntcn nicht verstanden sein wollten, so hielt ich dies häusige, sehr eigenthümlich zn Gehör gebrachte „Pfui" für ein Wort jenes slavischen Idioms und glaubte, daß sie es aus Angewohnheit unt in das Deutsche hinübergenommcn hätten. Dieses „Pfui" klaüg nämlich in ihrem Munde ungefähr wie „Fua!"' Ganz tren kann ich diesen Ton durch Zeichcu nicht wiedergeben nud meine auch, d"ß klügere Menschen, als meine Wenigkeit, andic-Wn Versuche scheitern werden. Damals glaubte 'ch nie, daß lneiuc Wißbegierde mich auch nach dem Norden treiben würde, und ich unterließ es deshalb, meine Bekannten zu sragcn, was dieser Unverstand-.llche Laut, den sie so häufig aussticßcu, eigentlich bedeuten solle. Daß dieses „Fua" mit „Pfui" gleichbedeutend sei, fiel mir erst ein, als in einer der "eisebcschroibungcn, die ich nur irgendwie über die Dstjeeprovinzen hatte auftreibcn können — die gute Weratur über den Norden Europas ist ziemlich arm — dieser eigenthümliche Ausdruck besprochen "nd namentlich auch von dem, diese Materie behandelnden Schriftsteller bemerkt ward, wie dieser Laut für jedes nicht eingeweihte Ohr vollkommen unverständlich sei. Es wäre unmöglich aufzuzählen, wie oft die Deutschen der russischen Ostseepro- 38 vinzen in einem Tage, ja, in einer Stunde „Pfui" sagen. Um mich eines Bildes zu bedienen, sie „pfuien" ungefähr so oft — die Bildung dieses Zeitworts ist wol sehr kühn? -^, wie die Berliner Gardeossiziere „Magnisik! Süperb! Adorabel!" ausrufen, wenn Marie Taglioni ihre Pirouetten macht. Da man in Deutschland das Wort „Pfui" nur gebraucht, wenn etwas Unschickliches, Widerwärtiges gesagt oder gethan wird. so erschrickt jeder Nicht-Kurländer zuerst, wenu er bei einer ganz unschuldigen, harmlosen Aeußerung plötzlich dies vermaledeite Wort zu hören bekommt. Ich sprach mit einer sehr geistreichen Dame Kurlands über die Eigenthümlichkeiten ihrer Provinz. Die kluge Frau gab mir den verschwenderischen und meistentheils sehr unpassenden Gebrauch dieses Ausrufs von Seiten ihrer Provinzgenosscn zu. Sie erzählte nur unter vielem Lachen, wie bei ihrer ersten Neise nach Deutschland, während eines längeren Aufenthaltes in Königsberg uud Danzig, junge Damen, deren Bekannt-schaft sie dort geinacht, es sehr übel genommen hätten, wenn dies ihr so heimische Wort unwillkürlich von ihr ausgestoßen worden sei, und daß sie, um nicht unbewußt zu kränken, geschickt das Gespräch auf diese Eigenthümlichkeit Kurlands gelenkt habe. Sie sei nämlich nicht im Stande gewesen, diesen Ausrus ganz zu vermeiden, obgleich sie sich die redlichste Mühe gegeben. Die Kurläuder gebrauchen das „Pfui" so oft. wie HeimichIV. sein^VenU-e-^inr^ri«!" Denn wan würde sehr irren, wollte man glauben, der gute König hätte nur im Zorn und bei Flüchen sich dieses Ausrufes bedient.' Wie gesagt, bei uns in Deutschland und auch bei den übrigen Nationen ist das „Pfui" der Ausdruck der stärksten Empfindungen: des Abscheus, des beleidigten Schicklichkeits-gefülils, des Ekels. Ganz anders bei den Deutschen der Oststeprovinzen, Da Beispiele eine Sache immer deutlicher machen, als allgemeine Bemerkungen, so werde ich einige Proben' kurländischer „Pfuis" geben. Ein junger Mann ans Deutschland macht bei lemer Reise nach St. Petersburg einem vornehmen Herrn in Mitau seine Aufwartung, da er an ihn ein Empfehlungsschreiben abzugeben hat. Der Herr, dem er seinen Besuch gemacht, geleitet ihn bis zur Thür und erkundigt sich dort, in welchem Gasthofe " abgestiegen sei, in der Absicht, den Reisenden zu Tische einzuladen. Dieser nennt den Gasthof. Da ruft der Mitau'sche Herr aus'. ..Pfui! warum aber auch dort?" Der Reisende, durch dics Wort er-Ichrectt, das ihn berechtigt, auf großen verborgenen Schmutz oder eine sonstige widerwärtige Seite seines Gasthofes ;u schlichen, bemerkt: „Nun. daisies wol gerathen, in einen andern überzuziehen?" Der Mitau'sche Herr antwortet'. „Pfni, sind Sie einmal da- so bleiben Sie nur getrost!" Der Reisende macht ein schr verdutztes und einfältiges Gesicht, 40 ungefähr wie alle Diejenigen, die vor Oedipus' glücklicher Antwort das Räthsel der Sphinx nicht lösen konnten. Ich werde versuchen, diese beiden „Pfuis" zu erklären. Das erste Mal wollte der Mitau'sche Herr sagen: „Aber warum stiegen Sie denn auch in diesem Gasthofe ab?" sDas Wirthshaus, welches er tadelte, war seiner Meinung nach durchaus nicht abscheulich, sondern nur weniger gut als das andere, dem er den Vorzug gegeben haben würde,) Sein zweites „Pfui" bedeutet: „Ei, nicht doch! Warum wollen Sie sich die Unbequemlichkeiten eines Umzugs machen? So schlecht ist der Gasthof nicht, daß Sie es dort nicht ewige Tage sollten aushalten können." Jetzt komme ich zu Beispielen aus meiner eigenen Erfahrung. Ich erging mich mit einem kurländischen Edcl-manne, der unbeschreiblich liebenswürdige, kluge und dabei selten bescheidene Töchter hatte, in seinem Parke, und da uns gerade ein Wagen begegnete, so fiel mir ein, daß die Kinder dieses Herrn sehr gerne spazieren fuhren, aber, wie ich mir vielleicht nur einbildete, zu blöde waren, um ihren Papa zu bitten, täglich für sie auspanmn zu lassen. Da die jungen Damen wegen ihres Geistes, ihrer Anmuth, ihres kindlichen Sinnes, ihrer veilchenhaften Unbewußt-hcit ihrer reichen Vorzüge meine ganzeAchnmg und lebhaftesten Sympathien gewonnen hatten, so beschloß ich, ihren Vater auf ihre Neigung, spazieren- 41 zufahren, aufmerksam zu machen. Auch trieb mich noch ein zweiter Grund dazu, nämlich die Bekämpfung eines geizigen Gebrauches seiner Equipage, welche Schwäche ich bei diesem sonst hoch von mir geschätzten Manne bemerkt zu haben glaubte. Er theilt übrigens diese übertriebene Zärtlichkeit für seine Nosse mit einer Unmasse von Equipagenbe-sitzern, die mit ihren Pferden umgehen, als ob sie von Marzipan wären. Ich schloß mein Plaidoyer mit den Worten i „Gewiß würden Ihre Töchter sehr glücklich sein, wenn sie jeden Tag einige Werste spazierenfähren konnten," „Pfui", antwortete mir der Vater, „sie machen sich gar nicht so viel daraus." Gm andermal sagte ich zu einer jungen Dame: .Wohnt Ihre Tante nicht neun Meilen von Ihnen entfernt?" „Pfui", antwortete sie, „nur sieben." Dies „Pfui" ist in beiden von nur angeführten Ullen gleichbedeutend mit einem starten „Nein". Ucbrigens bespotten die Kurländer, die viel ge-"'st sind, selbst diese Angewohnheit des steten "Pfui". So erzählte mir ein Fräulein von S^ n, daß sie mit mehreren Landsleutcn ans dem Rhein gefahren, daß ihnen in lebhafter Unterhaltung wahrscheinlich mehrere Male dieser ihr ^ieblingMif entschlüpft sei, und daß ein Herr, nachdem er längere Zeit ihrem Gespräche gelauscht, sich ihr plötzlich genähert und nnt den Worten vorgestellt habe- „Da Tie auch aus der Heimath des „Pfui" sind, so darf 42 ich doch nicht verfehlen, mich Ihnen als Kurländer zu präsentircn." Das „Wai!" ein würdiger Bruder des „Pfui!"< und von den Kurländcrn ebenfalls sehr gehätschelt, verdiente nicht minder eine besondere Abhandlung. Das „Wai" und das „Pfui" werden in Kurland ebenso häufig gebraucht, wie in Montpellier und Languedoc das ,,1^0^-6-'. , Durch das „Pfui", das die Blondine ausgesto-ßcn hatte, wurden die Gestalten meiner lieben Studiengenossen, Alvil und Rudolph von T—e, an die ich lange nicht gedacht hatte, plötzlich aufs Lebhafteste in meine Erinnerung zurückgerufen. Um ihrer ungestört gedenken zu können, suchte ich für kurze Zeit die Einsamteit, vergaß aber nicht, beim Verlassen des Zimmers dem hübschen blonden Mädchen eine Verbeugung zu machen, die halb artig, halb vertraulich war. Ieremiaden eines Halbverhungerten. Als ich aus meinem Schlafzimmer, in das ich für wenige Minuten gegangen war, wieder heraustrat, hatte ich das Licht — ich weiß nicht mehr genau, ob aus Absicht oder aus Zufall — daselbst vergessen. Jedenfalls entbehrte ich es nicht, da der Mond seinen hellsten Schein durch die Fenster warf. Mein Auge, das nicht gleich auf die Blondine traf. 43 suchte unruhig nach ihr. Bald entdeckte ich sie zu meiner Freude in einer Fensternische, wohin sie sich zurückgezogen hatte. Obgleich ich mir bewußt bin. die Gebote der Galanterie gegen die Damen stets mit freudiger Gewissenhaftigkeit zu beobachten, so werden doch manche meiner geehrten Leser und vor allen meiner schönen Leserinnen vermeinen, als hätte ich in Folgendem es sehr an der, einem weiblichen Wesen schuldigen Zartheit fehlen lassen. Da ich aber von meinen Reiseerlebnissen nicht das verschweigen darf. was mir etwa eine ungünstige Beurtheilung zuziehen tonnte, sondern e'infälti'glich und schlicht alles nzählen will. was mir zustieß, und was ich beging, so muß ich mir eine arge Durchhechelung schon gefallen lassen. Der Tadel, den man wahrscheinlich gegen mich erheben wird, besteht nun darin, daß ich bei meinem gänzlich erschöpften Zustande die horizontale Lage der verticalen vorzog, oder, um mich unmathematischer Ausdrücke zu bedienen, daß ich nuch der Länge nach auf das Softha warf. Doch, damit ich nur nicht selbst unrecht thue, so wähle ich emen adäquateren Ausdruck und sage besser, daß ch mich graziös auf dem Sopha ausdehnte. Ich ftnde nämlich, daß man einen viel gefälligeren Anblick darbietet, wenn man in graziöser Wellenlinie Nch auf dcm Sopha ausstreckt, als wenn die Füße matt und gelangweilt auf die Krdc hembbamncln, Als ich mich in so vorteilhafter und zugleich so 44 bequemer Lage, wie nur irgend möglich, auf dem Sopha ausgebreitet hatte, stützte ich mein Haupt in meine Nechte und wandte mich mit sehr wohlwollendem Auge der Blondine zu, die wahrscheinlich mit Crstaunen die Vorkehrungen, meinen Körper in eine recht behagliche Situation zu versetzen, mitangesehm hatte. Da ich gefunden habe, daß man über fremde Länder am Besten unterrichtet wird, wenn man arglose Eingeborne geschickt zum Sprechen bringt, so ließ ich es auch nicht an Bemühungen fehlen, der Blondine jede Befangenheit zu benehmen und sie zu vertrauensvollen Herzensergüssen zu veranlassen. Dies gelang mir nun über alles Erwarten gut, was mir ein beruhigender Beweis war, daß sie mein Ausgestrccktsein auf dem Sopha nicht übel deutete. Die Blondine erzählte mir unter andern — wir schrieben den 31. März 1855—, wie die vor etwa drei Wochen angelangte Nachricht von dem Ableben des Kaisers Nicolaus die Stadt Libau in eine große Betrübniß versetzt habe. wie die Soldaten und die Bürger dem neuen Herrscher sogleich Treue hätten schwören müssen, und wie an dem nächsten Sönntag der Pastor Kicnitz einen Trauergottcsdienst zum Andenken des verstorbenen Czaren abhalten werde. Wenn ich sie bis jetzt fast allein hatte reden lassen, so wurde ich nun plötzlich der Träger des Gesprächs. Sie that nämlich die ^rage an mich, ob man von dem neuen Kaiser recht viel Gutes erwarten dürfe, 45 Von den herrlichen Charakter- und Gemüthseigcw schaften des Kaisers Alexander II. anfs Genaueste unterrichtet, sah ich im Geiste alle die weisen Gesetze und wohlthatigen Einrichtungen voraus, durch die im Laufe der Jahre seine Unterthanen würden beglückt werden. Was ich damals alles von dem neuen Kaiser gesprochen habe, weiß ich nicht mehr; aber daß meine von Herzen gehende Nede zum Herzen gedrungen war, bewies mir das Aussehen der Blondine. Die Mondesstrahlen sielen, gerade, als lch sie anblickte, auf ihr liebes, treuherziges Antlik und spiegelten sich in ihren großen blauen Augen, "ie in Thränen schwammen. Sie hatte die Hände gefaltet und schien für die segensreiche Wirksamkeit des neuen Kaisers zu beten. Ich selbst war in gehobener, religiöser Stimmung, und mein Gebet vereinigte sich mit den frommen Bitten dieses un-Ichuldsvollen Naturkindes, den neuen Kaiser stärken und tragen zu wollen bei seinen edlen Bestrebungen. Der Thurm der lettischen Kirche, die auf dem freien Platze, welchen meine Fenster beherrschten, in stattlichem Umfange emporragt, hob sich aufs Deut-Uchste von dem klaren Abendhimmel ab; die Blon-dme stand wie verklärt in der Fensternische/ über-".offen vom goldenen Mondenlichte; ich, der von fernher kommende, Reisende betrachtete mit tiefinnerlicher Bewegung den schlanken Kirchthurm und die 46 schlanke Jungfrau, und eine Fluth nie gekannter Empfindungen erfüllte meine Brust. Leider wurde diese poetische Situation durch die allcrcrasselte Prosa unterbrochen. Bis zu welcher Kraft das Thierische sich im Menschen zu erheben vermag, muhte ich leider an mir verspüren, indem ich, um einen plötzlich erwachenden Wolfshunger zu beschwichtigen, diese traute Scene unterbrechen muhte. Ach Gott! wenn der Mensch nicht vom Brode allein lebt, so lebt er auch nicht allein vom Geistigen. Das schöne Mondenlicht und die schöne Jungfrau und alle die schönen, frommen Betrachtungen, die meine Seele erfüllten, waren nicht im Stande, den in meinem Magen bellenden Hunger-Cerberus zum Schweigen zu bringen. Ich hatte meinem Hingen nämlich während des ganzen Tages noch keinen Braten, schönes Gemüse, Wein, und woran sonst der verzogene träge Herr gewöhnt sein mochte, zusühren können, da ich in den Krugen alle mir vorgesetzten Speisen unangerührt hatte stehen lassen. Mein Magen ist nun leider von sehr cholerischem Temperamente, weshalb er auch furchtbar zu knurren ansing, weil ich ihn bis dahin so unentschuldbar vernachlässigt hatte. Uebrigens tröste ich mich über seine schlechte Erziehung, wenn ich an den Doctor Schärtel denke, eine Figur aus dem Noman i,Nrni« 8icnt I)llU8", der, obgleich durch und durch Philosoph, den Hunger doch ebenso wenig tapfer bestand, wie ich, und gegen seine Gattin Elisabeth, 47 die über schönem Clavierspiel ganz die prosaischen Pflichten einer Hausfrau vergessen hatte, sich jämmerlich beklagte, daß sie seinen Magen so vernachlässige, der höchst unangenehme Musik mache, indem n wie eine Baßgeige brumme und wie ein Pudel knurre. Man ersieht hieraus, wie die Philosophie von Atomen, Monaden, realen und idealen Potenzen allein nicht zu leben vermag, sondern wie sie die Substanz vor allem nothig hat. Da ich nun Ruhe überaus liebe und meinen knurrenden Magen gern besänftigen wollte, so wandte ich mich schnell an die freundliche Kellnerin mit der Bitte, mir ein herrliches Abendessen zu besorgen. Aber Schrecken über Schrecken! Das blonde Kind erklärte mir, daß man in dem Hause des Herrn Busse (so hieß nämlich der Vesihn des Gasthofes, in dem ich mich befand) nur logne, aber keine Mittags- und Abendtafel antreffe. -Verhungern kann ich doch nicht!" rief ich in lebhaftester Verzweiflung ans. Ich erinnerte miä) bei diesen Worten der Gefährten des Odysseus, „deren Magen der Hunger so hart war/' als sie auf des Helios Insel durch heftigen Ost- und Südwind zurückgehalten wurden, und sie alle ihre Speisevorräthe verzehrt hatten. Odysseus, der Warnung des blinden Teiresias eingedenk, beschwor sie, von den schonen Rindern, die'sie auf der Insel sähen, keine zu schlachten, da sie das Eigenthum des Helios wären. Daß aber Eurylochos. vom wüthcndsten Hunger geplagt, seine gleichfalls durch den im Ma- 43 gen bellenden Unhold zur Verzweiflung gebrachten Genossen leicht dazu überredete, die umherlaufenden Rinder zu schlachten, fand ich in meinem damaligen Zustande, den ich meinem ärgsten Feind nicht gönne, mehr als natürlich. Die beredten und sehr wahren Worte des lZurylochos lauteten also^ „Wohl ist jeglicher Tod graunvoll dem elenden Menschen, Doch ist Hniigerssterbcn das jammervollste Verhängniß." Auf nieinen obigen Nagenden Ausruf antwortete die Blondine mit einer unbegreiflichen, ja, bei den Leiden meines hungernden Magens, beleidigenden Nuhe i „Nun, Sie brauchen nnr zur Müsse zu gehen." Muffe, was ist das für ein Ding? fragte ich mit etwas pikirtem Tone, da man meist nur freundlich und gütig ist, wenn die Qualen des Hungers <5inem die Eingeweide nicht zerreißen. Da mir die Blondine keine ausreichende Erklärung gab, so will ich hier meine eigene, durch Nachfragen belehrte Erfahrung sprechen lassen. In allen Städten der Ostsecprovinzen heißen die geschlossenen Gesellschaften, wo die Bürger am Abend zum Klubb zusammenkommen, „Mußen" (natürlich in der Bedeutung des von Geschäften Freiseins); aber die harte Aussprache dieser nördlichsten Deutschen läßt das „ß" ganz wie „ss" erklingen, wodurch auch das lange,.u" in ein kurzes verwandelt wird! also „Müsse" statt „Muße." Ohne fremde Hülfe kann man sich diesen Ausdruck gar nicht erklären. Uebrigens ist diese deutsche Bezeichnung einer geschlossenen Gesellschaft 49 viel vernünftiger, als die sonst beliebton, aus der Fremde geholten Ausdrücke- „Casino, Society Ressource." Da ich sehr hungrig war, so ergab ich mich w mein Schicksal, trotz meines zerschlagenen Körpers erst durch Libaus Straßen zu wandern, um für meinen knurrenden Magen ein Abendessen zu suchen. Die Blondine bot mir Begleitung an; doch ich erklärte mit dem Stolze eines Großstädters, daß eine Be-Schreibung, wie ich mich drehen und wenden müsst, genügen werde, um zu der gewünschten Muße zn kommen. Nachdem nur die Blondine die verlangte Beschreibung mit kurzen, klaren Worten gegeben hatte — sie schien mir ein äußerst praktisches Frauen-zimmer zu sein —, warf ich schnell meinen Mantel um, sagte der hübschen Kellnerin beim Abschiede noch einige verbindliche Redensarten und war mit wenigen Sprüngen die Treppen hinunter. Mein Besuch in dcr Maucr „Muße". Das von mir aufzusuchende Haus war mir in der Nähe der Wache anf dem Hanutmarkte so deutlich beschien worden, daß ich hätte blind sein müssen, um es nicht aufzufinden. Wie ,ch mich in dem Hause nicht geirrt hatte, bewies mir, das,, als ich das erste Zimmer, in das man von dem Flur aus gelangte, öffnete, ich daselbst einen Bedienten fand, 4 50 der aufNägel, die in die Wand eingeschlagen waren,. Pelze und Mäntel hing, offenbar von Herren, die sich eben durch die Flügelthüren in das eigentliche-Clubblocal begeben hatten. Als ich ansing, mich meines Ucberziehers zu entledigen, trat der Diener sehr höflich auf mich zu und fragte mich — er erkannte mich sogleich als einen Fremden —, ob ich zu der Gesellschaft gehöre, die eine geschlossene sei. Ich antwortete ihm, daß ich seit einer Viertelstunde erst mich des Glückes erfreue, uon Libaus Mauern umschlossen zu werden, folglich auch nicht das Necht habe, mich als Mitglied irgend einer hiesigen Gesellschaft zu betrachten, daß ferner der einzige Zweck meines Kommens darin bestehe, mir ein kräftiges Abendessen und ein schönes Glas Wein für Geld und gute Worte zu verschaffen und dann in ein bequemes Bett zu steigen. Hierauf fragte er mich. ob ich irgcud einen Herrn der Gesellschaft kenne. Ich mußte dies verneinen, fügte aber hinzu, daß weitere Förmlichkeiten mir durchaus überflüssig schienen, da man aus meinem Wirthshause, wo man mit den Regeln der Gesellschaft „Muße" gewiß bekannt sein werde, mich unmöglich hierher gewiesen haben würde, wenn ich, um ein Stück Kalbsbraten und ein Glas St. Julien zu erlangen, mich zuvor einer Vallotage unterwerfen müsse. Er erwiederte, daß weiter nichts nöthig sei, als einen der Hcnen Vorsteher, von denen er auf meinen Wunsch sofort Denjenigen, auf den er zunächst stoßen werde, heraus' 51 rufen wolle, um die Erlaubniß zu bitten, mir in den Zimmern der Gesellschaft ein Abendessen scrvi-ren lassen zu dürfen. Bei der großen Artigkeit, ja Herzlichkeit, welche in ganz Nußland gegen Fremde beobachtet wird, hätten nun die Vorsteher mir gewiß mit höchster Liberalität gestattet, die Zimmer der Gesellschaft wie meine eigenen zu betrachten, aber ich würde ihre Liebenswürdigkeit unmöglich durch ein absolutes Schweigen haben vergelten dürfen. Ich hätte mich deshalb zn einer Unterhaltung angestrengt, für die meine erschöpften körperlichen nnd geistigen Kräfte nicht ausgereicht haben würdeu. Mit höflichster Miene dankte ich daher dem Bedienten für seinen guten Willen und erklärte, wie ich mir schon werde zu helfen wissen. Bald war ich wieder auf dem Marktplätze im Freien und dachte bei dem hellen Mondenschein, daß, wenn Faust des Hungers Pein gekostet hätte, er hierüber jedenfalls noch viel beredter lamentnt haben würde, als über die engen Grenzen, welche seiner Vernunft gesteckt waren, und die er mit der kühnsten Speculation nicht zu überfliegen vermochte. Erst in der frischen Abendluft, die meinen Hunger bis zu einem schrecklichen Grade steigerte, fiel es mir ein. wie ich dem Diener in der „Muße" gegenüber eigentlich viel stolzer nnd ruhiger gesprochen habe, als mir innerlich zu Muthe sein durste. Ich konnte nach den Auslassungen der blonden Kellnerin nämlich durchaus nicht aus ein Adendbrod in nm- 4» 52 nem Gasthofe rechnen. In nicdergeschlagmdster Stimmung kehrte ich demnach in mein Absteigequartier zurück. Ich bekomme zu essen. Als ich wieder auf meinem Zimmer angelangt war, polsterte ich mein unbequemes Sovha mrt Kopfkissen aus, legte mich der Länge nach auf dies jetzt etwas bequemer gewordene Stück Möbel aus den Zeiten der lettischen Unabhängigkeit, die bekanntlich weit früher unterging, als das griechische Kaiserthnm. und ließ dann die Vlondine zu mir herauf bitten. Tie erschien heiter lächelnd, und ich bemerkte ihr, daß sie bei ihrem gutmüthigen Aeußern gewiß nicht die Absicht habe, mich verhungern zu lassen, und daß sie deshalb in höchster Eile meinem Magen, der anfange, jegliche Geduld zu verlieren, etwas zu essen schaffen müsse. Nachdem sie wieder etwas gelacht hatte, was ich gar nicht übel nahm, da es sie gut Neidete, erklärte sie mir, wie sie durchaus kein warmes Abendessen zu schaffen im Stande sei, wohl aber Thee, Butter und Vrod, Schinken, Mer, Wurst u. s. w. Ich hemmte ihren Redefluß, da mein armer Magen bei den vielen schönen Dingen, von denen er reden hörte, sofort alle diese Herrlichkeiten zu verschlingen verlangte, und rief ihr zu: Aber. Sie Grausamste Ihres Geschlechts, warum 53 sagten Sie mir das nicht gleich? Warum ließen Sie mich so ohne allen Grund nach der Muße rennen? Sie entschuldigte sich damit, daß die kurländischen Herren meist mit Thee und Butterbrod nicht zufrieden wären, und sie deshalb gefürchtet hätte, mir' einen Vorschlag zu machen, auf den ich doch nicht nngchcn würde. Ich crmahnte sie jetzt, schnell hinun-terzusteigcn und nur alles auf's Beste zu besorgen, obgleich ich nicht verfehlte, ihr beim Hinausgehen nachzurufen, wie leid es mir thue, daß mein abscheulicher Appetit mich des Vergnügens beraube, ein so frisches und hübsches Mädchen immer vor nur zu sehen. Unter heiterm Lachen stieg sie die Treppe hinunter und brachte mir in gewünschter Schnelle, wie es meinem damaligen Wolfshunger vorkam, ganz vortrefflichen Thee, Schinken, Käse, und wie Mst die Dinge, heißen mögen, die meinen knurrenden Magen befriedigen mußten. Als ich meine Begierde nach Speise und Trank gestillt hatte, übermannte mich die Müdigkeit. Da ich aber nicht gut einschlafen kann. ohne zuvor im Bette gelesen zu haben, so bat ich die Blondine, ihre Liebenswürdigkeit zu krönen und jetzt, da sie meinen Körper satt gemacht, auch für geistige Nahrung zu sorgen. Sie meinte, daß dies sehr schwer fallen werde, indem Herr Busse (der kleine Mann mit weißen Haaren und rother Nase betreibt nebst dem Vermiethen seiner c^nndi-^ ^nnio^ noch einen Handel mit Materialwaaren) wohl Taback, Käse, Vier und an- 54 dere derartige Dinge feil habc, aber keine Lecture. Sie versprach indeß, zu einem Nachbar zu schicken und ein Buch borgen zu lassen. Wirklich glückte es ihr, für mich einen Jahrgang der Hören zu bekommen, in welchem ich nne Abhandlung über Romeo und Julia las und bald darauf fest einschlief. MorMcrlclmisse. Meine erste Nachtruhe in Nußland war eine sehr erquickliche. Als ich am Morgen erwachte, thaten mir meine Glieder zwar noch weh, aber mein ganzes Wesen hatte wieder Nerv und Haltung bekommen. Da ich immer früh aufzustehen pflege, so kleidete ich mich in meine Morgentoilette und ging von meinem Schlafzimmer in den Vorsaal, wenn man einem ausgeweißten länglichen Naum mit einem vorsündsiuthigcn Sopha und Stühlen, die jedenfalls schon in der Arche Noah's gestanden hatten, einen solchen vornehmen Namen geben darf. Wegen meiner Gewohnheit, sobald ich nicht arbeite, in den Zimmern umherzuspazicren, wohne ich gern groß, und um die hiesigen, ziemlich beschränkten Räumlichkeiten für incine Morgenuromcnade zu erweitern, beschloß ich, das Fenster meines Schlafzimmers zum Ausgangspunkte zu nehmen, dann mich in den Vorsaal zu begeben und von da in das daran stoßende Geniach zu gehen, wo auch ein Vett aufge- 55 macht war, das ich natürlich leer anzutreffen hoffte. Ich begann also, in schöne Gedanken versunken, meine Wanderung. Wie groß war aber mein Schrecken, als ich das in den Salon mündende Weite Schlafzimmer betrat und einen Mann, dessen bleiches, interessantes Gesicht von einem dunklen Barte umrahmt war, tief eingeschlafen fand, so daß er mein leises Hereinkommen — ich trug Morgenschuhc mit dünnen Sohlen — gar nicht gehört hatte. Noch leiser, als ich hineingetrctcn war, zog ich mich zurück und beschloß sogleich, die Blondine wegen dieses Eindringlings zu intcrpelliren. Als ich die obersten Stufen der Treppe hinunterstieg, kam sie die ersten von unten emporgeklommen, mit ihrem vergnügtesten Lächeln um den Mund. Zwar verneigte ich mich, als unsere Blicke sich begegneten, sehr artig, wie ich os einem weiblichen Wesen schuldete, aber meine Herzlichkeit von gestern war verschwunden, weil sie ein mir unbekanntes, bärtiges Individuum während der Nacht hineingelassen hatte. Sie war zu klug, als daß ihr mein kälteres Wesen nicht hätte auffallen sollen, und sie begann daher, sobald sie den Kaffee auf den Tisch gestellt hatte, ihre Entschuldigung. Eigentlich habe sie gegen den neuen Gast ein Unrecht begangen, bemerkte sie klüglich, indem sie meiner bis dahin nur im Gesichtsausdrucke niedergeschriebenen Anklage zuvorkommen wollte, nämlich deshalb ein Unrecht, weil er das ganze obere Qnar< tier ein- für allemal für sich in Beschlag genommen. 56 da ihn sein Amt häufig mitten in der Nacht nach Liban führe, und er dann stets eine bequeme Wohnung vorfinden wolle. Derselbe sei als Ofsicier bei der Grenzwache angestellt, und sie habe sich nach früheren Vorkommnissen ungefähr ein Schema in chrem Kopfe aufgesetzt, wann sein Eintreffen Wahrscheinlichkeit habe, und wann nicht. Nach ihrer Berechnung habe er die verflossene Nacht durchaus nicht kommen können, und ihr Schrecken sei deshalb kein llcincr gewesen, als es plötzlich laut an der Draußenglocke geschellt habe, und sie beim Heraustreten seiner ansichtig geworden. Ich werde aber von seinem nächtlichen Durchschreiten des Salons nichts gehört haben, da sie ihn dringend ersucht, ja recht leise aufzutreten, indem ein Herr aus Deutschland sehr erschöpft angekommen sei und die unbedingteste Ruhe um sich herum erbeten habe. Meine verdrießlichen Stirnfalten verzogen sich allmälig, als sie mir in so strömender Nede von ihrer schlauen Berechnung er-ähltc. die mir zunächst ein allerliebstes französisches Vaudeville.in's Gedächtniß zurückrief, in welchem eine Mademoiselle Clozel und ein Monsieur Villars ganz vortrefflich spielten. Die Pointe dieses Stückes bestand darin, daß eine schlaue Pariser Wirthin dasselbe Quartier an ein Nähmädchen und einen Bäckergesellen vermiethet hatte, von denen der Lehtere die ganze Nacht hindurch stets bei seinem Meister beschäftigt war und nur um die Mittagszeit auf wenige Stunden nach Hause kam. währcnd um- 57 gekehrt die Nätherin Tagsüber außerhalb ihrer Wohnung arbeitete und nur zum Schlafen in ihr Zimmer zurückkehrte. Die Wirthin hatte auf dicsc Weise längere Zcit eine zweifache Miethe eingestrichen, bis endlich ihre unerlaubte List doch entdeckt ward, indem das Nähmädchcn zufällig bei Tage nach Hause kam und dort den Bäckergesellen antraf, der sich eben Cotelettes braten wollte. Man erräth leicht, daß nun ein Zankductt erfolgte, jeder seinen Mieths-schein hervorsuchte, die Wirthin hereinrief und ihr denselben unter die Nase hielt. Da aber Vaudevilles bekanntlich ine tragisch enden, und der Bäckergeselle und das Nähmädcken Beide sehr schmucke, junge Leute waren, so verlobten sie sich stracks. Durch die Erinnerung an meine so heiter verbrachten Abende im französischen Theater ward ich überaus gltter Laune, so daß ich die blonde Kellnerin mit unangenehmen Redensarten gänzlich verschonte und bald ein nicht minder freundliches Gesicht machte, wie sie es mir zeigte. Nährend ich mir Kaffee einschenkte und etliches Gebäck verzehrte, suchte ich die Blondine, wie am verflossenen Abend, in eine zwanglose Unterhaltung zu verflechten, was bei ihrer großen Sprcch-lust nicht die geringste Schwierigkeit hatte. Sie ei> zählte mir unter andern,, daß der junge Ofsicier mit dem bleichen, interessanten Gesichte, der im Nebenzimmer schlief, ein Graf Mcngden sei. Derselbe befehlige eine Abtheilung Soldaten, welche längs der 58 preußischen Grenze bei Tag und Nacht umhcrstreiftn müßten, um dem frechen Eindringen der jenseitigen Schmuggler zu wehren. (Daß die preußischen Schmuggler mit unbegreiflicher Kühnheit, in großer Anzahl und gut bewaffnet, namentlich während der Kriegsjahrc 1854 und 1855 meilenweit in Nußland hineinzubringen pflegten, wird wo! den meisten Lesern durch die Zeitungen bekannt geworden sein.) Da mir viel daran lag, mich nicht in mein Schlafzimmer zurückziehen zu müssen, so fragte ich die Kellnenn, ob der Officier auch Ansprüche auf den Salon erheben werde, oder ob ich mich als den alleinigen Besitzer desselben betrachten dürfe. Die Blondine meinte, daß, da der Officier in der Nacht sehr spät angekommen sei, so werde er wahrscheinlich bis tief in den Morgen hinein schlafen und dann sogleich zu seiner Frau hinabsteigen, die unten ihre Zimmer habe. Nach dieser Erklaruug glaubte ich mich berechtigt, in dem Vorsaale nach meinem Belieben schalten zu dürfen, und holte deshalb meine Echreib-maftpe hervor, weil ich meiner Mutter und einigen andern Personen von meiner bis dahin glücklich vor sich gegangenen Reise ausführliche Nachrichten geben wollte. Ich trank schnell meine lchte Tasse Kaffee aus und besinne mich nicht, daß nur damals an diesem Getränke, von dem ich ein ebenso großer Freund, wie vom Thee, bin, irgend etwas aufgefallen wäre. Indeß mochten auch die ganz neuen Umgebungen, 59 . M denen ich mich befand, so meine Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, daß mir für ein kritisches Kosten der mir dargebotenen Speisen nnd Getränke keine Besinnung übrig blieb. Später, als ich mich längere Zeit in dem Gasthose aufhielt, merkte ich allerdings, das; Kaffee nnd Thee einem verwöhnten Gaumen durchaus nicht genügen tonnten. Vor allen verdroß es mich, daß man nur mein Lieblings-getrnnk so karg gemessen brachte. Für meine Neigung zum Kaffee habe ich an Voltaire eine Entschuldigung, dcr, wenn ich nicht irre, den Tag über sechzehn bis achtzehn Tassen dieses köstliches Getränks nüt dem größten Behagen ausschlürfte. Guter Kaffee, den man ohne Zucker und Sahne trinkt, ist das Einzige, was man an der Türkei loben kann. ^ch begreife nicht, daß Frau von Ecwigm' dem herrlichen Mocca keinen Geschmack abgewinnen konnte. Hätte sie meinen Libau'schen Kaffee getrunken, so würde sie zu ihrer Geringschätzung Grund gehabt haben Als ich bei meiner Pilgerung durch Kurland einem Baron von Treyden, der zu den sehr würdigen Edelleuten dieser Provinz gehört, —er ist em Mann von altem Schrot und Korn — meinen Besuch abstattete, schilderte ich ihm in humoristischer Weise weine mannigfachen Entbehrungen, die ich bei der sonst so niedlichen Blondine nnd dem wackern Herrn Ausse zu erdulden gehabt. Da auch er von Zeit zu Znt nachLibau fuhr und in demselben Gasthofe ab- 60 stieg, wo ich gewohnt hatte, so warm alle komischen Einzelheiten, die ich durchgemacht, von keinem geringen Interesse für ihn. Plötzlich rief er lachend aus'. ,Mer, was sagen Sie zu der halbe« Tasse Kaffee, die man dort zu trinken bekommt?" Ich antwortete ihm. daß ich den ersten Morgen diese Wahrnehmung allerdings zu meinem nicht geringen Schrecken gemacht, das; lch aber diesem Uebelstande für die Folgezeit sofort durch die Erklärung abgeholfen habe. sie möchteinulfmeinc Rechnung so mele Portionen Kaffee schreiben, als ihnen beliebe, aber zwei volle Tassen müsse ich mindestens haben. Doch ich kehre von meinem Ausflüge auf das kurischc Land, den ich eben in Gedanken unternommen, und von dem sehr geschätzten Baron Treyden in meinen Libaucr Salon zurück, wo ich mit schneller Feder einige Briefe schreibe. Es mochten wol anderthalb Stunden, während ich meiner Korrespondenz oblag, verflossen sein. Inzwischen war ein russischer Soldat durch den Salon gegangen, um seinem Ofsi-cier Kaffee zu bringen und ihm beim Anziehen zu helfen. Der Soldat starrte mich an, nahm aber weiter keine Notiz von mir. Nach einer halben Stunde kau, der Graf Mcngden in voller Uniform aus seinem Schlafzimmer, um. wicichwolmitNecht vermuthete, zu seiner Gattin binnnterzusteigen. Ich evhob mich etwas vom Sopha, und wir erwiesen uns diejenige Höflichkeit, wie sie sich zwei Männer schulden, die sich sofort gegenseitig als Gentleinen er- 61 kennen. Als ich meine Briefe vollendet, ging ich mit besonderem Eifer an meine Toilette, weil iä, aus Erfahrung wußte, daß ein Fremder in kleinen Städten mit Argusaugen betrachtet wird. Eben als der Barbier mich eines mehrtägigen Bartwuchses entledigte, trat der Assessor von Nolde ein. der so freundlich war. meinem ihm angemeldeten Besuche zuvorzukommen. Auf leine Autorisation ließ ich den Varttünstler sein Geschäft zu Ende bringen und war. nach Vollendung meiner Toilette, mit dein gemüthlichen, herzigen Manne bald in einem lebhaften Gespräche begriffen. Der Assessor von Nolde bot sich mir in sehr verbindlicher Weise zum Cicerone durch Libau an. was ich dankbarst acceptirte. Als ich schnell Hut. Handschuhe und Stock aus dem andern Zimmer geholt und mit dem überaus höflichen Herrn von Nolde einen, endlich siegreich von mir bestandenen Kampf wegen des Portritts gehabt hatte — ich hätte es nimmer über das Herz gebracht, dem weiß-häuptiaM Manne voranzugehen — stieg ich mit ihm die Treppe hinunter und überlieh mich. unten auf der Straße angelangt, seiner gefälligen und einsichts-vollen Führung. Die Seestadt Libau. Wenn cs dem freundlichen Leser jetzt recht wäre. so möchte ich ihn ersuchen. mir auf meiner Wan- 62 derung durch Libau die Ehre seiner Begleitung schenken zu wollen. Die Sonne scheint zwar freundlich, aber wir sind erst im April und unter einem hohen Breitengrade; der Wind blast scharf vom Meere her. und ich rathe dem geehrten Leser deshalb, sich einen Pelz anzuziehen, um mich in aller Gemüthlichkeit durch die Straßen Libaus begleiten zu können. Was mich betrifft, so verschmähe ich, obschon keineswegs eine abgehärtete Natur, mich ganz und gar von dem Felle eines wilden Thieres umschließen zu lassen; mein leichter, grauer Mantel genügt mir. Die Kurländer sind stets erstaunt, wie die Fremden, womit sie die aus wärmeren Climatcn Gekommenen bezeichnen , im ersten Jahre die Kälte viel besser aushalten können, als die Eingeborenen. Im zweiten Jahre sollen die Fremden aber mit großem Verlangen nach dem Pelze greifen, und wenn ein neuer Winter in's Land kommt, bei dem Kürschner sich aufs Angelegentlichste erkundigen, welche Schutzmittel man noch ferner gegen die abscheuliche Kälte anwenden könne. Da heute die Sonne so hell, wenngleich nicht warm scheint, so schäme ich mich fast mcmes grauen Mantels; ich komme mir sehr groß-vätcrlich darin vor. Wenn der geehrte Leser aber gefälligst darauf ackten will, wie die meisten Libauer noch tief in Pelze vergraben sind, so schwindet das unangenehme Gesühl einerSelbstverzürtclung. Doch nun. da wir eine Menge Straßen durchrannt sind, 63 sagen Sie mir gefälligst, mein liebenswürdiger Begleiter, welchen Gesammtcindruck tm Stadt auf Sie gemacht hat. Ist sie nicht sehr freundlich? Gefallen Ihnen nicht die breiten, heitern Straßen? Achten Sie auf die Bauart! Die Häuser sind meist nur von einem Stock mit einem Giebel darauf. Sollten Sie etwa eine Reise durch England gemacht haben, so wird Ihnen einfallen, daß die Häuser in Chester meist aus demselben Material bestehen, wie die in Libau, nämlich aus Holz. Nur ist der Unterschied zwischen der englischen und kurländischen Stadt, daß die erstere einen sehr alterthümlichcn, die lelztere einen sehr jungen, frischen Eindruck macht. Auch sind die Häuser in Chester mit geringen Ausnahmen mehrere Stockwerke hoch. Worin Mau wieder Aehnlichkeit mit einer englischen Stadt hat, das ist einmal der Eindruck des Saubern und Neinlichen ~^ was freilich in Albion weniger für die Seestädte, als für die kleinen Landstädte und Padeörtcr gilt, die von Fabriken nicht eingeräuchert sind — und dann treffen Sie hier die ebenfalls England kennzeichnende Eigenthümlichkeit, daß die meisten Häuser nicht mehreren Familien, sondern nur einer einzigen, zur Wohnung dienen. In Bremen und Toledo ist dieselbe Erscheinung charakteristisch. Das Bestreben des Engländers, womöglich sein Haus für sich allein zu haben, theilen auch die wohlhabenden Familien Libaus. Würden sie sich nun auf Häuser mit mehreren Stockwerken steifen, so möchten 64 ihre Vermögcnsverhältmsse, die meistens mittlere, aber keine glänzenden sind, ihnen wohl nicht gestatten, dein Wollen auch das vollbringen folgen zu lassen. Da aber ein einstockiges Haus mit einom Giebel darauf nicht sehr viel Geld kostet, so können sie diese, nach meinem Dafürhalten überaus richtige Ansicht ohne Gefährdung ibrer Börse durchführen. Nebrigens dehnen sich die Libau'schen Wohnungen nieist sehr lang nach beiden Seiten der Hausthür hin, so daß man rechts und links eine stattliche Reihe von Zimmern antrifft. Die Straßen führen ganz dieselben Namen, wie in Deutschland, Man findet eine Große-, Holz-, Katholische-, Kauf-, Kraut, Schmiede-Straße u. s. w. Auch Gassen trifft man hier an. Freilich sind diese dann auch entschieden enger und mit weniger guten Häusern beseht, als die eigentlichen Straßen. In Dresden und Frankfurt am Main heißen oft Straßen mit sehr schönen und stattlichen Häusern „Gassen". Für Libau fällt mir die Schreiber- und die Fisch-Gasse ein. Meiner Gewohnheit gemäß bin ich nämlich die ganze Stadt mehrcremale durchrannt, um ein recht anschauliches Bild uon ihr mit fortzunehmen. Dir einzige Straße Libaus, für die ich kein Analogon in Deutschland weiß, ist die Fromme-Straße. Die Libau'sche führt sehr passend ihren Namen, weil sie längs der Lettischen Kirche sich hin erstreckt, und der würdige Geist' lichc dieser Gemeinde, der Pastor Nottermnnd, in ihr wohnt. Auch befindet sich in derselben Straße ft5 ein schönes, niassives Gebäude, in welchem den Invaliden des Arbeiterstandes eine Zufluchtsstätte geboten wird. W steht unier dem Patronat der regierenden Kaiserin, Maria Alerandrowna. und heißt nach ihr./Marien-Ärmenbaus". Sie sendet jährlich zur Untersttchung dieses, die Armen an ihrem Le-bensabende liebevoll aufnehmenden Institnts eine Tunnne Geldes aus St. Petersburg, deren Betrag ich nicht genan anzugeben vermag, die aber bei den ungeheuren Ansprüchen eines Niesenreiches an du kaiserliche Wohlthätigkeit unmöglich sehr groß sein kann. Bei der echt landesmütterlichen Gesinnung der edlen kaiserlichen ssrau, die in ihrem schonen, weiten Heizen für Jeden ihrer vielen Millionen Unterthanen ein Plätzchen hat, fordert sie alljährlich einen genauen Bericht ein über die Anzahl der auf-genommenen Armen, über die Beschaffenheit ihrer Wohnungen, die Nahrhaftigkeit der chnen gereichten Speisen, über die ihnen zn Theil werdende Seel-sorge: kurz. Nichts entgeht ihrem hellen, durch die Aebe geschärften Blicke. Unter der Negierung eines so menschenfeindlichen Kaiserpaares, wie Alezander und Marie, stehen Nußland segensreiche Jahre bevor. Gott erhalte sie ihren Bolkern recht lange und bewahre ihnen die edle Humanität, die schönste Perle in ihrer demantstrahlenden Czarenkrone! Außer der ,.,N'onnnen-Sttaße" 'st nur die Herrm-Strafte m Libau aufgefallen. Wenn ich nicht irre, findet man in Berlin eine Junker-Straße, obgleich 5 66 die freisinnigen Bewohner dieser Hauptstadt der Intelligenz auf Iuntcrthum sehr wenig gut zll sprechen sind. Die Großc-Straße in Lilian ist unbedingt die längste, breiteste und mit den besten Gansern besetzte des ganzen Ortes, Aiclc von den Gebäuden dieser Straße haben zwei Stockwerfe. Man ficht hier häusig Wappen aushängen, nämliclian den Häusern der l^.onsuln, welche die handeltreibenden Völker hier angestellt babeu. Da ich zur Kriegszeit in Liban war, so hatten der englische und der französische Consul natürlich ihre Wappen hereingenommen und wahrscheinlich auf den Heubodeu hingestellt. Ich besuchte während meines Aufenthaltes in Liban keine Gesellschaften, weder die des Adels noch des Bürgcrstandes, Daß ich keine allzu große ^nst hatte, mich in die Kaufmannskreise zu wagen, wird inan begreiflich finden, wenn ich später eine Kampfscene zwischen dem Consul Hagedorn und einem Engländer zu schildern versuche. Aus einem Grunde habe ich nun doch bedauert, mit den Libaucr Kaufleuten nicht in Berührung gekommen zu sein. Da mich nämlich Schönheit und Anmuth der Damen stets bezaubert, und man mir später von verschiedenen Seiten erzählte, dah der englische Konsul, Herr Schnobel, eine sehr hübsche Frau habe, freilich schon über den ersten Lenz hinüber, aber noch immer sehr fesselnd und anziehend, so wäre ich gern mit dieser Familie zusammengetroffen. Die Consulin Schno- tt7 del war keine Knrländerin von Geburt, sondern ibr Mann hattc sic aus England heimgeführt. Als man nur ihr Vaterland angab, bcstritt ich ihre Schönheit keinen Augenblick, wohl aber ihre Grazie. Diese erNärte man mir dadurch, daß sie unter den Tropen groß geworden sei und von den Kreolinnen die bezaubernden Bewegungen und die malerischen Stellungen sich angeeignet habe. Auch dies schien mir plausibel, und nur fehlte demnach jeglicher Grund, der Frau ssonsulin Schnobcl Sckönsieit oder Grazie abzudisvutiren. Uebrigens war zu meiner Zeit die eigenNläie Gesellschaftslust in Mau ganz erstorbcn. da die strenge Blockade der Engländer jeden Handel unmöglich machte, nnd deshalb die meisten Familien sich zu Einschränkungen genöthigt sahen. Als ich un Februar des Jahres 185ttLibau wieder bcrülirte, fand ich die Physiognomie der Stadt viel heiterer. Der ungewöhnlich milde Winter hatte nämlich tein Eis an der Küste gebildet, und der langverödete Hasen lag voll achtundzwanzig stattlicher Kauffahrteischiffe. Die Libancr waren dieses Trostes mnso-mchr bedürftig, als ihnen durch die englisch-französische Blockade in den verflossenen zwei Jahren nicht nur der Handel zerstört worden, sondern auch die Vadegesellschaft ausgeblieben war. Es ist nämlich diese freundliche Seestadt ein Lieblingsbadcort der Ostseeprovinziancr, Nnn aber wollte in den Jahren, wo die englischen Kriegsschiffe vor dem Hafen lagen, 68 fein Mensch nach Libau kommen, da man alle Augenblick? irgend einen brutalen Streich John Bulls befürchtete. Einen Schreckcnstag, den die Engländer den armen Libauern im Frühling de^ Jahre 1854 bereiteten, werde ich in einer besondern Schilderung zur Anschauung zu bringen suchen. Ob die Stadt Libau, die in Chroniken häufig mit einem „c" geschrieben wird, von Letten oder von Deutschen gegründet sei, das mögen die Gelehrten entscheiden. Woher der Name komme, darüber findet man viele und zwar sehr von einauder abweichende Angaben. Nach einem Berichte, den ich in der „kurländischen Kirchengeschichte von Tetsch" antraf, hätten Deutsche den Ort gegründet und bei ihrer Anfrage au die Landesherrschaft, ob sie sich hier niederlassen dürften, den freundlichen, aber kurzen Bescheid bekommen'. „Ihr Lieben baut," woraus durch Abkürzung der Name „Libau" entstanden sei. Hiernach wäre es richtiger, Libau mit einem „c" zu schreiben, was aber gemeiniglich nicht geschieht. Andere leiten den Namen, „Libau" von dem Flusse Aba ab, der hier in das Meer mündet. Paul Einhorn, der über kurlündische provinzielle Vcrhältmsse viel Merkwürdiges und Fesselndes nutlheilt, giebt dem Namen „Libau" unbedenklich einen lettischen Ursprung und behauptet, das; er aus dem Worte „I^r^a" entstanden sei. was einen Ort bedeutet, wo Linden stehen. Einhorn erzählt. 69 daß zu seiner Zeit noch hochbetagte Leute sich dcr vielen Linden erinnerten, die früher in Libau aller Orten gestanden hätten. Die lettisch sprechende Bevölkerung des Landes heißt Libau noch heute ,,I^(?p^!", wie sie Mitau Ielgawa nennt. Die abgeschmackteste Erklärung des Namens „Libau" ist wühl die gewaltsame Ableitung vom römischen Admirale Scnbomus Libo. Ich erwähne dies bloß, um zu zeigen, wohin durch zu vieles Studiren blind und vernagelt gewordene Gelehrte gerathen können. Wollte ich den geehrten Leser mit dem mir bekannten etymologischen Unsinn unterhalten, derselbe würde, in einer einzigen Stunde graue Haare be-kmumen, wie die arme Marie-Antoinette in einer einzigen Nacht. Da man bei unentschiedenen Behauptungen über Dinge dcr Vergangenheit gut thnt, der Geschichte durch Heraldik, Sphragistik und Numismatik zu Hilft zu kommen, so habe ich mir das Wappen der Stadt Libau angesehen nnd gefunden, daß es einen Lindenbanm, dcr auf lettisch '^<^>->" heißt, ich weiß nicht gleich in welchem Felde zeigt, und einen Löwen zum Schildhalter hat. Mir scheint demnach dcr Ursprung des Namens „Libau" durch Paul Ginhorn am Besten erklärt worden zu sein. Daß schon im dreizehnten Jahrhunderte Deutsche in Liban gewesen, erhellt deutlich aus mehreren Ur-kuuden. Libau, welches die südlichst gelegene Seestadt 70 Rußlands am baltischen Meere ist, wäre gewiß längst schon zu einem ,^riegshafen geinacht worden, wenn nicht die vielen Sandbänke, die sich rings um die Küste lagcvn, diescin Vorhaben große Hindernisse in den Weg legten. Die Negierung von St. Petersburg hat jetzt auf Windau ein Auge geworfen und im Jahre 1856 dorthin Teeofsiciere gesandt, die sich durch Ausmessungen überzeugen sollten, ob hier vielleicht ein bequemer Kriegshafcn in's Leben zu rufen sei. Mau hat durch seine vechältnißmäßig südliche Lage den Vortheil, daß sein Haftn viel früher vom Eise frei wird, wie der Riga'sche und der von St. Petersburg. M hat vor der baltischen übermächtigen Rivalin oft einen Vorsprung von drei. vor der russischen kapitale zuweilen von sechs Wochen. Der Handel Libaus würde übrigens weit größere Dimensionen erlangt haben, wenn nicht alle balüfchen Seestädte bedeutend zu Gunsten von St. Petersburg benachthciligt wären und viele Pro-ducte nicht einführen dürften, die so zu einem Monopol für die Hauptstadt gemacht werden. Trotz dieses Hemmschuhs ist Libau nach Riga die bedeutendste Handelsstadt der russischen Ostseeprovinzen geworden und läßt Pernau, Reval, Narwa, Abo, Helsingfors bedeutend hinter sich. Diese Bevorzugung von St. Petersburg scheint mir ebenso ungerecht wie unpolitisch zu sein. Warum gewaltsam die Menschen in eine große Stadt zusammendrängen, von wo aus bei schechten Ernten oder politisch 71 aufgeregten Zeiten stets der Zunder der Empörung über das Land fliegt? Wahrhafte Monarchisten dürfen das übermäßige Anwachsen der Hauptstädte gar nicht wünschen. Da St. Petersburg schön und groß genug ist, folglich das Bevorzugen durchaus nicht nöthig hat, dao eiue Menge von Kaufleuten wit sihrem beträchtlichen Anhange zwingt, sich dort niederzulassen; da ferner der Gerechtigkeit athmende Tinn des gütigen Merander it., der seine Liebesstrahlen über alle seine Unterthanen in gleicher Wärme ergießt, Privilegien, die keinen weisen Zweck haben, entschieden abhold lst, so darf Libau hoffen, daß ihm bald ein unbeschränkter Import werde gestattet werden. Das Kapital, welches Libau im Handel besckäftigt, soll etwas über sechs Millionen Nubcl Silber betrageu. Eigentliche Crosusse findet man unter den hiesigen Kaufleuten nicht. Ick bin mebreremale in den Libau'sclien Hafen gegangen, um die Behauptung Kohls, daß die hiesigen Lootsen plattdeutsch sprechen, einer Probe zu unterwerfen. Leider bin ich auf keinen Lootscn gestoßen und konnte so keine Unterhaltung in jenem Dialekte anfangen, der durch den Quickborn der unverdienten literarischen Vergessenheit entrissen ist. Togar in Niga und Neval sollen die meisten im Hafen beschäftigten Personen plattdeutsch sprechen. Die Nhederei Libaus ist ebenfalls durchauanicht von winzigen Dimensionen. Ich kann nicht gleich genau angeben, wie mcle Schisse die hiesigen Kauf- 72 lcute auf dem Meere schwimmen haben, aber ihre Zahl ist mcht unbeträchtlich. Ich glaube, daß Libau das reiche Niga sogar an Besitz eigener Schiffe übertrifft. Ueber alle diese Materien las ich das Erforderliche genau nach, sammelte auch die nöthigen Notizen, weiß aber fataler Weise nicht, in welchem Winkel meines Neisctoffers ich mein statistisches Material geborgen habe und mnß deshalb nach dem Gedächtnisse angeben, das häufig irreleitet. Da ich hier nun doch einiges Statistische über Libau geben muß uud dem Leser diesen etwas trockenen Gegenstand, etwa du'in den Conditoreien Norddeutschlands bekannte Sandtorte, nicht ganz ersparen darf, so will ich gleich in größtmöglicher Kürze damit verbinden, was in dieser Materie über Kurland zu sagen sein möchte, Von den Städten des früheren Herzogtliums, jetzigen Gouvernements, Kurland hat Mitau allein mehr als zwanzigtauscnd Einwohner, Libau erreicht zehntausend, alle übrigen kommen nicht über fünftausend herüber. Die kurischcn Städte mögen ihrer Bedeutung nach wohl so aufeinander folgen: Mitau, Libau. Goldingen, Windau, Hasenpoth. Talsen, Tnccum, Bauöle, Gwbin. Die Einwohnerzahl ganz Kurlands ist eine für das Areal von fünfhundert Quadratmeilen recht schwache. Nach dem Verhältnisse Belgiens müßte es über vier Millionen Einwohner haben, währendes nicht ganz550,000zählt, als auf jeder Quadralmeile wenig über Taufend. 73 In Belgien kommen oft aus eine Quadratmcile vicrzehntausend Einwohner, ebenso in den gesegneten Fluren der Lombardei. Wenn ich oben für Kurland 500Quadratmeilen angab, so richtete ich mich dabei nach der Belehrung von Männern, die über ihre Provinz gut unterrichtet sind und diese Zahl als das Resultat der neuesten Ausmessungen anführten. Verghaus giebt für. Kurland 497 Quadratmcilen an, Dr. Benjamin Ritter nur 473 Onadratmeilen und 459,000 Einwohner. Der geehrte Leser ersieht hieraus, wie selbst übev europäische Länder noch seln abweichende Angaben vorkommen. Eo führt bitter Windall mil 1^00 Einwohner an, was entschieden zu wenig ist. Bei Gelegenheit dieser Stadt will ich doch des Windau-Kanals gedenken, welcher die Windan mit der Dubissa verbindet. Für das Kanalwcsen sind in Rußland sehr schätzbare An. ltrengungen gemacht. Es steht in dieser Hinsicht "nr hinter England und Frankreich zurück, alle übrigen Länder übertreffend. So ist z,B. die Ostsee unt dem kasvischen und schwarzen Meere durch Kanäle verbunden. Nenn aus den statistischen Angaben erhellt, daß Kurland nicht an Uebervolkerung leidet, so wird es doch bald seine Population sich lieben sehen, da der Adel den Anfang gemacht hat, einen freien Bauern stand zu schassen, und zwar dodurch, daß er ihm Lcmd in Pacht giebt. Es soll bei einzelnen Bauern lchou eiu erfreulicher Wohlstand an den Tag treten. 74 Von den zehntausend Einwohnern nun. die ich üben für Libau angab, sind der Adel, der Kaufmannsstand und die Handwerter Deutsche, während die dienende Bevölkerung meist aus Letten besteht. Da Libau eine Handelsstadt ist. so donünirt natürlich daselbst der Kaufmannsstand. Der Adel ist sehr schwach vertreten; seine Mitglieder, die hier wohnen, sind nieist nicht reich. Der einzige Edelmann, der während meiner dortigen Anwesenheit ein großes Haus ausmachte, wozu er durch sein bedeutendes Vermögen auch aufgefordert wurde, war ein Baron von Dellingshausen, der übrigens in Libau nur einen vorübergehenden Aufenthalt genominen hatte, aber ursprünglich aus Esthland stammte. Er hatte das schönste Haus der Stadt gemiethet, und es versammelten sich bei ihm an einem bestimmten Tage in der Woche alle dnrch Geburt oder Geist ausgezeichneten Personen, die Libau in seinem Schooße birgt, und deren Zahl nicht allzn groß sein mag. Wie es hieß, herrschte in seinen Cirkeln ein sehr feiner und angenehmer Ton. Man bot mir an, mich bei ihm einzuführen, was ich aber dankend ablehnte, da ich voraussehen konnte, daß ich eine hinlängliche Menge liebenswürdiger Leute in den Ostseeprovinzcn kennen lernen werde. Ich wollte mich aber durch allzu große Sympathien nicht an den Norden ketten lassen, indem es, wenn es der Himmel vergönnt, meine Absicht ist, den schönen, 75 farbenduftigen Süden zu meinem bleibenden Aufenthalte zu wählen. Wenn ich die Stadt Libau recht ausführlich behandele, so geschieht es deshalb, weil sie, wenn auch der Größe und Einwohnerzahl nach die zweite der Provinz, doch durch die Freundlichkeit der Bauart und des Aussehens entschieden den ersten Plah verdient. Man fi'chlt sich gleich heimisch und wohl in Liban. Aber Schattenseiten finden sich daselbst natürlich auch, wie überall, aufdicserunvollkommenen Erde. Zuerst muß ich über das Straßenpflaster dieser sonst so löblichen Stadt seufzen, das furchtbarste, was je die Füße armer Sterblichen gequält hat. Jeder Libauer muß an jedem Fuße mindestens zwanzig Hühneraugen haben. Daß meine bis da-^Ul glücklich davor bewahrt gebliebenen Füße auch ^u Libau dieser quälenden Hornhaut entgingen, vcr-"wke ich meinem seltenen Betreten dieses unverantwortlichen Straßenpflasters, das die Väter der Stadt ^nualeinst nicht werden verantworten können. In vielen bedeutenden Städten Europas ist übrigens das Straßenpsiaster fast ebenso schlecht. In "bau fließen doch mindestens die Gossen nicht mit-tca in der Straße, wie dies in Stralsund und Con« stantiuopel der Fall ist. Ein anderer Ucbelstand Abau's ist das gelb aussehende Trinkwasscr, das nur an wenigen Stellen der Stadt in gewünschter Klarheit gefunden wird. Es erinnert an das schmulng gelbe Nasser 76 des Missisivpi, dessen Ida Pfeiffer im vierten Theile ihrer „zweiten Weltreise" gedenkt, nicht minder an das Tiberwasser Rums. Vielleicht, daß es sich zu Ehren des römischen Admirals Sciibonius Abo so gelb gefärbt hat, von dem, wie ich schon anführte, vernagelte Gelehrte alberner Weise behaupten, er sei nach der Schlacht bei Pharsalus — bekanntlich weiß man nicht so recht, wo er geblieben ist — in den Norden gerathen und habe die Stadt Libau gegründet, die sich dann pflichtschuldigst mit semcm Namen geschmückt. Merkwürdiger Weise schöpft man das klarste Wasser aus dem Brunnen, der dicht bei dem Wohnhause des katholischen Pfaffen liegt. Im Allgemeinen kann man der geistlichen Miliz des Papstes nicht vorwerfen, daß sie zur Klärung des Trüben und zum allmäligen Verschwinden des lieblichen Helldunkels beigetragen habe. Wenn katholische Äuchstabenglüubigkeit, der sich freilich das orthodoxe Lutherthum zugesellt, nicht von dem Wahne läßt, daß die Sonne stillgestanden auf Befehl so möchte der Mtramontanismus der Jetztzeit die Sonne ganz vom Himmel verschwinden machen und der Mensch" heit bei der dadurch entstehenden Finsterniß kein anderes Licht gönnen, als das feiste Mondgesicht des heiligen Vaters, der trotz seines täglichen Billard-spiclcns noch immer nicht mager werden will. Gegen die Behauptung Kohls, daß man das so eben besprochene Trinkwasser, um es genießbar zu 77 machen, durch ein Sieb lassen müsse, Protestiren alle Mauer mit großer Indignation und seltener Einstimmigkeit. Ob der Geschmack ebenso wenig angenehm, wie das Aussehen einladend ist, vermag ich nicht zu entscheiden, da ich es nie getrunken hade. Der Vermuthung nach mnß es recht schlecht sein, da bekanntlich das Trinkwasser der meisten Küstcnstädte nicht viel taugt. In Betreff Barcelonas macht Hack« lander dieselbe Bemerkung, Ebenso wie die Libauer dagegen Verwahrung einlegen, daß sie ihr Tnnkwasser nnr vermöge der Durchlassung durch ein Sieb genießbar machen können, mit nicht minderem (vifer protcstiren sie gegen Koliis Behauptung, daß sie den See, der bei seiner Mündung in's Meer ihren Hafen bedeutend vertieft und ihnen deshalb sehr werth ist, .,das kleine Meer" nennen, gleich den Tarcntinern, die bekanntlich von uncm N-li'o iiitx^u sprechen, das man nach allen Seiten hin auf das Bequemste übersehen kann. In Aranjuez macht man es aber am allerschlimmsten-^ fteilichnnißmanbeiderbolnbastischenAnodrucksweise der Spanier stets darauf gefaßt sein. daß sie die gewöhnlichsten Dinge mit den hochtönendsten Nedens-arten bezeichnen — in Arcmjuez nun nennt man einen ganz bescheidenen Teich „das Meer von Änti. Ma." Die Libauer dagegen versiäiern, das; sie nur cmen bescheidenen „Libau'schen See" kennen und sich ^uf hochtrabende Redensarten gar nicht einlassen. Der Lidau'sche See wird durch die Barthau oder 78 Parthau gebildet, die einer der beträchtlichsten Flüsse Kurlands ist, in Litthauen entspringt, und bevor sie bei Libau ein zwei Meilen langes und über eine halbe Meile breites Wasserbecken bildet, schon vor-her der Papelsee ihren Ursprung gab. In dieser wimmelt es ebenso von Fischen, wie in den meisten kurischen Städten von Juden, was eins der Geschenke ist, welches man der früheren Zusammengehörigkeit mit Polen verdankt. Ob nun dies von der Barthau gebildete Wasserbecken „Libaucr See" oder „kleines Meer" genaunt wird, mögen die zankenden Parteien unter einander ausmachen. Zuletzt, düucht mir, müssen die Libauer dies besser wisseil, als Kolil. Wenn ich jetzt von der guten Stadt Liban Abschied nehme, so geschieht es nur auf kurze Zeit und nicht auf Nimmerwiedersehen. Ich werde nämlich zu ihr zurückkehren, um die Badesaison von 18:'/) zu besprechen, während der ich mich für einige Wochen in die Fluthen der an dein Libauer Strande sehr falten Ostsee tauchte. Leider trugen die von mir so heroisch, bei strömendem Negcn und grimmigem Sturme, genommenen Bäder nicht im Geringsten dazu bei, mir von einer Krankheit zn helfen, die ich mir wahrscheinlich durch das nordische Clima zugezogen, und die deshalb so gewaltige Proportionen angenommen halte, weil ich sie in ihrem Entstehen zu bekämpfen unterließ. Mein spätes Einschreiten gegen mein Uebel hatte den Grund, weil ich gegen- 79 über dem Stoicismus, mit dem die Nordländer, gleich den Helden in den Nibelungen, l'övMliche Schmerzen ertragen, nicht allzu weichlich erscheinen Wollte. So ließ ich lange einen Vesuv von Schmerzen in meinem Innern glühen und brennen, ohne baß meiner muntern Unterhaltung und meinem hei-tern Gesickte irgend etwas anzumerken gewesen wäre. Doch ich eile jetzt hinaus auf das Land und in oie harzduftenden Wälder, um in den Muttcrarmen ber Natur meine körperlichen Schmerzen, für Augenblicke wenigstens, zu vergessen. Der guten Stadt Libau gebe ich beim vorläu-sissM Abschiede den Rath, sich besseres Straßenpflaster anzuschaffen, damit die französischen Ingenieure, die zum Abstecken der Eisenbahn bald in Uire Mauern kommen, nicht allzusehr klagen und stöhnen und mit dem Spotte ihrer Nation nicht ein Heer von Hühneraugen als nordische Errungenschaft mit in die Hei-inath zurückbringen mögen. Sollten die windigen französischen Ingenieure allzusehr über Dich herfallen, Du gute Stadt Libau, lo wird Dein ehrbarer deutscher Freund Dich und Deine wackern Bürger vor Unglimpf zu schützen wissen. Doch jetzt lebe wohl, Du gute Stadt! Auf ein baldiges Wiedersehen! 80 Der Telsscner Part. Ich vergaß, bei Gelegenheit der freundlichen Stadt Libau zn erwähnen, daß dieselbe auch einen Dichter anzuweisen habe, der Ludolf Schley heißt. Dieser ist toniglich schwedisch-nonoegischer Consul und feiert seit fünfundzwanzig Jahren und länger jedes irgendwie bedeutende Ereignis; Libali's und der Provinz Knrland. Ich habe mit rülMlichster Ausdauer die sämmtlichen, nicht wenig zahlreichen Gedichtsammlungen des Herrn Consuls Schley vor mein kritisches Formn gezogen, aber in denselben nichts gefunden, das der Mittheilung an meine deutschen Landsleute werth gewesen wäre. Wenn ich während dieser wenig erquicklichen Lecture oft seufzte und stöhnte, so zeugte dies allerdings von einer geringen Duldungstraft und einem wcnig ansgebildcten Nesignationsver-mdgen. Ich hätte mir das große Beispiel von Ger-vinus vergegenwärtigen sollen, der die Mühe nicht scheute, „um den Umfang der mittelalterigeu Litera-teratur zu bemeistem, sich mit Ausdauer durch endlose Werke zn schlagen, von deren Nichtigkeit man auf dem ersten Blatte überzeugt wird." Eine der Gedichtsammlungen des Herrn Consuls Schley ist der Baronin Korss, gebomcn Gräsin Keyserling, gewidmet. Da mir der letztere Name aus Deutschland her bekannt war, so erkundigte ich mich, ob diese Baronin Korff vielleicht eine Ver- 81 wandte der Linie Keyserling sei, die wegen der Grafschaft Nautcnburg einen erblichen Sitz im preußischen Herrenhanse hat. Hierüber konnte man mir nun freilich keine Auskunft geben, aber alle Menschen erschöpften sich mit seltener Einstimmigkeit in das reichste Lob, das sie den Tugenden der Baronin Korff und ihres Gemahls spendeten. Leider kam der Nachscch, daß Beide vor einigen Jahren gestorben seien. Dies betrübte mich aufrichtig, da ich ausgezeichneten Persönlichkeiten gern meine Hochachtung und Verehrung bezeuge und gewiß mich bemüht haben würde, die Bekanntschaft des Korffschen Ehepaars zu machen. Man erzählte mir, daß das Gut Tclssen, welches ich in den Gedichten von Echley, als der Baronin Korff gehörig, erwähnt fand, unfern der großen Straße liege, die von Libau nach Mitau führt; man berichtete mir ferner, daß die Libauer nach dem hübsclien Parke v,on Telssen Vergnügungsfahrten zu machen pflegten, wie die Berliner nach Tegel, die Dresdner nach Tharand, die Pariser nach St. Cloud und Montmorency. Ich beschloß deshalb, mir dies Gut anzusehen. Einmal lockte es mich, einen kurischcn Park mit einem englischen zu vergleichen, nnd dann wollte ich dort das Aussehen der ländlichen Bevölkerung studiren. Mit liebendem Blicke nämlich stets der Lage der geringen lassen nachforschend, war mir vor allen das Loos der Kuren interessant, die noch nicht ein ganzes halbes Jahrhundert der Leibeigenschaft entronnen sind. ' 82 InTelsscn. verhieß man mir, würdeich kräftige und glücklich aussehende Bauern antreffen, da dicKorffs schon seit undenklicher Zeit, vom Ahn bis auf den Enkel herab, väterlich für ihre Leibeigenen und später für ihre freien Üeute gesorgt hätten. Um dem verehrten Leser eine Prüfung zn gestatten, ob mein obiges Urtheil über den Dichter Lndolf Schley ein zu ungünstiges sei, gebe ich seinem kritischen Gaumen einige Verse aus der, an die Baronin Korff gerichteten Dedication zu kosten. Sie lauten i „Die Harfe tönt, — ein warmer Lcbenszug, Dem gleich, der meines Busens Harfe schlug, Wenn ich beglückt in Telsscns tauben weilte, Erweckt ihr lange stumm geblieb'ncs Spiel; Sie rauscht empor, — ein reges Kunstgefühl, Das gern und oft mit Deinem Geist ich theilte, Zieht rasch mich aus dem Alltagsleben fort. Die Seele schwillt — schon will sich Wort an Wort Zum Aedesttanzc an einander schliefen, Gin schöner Strahl duichdringt belebend mich; Gönn' mil die lohnende Empfindung, Dich Als Freundin dieser Töne zu begrüßen." Ich denke, der verehrte Leser wird nicht allzu unwillig werden, wenn ich die noch folgenden Strophen hier weglasse. Auch mit den eben angeführten würde ich ihn verschont haben, wenn ich mich nicht gegen den Vorwurf eines zu strengen Urtheils hätte sichern wollen. Zunächst hatte das Gedicht des Konsuls Ludolf Schley nun die Folge, daß ich von der großen Straße alilenkte und nach Telssen fuhr. Wie groß die Güter in Kurland sind, kann man 83 daraus abnehmen, daß ich fünsWerstc immer auf Telssener Grund und Voden hinrollte, bevor ich zu dem Parke gelangte, der dickt an das Herrenhaus stößt. Mein Kutscher hielt vor einer Pforte, und ich schwang mich aus dem Wagen. Da man mir in ^ibau gesagt liattc) daß die Venuhung des Parkes ohne voraufgegangene Anfrage gestattet sei, und die Pforte unverschlossen war, so ging ich dreist hinein. Man muß liier um .<>nnmelswillcn j?de Porstellung von einem englischen Parke fallen lassen. Ich fand in Telssen schöne Alleen, einen künstlichen Hügel mit der Aussicht auf wogende Kornfelder, die durch ^aubholzwalduugeu begrenzt wurden, hübsche Voskcts, einen Pavillon, der zwar verschlossen war, aber zu dein der Aufseher mir den Schlüssel auf meinen Wunsch sogleich verabfolgte, einen großen Teich, auf dem ulan zur Noth sich mit Kahnfahrten belustigen konnte — doch lockte hierzu ein in der. Nabe liegender See wohl mein —; aber ich traf nickts von dem herrlichen Geschmacke, der bei der Anlage englischer Part's vorwaltete. Die Engländer com-Poniren vortreffliche Parks, aber abscheuliche Opern, ^aß Albion keinen einzigen, nur irgendwie nennens-werthcn Conwonistcn erzeugt hat, beweist, daß man M der Westminsterabtei, in die man mit Necht auch ben Schauspieler Garrick aufuahm. für begabte Jünger der Tonkunst leinen Platz anzuweisen brauchte. Was im Telssener Parke meine Augen am meisten 6* 84 auf sich zog, war ein marmorenes Denkmal mit einer lettischen Inschrift, Erkenntliche Leibeigene hatten im zweiten Dccennium unsers Jahrhunderts einer überaus milden und menschenfreundlichen Baronin von Korff dies Denkmal als Zeichen ihrer Trauer und innigen Dankbarkeit errichten lassen. Auf der vordern Seite des Denkmals stand folgende Inschrift i Agueesei Lihsbetei Korff, Thaschu dsimtaigaspasÄM, dsimm-. 1758, mirri 1814. ' Doch, ich irre mich. dies stand auf der hintern Seite des Denkmals. Auf der Vorderseite las man, daß der Sohn der Telssener Grbfrau sammt der Gemeinde dcs Guts, der unvergeßlichen Mutter und Gebieterin dies Denkmal errichtet hätten. Wie sehr die geringen Leute wahrhafte Güte der Vornehmen zu erkennen wissen, davon zeugt dies Denkmal, das die Telssencr Bauern aus freicstcm Hcrzensantriebe errichten ließen, lind zu welchem sie den Veitrag des Sohnes chre? vnsw^emn Hnnn nm ungern empsw-5M. Doch ich will seht zunächst die Ucbcrschuna, des von mir angeführten lettischen Epitaphs geben. Diese würde ungefähr so lauteu i „Agnes Elisabeth Korff, Grbfrau von Tclssen, geboren 1758, gestorben 1814." 85 Jetzt komme ich zu der vordem Aufschrift des Denkmals, die so gefaßt war: Tai nepcemirstamei mahtei un waldneezei no sawe patciziga dehla un Tahschu nowadda. Dies möchte auf deutsch so wiederzugeben seini „Der unvergeßlichen Mutter und Gebieterin von ihrem erkenntlichen Sohne und der Tclsscn'schen Gemeinde/' Ich muß hier der allerorten grassirendcn Reimwuth gedenken. In Libau kam mir der Badefritz, von dem ich später reden werde, mit einem Gedichte entgegen; hier sollte ich eins von einem Schmidt lesen. Der Varon von Korff hatte nämlich in dein Pavillon ein Buch auslegen lassen, mit der Bitte an die Besuchenden, ihre Namen hincinschreiben zu wollen. An mich wurde dies Ansuchen in vielen Schlössern gestellt, aber ich bin demselben nie nachgekommen. Wäre ich ein.berühmter Mann gewesen, so hätte ich es für meine Pflicht gehalten, die Besitzer durch das Einzeichnen meiner Schriftzüge zu erfreuen; aber wie gleichgültig mußte es ihnen unter den jetzigen Verhältnissen sein, ob eine so unbedeutende Größe, wie ich, dort gewesen, oder nicht. 86 Wenn ich nun meinen Namen in das vor mir aufgeschlagene Buch des Telssener Pavillons ebenfalls nicht einschrieb, so durchblätterte ich doch dasselbe und fand unter andern darin Verse, als deren Verfasser sich ein Schmidt unterzeichnet hatte. Dieser hatte offenbar den Nath Herweghs in den Wind geschlagen; denn während der Lebendige alle Dichter todt haben wollte und nur den Ambosschwingern die Eristenz gönnte, wird gerade ein Schmidt aus Libau zum Poeten. Hcrweghs Rath, auf den ich ziele, lautete: „LasN, o lasst das Vcrscschweistcn, Auf den Amlwö legt dn6 Oisen, Eisen soll dcr Heiland sein," Der Schmied, wol ahnend, daß Herwegh gar nicht so das (nsen zu schwingen liebe, wie sein Bramarbaston erwarten läßt, schrieb ruhig und mit innerer Genugthuung über sein gelungenes Werk folgende Verse nieder, die allgemeinen Beifall fanden: „Das ist ein Mann nach alter Art, der wack'reKorffuon Telssen, Sein Herz ist mild und gütig sehr, sein Sinn ist fest wie Felsen," Nun, was sagt der verehrte Leser zu diesem Li-vauer Schmidt? Ihm muß wenigstens das Verdienst der Kürze zugestanden werden. Von dem Parke konnte ich in den Garten hineinsehen. Muntere Kinder hüpften darin umher, und schlanke junge Damen gingen lustwandelnd in den sauber geharkten breiten Wegen, bald sich zu einer Blume neigend, bald an den Spielen der tleiuen 87 Knaben und Mädchen theiluehmcnd: kurz, alles war Leben und Fröhlichkeit. Auf eingezogene Erkundigung erfuhr ich, daß dies die Kinder des Grafen Keyserling seien, dem jetzt, da er eine Tochter der Baronin Korff gcheirathct habe, das Gut gebore. Ich gedachte der früheren Besitzerin, deren seltene Tugenden namentlich ein würdiger Pfarrer gegen mich gerühmt hatte. Er war vor allen zu einem Urtheile berechtigt, da er mehrere Jahre in dem Korff'schen Hause als Lehrer couditionirte. Die Leute des Guts, mit deuen ich mich über ihre Verhältnisse unterhielt, versicherten nur zu meiner Ve-nchigung, das; die jetzigen Besitzer ebenso herablassend und wohlthätig seien, wie der verstorbene Baron und seine engewnlde Gemahlin. Es freuet mich stets, wenn ich in edlen Ge-. schlechtem der Jetztzeit sich die Tugenden so sicher forterben sehe, wie die Tapferkeit durch mehrere Generationen bei den Majordomus der Mcrovinger, 5ie in Pipin dein Kurzen und Karl dem Großen lhre Kulmination hatte; wie die Gerechtigkeit und Milde bei den Malesherbes, deren berühmtester Tvrößling vor seinem Monarchen, als dieser im Vollbesitze seiner Macht war, die Rechte und Freiheiten des Voltes vertrat, und als sein Herr und Kunig sich eingekerkert und dem Acusiersten preisgegeben sah, unt Gefahr seines Lebens — er blutete auch später unter der Guillotine dafür — sich zu dossen Vertheidiger anbot; wie die Wohlthätigkeit 88 und Opferfreudigkeit bei den Nachkommen der Madame Necker, der Frau des berühmten Finanzministers. Ich erinnere nur an diese ausgezeichnete Frau, die selbst schon eine vortreffliche Mnttcr hatte; ihr folgte ihre Tochter, die Frau von Staiil-Holstein; dieser ihr Sohn August und ihre Tochter, die Herzogin von Brogliei eine Fülle von herrlichen Seelen- und Charaktereigenschaften ließe sich an diesen drei Generationen nachweisen. So auch hatten die Korss's vonTelssen seit Jahrhunderten die seltensten Eigenschaften zum Wohle ihrer näheren und ferneren Umgebung entwickelt, und die in München an der Cholera 1854 verstorbene Baronin Theophile, eine geborene Gräsin Keyserling, dcr LudolfSchley, wie ich bereits erwähnte, emcn Band seiner Gedichte widmete, schloß würdig die lange Neihe dcr tugend-reichcn Frauen dieses alten und edlen Geschlechts. Ich sprach in meinem Innern den Wunsch aus, daß die im Garten spielenden Kinder ihren vreiswerthm Ahnen ebenso ähnlich werden möchten, wie die jetzigen Besitzer des Guts es sein sollten. Seitdem habe ich in Kurland viel größere und viel schönere Parks gesehen, als den zu Telsscn. Aber dcr Letztere ist meinem Gedächtnisse am deutlichsten eingeprägt geblieben, weil mir das durch den freien Impuls dankbarer Letten errichtete Marmormonument von der Milde erzählte, welche die Korff's von Telssen stets gegen ilire früher leibeige- 89 nen und später frei gewordenen Gutsunterthanen haben walten lassen. Wo man aber gegen das Volk, meine Brüder, gut war und gut ist, dort weilt mein Geist am Liebsten. Der Strand von Mau. Schon bei der Fahrt uon Memel längs der kuri-schm Küste glaube ich von den ermüdenden Sanddünen gesprochen zu haben, die ich aus meinem ganzen Wege gefunden. Ich bemerkte wohl, wie die Ufer nirgends festere Umrisse gewinnen, nirgends stch zu erhohen streben, sondern stets den monotonen Charakter einer flachen, sandigen Gegend beibehalten, die bei ihrer weichen Auslaufung in's Meer dessen anspülenden Wellen kcmen Widerstand zu leisten vermag. Eben diese Widcrstandslosigkeit der Ostsccufcr längs der preußischen und russischen Küste hat schon eine nicht uubcträchtliche «Hinbuhe an Land zur Folge gehabt, während die schwedische Küste stets an. Terrain gewinnt, und Städte, die früher dicht am Meere lagen, sich jcht anderthalb Meilen davon entfernt befinden. Man hat von preußischer und russischer Seite schon berathen, wie durch großartige Vorkehrungen dieser steten Terrain-Verminderung Einhalt geboten werden tonne. Die 90 Vossische Zeitung sprach bereits von Arbeiten, die in Angriff genommen winden, doch ist man nock nicht so weit, wie ich glaube. Daß nnn die öden Eanddimen dein Libauer Strande etwas unendlich Trauriges und Verlassenes geben, brauche sch weiter nicht auszumalen. So leicht ich mich 'auch für das Meer begeistere, so verlor es hier doch bald jeden Reiz für mich. Es scheint, als müsst, um Vegeistenmg hervorzurufen, ein tiefblauer Himmel sich in dein Meere abspiegeln, die Sonne darin glitzern, grüne Hügel mit Pinien, Myrthen und Oleandern sich zu der in Sehnsucht emporrauschendcn Flnth hinabneigen, wie es bei Neapel und Lissabon der Fall ist. Dann, aber auch nur dann, entfaltet instiuctiv und naturnothwendig die Phantasie ihre goldenen Flügel, und der Dichterharfe entsteigen Iubelhymnen zum Preise des Weltenschopfers und seines Werkes, das schön ist trotz seiner sechstausend Jahre, wie an jenein ersten Tage, wo es auf des Allmächtigen „Werde!" aus dein llhaos emporstieg. An dem Strande Libaus fühlte ich mich nicht einmal so dichterisch gestimmt, daß ich schöne in meinem Gedächtnisse aufbewahrte Lieder citirt hätte, durch welche begabte Sänger das Meer verherrlichten, geschweige denn, daß ich selbst in die Saiten der Lyra gegriffen. Ein einziges Mal, als ich am Abende den Strand entlang wandelte, die Sonne rosig und schön die Mcereswellcn durchleuchtete, und Schiffe mit schwellenden Segeln am fernen 91 Horizonte dahinzogen, kam ein Moment der Poesie über mich, aber nicht der producirenden, sondern nur der Erinnerung au ein Gedicht, das mir in Meinem Jünglingsalter besonders gefallen hatte. Ich glaube, es ist vonNückcrt. Die mir am meisten barm zusagenden Verse lauteteu i ,Mn Liebccchlick die Emme war, Und als sic versank, zcrspnihte sie >M I>i tansend, Uebfnntclnde Sterne." Dock) da, als ich recht mitten in der Begeisterung war und vielleicht selbst gedichtet hätte, kam ein furchtbar kalter Wiudstoß, die Sonne verkroch sich hinter Wolken, die Wellen schlugen matt und ohne Lebensfrische an den Strand, ich rief nach meinem Paletot und überließ es dem Libauer Poeten, Ludolf ^chley, di^ Schönheiten seiner heimischen Sand-"ünen zu besingen. Ich konnte keinen einzigen Vers zur Aerherrlichuug dieses öden Strandes hervorgingen, da icli mich hüte, invitn Nincrv:,, zu dichtn. Daß der sogenannte Badefritz, von dem ich Mich unten ausführlicher sprechen werde, poetischer, als ich, gestimmt war, wird nachfolgendes Gedicht beweisen, das er mir während des Libauer Jahr-Warktes überreichte, und das ihm natürlich ein reich-llches Trinkgeld einbrachte, dg er ein armer Junge war. Der Badeftih läßt sich nun so vernehmen - „Der kleine Wasserträger ssrik Zieht chrerbietigst ab die Mül^ Und (Mßet seine g,^äd'ften Herrn, Die er bedient flint und gcrn. 92 Ei ist ein armer kleiner Knabe Und mehr als Nickts nur seine Habe; Das woll'n die guäd'gen Herrn bedenken, Und ihm zum Jahrmarkt etwas schenken/' Eigentlich hätte es wohl im drittletzten Verse „weniger als Nichts" heißen müssen. Doch ich werde mich nicyt da'mit abquälen, die schmutzige Wüsche des Vadesritzen zn reinigen. Dieses Ausdrucks bediente sich bekanntlich der witzige, aber undankbare Voltaire in Betreff der incorrectcn Verse des großen Friedrich, seines Wohlthäters, die er verbessern mußte. Jetzt einiges zu der Naturgeschichte des Bade-fritzen! Wie in vielen Häusern die Jungfern und Köchinnen Jahrzehnte hindurch immer einen und denselben Namen führen, mögen die Individuen auch noch so oft wechseln — die gnädige Frau hat sich einmal an diesen Namen gewöhnt und zwingt so jedes sich bei ihr verdingende weibliche Wesen, Wiedertäuferin zu werden —, wie also in vielen vornehmen Häusern Jungfern und Köchinnen von der Gebieterin nicht minder einen Vornamen octroyirt bekommen, als die Prinzen Neuß eine Zahli so hat auch der Junge in der Badehütte der Madame Robert, welcher den dort sich cms- und ankleidenden Herren eine Wanne bringt, in der man die Füße von dem sich darum geballt habenden Sande reinigt, so hat seit manchem Lustrum — das Subject ist vielleicht zwanzigmal in diesem Zeitraum gewechselt worden — 93 so hat dieser Junge stets den Namen „Fritz", maq er nun Christoph, Gottlieb, Hans oder Peter heißen. Die Kurländer nennen, um hier doch bei passender Gelegenheit einen eigenthümlichen Ausdruck der Ostseeprovinzen zu erwähnen, eine kleine Wanne, m der man sich die Füße abspült, einen „Spann", und ich war ganz erstaunt, als ich in meiner Bade-kammcr, die nur durch'eine dünne Bretterwand von den übrigen Räumen geschieden war, rings um mich herum den Ruf hörte i „Fritz, einen Spann, einen Spann!" Uebrigens habe ich an dem Strande von Libau niemals das unbeschreiblich wohlthuende Gefühl der Närme gehabt, was mich sonst stets erquickte, wenn ich nach einem Verweilen von mehreren Minuten das Meer verließ. In Libau schauerte mich beim Heraussteigen aus dem Wasser, als ob ich das Fieber hätte, und während des Ankleidens brummte ^)- „Das nennt man in Rußland ein Badevergnügen!" Die Mauer Vadcsaison von 185«. In der Libauer Badesaison von 1856 fand ich bestätigt, was ich früher aphoristisch geschlossen hatte, nämlich daß es der Vergnügungen dort sehr wenige 94 geben müsse. Bei näherem Anschauen verliert die Gegend nichts von ihrem traurigen, öden Charaktere Sand und wieder Sand ist der Grundton, der überall, wie bei Berlin, verstimmend auf das Gemüth einwirkt. Auf Ausflüge nach romantischen Pnnkten, wie es in den Vadcbrtern Deutschlands, Frankreichs und Englands Sitte ist, die meist in einer an Naturschönheiten reichen Gegend liegen, muß man in Liban gänzlich verzichten. Man sieht sich deshalb auf den sogenannten Pavillon beschränkt, ein gefällig sich präscntirendcs, hölzernes Gebäude mit einem flachen Dache, das von recht geschmackvollen Gartenanlagcn umgeben, ungefähr in der Entfernung einer Werst von der Stadt gelegen ist. Die Hauptsache bei solchen Vergnügungsörtern, wovon das Ganze Schick nnd Haltung bekommt, ist natürlich der Wirch, und da können sich die Libauer nicht genug freuen, einen so gewandten, um stets neue und immer gelungene Ausschmückungen seiner Säle und sonstigen Räumlichkeiten nie verlegenen Mann an den einzigen Orte, wo man sich wahrhaft wohl bei ihnen fühlen kann, durch einen glücklichen Zufall zu bc'schen. Dieser Wirth ist viele Jahre in Petersburg gewesen, und bat sich von dorther den Geschmack geholt, der nun einmal in kleinen Städten nicht angetroffen wird; wenigstens ist er hier nicht als eingeborenes Product zu Hause, sondern stets eine czotische Pflanze. Von den merkwürdigen Ereignissen, die sich 95 während meines Libauer Vadelebens zutrugen, will ich zuerst erwähnen, daß dic Vorstellungen einer herumziehenden deutschen Schanspielertruppe wider Erwarten recht befriedigend genannt werden tonnten. Ich erinnere mich unter anderm, die „Familie" von Frau Virch - Pfeiffer gesehen zu habm. Die gute, vielschreibende Dame wnßtc auch hier stets das Haus bis auf den letzten Mann zu füllen. Nie gut gespielt ward, läßt sich daraus abnehmen, daß ich eigentlich hineingegangen war, um nur einen halben Act dort zu bleiben, mit kritischem Auge alles zu betrachten und dann im Pavillon meine Randglossen zu machen, indeß durchaus nicht dazu lam, mein hochmüthiges Vorhaben auszuführen, ^ch blieb nämlich bis an's Ende. durch die wackere Leistung einer Schauspielerin gefesselt, die ganz vortrefflich die alte vernünftige Vaucrsftau darstellte, "ic so gut ihren Varon und zugleich Verschwender gewordenen Sohn durch eine strenge Zucht zu heilen Wußte. Dieser Paron, der von einem sehr hübschen Schwarzkopf etwas steif, aber nicht ganz talentlos gespielt ward, sprach den schönen Vornamen „Hc-lmse/' den die Tänzerin führt, der er den Hof macht. Merkwürdig falsch aus. Die übrigen Schauspieler herfielen in dieselbe unrichtige Allssprache dieser, durch ihr Unglück so berühmt gewordenen Geliebten des so uuerhdrt bestrafteuAbälard. an dem man "as mit Gewalt vornahm, was Origenes aus falsch, verstandener Frömmigkeit sich freiwillig auferlegte. Doch, um aufdie unrichtige Aussprache von „Heloise" zurückzukommen, so verzogen sich die Gesichter der um mich herum sitzenden und stehenden Aristokratie zu einem spöttischen Lachen bei diesen: so sehr verballhornten Namen. Ich leugne nicht, daß ich ebenfalls etwas ironisch aussah, wenn das Verhängnis;-volle Wort ausgesprochen ward. Vei ruhigem Nachdenken machte ich mir aber Porwürfe, da ich mir überlegte, wie die herumziehenden Schauspieler, meistentheils aus niedern Stünden hervorgegangen, bloße Naturalisten sind, keinen höheren Schulunterricht empfingen und deshalb nicht die Verpflichtung haben, Wörter fremder Sprachen richtig zu betonen. Wissenschaftlich gebildete Schauspieler, wie es Iff-land war, und wie es heutigentags Eduard Dcvrient ist, gehören zu den seltensten Ausnahmen. Möchte man die Rathschläge dieses Leitern in Bezug auf Theaterschulen beherzigen! In einem folgenden Acte des Birch-Pfeiffer'schen Stücks betonte ein Schauspieler das Wort „Phänomen" gar seltsam, indem er den vollen Accent auf die Penultima legte und die letzte Sylbe ganz verklingen ließ. Da ich aber in dem Zwischcnacte die eben angeführte entschuldigende Betrachtung angestellt hatte, so lachte ich nicht mehr. Wie uerhaltnißmäßig brav die Schauspieler ihre Rollen durchführten, beweist nicht bloß der Unistand, daß ich bis zum Schlüsse blieb, sondern daß ich ausharrte trotz einer bedeutenden Hitze, die in dem stark« 97 besetzten Hause äußerst drückend fiel. Der Polizeiassessor von Nolde, der die Ordnung des Hauses zu überwachen hatte, war so freundlich, uns während der Zwischenacte zu gestatten, zwei Thüren, die ans einen freien Hofrauln hinausgingen, offen zu halten, so daß wir wenigstens während einiger Minuten von einem fühlenden Abendwinde angeweht würben. Ich hatte ein Logenbillet, sah aber zu meinem Schrecken, daß mein Vcrhängniß mich mit drei sehr fetten alten Frauen in einen kleinen Raum zusammensparen wollte. Da ich nun durchaus nicht zu den Schüchternen gehöre, so stecke ich meinen Kopf auch nicht so leicht in eine mir zugedachte Schlinge. Ich zog ihn auch dießmal schnell zurück, indem ich wit Unwillen die kaum geöffnete Thür der Loge wieder zuschlug, in der mir ein solches russisches Schwitzbad durch die (Mklemmung zwischen drei Me alte Frauen zugedacht war. Mir blieb nun nichts übrig, als zu stehen, was bei der großen Hitze doch^uch 'sohr lästig fiel. Zum Glück hatte der ^ nüt mir gemeinsam w Lilian aufhielten, habe ich im Theater fast nie 7 W welche angetroffen. Dies schien dafür zu sprechen, daß sie des Deutschen nicht mächtig seien. Es war mir dies eigentlich auffallend, da, sonst die Polen und Russen durch ihre eigene überaus schwere Sprache eine so gewandte Zunge bekommen haben, daß sie fremde Sprachen mit der größten Leichtigkeit sprechen und mit Franzosen, Engländern und Deutschen sich wie mit Landsleuten zn unterhalten verstehen. Die während der Libauer Vadesaison uon 1856 daselbst verweilenden Polen schienen nun außer ihrer eigenen Sprache nur noch das Französische in ihrer Gewalt zu haben. Uebrigens mochte diesem Wegbleiben aus dem deutschen Theater weniger Unkcnntniß des Deutschen, als Abneigung gegen das Germancnthum zum Grunde liegen. Bekanntlich hassen die Polen Preußen und Oestreich noch weit mehr, als Rußland. Ferner war mir auffallend, daß die polnische und kurische Aristokratie, deren Mitglieder dort zahlreich versammelt waren, wenig mit einander verkehrten. Eine Art Bindeglied gab die liebenswürdige Gräsin Helene von Keyserling ab, die beiden Aristokratien angehörend (sie war eine Polin von Geburt und in erster Ehe mit dem Adelsmarschall von Gorski vermählt gewesen), in ihren Salons Polen wie Deutsche gleich anmuthig und zuvorkommend empfing und sich die redlichste, aber nicht mit Erfolg gekrönte Mühe gab, zwei so heterogene Nationalitäten einander näher zu bringen. 99 Die Equipagen des polnischen Adels warm theilweisc sehr liederlich angespannt, andere dagegen, freilich die Minderzahl, waren sehr solid und zugleich elegant. Sie hätten selbst die strengen Augen eines Engländers befriedigt. Die Polen, die schon den asiatischen Luxus lieben, hatten den Rücken ihrer Pferde häufig mit Shawls geschmückt. Die hübscheste Equipage während der Saison gehörte einem Polnischen Adeligen, der, selbst schon ältlich, eine junge, schone Frau gehcirathct hatte und auf diese wie Othello eifersüchtig war. Wenn ein öffentlicher Ball stattfand, so stellten die jungen Herren immer vorher Wetten an, ob der polnische Cerberus seiner Fran zu erscheinen gestatten werde, oder nicht. Die Equipage dieses Polen hatte nicht vier Pferde in eine Neihe gespannt, was man in Rnßland häufig steht, was ich aber nicht hübsch finde, sondern je zwei und zwei. Dies nennt man in Kurland „langgespannt", im Gegensatz zu den vier Pferden, die breit in einer Reihe zusammenlaufen. Auch die Avrüe der Dienerschaft dieses eifersüchtigen Woi-wodcn war sehr gefällig, einfach grau mit silberner Einfassung, was aber gerade einen höchst geschmackvollen Gindruck machte. Wenigstens, was mich betrifft, so liebe ich keinen phantastischen Aufpul). Ein Ereignitz, das die Stadt Libau und die Vlldegesellschaft — ich gestehe ein. daß auch ich von tugendhaftester Entrüstung erfaßt war — in die grüßte Aufregung versetzte, und dein in seiner Scham- 100 losigkeit wohl wenig Aehnliches zur Seite gestellt werden kann, war folgendes: Man badet am Libaucr Strande nicht ^I< -in^ie, wie in Ostende, Herren und Damen durcheinander — freilich trägt man in dem belgischen Bade einMccr-Costüm und ist nicht in adamitischem Zustande -^, sondern das weibliche Geschlecht ist von dem männlichen durch einen sehr weiten Zwischenraum geschieden. Die kurischen Damen baden nun eines Morgens in schönster Sicherheit, als plötzlich ein Wagen mit einem jüdischen Kutscher angefahren kommt, aus dem sich ein Herr schwingt, der schnell seine Kleider von sich wirft und mit der Unbefangenheit des Paradieses zwischen den Nymphen umher-plälschcrt. Zorn und Nache im Herzen, klagen die nach Hause gekommenen Damen ihren Ehehcrren diese Ungebühr. Auf der Polizei wird die Anzeige gemacht, und diese, die Beschreibung des Wagens von Seiten der Damen zum Ausgangspunkte nehmend, packt bald den Kutscher und den unverschämten Herrn. Dieser war eigentlich kein Herr, sondern nur ein Bedienter. Sein Gebieter war ein Baron von M—n. Daß die russische Polizei gar nicht so überaus grimmig ist, ersieht man daraus, daß der jüdische Kutscher mit einer kurzen Gefängnißhast und der die Scham der Damen so frech verletzende Bediente mit einer Geldstrafe davonkam, die sein Herr für ihn erlegte. So milde ich auch gesinnt bin, so würde ich doch als Libaucr Polizeimeistcr strenger 101 zu Werke gegangen sein. Die fünfzehn Ruthenhiebe, die bei polizeilichen Vergehen gegeben werden dürfen, Hütte ich dem frechen Menschen nicht geschenkt, der sich nackt zwischen kurländische Frauen lind Jungfrauen drängte, deren hohe Würde und holde Züch-tigfcit ich stets mit stiller Bewunderung betrachtete. Da ich hier so viel vom Paradieseszustande gesprochen habe, so darf ich doch nicht zu erwähnen vergessen, daß in dem Hause eines Mauer Kaufmanns im Winter von 1855 auf 1856 eine adami-tische Secte von der Polizei aufgehoben ward. Vielleicht mag der freche Bediente zu ihr gehört und geglaubt haben, daß, wenn er im Winter das weibliche Geschlecht ganz nackt sah, dies ihm im Sommer desto eher erlaubt sein müsse. Wie wenig man in Kurland an eine rohe Behandlung der dienenden Klasse von Seiten ihrer Herrschaft gewöhnt ist, mag folgender Vorfall beweisen, der sich ebenfalls während der Badesaison von 1856 in Üibau oder vielmehr am Strande zutrug. Zwei Herren sind im Wasser, und ihre Bedienten erwarten sic am Ufer mit Laken, in die sie dieselben sogleich beim Heraussteigen einhüllen wollen. Der Himmel weiß, wodurch die Bedienten in's Zanken gerathen, genug, der Bedienter des Barons von R—c beschuldigt seinen Kameraden, der den General von F—g erwartet und ein Soldat ist, daß kr ein falsches Laken genommen habe, und will deshalb mit ihm tauschen. Dem Soldaten des Gene- 102 rals von F—g leuchtet dies gar nicht ein, und der Diener des Barons läuft deshalb in die Badehütte zurück, um die Besitzerin derselben, Frau Robert, welche die Laken aufzubewahren Pflegt, zur Zeugin aufzurufen. Unterdessen kommt der Baron von N—c aus dem Nasser und fragt zähneklappernd nach seinem Bedienten, Man unterrichtet ihn von dem Streit, und in Wuth gesetzt, daß er nackt und frierend am Strande stehen muß, giebt er dem Soldaten des Generals von F—g eine Ohrfeige, Da der Baron ein sehr kräftiger Mann ist — er hat früher als Cavallerie-Offizier gedient— und mit der Hand vielleicht zu weit ausholte, so entstürzte der Nase des armen Soldaten sogleich cinBwtstrom. Er vertheidigte sich nicht, hielt aber lieldenmüthig das Laken fest. Als der General von F—g beim Heraussteigtli aus dem Wasser seinen blutenden Diener sah und von dem Sachverhalt in Kenntniß gesetzt ward, so nahm er sich des Treuen sehr kräftig an und erklärte, mit seiner Beschwerde bis zum Kaiser gehen zu wollen, um dein so unverantwortlich Behandelten Genugthuung zu verschaffen. Der Baron von R^e that zuerst sehr sicher und vornehm, hernach überlegte er sich aber, daß die Sache bei einer, den geringen Mann gern schützenden Regierung eine sehr fatale Wendung für ihn nehmen könne. Er fing also zu Parlamentiren an und bewog den Soldaten durch gute Worte und sehr gutes Geld, von einer beabsichtigten Klage abzustehen. 103 Etwas komisch war der Vorfall, daß der leib-cigne Koch eines Herrn von D— (Letzterer war in bitthauen mit mehreren Gütern angesessen) ein beim Pavillon abgebranntesFeuerwerk, wohin alle Welt geströmt war, bemnztc, nm das Pult seines Gebieters zn erbrechen, damns hundcrtzwanzig Nnbcl zu nehmen und statt deren einen Zettel einzulegen, auf den er geschrieben hatte, daß er nicht länger ein Sklave sein wolle, sich auch zu etwas mehr bestimmt fühle, als immer hinter dem Feuerhccrdc zn stehen. ^>r sei deshalb mit einen« Schisse in die weite Welt gegangen. Da ich das Kochen und Backen stets für eine sehr unmännliche Beschäftigung gehalten habe, !u tadele ich den litthamschen Leibeigenen durchaus nicht, daß er sich seinem KMenamte zu entziehen suchte. Ferner verdenke ich es keinem Sklaven, wenn cr das süßeste Gut des Menschen, die Freiheit, erlangen will. Aber es ist schlimm, daß er seine neue ^benslaufbahn mit einem Diebstahl beginnen mußte, und ich hoffe. daß. wenn es ihm einst glückt w einem freien Lande, er seinem srühcren Herrn die geraubte Summe zurückschicken und ihm dabei bemerken werde, wie er zum Erbrechen des Schreibpults und zum Entwenden der,huudcrt und zwanzig Rubel nm durch die höchste Noth habe vermocht werden können, da ohne Geld kein Kapitän i!m in den „rettenden .Nahn" anfgenommen haben würde. Ich bin immer innigst beglückt, wenn ich Adel des Gemüths auch bei den niedern Ständen entdecke. 104 und lese deshalb im Geiste schon diesen Brief. Der Herr von D—, der Besitzer des entflohenen Koches, sah diese Sache ebenso an, wie ich. Seine Frau aber, ein anmuthiges, liebliches Wesen, zeigte sich sehr erbost und nahm es ihrem Manne nicht wenig übel, daß er ein solches Verbrechen beschönigen wolle. Sie gcrieth durch das Verschwinden des Koches in wirthschaftliche Verlegenheiten, und da war es mit ihrem Humor zu Ende. Sie betonte stets die Undankbarkeit des Leibeigenen. Derselbe war aus ihre Kosten — es soll über fünfhundert Rubel betragen haben — bei Meistern der Kochkunst in Niga unterrichtet worden, war erst seit vier Wochen in ihr Haus zurückgekehrt und hatte allerdings gezeigt, daß er in seinem Fache ein sehr tüchtiger Mensch sei. Und nun, wo sie sich für viele Jahre, ja für das ganze Leben des Leibeigenen, gesichert glaubt, geht er srcch davon, und sie muß sich mit dem nicht ganz leichten Thema beschäftigen, eines neuen geschickten Koches habhaft zu werden. Ihr Mann, nm sie zu necken, sagte, daß man dem Entflohenen wegen seiner Genügsamkeit noch dankbar sein müsse, indem er eine goldene Uhr und kostbare Pretiosen nicht angerührt habe, obgleich sie dicht bei dem Gelde gelegen hätten. Die Frau aber blieb dabei, daß ihr früherer Koch, dem sie nie ein böses Wort gesagt habe, ein Undankbarer und sie durch ihn um dcnGlaubeu an die Menschheit gekommen sei. Als Nachschrift will ich hier noch hinzufügen. 105 daß ich zu meiner sehr unangenehmen Uebcrraschung auf der Fahrt von Mcmel nach Kranz vernahm, wie der eben besprochene leibeigene Koch in Preußen wegen mangelnder Legitimationspapiere aufgegriffen und an Nußland ausgeliefert worden sei. Ich hatte ihn mir schon glücklich in Amerika angekommen vorgestellt und erwartete mit Sehnsucht den Moment, wo er so viel verdient hätte, um dem Herrn von D— die entwendete Summe zurückschicken zu können. Mein erster Gedanke war an die schreckliche Strafe, die dem Armen in Nußland zu Theil geworden sein möchte. Doch Herr von G—, der Bruder der schönen Besitzerin dee! leibeigenen Koches, mit dttn ich mich in der Kajüte des uns nach Kranz fahrenden Dampfschisses angelegentlich unterhielt, be-uUngtc mich in dieser Hinsicht. Hatte er mir erst tmen großen Schrecken eingejagt, indem er es gelesen, der mir die Ergreifung des leibeigenen Koches mitgetheilt, so machte er meiner Aufregung jckt gutmüthiger Weise dadurch ein (wde. daß er mit dem nicht nachzuahmenden Tone der Wahrheit mir die Versicherung gab, daß dem Niedercingeliefcrten nicht das Geringste geschehen sei. Nur habe man Hn auf ein anderes Gut geschickt, da seine Schwester den täglichen Anblick des undankbaren Flücht-ungs habe vermeiden wollen. Nun, hierüber wird sich der leibeigene Koch nicht allzusehr gegrämt haben. Doch da schreibe ich schon einen Anachronismus. 106 Dank der edclmüthigen Anfcnrung des hochherzigen Alexander II giebt es jetzt weder Leibeigene in Lit-thaucn, noch im übrigen weiten Czcaenreiche. Ich glaube, daß sämmtliche Bewohner Libaus den entflohenen leibeigenen Koch mit ähnlichen guten Wünschen begleiteten, als ich, dcr Sohn des humanen, intelligenten Deutschland, Meine philanthropischen Ansichten waren ein nothwendiger Ans-ftuß meiner Nationalität; den guten Libauern aber, die der litthauischen Leibeigenschaft so nahe wohnten, war es zum Verdienste anzurechnen, daß sie die reine Menschlichkeit über das historische Recht stellten. So mild und gut nun die Libauer im Allgemeinen auch sind. so erbittert waren doch alle ohne Ausnahme auf einen Baron von B^r, der bald mit zwei, bald mit vier Pferden wie unsinnig durch ihre Straßen kutschirte und alle Welt in Gefahr brachte. Diesem wünschten sie allerdings eine kleine Lection, damit seiner wüthenden, ihnen und namentlich ihren Kindern gefährlichen Fahrweise Einhalt geboten werde. Sie klagten bei dieser Gelegenheit außerordentlich über ihre schlaffe und schläfrige Polizei, die ein solches unsinniges Gebahren ruhig mit-ansehe, ohne dem übermüthigen, das Leben und die Gesundheit seines Nächsten durchaus nicht berücksichtigenden Freiherrn, der zu glauben scheine, daß ihm alles frei stehe, ein Uu<>8 ^n! entgegenzudon-nern. Ohne dic Herren dcr Libauer Polizei zu kennen, 107 vertheidigte ich sie doch principiell. Es ist nämlich in meinen Angen ein weit geringerer Uebelstand, wenn die Polizei den Individuen zu große Frcihei-tm gestattet, als wenn sie dieselben auf Schritt und Tntt bewacht. Vor allein kam es mir in Rußland "ls ein großes Lob vor, daß die Polizei sich nicht bei jeder Gelegenheit auf- und eindrängte. Uebri-gens stand der Oberst Michel, der zu meiner Zeit ^lbau'scher Polizeimeister war, soivol bei'm Adel, wie bei dem Vürgerstande, in der größten persön-^chen Achtung. Seine Rechtlichkeit war eine er-stcnmliche. Obgleich er nur einen sehr unbedeutenden Gehalt bezog und Mühe hatte, mit einer zahl-eichen Familie standesgemäß davon zu leben, so gestattete er docli keinem Kaufmann oder sonst irgend emer Persönlichkeit, die Interesse hatte, dem geschäftlichen Verkehr mit ihm durch glatte Goldstücke jede "auhheit und Unebenheit zu benehmen, so gestattete er dock Nieinandein, ihm ssolonialwaaren oder ^ictualicn in seine Speisekammer zu schicken, oder ^eld in nichtunterzcichncten Billettcn, deren Absender aber doch errathen sein wollten, ihm durch schnell ""schwindende Voten zustelle!» zu lassen. Vr ging Nach keiner Seite Verpflichtungen ein, weshalb er "uch da, wo Unrecht geschah, sofort auf die Finger lwpfcn koume, ohne Ansehen der Person. Je sel-ener ein so uneigennütziges Venelinien bei den rus-Men Veamten ist, desto mehr hätte ich gewünscht. d"ß diese strenge Rechtlichkeit zur Kunde des Kaisers 108 gelangt wäre. Alexander II., der bei seinem milden Herzen so gern belohnt und so ungern straft, würde den Libauer Polizeimcister mit einer Gehaltserhöhung und ehrenvollen Anerkennung ausgezeichnet haben. Dieser LibaucrPolizeimeister giebt mir Gelegenheit, die schon oft von mir gemachte Erfahrung hier auszusprechen, nämlich daß die geringen Leute über einen Mann, der aus niederm Stande sich zu hohen Würden emporgeschwungen hat, sich häufig mit Achselzucken vernehmen lassen, statt sich darüber zu ceuen, wie Talente und hervorragende Geistesgaben keineswegs den Hochgeborenen allein oder vorzugsweise zu Theil werden. So ärgerte ich mich namentlich über meinen Libauer Barbier, den ich nach dein Polizeimcister befragte, und von dem ich erwartete, daß er sich über denselben mit womöglich noch größerer Achtung äußern werde, als sämmtliche Adelige. Wie ward nur, als mein fetter Barbier mitleidig die Achseln zuckte und mit verächtlicher Miene auf meine Anfrage, ub der Polizeimeistcr wirklich zu wenig streng sei, also antwortete: „Der Oberst Michel ist der Sohn eines lettischen Bauern. Wie kann Der als Polizeimeister auch durchdringen!" Einmal, mein Herr Barbier, ist Ihre Behauptung gar nicht wahr, wie ich mich genau erkundigt habe, und bestätigte sich Ihre Aussage, so gereichte sie dem Polizeimcistcr zur höchsten Ehre. Uebel' 109 Haupt, mein Herr Vartkratzer, ist der Hochmuth, mit dem sämmtliche Deutsche der niedern Classen in Kurland auf die Letten wie auf Parias herabsehen, höchst einfältig und verkehrt, da die Letten sanft, gut und dienstfertig sind, sich auch brauchbar und geschickt zeigen, wenn man ihnen nur Gelegenheit g'ebt. ihre Anlagen auszubilden. Der irdische ^hc^ Herr der Jungfrau Maria war meines Wissens ein Zimmermann, Herr Bartkrcher, der Vater Luthers em Bergmann, die Gemahlin Peters des Großen, die nach seinem Tode- zur Regierung kommende Kaiserin Catharina I., eine Bäuerin. Seien sie künftighin nicht so übermüthig, Herr Vartkraher, sondern beherzigen Sie die von mir ausgesprochene Wahrheit, daß, wer aus niederm Stande sich zu einer hohen Stelle im Staate emporschwang, die Vermuthung für sich hat, daß er mit weit glänzenderen Fähigkeiten ausgestattet sei, als Diejenigen, die iwar mit ihm in gleichem Range stehen, denen aber ber Weg zu Amt und Würden schon durch ihre vor-nehme Geburt geebnet war. Doch ich wende mich von dem hochmüthigen ^arbier zu dem übermüthigen Baron, der, nach der Aussage der Libaucr, wie toll und wild durch ihre Straßen kutschirte. Dieser Varon nun. der aller-dwgs ein wildes Thier im Wappen hat. nämlich kincn Bären, ist durch ganz Kurland dafür bekannt, daß er am Verwegensten reitet und am Tollkühnsten den Wagen lenkt. Kenner behaupten freilich, 110 daß er vier Pferde ausgezeichnet geschickt vom hohen Bock herab zu lenken wisse, weshalb vielleicht nicht Alle, die zu ihm in den Wagen steigen, den Vorwurf unverzeihlicher Unvernunft und frevelhafter Geringschätzung des Lebens verdienen, den die Libauer gegen Jeden erheben, der so leichtsinnig sei, in der Equipage des Barons Platz zu nehmen. Die Herren nun, die in dem Wagen des Barons auf der Großen Straße in Libau verunglückten, -~ ein lHr-eigniß, das viele Tage hindurch in der ganzen Provinz besprochen ward — waren gleichsam durch ein Ungefähr in die Gewalt dieses rasenden Automedon gekommen. Der Baron wollte nämlich auf sein Gut fahren und hatte seinen Wagen für einen Augenblick verlassen, um mit Herren, die vor dem an der Landstraße liegenden Pavillon saßen, Konversation zu machen. Böse Zungen der Stadt behaupten, sie hätten in der Kile zusammen einigen Champagnerflaschen den Hals gebrochen, was ihnen bald selbst den Hals gekostet Hütte. Sie wären nämlich hierdurch etwas illuminirr geworden und so unbewußt in Lebensgefahr, nämlich in den Wagen desVarons, gerathen. Doch dies ist eine der vielen Ausschmük-kungcn, an denen kleine Städte so reich sind. Ob die Herren Khampagner tranken oder nicht, vermag ich nicht zu sagen. Wohl aber kann ich dafür einstehen, daß sie nicht illuminirt oder, mit einem kurländischcn Ausdrucke „erhöht" waren. Letzteres widerlegt sich schon dadurch, daß sie aus dem Wagen geschleudert. Ill also erniedrigt und nicht erhöht wurden. Nach Zurückweisung dieses unwahren Stadtgesprächs will ich jetzt belichten, wie die Herren, die vor dem Pavillon saßen, aus ganz natürliche Art in den Wagen des Barons geriethen. Letzterer hörte, daß sie sich vun da in das GesellschaMocal, „die Muße", begeben wollten, und er bot ihnen an, sie in seinem Wagen dahinzubringen, obgleich er eine beträchtliche Strecke zurückfahren mußte. Dieser Baron ist nämlich nicht bloß ein elegant aussehender, sondern auch ein nobel handelnder und überhaupt ein sehr gutmüthiger Mensch, wenngleich er leider durch zu große Mittel sich zu Verschwendungen hinreißen läßt. Vier Herren nahmen nun auf die Einladung des Barons in seinem schönen Wagen Platz, den er k"N seiner Rückkehr von einer großen Reise aus Ber-lw sich mitgebracht hatte. Da er alles gesehen und genossen hatte und stets nach etwas Neuem, Pikantem verlangte, so meinte man schon, er würde zu den Mormonen gegangen sein, als man in längerer Zeit nichts von ihm gehört hatte. Nunmehr ist er glücklich verheirathet. so daß er die Zahl der Hei-ligen am Salzsee wohl nicht vermehren wird. Indeß solgen wir jetzt mit unsern Blicken der davonrollendm Equipage'des Barons! Eo lange man auf der Landstraße war, liesen die vier Pferde zwar sehr schnell, aber die Sache hatte noch nichts Bedenkliches, was sie aber sogleich gewann, als man die große Brücke, die über einen 112 Arm des Libauer Sees führt, passirt hatte und in die Stadt einfuhr. Hier erinnerten sich nämlich die Pferde unglücklicher Weist, daß gerade an dieser Stelle immer furchtbar auf sie losgepeitscht worden, damit sie schnell, wie der Blitz, die Große Straße hinabstiegen sollten. Gleich hinter dem Thor, wo ein freier Platz beginnt, in den die Große Straße mündet, machten sie einen rasenden Sprung, die Achse des Wagens brach, und die darin sitzenden Herren wurden herausgeschleudert. Der tutschireude Herr Baron und sein Bedienter flogen ebenfalls nicht allzu sanft von ihren Sitzen. Die Hand des Himmels waltete sichtbar über Allen, indem die Herren insgesammt mit leichten Beschädigungen davonkamen. DieGesahr war ganz dieselbe, die dem Herzoge von Orleans und dem Könige von Sachsen ein so jämmerliches Ende bereitete. Wären die Kurländer gleich jenen fürstlichen Personen getödtet worden, so würden viele Waisen entstanden sein, da die herausgeschleuderten Herren, nämlich der Graf Keyserling, der Freiherr von Kleist und der Freiherr vonOsten-Sacken. sämmtlich eine zahlreiche Familie hatten. Der Anblick, als die vier Napftcn wie der Blitz dahinschossen, und der hochgebaute Wagen plötzlich umschlug, soll ein überaus beängstigender gewesen sein. Viele Damen stürzten, vor Schreck weinend, aus den Thüren, um den Herren ihre Dienste anzubieten und sie in ihre Häuser einzuladen. Wie gesagt, sämmtliche Herausgeschleuderte 113 kamen ziemlich gut davon, mit Ausnahme des Grafen Keyserling, der die Wunden, die durch den heftigen Fall uud die spitzen Steine des Straßenpflasters am untern Fuße entstanden waren, zuerst vernachlässigt datte und deshalb später mehrere Monate sich mit Verbänden uud dem peinlichen Verharren in einer eingezwängten Lage abquälen mußte. Der Uebclthäter, Varon von V—r, trug außer dem Schrecken gar seine Strafe davon, indem er am andern Tage mit deuselbeu vier Rappen, freilich mit einem weniger guten Nagen, den er sich vom Lande hatte hereinkommen lassen, aufsein Gut kutschirte. Da ich für die gcriugen Leute mich immer am mei-stcn interessire, und sie bei dergleichen Gelegenheiten stets am schlechtesten fortkommen, so fragte ich sofort nach dem Bedienten und hörte zu meiuer Freude, daß er sich um etwas geschunden habe und sonst ganz wohl sei. Außer dem Bedienten kam auch ein Herr D—w, der als Bekannter des Barons mit im Nagen sah, und dessen ich noch später Erwähnung ihun werde, ganz gesund von dieser halsbrecheuden-Fahrt nach Hause. Auch über seine Unversehrtheit freuete ich mich innig, da er bei einer bedeutenden Beschädigung auf nicht so zarte Pflege hätte rechnen können, indem er einmal unvcrheirathct und dann Unbemittelt ist. Uedrigens benutzten die Libauer dies Ereign iß, bas großes Aufsehen machte, um den Polizeimeister w einer energischen Petition zu ersuchen, daß er den 114 Herrn Baron verwarnen und ihm ein- für allemal verbieten möge, seiner rasenden Art zu fahren in den Straßen Libau's die Zügel schießen zu lassen. Der Polizeimeister sandte auch in der That zu dem Herrn Baron und ließ ihn auffordern, den Bürgern Libau's keinen neuen Schrecken einjagen, sondern künftighin, wie die übrigen vernünftigen Menschen, die ihre gesunden Gliedmaßen zu behalten wünschten, fahren und reiten zu wollen. Ueber die artige oder unartige Antwort des Barons cursiren verschiedene Lesarten. Noch einige andere, theils komische, theils aufregende Ereignisse, die den Libauern vielen Stoff zur Unterhaltung lieferten, werde ich in selbstständigen Bildern vorführen, umsomehr, da die eine Begebenheit nicht in die Saison von 1856 fällt, sondern sich schon früher zutrug. Ein Schönhcitsstreit. Genrebild aus dcm öibaucr Vadeledeii. Wohl nie war Libau so aufgeregt gewesen, als in der Saison, wo die Generalin Gräsin N— und die Advocatin G—- sich um die Palme der Schönheit stritten. Die Gräsin hatte den Lenz dcs Lebens schon hinter sich, war der ersten Iugendfrische beraubt, aber noch immer eine sehr fesselnde Ersch^ 115 nung. Sie hatte die Petersburger Eleganz und machte eine ausgezeichnete Toilette. Die Advocatin war keine vollkommene Schönheit, aber sehr lieblich, sehr frisch, wie ein Mairöschen, noch feucht vom Morgenthau. Veide Damen hatten Geist, die Gräsin vielleicht bessere Manieren, in so fern die in kleinen Städten aufgewachsenen Frauen nie jenes leichte, sichere, sich stets zu Hause fühlende Wesen annehmen, wie es Denen zur andern Natur wurde, die seit Jahren in den Salons Hunderten von spottenden, auf jedes Ridicule lauernden Blicken Trotz geboten haben. Die Gräsin wie die Advocatin hatten einen großen Kreis von Verehrern um sich. Doch da es nicht in Paris war, wo die Blasirtbeit der männlichen Jugend oft aus Neigung für den Iium-^ont schon etwas verwelkten, aber durch ausgezeichnete Toilette die zudringlichen Voten des herannahenden Alters aufs Kunstvollste verhüllenden Damen viel lieber den Hof macht, als ihren thau es frischen, in aller Naivetät des Geistes und in ungeschmücktcr Natur des Korpers prangenden Schwestern, so erging es der Petersburger Zentifolie weniger gut, wie dem Libaucr Veilchen. Die jungen kurländischen Edelleute, die meist sehr gebildete Menschen sind, obgleuh sie gerade nicht das an sich haben, woran Man in einzelnen Pariser Salons, obschon mit Unecht, den wahrhaften Elegant schätzt, bringen von ihren Reisen nur höchst selten Vlasirthcit mit in die Hcimath, und ist der Eine oder der Andere von 8* 116 ihnen mit dieser modernen, vornehmen Krankheit behaftet, so findet er bald seine Genesung in der gesunden Atmosphäre des elterlichen Hauses. Deshalb machten auch die jungen lurländischen Edelleute der frischen, anmuthigen Advocatin mehr den Hof. als der zwar immer schönen, aber doch ^ man mochte es noch so mild ausdrücken — etwas verblühten Gräsin. Ein Ball auf dem Nathhause sollte endlich an den Tag bringen, welche Farbe die jungen Herren geneigter wären zu tragen, ob die der Petersburger großen Dame, oder der schlichten, aber hübschen und frischen Libauerm. Wie unter dem schonen Geschlechte die Gräsin N— und dieAdvocatinG—besonders hcrvorstrahlten, so hatte das Herrenpersonal als cmen der stattlichsten und gewandtesten Kavaliere den Baron von K^ auszuweisen, von dem sich deshalb auch alle Damen sehr gern den Hof machen ließen. Dieser unstatc Schmetterling, vor dem die Blumen ihre bezauberndsten Düfte ausströmten, damit er sie umflattere und unischmeichele, schien noch ungewiß zwischen der Centisolie und dem Beilchen zu schwanken. Der eben erwähnte Ball auf dem Rathhausc sollte nun die Entscheidung bringen, zu welcher er zuerst hin-fiattern werde. Die Välle. welche in Libau während der Saison stattfinden, werden, um es beiläufig zu bemerken, theils in dem Saale eines ungefähr eine Werst von der Stadt entfernt liegenden Pavillons, theils in dem 117 Rathhause gegeben. Die in dem Pavillon tragen mehr den Charakter eines Kai Hmn^ötrs an sich, während die im Rathhause gegebenen theilweise durch glänzende Toiletten sich auszeichnen, was übrigens das sehr schöne Local zu beanspruchen das Recht hat. Die Libauer sind auf ihren geschmackvoll decorirten Saal natürlich nicht wenig stolz, und wie man es für unverzeihlich erklärt, in Nom gewesen zu sein, ohne den Papst gesehen zu haben, so würden die Bewohner der von mir sehr geschätzten baltischen Seestadt mitleidig über den Menschen die Achsel zucken, der seinen für das Schöne erstorbenen Sinn dadurch an den Tag legte, daß er versäumt, so herrliche Räume in Augenschein zu nehmen. Im Pavillon sind die Toiletten viel einfacher, und die jungen Herren tanzen dort in weißen Pantalons und Oberrücken. Doch wenden wir uns jetzt zu der Gräsin R—, die in dem schonen Saale des Libaucr Nathhauses, heit, in einen Fauteuil zurückgelehnt, thronend dasitzt und ihres Triumphes gewiß zu sein scheint. Nicht weit von ihr steht, an eine Säule gelehnt, in nicht so reicher, aber sehr vortheilhaftcr Toilette, die frische, anmuthige Advocatin G-^. Ich glaube schon die Neugierdc Aller erwähnt zu haben, ob der Adonis der Badcgesellschaft, der Baron von K—, der Gräfin N— oder den, Libauschen Veilchen den Vorzug geben werde. 118 Jetzt beginnt das Orchester zu spielen, der schlanke Baron vonK— eilt derNichtung zu, wo die Gräfin R— und die Advocatin G— in nicht geringer Entfernung, die Eine stolz thronend, die Andere graziös lehnend, sich klopfenden Herzens befinden. Die Blicke des ganzen Saales folgen den Bewegungen des jungen Barons; Jeder erwartet, daß er die vornehmste Dame, in deren Mienen sich eine majestätische Siegesgewißheit abspiegelt, zum Tanz führen werde. Aber nein, er eilt der Gräsin vorüber, und der schlanke, schone Jüngling verneigt sich, um die Chre eines Walzers bittend, vor der hold crröthenden Advoca-tin G—. Die Gräsin R— machte sich nun des für eine Großstädtcrin unverzeihlichen Fehlers schuldig, daß sie ihre Empfindlichkeit zur Schau trug, während sie die höchste Gleichgültigkeit hätte heucheln und sich das Ansehen geben müssen, als halte sie es für garnicht möglich, daß eine kleine Dame der Provinz wagen werde, mit ihr um den Preis zu ringen. Und falls sie etwa vor der Thatsache, daß der Baron K— sie der Dame aus der kleiuen Stadt nachgeseht habe, die Augen nicht verschließen durfte, so mußteer ihr durch diesen verkehrten Geschmack doch so provinziell und lächerlich geworden sein, daß er ihr seitdem nur als eine komische Figur, aber nicht mehr als Courmacher erscheinen tonnte. Ein Mensch nun, der ganz den Charakter eines „großen und vornehmen Herrn," eines „Elegant" verloren hatte, ezistirte überhaupt 119 nicht für sie. Da sie sich abercmftsindlich zeigte und durch gereiztes Wesen Blößen gab, so machte man sich mit allen möglichen Waffen über sie her nnd verwundete sie mehr als einmal aufs Schmerzlichste. Am Schwersten ward sie wohl uon einigen Spottversen getroffen, die su lauteten i ,,Vicl lieber tanz' ich mit der Frau, Der lieblichen, des Advokaten, AI6 milRuinen altersgrau. Die einst umsponnen von Soldaten." Doch man begnügte sich nicht mit gereimter und ungereimter Ironie und Tatyre, man verfuhr beinahe handgreiflich. Da nämlich wegen der großen Sommerhitze die Domestiken der Gräsin während der Nacht einige Fenster des Wohnzimmers, das auf die Straße ging, aufgelassen hatten, so fanden sie am Morgen Häringslakc nnd andere sehr wenig wohlriechende Sachen in die Stube geschleudert. Es sollen sich auch damnterer.plodireude Stoffe befundenhaben, die, wenn gerade nicht lebensgefährlich verletzen, doch äußerst erschrecken tonnten. Die Generalin zeigte sich — so erzählte man nur— aufs Aeußerste erbost über dics nächtliche Attentat und verlangte vom General-Gouverneur eine strenge Untersuchung. Dieser — ich berichte immer, wie man mir erzählt hat — schickte auch in der That einen sehr gewandten Po-lizciageutcn, der Nachforschungen bei allen Kaufleuten anstellte, die mit e.rplodirenden Stoffen handelten. Es soll ihm gelungen sein, auf diesem Wege den nächtlichen Uebelthäter zu entdecken. Da dieser 120 aber von vornehmer Geburt war. so vertuschte man die ganze Sache. Die Gräfin N— ist seitdem nicht wieder nach Libau gekommen und verachtet natürlich in ihrem Petersburger Palaste die kurischen Kleinstädter aufs Gründlichste, die so schwerfällig waren, daß sie nicht einmal ihr zu Füßen zu sinken verstanden. Ucbrigms machte dieser Schdnhcitsstreit zwischen der Gräfin K— und der Advocatin G^ ein solches Aufsehen, daß die Kunde davon in die Petersburger Salons drang. (5ine Allerhöchste Person soll sogar maliciöser Weise die Gräfin N— um eine Schilderung der lieblichen Advocatin G^ gebeten haben. Dic Engländer vor Libau. Man entsinnt sich, wie im Frühling des Jahres 1854, bald nach erfolgter französisch-englischer Kriegserklärung, eine der stolzesten und mächtigsten Flotten, die je von Albion ausgesandt waren, sich gegen die russische Ostsceküste in Bewegung sichte. Einen nicht geringen Schrecken hatten nun die friedlichen und harmlosen Bewohner Libaus, der südlichst gelegenen russisch-baltischen Seestadt, als plötzlich ein Theil der eben erwähnten Flotte vor dem Hafen erschien und ein Parlamentär an'sLand stieg, der mit der obersten Behörde eine Besprechung 121 verlangte. Die oberste Behörde in Liban ist mm der Magistrat, Bald raunten sich die erschreckten Bürger in's Ohr, daß der englische Parlamentär die Auslieferung sämmtlicher im Hafen befindlichen Schiffe gefordert, nnd daß er für den Fall der Verweigerung mit einer Einäscherung der Stadt gedroht habe. Leider erwies sich diese Drohung nicht als bloßes Gerücht, sondern als strengste Wahrheit. Die Breitseiten der englischen Fregatten lagen der uffenen, auf keine Weist zu vertheidigenden Stadt zugekehrt, und da der Befehlshaber der Escadre dem Magistrate nur wenige Stunden Bedenkzeit gab, so war eine Beschießung Libau's mehr als wahrscheinlich. Iehl wollten die m Angst gesetzten Bürger retten, was nur irgend anginge. Man tonnte nicht Wagen genuft bekommen, um seine Habseligkeiten "us das Land zu flüchten. Znm Unglück hatten die Libauer nur eine Möglichkeit des Entkommens, nämlich eine große Brücke, die über einen breiten ^«nal führt, der die Äbau'sche See mit dem Meer vorbindet und zugleich zum Hafen dient. Aufandere Weise vermochten sie nicht in das innere Land zu kommen. Die deformeren Bewohner Libau's bc-Ichäftigten sich natürlich mit der Nettung ihrer Fa-unkcn, ließen aber in ihrem Hause alles unangerührt, da sie die Möglichkeit voraussahen, daß es Ntcht zum Aeusiersten kommen werde, und sie deshalb ^re Sachen nicht unnützen Beschädigungen aussetzen wollten. Die Engländer hatten übrigens, um 122 über ihre Entschiedenheit keinen Zweifel obwalten zu lassen, den Magistrat ersucht, die Krankenhäuser mit Fahnen bezeichnen zu wollen, damit sie auf diese ihre Geschütze nicht richten möchten. Der Libauer Magistrat gab, da ihm alle Mittel des Widerstandes fehlten, vernünftiger Weise nach und ertheilte in Bezug auf die verlangten Schisse den Engländern die, im Alterthum so berühmte Antwort: „Kommt, und holt sie!" Dies erwiederte bekanntlich Leonidas dem Abgesandten des terres, als der stolze Perserkönig ihn anffordern ließ, ihm die Waffen seines kleinen Heeres zu überliefern. Die Üacedämonier schlugen, wie nicht minder bekannt ist, ihren Hcldenkönig an der Spche. die Perser tüchtig auf die Köpfe, als diese wirklich herbeikamen, um den tapfern, dic Schwelle ihres Vaterlandes vertheidigenden Griechen die Waffen abzunehmen. Der Libauer Magistrat hatte bei seiner, der Form nach so heroischen Antwort durchaus nicht die Absicht, dem großen Leonidas nachzuahmen und mit einer antiken Aeußerung unter den Trümmern der Stadt zu sterben. Nein, er sah nur ganz richtig ein, daß es nicht schicklich sein werde, die im Hafen liegenden Schiffe den Engländern gleichsam als Geschenk ins Meer hinauszubringcn. und gab ihnen deshalb anheim, sie sich zu holen, um dadurch den Charakter der Unfreiwilligkeit zu retten und den Zwang zu constatiren. Die Engländer kamen nun auf starkbemannten Böten, auf denen je zwei Kanonen stan- 123 den, in den Haftn und holten sich Alles heraus, was ihren Augen wohlgefällig war. Sie fanden nicht den geringsten Widerstand, da die Negierung, um den Engländern jeden Vorwand zu nehmen, gegen die Stadt zu wüthen, dem Militär befohlen hatte, sich im Frühlinge, sobald das erste Kriegsschiff sichtbar werde, in die Umgegend zurückzuziehen. In Libau war deshalb kein einziger Soldat, und die Engländer hatten bei ihrer ruhmlosen (Spedition nichts zu befürchten. Gewiß ist Alt-England wegen seiner freien Institutionen und seines sittlich-ernsten Polkscharakters Niemandem theurer, als mir. Aber nieine Zuneigung macht mein Urtheil nicht parteiisch. Und so spreche ich es denn unbedenklich aus, daß das Benehmen der Söhne Albions an den Küsten der russisch-baltischen Provinzen mild mit dem Namen ..unritterlich" bezeichnet wird. Nordamerikaner, die während des letzten Krieges in Nußland weilten und denen von Ehrenmännern, deren Zeugniß nicht angezweifelt werden konnte, Züge von unentschuldbarer Rohheit, deren sich die Engländer schuldig gewacht, erzählt wurden, qualisicirten dies Veneh-Men eines ihnen so nahe verwandten Volkes in Wenig schmeichelhafter Weise. Die Wohnungen armer Etrandbauern zu zerstören und ihnen ihr^ieh Mit Revolvers muthwillig todtzuschießen, wird stets als eine Unwürdigkeit verdammt werden müssen. Uebrigens haben die Engländer durch ihre 124 Drohung, Libcn« in Grund und Boden zu schießen, nicht bloß im Frühling des Jahres 1854 vicle Tausende friedlicher Bürger in die höchste Angst versetzt, sondern auch später dem Bürgermeister dieser freundlichen kurischen Seestadt durch die Nebersendung eines Chesterkäses leine geringe Verlegenheit bereitet. Cines schönen Tages nämlich hatten die Engländer einen sehr befremdlichen Anfall von Galanterie und schickten dem Bürgermeister Libau's einen Käse, wie selten ein schönerer das Auge entzückt hatte. Der Bürgermeister debattirte lange in seinem Innern die Frage: „Annehmen oder Ablehnen?" und wollte eben, wie ein berühmter preußischer Publicist bei Gelegenheit des Februar-Patents von 1847, sich für das negative verhalten entscheiden, als der englische Ueberbringcr verschwunden war, sein verführerisches Geschenk aber zurückgelassen hatte. Doch der patriotische Bürgermeister empfand jetzt gewaltige Gewissensbisse, von dem Feinde ein Geschenk angenommen zu haben. Andererseits sah der Käse so verführerisch aus, daß ihm vor Begierde das Wasser im Munde zusammenlief. In diesem Dilemma wußte er sich gar nicht zu helfen und, seinem eigenen Urtheile gänzlich mißtrauend, rappor-tirtc er über den Chesterkäse an den Gouverneur nach Mitau. Dieser nun soll dem Bürgermeister wegen der Annahme eines Geschenkes ausFcindcshand eine ellenlange Nase ertheilt, zugleich aber auch verlangt haben, das cui^u« äelicü zu sehen. Mit an- 1s!> deren Worten, der herrliche Chesterkäse mnßte eine Wandcrnng nach Milan antreten. Dieser famose Käse soll noch mannigfache Schicksale gehabt nnd die Gernchsnerven niehr als einer vornehmen Person aufs Angenehniste gcki^elt haben. Indessen — ich verbürge übrigens diese unerhörte Enthaltsamkeit keineswegs — soll doch der Gaumen sämmtlicher russischen Beamten zu patriotisch gewesen sein, um sich an diesem englischen Geschenke zu laben. Ueber das endliche Schicksal dieses Chesterkäses waltet ein mysteriöses Dunkel. Vielleicht wird nach hundert Jahren ein tiefsinniger Geschichtschreiber die Magenhöhlc bezeichnen, in die dieser Chesterkäse hinaligeglitten ist. Da in Kurland im Frühling ein abscheulicher Käsefssnapplase genannt) fabricirt wird, und später gar nichts in diesem Genre zum Vorschein kommt, so hätte ich, wäre mir der vielbesprochene englische Chesterkäse zn Gesicht gekommen, demselben jede weitere Wanderung erspart nnd den russischen Beamten nber den peinlichen Streit zwischen ihrem zarten Gewissen nnd ihrem begehrlichen Magen hinweggeholfen. Wenn Albion in der Literatur den Humor am Besten repräsentirt, und wenn der Humor vielleicht nicht ganz unrichtig mit einem thränenden nnd einem lachenden Auge dargestellt wird, so haben die Engländer im Jahre 185)4 den Libaucrn ganz wider 126 ihren Willen zum Humor verholfcn. Die Libauer weinten, als ihre Stadt bombardirt werden sollte; sie lachten, als ihr guter Bürgermeister wegen des geschenkten Chesterkäses so tausendfache Verlegenheiten hatte. Zum Glück währte das Lachen länger, als das Weinen. Ot> Venuspricsterin? ob Viirgcrtochter? oder: Harry der Kühne. Daß unter den Adeligen und vornehmen Bürgerlichen, die zu einander in gesellschaftliche Beziehungen treten, immer kleine Zwistigkeiten ausbrechen, indem die Letzteren sich hintenangeseht glauben, während die Ersteren über zu große Empfindlichkeit des Tiers-Etat klagen, ist ein unvermeidliches Uebel, das sich allenthalben in der Welt wiederholt. Da ich bei meinem liebenden, weiten, die ganze Menschheit umfassenden Herzen mich unmöglich in einen einzigen Stand einpferchen lassen kann, sondern alles an meinen Vusen drücke, was wann fühlt, was groß und edel denkt, so habe ich immer über diesem Zanke der Parteien geschwebt, und mit dem hellen Auge des unbetheiligten Zuschauers die streitigen Punkte in's Auge fassend, mich stets auf die Seite Derer geneigt, die wirklich recht hatten, mochten sie nun hochadelige Titel führen, oder einfache bürgerliche Namen tragen. Wenn ich die 127 traurige Verengerung erleiden und mich auf eine Classe des Volks beschränken lassen müßte, so würde ich natürlich den vierten Stand wählen, weil er bis jetzt nur den Abhub bekommen von dcrFrcndcntafel des Lebens, und weil, wenn er mich als seinen Bruder liebgewonnen und zu mir Vertrauen gefäßt hätte, ich vielleicht ihm Mittel und Wege angeben könnte, wie er ohne Aufruhr und gewaltsame Handlungen zu glücklicheren und gesicherteren Verhältnissen gelangen würde. Weil ich also bei der Erzählung nichtiger Nangstreitigkeiten, für die ich gar kein Verständniß habe, jene Neutralität beobachte, wegon welcher Preußen in dem englisch-sran-zösisch-vussischen Kriege von der „Times" mit solchen Unfläthereien überschüttet ward, so höre ich dergleichen Berichte mit großer Unparteilichkeit an und lächele fein über die Schwächen der armen Menschenkinder. Dieß ist wohl der einzige Fall, wo mich die Selbstgefälligkeit des Pharisäers beschleicht, und ^ch meinem Schöpfer danke, nicht so zu sein, wie die Andern. Da ich mich also weder zum Adel, noch zum Nmgcrstande, sondern zum Volke im weitesten Sinne des Worts rechne, so lasse ich mir die Rang-und Ehrenstreitigkeiten zwischen Aristokratie und Bourgeoisie mit einer Gemüthsruhe erzählen, wie Jupiter vom hohen Olympe oder Ida auf die Kampfscenen des trojanischen Krieges herabblickte, ^r war ja anfangs bekanntlich fest entschlossen, weder den Griechen noch den Trojanern beizustehen. 128 Auch in der Abauer Vadegesellschaft klafft zwischen dem Adel und dem Bürgerstandc, der meist aus den Honoratioren der Stadt besteht, eine weite Kluft. Gewöhnlich verschwinden die Bürgerlichen am Nachmittage beim Pavillon, sobald die Adeligen, die wegen ihres spätern Essens auch später crsckei-nen, in Sicht sind. „Geh' du lmkwärts, laß mich «chtwärts >ichen." In früheren Zeiten sollen die Adeligen und bürgerlichen Bestandtheile der Badegescllschaft in vertrauteren Beziehungen zu einander gestanden haben. Ihre Entfremdung soll durch ihre verschiedene Beurtheilung eines und desselben Factums hervorgerufen worden sein.. Die Adeligen sahen nämlich in dem Factum, bei dem Cavallerieofsiciere die Haupt rolle spielen, einen verzeihlichen Iugendüliermuth, während die Bürgerlichen von unerhörter Sitten-losigkeitund von Entweihung von Näumen sprachen, die nur d^r Tugend und Ehrbarkeit offen stehen sollten. Ich komme jetzt zu dem Factum, welches den Streit veranlaßte und die Trennung herbeiführte. Die Ofsicicre des Husarenregiments „Graf Pahlen", in dem viele Kurländer dienen, befanden sich eines schönen Abends im Libauer Pavillon, waren alle von der herrlichsten Laune und hatten^ gute Musik, abcr leider keine Damen, mit denen sie sich im Kreise hätten herumdrehen können. Da Ofsicierc incht unentschlossenen Charakters sein dürfen, so traten sie in den Part. wo hübsche Mädchen, 129 ^ Wie sie annahmen, aus dem ehrbaren Volke — sich im Kühlen ergingen, und da die Marssöhne dem schönen Geschlechte gegenüber keine aristokratischen Vorurthcile hegen, so luden sie dieselben ohne Weiteres ein, mit ihnen im Saale zu tanzen. Die flinken Mädchen ließen sich das nicht zweimal sagen, und jeder Ofsicicr erschien bald wieder im Saale, am Anne eine Dulcinea, von der er allerdings den Stammbaum nicht allzu genau kannte. Er wußte nicht, ob der Vater seiner Schönen einen Stiefel oder eine Schcere im Wappen führe. Vald schmetterte die Musik, und die Paare flogen hin in bacchantischein Tanze. Doch jeder Kelch hat auf seinem Grunde ein Tröpfchen Wermuth, und den Ofsicicrm sollte auch ihre Freude vergällt werdeu, da eine seltsame Garde ankam, um sie gefangen abzuführen. Libaucr Vürger hatten draußen bei Bier oder Nein unter den Arcaden gesessen, vielleicht auch ge^ kannegießert —denn selbst in früherer Zeit ließ man sich in Nußland das Politisiren nicht ganz nehmen -^ und hatten mit höchstem Entsetzen eine Menge Mädchen in den Pavillon führen sehen, von denen sie durchaus nicht wußten, ob ihre Väter einer Zunft oder einer Gilde angehörten, und die ihnen jedenfalls nicht als Vestalinnen, sondern als Priesterin-ncn der Venus erschienen. Da nun die Mauer Vürger gute und fromme Christen sind und keineswegs zeitweise Götzendienst treiben, wie es bei den betten allerdings noch vor weniger als einemIahr- 130 Hunderte vorkam, so wollten sie den Penusprieste-rinnen durchaus nicht den Aufenthalt im Pavillon gönnen, sondern waren fest entschlossen, sie sammt ihren Anbetern daraus zu vertreiben. Sie eilten also in die Stadt, auf das Nathhaus und schrieen Zeter. Auf ihr jämmerliches Geschrei setzte sich eine berühmte Garde in Bewegung, über deren „Kuhfuß" der Kladderadatsch noch mehr würde gespottet haben, als über die weiland Berliner Bürgerwehr. Ich muß jetzt turz der seltsamen Garden gedenken, die überall in den Städten der Ostseeprovin-zm vorhanden sind, aber nur bei festlichen Gelegenheiten erscheinen. Ich war nicht so glücklich, ihres Anblickes theilhaftig zu werden. I^un cui^u,e c«n-ting'it «,(1ii^ (voi'intknlu. Diese Garden haben folgenden Ursprung -. Alle Städte der Ostseeprovinzen, wie überhaupt die Städte im Mittclalter, pflegten ihre Bürger in den Zeiten, wo noch Municipalftciheit blühte, und wo die Staaten noch keine stets bereiten, ungeheuren Heere auf den Beinen hatten (eine wenig looms-werthe Nachahmung des automatischen, eroberungssüchtigen Ludwig des Vierzehnten), sondern wo der Mensch, der auch nicht Soldat war, sich oft genöthigt sah, zur Vertheidigung von Weib und Kind und zur Abwehr fürstlicher Bedrückung zu den Waffen zu greifen, die Städte der Ostseeprovinzen pflegten also ihre Bürger häufig zu militärischen Uebungen herbeizuziehen. Die bewaffneten und uniformitten Biw 131 ger traten in Corps zusammen und übten sich an bestimmten Tagen der Woche während der schönen Jahreszeit im Crerciren, Schießen und sonstigen soldatischen Verrichtungen. Nach den verschiedenen Farben, welche die einzelnen Corps trugen, wurden sie die „blaue, grüne und rothe Bürgergarde" genannt. Seitdem sich aber der Militärstaat mehr ausgebildet hat, sind diese Waffenverbrüdenmgcn der Bürger überflüssig geworden. Da sie sich weniger üben, wurden sie im Handhaben der Waffen ungeschickt und deshalb lächerlich. Die blaue Garde, welche aus Kaufleuten e'rster Gilde gebildet wird, ist beritten. Die nächstvornchmc grüne Garde hat Comnns und die letzte Handwerker zu ihren Bestandtheilen. Diese Garden, insofern sie Libauer Stadt-burger waren, hatten einen Ehrentag, in dessen Nückerinnerung sie noch heute schwelgen, nämlich als sie den Kaiser Alezandcr I. einholen durften. Aber die militärischen Annalen dieses Tages sind für die berittene blaue Garde nicht allzu glanzvoll. Der Kaiser sprengte nämlich in kurzen: Galopp die vor dem ehemaligen herzoglichen Palais aufgestellte blaue Garde hmunter. Sich erkundigend, wie der Commandeur dieser für ein militärisches Auge allerdings bedenklich aussehenden Truppe heiße, erfuhr der Kaiser, daß derselbe „Major Friedrichs" titulirt werde. Alexander, der Lust hatte, sich dte freundliche Stadt etwas genauer anzusehen, und der zugleich bei seinem liebenswürdigen Naturell den 132 Garden für ihr Einholen eine Artigkeit zu erzeigen wünschte, beschloß, ihren Anführer während des Rittes durch Libau an seine Seite zu berufen. Kaun: aber war der Name „Major Friedrichs" aus kaiserlichem Munde erschollen, als dem Träger desselben alles vor den Ohren schwirrte; Schauer der Ohnmacht umhüllten seine Lebensgeister; er sank auf das Straßenpftaster, und sein herrenloses Pferd brachte eine furchtbare Verwirrung in die Reihen der entsetzten blauen Garde. Der Kaiser, stets zart und theilnehmcnd, machte der allgemeinen Verlegenheit durch einige glücklich gewählte Worte ein baldiges Ende. Ich sah während der Nadesaison von 1856 in Libau einen Herrn Harry, der kleiner als Napoleon war, ihn aber an Verwegenheit weit zu übertreffen schien, mit koketten Kovfbewegungen und herausforderndem Blicke täglich aus einem lendenlahmen Schimmel bei dem Pavillon vorbcisprengen. Gr trug stets das triumphkenoe Aussehen zur Schau, von dem Alexander der Große in dem Augenblicke gestrahlt haben muß, als er die Tücken des Bucephalus besiegt hatte, und sein Vater ihm zurief, daß Macedomen für ihn zu klein sei. Das Bild dieses berühmten Herrn Harry ist der Nachwelt erhalten. Um nach seinem Tode Streitigkeiten über die Farbe seiner Augen oder die Schwanzlüuge seines Rosses unmöglich zu machen, hatte er die Vorsicht, sich ab-conterfeien zu lassen. Das Vild zeigt ein mächtiges 133 weißes Pferd, und oben auf dem Sattel bemerkt man, aber erst nach mehrmaligem Hinschauen, gleich einer Hutschachtel auf einem Kamcelrückcn, einen kleinen dunklen Punkt, der den Reiter vorstellen soll. Bekanntlich inacht ein Ritter in einer Korner-schen Ballade mit seinem herrlichen Rosse einen gewaltigen Sprung von einer Felscnzacke zur andern und entgeht so den ihn verfolgenden Feinden. Für diese kühne That erhielt er den Ehrennamen: „Har-ras der kühne Springer". Da nun der Name des kühnen Libaucrs ähnlich lautet, so würde ich vorschlagen, ihn mit demselben Prädicate auszuzeichnen. Sollte je ein Herrscher Nußlands Libau mit seinem Besuche beehren, so können die Bürger über den Anführer der blauen Garde keinen Augenblick w Zweifel sein. Harry der Kühne wird dem Kaiser auf seinem Schimmel so viele Capriolm vormachen, daß diesem Hören und Sehen vergeht, und er sich zu dein bittenden Ausrufe gezwungen sieht: „Laß jetzt es genug sein des grausamen Spiels!" An diese Garden dachten nun die Mauer Philister, als sie den kühnen Plan faßten, die Husaren-officiere aus dem Pavillon zu vertreiben, Ob Harry der Kühne offen an der Spitze stand oder nur vom Hintergrunde aus alles lenkte, darüber lauten die Lesarten verschieden. Doch zwingt mich der Wunsch nach Unpartlichkeit, hier einzuschalten, daß der Pavillon ein Eigenthum der Stadt ist, die Bürger in- 134 sofern also wohl einNecht hatten, in seinen Räumen feine Hetären dulden zu wollen. Als die blaue, grüne und rothe Garde — ich sehe im Geiste das wetterleuchtende Auge Harrys des Kühnen und höre, wie er eine feurige Nede hält ^ als nun die Garden den Pavillon umzingelt hatten, traten ihre Anführer voll Würde in den Saal und eröffneten deu Ofsiciercn den Zweck, zu welchem sie erschienen seien. Da erhob sich ein homerisches Gelächter von Seiten der Marssöhne; sie zogen ihre Säbel, entrissen der perplexen blauen, grünen und rothen Garde ihre Gewehre und luden sie dann höflichst ein, ob sie vielleicht ein Tänzchen mitmachen oder als ihre Gäste Champagner mit ihnen trinken wollten. Die indignirten, ihres Kuhfußes beraubten Bürger zogen sich grollend zurück und reichten später eine Beschwerde beim Gouverneur ein. Die Sache ward untersucht, und da die Schuld auf beiden Seiten gleich groß befunden wurde, so sollen sowohl die Officiere wie die Philister, welche die blaue, grüne und rothe Garde bildeten, eine tüchtige Nase bct'ommcn haben. Der Adel lachte mit den Officiercn über „Viel Lärm um Nichts"; die Libausche Bürgerschaft schmollt sammt der berühmten Garde über die Entweihung des Pavillons durch Hetären; Harry der Kühne hegt seitdem eine unbesiegbare Abneigung gegen alles Militär. Die Marssöhne bleiben dabei daß sie mit anständigen Vürgertöchtern und nicht 135 nut Priesterinnen der Venus tanzten. Die Entscheidung überlasse ich dem weisen Salomo, der tausend Weiber hatte, also auf diesem Felde reiche Erfahrungen sammelte. Seit dieser Pavillonscene sind die Beziehungen zwischen den Adeligen und Bürgerlichen während der Libaucr Vadesaison sehr kühl und frostig, oder, richtiger gesagt, es bestehen gar keine. Die kurische Damenwelt. Meine heutige Betrachtung ist der Blüthe der Menschheit, der Frau, gewidmet. Nie habe ich an die Schiller'schen Verse! „Ehret die ssvaucn! sie flechten und weben Himmlische ^»sen iu's irdische Leben u, s. w," sv häusig gedacht, als wenn ich über das weibliche Geschlecht Kurlands Beobachtungen anstellte. Wie viel Würde! Wie viel Anmuth! Wie viel Klugheit! Welche gediegenen Kenntnisse! Welche Bescheidenheit! Welche Frömmigkeit! Welche Demuth ! Welcher Wohlthätigkeitssinn! So könnte ich mich noch seitenlang in Ausrufen der Bewunderung fortbewegen. Niemals wird eine Schilderung die Tugenden der kurischen Frauenwelt würdig zur Anschauung bringen. Fragt man, was ist die Bestim-wung der Frau? s» würde daraufrichtig geantwor- 136 tet werden können: „Sich so zu verhalten und zu benehmen, wie es die kurländischc thut." Doch da diese nicht vor Aller Augen ist, so muß ich schon eine Beschreibung geben, die leider hinter dem Urbilde sehr zurückbleiben wird. Hören wir den liebenswürdigen Fenelon, der viel über die Bestimmung der Frau nachgedacht hat. „Vor Allem soll sie ihre Kinder selbst erziehen". Und mit welcher Nnermüdlich-keit, mit welchem Geschicke kommen die kurischen Mütter dieser Pflicht nach! Wenn man hiermit die französischen vornehmen Mütter vor der Revolution von 1789 vergleicht, die, kaum daß der Himmel ihnen Kinder geschenkt hatte, diese sofort aufs Land schickten, weil sie bei ihrem frivolen Treiben durch die Rücksicht auf Wesen, welche doch die heiligsten Ansprüche an ihre Liebe und Sorge hatten, keinen Augenblick gestört sein wollten! Talleyrand soll seinem unbeaufsichtigten Großwerden auf dem Lande und seiner der Muttcrsorge entbehrenden Kindheit sein Hinken zuzuschreiben haben. Wie dem auch sei, Kant hätte seine These, daß, wenn ein Vater Kinder in die Welt gesetzt habe, ihm auch obliege, dieselben zu ernähren, so erweitern sollen, daß er die Behauptung aufgestellt: „Aeltcrn haben die heiligste Verpflichtung, die Erziehung ihrer Kinder, das Wich' tigste, was es für sie giebt, bei der Befähigung und der Zeit dazu, selbst in die Hand zu nehmen, wo nicht, sie doch aufs Sorgsamste zu überwachen!" Die kurischen Damen nun sind wahre Muster von 137 Müttern, — Alle Zeit, die ihnen ihr sonstiger großer Wirkungskreis übrig läßt, widmen sie ihren Kindern. Die religiöse Unterweisung ist ihnen eine so wichtige, daß sie diese meist selbst übernehmen nnd höchst selten dem Lehrer oder der Erzieherin Aderlässen. Ihre Kinder in den wissenschaftlichen Gegenständen zu unterrichten, dazu fehlt es ihnen durchaus nicht an Kenntnissen, wohl aber an Zeit. Zum Glück fallen mir einige Verse ans der „Glocke" ein, welche die Wirksamkeit der kurischen Mütter aufs Treffendste zur Anschauung bringen. Wer wüßte diese nicht auswendig?" „Und lehret die Mädchen Und wehret den Knaben Und reget »lm' Ende Die fleißigen Hände, Und inehrt den Gewinn Mit ordnendem Sinn, Und füllet nut Schätzen die duftenden ^'aden. Und dreht um die schnurrende Spindel den Faden, Und sammelt im reinlich geglätteten Schrein Die schimmernde Wolle, den schneeigen ^!ein, Und füget zum Guten den Glanz und den Schimmer Und ruhet nimmer." Wenn ich eben bemerkte, daß die Zeit der kurischen Landedeldamen zu beschränkt sei, um den Unterricht ihrer Kinder selbst übernehmen zu können, so bezieht sich dies auf den Eifer, mit dem sie in die Details ihrer großen Wirthschaft eingehen. Da kommt der Koch oder die Köchin und fragt an, was zum Mittage gegessen werden soll. Gewöhnlich geschieht dies schon am Abend vorher. Alsdann hat 138 die gnädige Frau die Bestimmung für vier Tafeln zu treffen, nämlich erstens für den Herrentisch, zweitens für die Jungfern und Bedienten, drittens für das deutsche und viertens für das lettische Gesinde. In die beiden letzten Kategorien fallen die Kutscher, Stallknechte, Gärtner, Vuschwächtcr, der Meier, alle auf dem Felde arbeitenden Männer, und von dem weiblichen Personale gehören dazu die Hofmutter, die Hausmädchen, Küchcndirnen und sämmtliche sonst auf dem Gute in irgend einer Weise beschäftigten Frauenspersonen. Ich glaube, daß ich erst drei Ausdrücke gebraucht habe, die für den nicht in Kurland gewesenen Leser einer Erklärung bedürfen, und zwar Buschwächter, Hofmutter, Meier. Zu den Ebengenannten muß ich noch das Wort „der Aeltcste" hinzufügen, das bei uns ebenfalls in dieser Bedeutung nicht gebraucht wird. Die Hofmutter ist eine Würde, mit der tüchtige lettische Mägde belohnt werden, Es ist einer der höchsten Ehrenposten, zu dem sie emporklimmen können. Sie haben in ihrer Eigenschaft als Hofmutter die ganze l^«m>cx)ur unter sich, sämmtliche Hähne und Hühner, Pfauen und Puter, Gänse und Enten, Schaafe und Ziegen. Ochsen und Kühe, Schweine und Kälber, Kaninchen und Tauben, mit einem Worte, sie haben die Aufsicht über den ganzen Viehstand, mit Ausnahme der Pferde. Natürlich kann die Hofmuttcr all' das Gethier nicht allein so genau beaufsichtigen, wie es nöthig ist, und unter 139 ihr stehen deshalb viele junge Lcttinen, die uon der Vieh-Intendantin die Befehle am Morgen empfangen nnd am Abend über ihr vollendetes Tagewerk Rechenschaft ablegen. Sobald nun ein außerordentlicher Fall eintritt, der in ihrem Dienstreglement nicht vorgesehen ist. so begiebt sich die Hofmuttcr in das Herrenhaus, um von der gnädigen Frau sich Verhaltungsmaßregel auszubitten, die denn auch fast innner sehr klar und sehr zweckentsprechend ertheilt werden. Nachdem ich einen ungefähren Begriff von der Hofmntter gegeben habe, wende ich mich zum Busch-Wächter. Ueber diesen kann ich kurz sein. Er hat Nebst drei oder vier Gefährten die Aufsicht über die großen Waldungen des Guts, aus denen während des Winters, trotzdem, daß die Edelleute an die Bauern ausreichendes Holz verabfolgen lassen, doch vieles gestchlen wird. Ob es nun die eigenen Guts-unterthancn oder fremde Diebe sind, läßt sich nicht ^icht ermitteln. Ohne dieses unablässige Umher-spähen der Vuschwächter würden die Waldungen bald bedeutend beschädigt werden. Die Definition des Meiers wird mir auch keine Mußen Schwierigkeiten machen. Er hat zunächst "nt der „Kleete" zu thun. was mir ebenfalls, so weit lch das deutsche Wörterbuch kenne, ein specifisch kur-lnndischer Ausdruck zu sein scheint. Die Kleete ist ^n steinernes Gebäude, in der das für die innere Dckonomie des Gntes nothwendige Getreide aufbc- 140 wahrt wird. An den Meier haben sich zunächst die Kutscher zu wenden, um von ihm den täglichen Haferbcdarf für die Pferde zu erhalten; der Müller bezieht durch ihn das für das Gut zu mahlende Getreide, und die Wirth sch afterin läßt von ihm das Mehl fordern, das sie in der Speisekammer nöthig hat, und das durch sie wieder an die Mädchen gelangt, denen das Brodbacken obliegt. Auf den t'uri-schen Gütern befindet sich meist neben dem (5'ßsaale eine große Kammer, in der alles für das Frühstück Erforderliche, Kaffee, Zucker und Gewürze, auch die dsgux re8w5 eines Diners oder Soupers, kurz, die feineren Bestandtheile der Wirthschaft aufbewahrt werden. Da man diese Dinge durch das Angrenzen der Kannner an den (5ßsaal gleich zur Hand hat, so nennt man diese selbst eine „Handt'ammer". Die andere, in der man Mehl, die Brode für das ge-sammle Gesinde, getrocknete Früchte, Oel, Seife, Licht ?c. aufbewahrt, und die sich gewöhnlich aufdeM Flur befindet, nennt man die „Auhen-Handkammer". Wir sind jetzt mit einer Hofmutter, einem Busch' Wächter, einem Meier bekannt geworden; es bleibt nur noch übrig, den Ausdruck „der Alteste" zu defin^ reu. Dieser sogmannte Aelteste hat die Arbeiten auf dem Felde zu beaufsichtigen, und da zu seinem Posten Würde und eine genaue Kenntniß des Ackerbaues gehören, so wählte man natürlich von jeher solckc dazu, die sich durch Erfahrung und Umsicht aufzeichneten. Dies waren nun meist die an Alter 141 Vorgerückten. Wie man aber heutigen Tages sich durchaus nicht streng bei den Heeren an die Ancien-netät bindet, und es deshalb vcrhältnißmäsng sehr junge Generale giebt (ich erinnere nur aus der Jetztzeit an den tapfern, zu früh verstorbenen, französischen Marschall Bosquet und an den nicht minder heldenmüthigen russischen General von Maydelj), so wird auch von dem Gutsherrn, ohne besonders auf die Jahre zu achten, bei der Wahl des Aeltcsten vor Allem die Tüchtigkeit in's Auge gefaßt, indem er ganz richtig berechnet, dasi ein Mensch, dessen Fähigkeiten hell an den Tag treten, auch ohne weiße Haare sich bei den seinen Befehlen Untergebenen werde Ncsftect zu verschaffen wissen. Ich komme jetzt zu dem schön ausgefüllten Tagewerke einer kurischen Landedcldame zurück. Betrachtn wir sie von dem Augenblicke an, wo sie, durch einen gesunden Schlaf gestärkt, sich vom Lager erbebt. Hat sie Kinder und darunter Mädchen, die schon das vierzehnte Lebensjahr überschritten oder sich demselben nähern, so sind diese bereits vor ihr aufgestanden und machten, nach Vollendung ihrer Schularbeiten, den Kaffee. Sie finden Tassen, Kaffeemaschine und das übrige dazu Erforderliche bei ihrem Eintreten in's Zimmer von dem Bedienten schon auf den Tisch gestellt. Den Kaffee und Zucker holen sie aus der Handkammer; frische Butter und Sahne bringt eine lettische Magd aus der Milchkammer herauf. Wie der Geist der jungen Mädchen 142 durch tüchtige Lehrer und Gouvernaunten gebüdet wird, so lernen sie die innere Ockonomie durch die Anfangs kleinen, allmälig größeren Dienstverrichtungen kennen, die eine weise Mutter ihnen überträgt. Hat nun die Hausfrau ihren von der Hand eines ihrer Kinder bereiteten Kaffee getrunken, so macht sie eine oder einige Tassen für ihren Mann, der etwas länger als sie schläft. Dies ist ihr so wichtig, daß sie es keinem Andern überlassen würde. Ueberhaupt werden die Wemänner in Kurland förmlich verzogen von ihren Frauen, (vine liebevollere Aufmerksamkeit ist nicht leicht zu finden, als die, mit der die kurischen Damen während des ganzen Tages über die Bequemlichkeiten ihrer Männer wachen. Und wie schön wissen sie sich des Wortes zn erinnern, das Gott gesprochen: „Er soll Dein Herr sein!" Nie hört man von der Frau Angelegenheiten des Gutes, die über die Sphäre des Hauses hinausgehen, selbst-entscheidend abmachen. Stets holen sie über die fragliche Sache, die doch vielleicht auch in ihr Departement hinübergreift, und die sie vollkommen fähig sein würden, ohne männlichen Äeirath zu entschei-scheiden, bei ihrem Ehcherrn Belehrung und den Wortlaut seiner Meinung ein. Sie greifen nie eigenmächtig seinem Willen vor. Die kurischcn Edelleute, die meist bei vieler moralischen Würde einen kräftigen Charakter haben und deshalb leicht imp»' niren, finden dies Verhältniß durchaus natürlich-Da sie aber bei stark ausgeprägtem Willen auch 143 gleichzeitig feine, von allem Eckigen und Kantigen freie Formen und viel Dclicatesse des Herzens haben, su umringen sie wieder ihrerseits ihre Frauen mit der größten Zartheit und Aufmerksamkeit. So wird dem Auge des Beschauers meist ein reizendes, erbauliches Vild einer vollkommenen Ehe dargeboten. An ein solches Zusammenleben von Manu und Frau hat wohl Paul Gerhardt gedacht, als er sang: „Voller Wunder, voller Kunst, Voller Weisheit, voller Kraft, Voller Hulde, Gnad' und Gunst, Voller Labsal. Trost und Saft, Voller Wunder, sag' ich uoch, Ist der keuschen i^iede Joch." Während nun die kurische Landcdeldamc ihren Kaffee trinkt und für ihren bald nachkommenden ^hehcrru besonders guten eigenhändig zurecht macht, "ßt sie sich von ihren Knaben und Mädchen die Schularbeiten vorlesen, die diese im Laufe des Tages abzugeben haben, damit sie über die Fortschritte derselben stets an Lourant bleibe. Sind die Aussätze s" gut, daß sie verdienen, dem Vater vorgetragen zu werden, so behält die Mutter sie zurück und regalirt lhn außer mit schönem Mocca, mit dein ihm uoch aromatischer schmeckenden Geistesproducte seiner Kin-der. Die Gutsherren sind hier nämlich so beschäf-"gt, daß sie die Erziehung der Kinder fast ganz in du Hände der Fraueu legen müssen und nur durch "M Vermittelung ein helles Licht über die sittliche 144 und intellectuelle Beschaffenheit derselben gewinnen können. Da nun die kurischcn Landedeldamen. wi>.' ich bereits erwähnte, meist ausgezeichnete Frauen sind, so kann der Mann ihnen getrost die ganze Sorge für die Erziehung der Kinder überlassen, ohne daß deren Interesse dadurch beschädigt würde. Weil nun auch die Knaben nicht minder als die Mädchen in denjenigen Jahren, wo das Gemüth die Eindrücke am leichtesten in sich aufnimmt und am nachhaltigsten bewahrt, vorzugsweise von der Mutter beeinflußt werden, so kommt es wohl daher, daß berühmte Männer diejenigen Eigenschaften, die ihnen zur Erreichung ihrer hohen Ziele am meisten verhalfcn, gewöhnlich dieser und nicht dein Vater verdanken. Es ist ein oft aufgestellter und bewiesener Satz, daß berühmte Männer meist ausgezeichnete Mütter gehabt haben. Man denke nur an Alerander den Großen, Julius Cäsar, Napoleon und Goethe, Nachdem nun die kurische Landcdeldame ihrem Manne den Kaffee besorgt und sich über das unterrichtet hat, was die Kinder während des Tages auf dem Geistesacker anbauen werden, läßt sie die Wirthschafterin kommen und hat mit dieser lange Zwiegespräche, deren Details ich nicht alle angeben kann, die sich aber bei einer so großen innern Ocko-nomie über sehr viele Gegenstände ausdehnen müssen. Da Ochsen, Schweine und Kälber auf dem Gute nicht so häustg geschlachtet werden, um mitilMN die gehörige Abwechselung auf der Tafel bewirken 145 zu können, so bezicht man viel Fleisch aus der nahe liegenden Stadt. Hier besinne ich mich, wie ich einst über einen Hasenvothcner Schlachter sehr gelacht habe. Er verdient, daß ich seiner episodisch gedenke. In der kleinen knrischen Stadt Hasenvoth giebt es nnr jüdische Schlächter. Die Christen sind deshalb gezwungen, von ihnen das Fleisch zu kausen. Ebenso sind in Libau alle kleineren Kanflente, Kürschner n. s. w. Inden. Sie lassen einen Christen nicht aufkommen. Kurland verdankt die vielen Inden seiner früheren Znsammengehörigkeit mit Polen. Daß sie sich in diesem letzteren Lande mit solcher Bequemlichkeit ansbreiteten, soll vorzüglich dein Konige Kasimir dem Großen zuzuschreiben sein. Dieser nämlich, von dem Wunsche geleitet, seiner schönen Geliebten Esther zu gefallen —ihr Name zeigt schon, baß ihre Ahnen an den Wassern von Babylon weinten — gewährte den Enkeln Abraham's die Möglichkeit, fast den ganzen Handel des Landes an M) zu reißen, wodurch er seinem Neiche unendlich schadete. Die umwohnenden Gutsfrauen finden mm gewöhnlich mit den Schlächtern das Mkommen, daß sie am Sonnabend eine Rechnung erhalten, in der das für die Woche bezogene Fleisch vermerkt steht. Ich befand mich gerade an einem ssamilientifche, als der von dem Kutscher aus der Stadt mitgebrachte Zettel des Schlächters der Hausfrau überreicht ward. 146 Sie las ihn und lächelte. Ihr Mann, neugierig, was ihre Heiterkeit erwecke, fragte sie nach der Ursache ihres Lächelns. Sie erzählte jetzt, wie ihr Schlächter die beharrliche Gewohnheit habe. sie vor Unterzeichnung seines Namens stets mit einem „Ihr guter Freund" zu beglücken. Da nun diese Dame die Trägerin eines der ältesten deutschen Namen war, und Gräfinnen im Allgemeinen nicht entzückt zu sein pstcgen, wenn Schlächter sich ihre Freunde tituliren, so erwartete ich von der ganzen Tischgesellschaft eine Fluth von Ausrufungen über Frechheit, seltene Ungebildetheit, halbe Verrücktheit und das indignnte Verlangen zu hören, dah einer solchen unehrerbietigen Ausdrucksweise für die Zukunft ein Niegel müsse vorgeschoben werden. Alle meine Erwartungen erwiesen sich aber als illusorisch. Man lachte herzlich, und der Mann fragte nur etwas ironisch-. „Ve-handclt Dich Dein Freund denn aber auch recht reell und schickt Dir stets gutes Fleisch?" Die Frau meinte nun. daß sie außer der zärtlichen Unterschrist von ihrem Schlächter nichts habe, und daß die ihr gesandten Fleischstücke durchaus kein liebevolles Aussuchen «erriethen. Hat nun die Landedeldame mit ihrer Wirth-schaftcrin eine Menge Dinge besprochen, die ich hier nicht aufzählen will, weil ich sonst in die Kleinigkeitskrämerei der guten Fricdenle Bremer gerathen könnte, so treten gewöhnlich Bauern und Bäuerinnen ein. die irgend etwas zu bitten haben. Bei den 147 so großen Gütern Kurlands kommt dies fast täglich vor. So wenig die stolzen Bewohner der Vaski-schen Provinzen mit den Letten Aehnlichteit haben wögen, da die Ersteren bekanntlich sich alle für Edelleute halten, während die Letzteren erst seit ungefähr ^ierIahrzehnden der Leibeigenschaft entronnen sind, 1" hat Kurland mit Viscaya, Guipuzcoa und Alaua doch die Eigenthümlichkeit gemein, dah es hier wie bort keine Dörfer giebt, sondern, daß die Häuser zerstreut umher liegen. In Kurland nun heißt ein Haus, oder, richtiger ausgedrückt, eine Hütte loin "Käthen" sagt man in einigen Provinzen Deutschlands), wo mehrere lettische Familien zusammm-wohnen, ein „Gesinde". Die lettische Landbevölkerung nennt die Herrin des Guts stets „gnädige Mutter", aber sie ist ihnen auch meist in Wahrheit klne Mutter. Sie hat immer ein offenes Ohr für die Klagen ihrer Unterthanen und hilft ihnen, so weit oö in ihrer Macht steht. Gewöhnlich wenden ^e sich an die gnädige Frau bei Krankheiten, wenn diese nicht sehr gefährlich sind und sie deshalb nicht in dem oft entfernt wohnenden Arzte gehen oder schicken wollen. Auf den kurischen Gütern besteht die Einrichtung, daß der Arzt jede Woche einmal er-^Mnt, um sich über den Gesundheitszustand der ^ute zu unterrichten. Sind gefährliche Kranke da, w fährt er zu ihnen, bei leichterein Unwohlsein kom-wen sie auf die Guts-Apotheke und begehren von 148 ihm Rath und Hülfe. Die Guts-Apotheke liegt gewöhnlich in der „Herberge". „Herberge" ist ein meist hübsches und sich lang hinziehendes, massives Gebäude, das aber gewöhn-lich nur ein Stockwerk mit einem Frontisvice bat. Es wird von dem eigentlichen Hofe noch umschlossen, und es befinden sich hier die Wohnungen des Amtmanns und seiner Familie, des Schreibers, des Försters, des Gärtners, des Branntweinbrenners, des Brauers und der sonstigen Angestellten des Gutes. Auch werden hier stets Zimmer sür Ofsiciere bereit gehalten, da meist ein russisches Infanterie-Regiment während des Winters in Kurland Can-tonnements bezieht. Die Ofsiciere müssen die Gutsherren unterbringen, die Soldaten werden in die Gesinde vertheilt. Ueber die Letzteren kommen von Seiten der Vauern nie Klagen vor, so exemplarisch führen sie sich auf. Sie beherzigen die von Suwa-row, ihrem Licblingshclden. gegebene Negel' „Vc-lcidige Deinen Wirth nicht, er nährt und tränkt Dich." Die Ofsiciere finden in den Herbergen ein, wenn auch nicht comfortables, doch anständiges Unterkommen. Doch das Wort „Herberge" erinnert mich daran, daß ich oben seinem Ursprünge nachzuforschen beschloß. Kohl meint nun, aus der großen Gastfreundschaft der Kmländer das Wmt erklären zu können. Da nämlich die Gutsbesch"' zahlreiche Gäste oft mehrere Wochen hindurch beherbergt hätten, so wäre in dem eigentlichen Wohn- 149 hause häusig nicht Platz genug gewesen, und man habe deshalb Nebenhäuscr bauen müssen. Dies seien nun die, ihre Bestimmung schon durch chren Namen ausdrückenden Herbergen, Mir scheint diese Erklärung viel für sich zu haben. Ich acceptire sie und werde nicht aus Sucht nach Originalität der Kohl'schen Hypothese eine andere gegenüber stellen. - Herr von Kotzebue, der auf seiner unfreiwilligen Ncise nach Sibirien eine Nacht auf dem Gute Stock-wannshof in Livland bei dem Kannnerherrn von ^eycr schlief, wurde auch in einer Herberge untergebracht, und er giebt im ersten Theile seines, im Anfange unsers Säculums so großes Aufsehen machenden Buches- „Das merkwürdigste Jahr meines Lebens", von einem derartigen Gebäude ungefähr dieselbe Definition, wie ich sie versuchte. Er sagt hierüber: „Eine solche, in Liefland und Esthland >ehr gewohnliche sogenannte Herberge ist ein dem Hauptgebäude nahe liegendes Nebenhaus, wo der Hufmeister, der Secretär oder andere dergleichen ^fficianten zu wohnen Pflegen, und wo man für "nen Nothfall auch noch einige Gastbetten in Vc-^tschaft hält." Doch kehren wir von der Definition der Herberge zu der kurischen Landedeldamc zurück. Wir verlieben "eselbe von ihren lettischen Unterthanen unigeben, wle letztere ihr entweder die Krankheiten ihrer Kin-^ oder ihre eigenen klagten und von ihr Arznei und Nachschlage begehrten. Die kurischcn Damen 150 sind nun meist halbe Doctoren, wie man im gewöhnlichen Leben zu sagen pflegt, da sie sich von dem Krankheitszustande ihrer Unterthanen durch den Arzt stets auf's Genaueste unterrichten lassen und so, verbunden mit ihrer täglichen kleinen Praxis, große Erfahrung gesammelt haben. Wie schon bemerkt, erscheint der Arzt an einem Tage in der Woche und die übrige Zeit vertritt meist die Gutsfrau seine Stelle. Natürlich ist diese zu vorsichtig, um Arzneien zu geben, wenn sie die Krankheit nicht aus den unzweideutigsten Symptomen als diese Medicamente erfordernd erkannt hat. Sonst läßt sie sogleich den sogenannten Doctorwagen anspannen und dm Arzt holen. Dieser erscheint gewöhnlich in Begleitung eines Discipels, findet aber auf den meisten Gütern, wenn ich mich so ausdrücken darf, einen Apotheker-lehrling vor, der die Medicamcnte zu mischen, die Mörser zu reinigen, spanische Fliegen zu streichen, Bandagen zu machen, mit einem Worte, dem Doctor zur Hand zu gehen hat. Bei klar sich herausstellender Krankheit, wie sie die öandedelftau in ihrer Praxis schon häusig erlebte, sucht sie dem meist vielbeschäftigten Arzte die Mühe des Kommens zu ersparen. Alsdann vertritt sie, mit noch großcrem und herzlicherem Eifer, wenn auch vielleicht geringerem Geschicke, die Stelle des Äes-culapjüngers. Muß die erforderliche Arznei erst zu-bereitet werden, so vertraut sie, falls der Apothekerlehrling sich nicht durch vielfache Proben als unbe- 151 dingt zuverlässig bewährt hat, demselben die Mischung der Medicamente nicht an. sondern bereitet sie selbst zu. Klagt ihr eine Mutter, daß ihr Kind sehr leidend sei, und sie aus den Symptomen nicht ft recht erkennen tonne, wohinaus die Krankheit wolle, so läßt die Edeldame, die meist eine wahrhaft edle Dame ist, ihren Wagen anspannen, fährt in ein, oft eine Meile entferntes Gesinde und schaut sich dort mit klarem und sicherm Auge nm. woranf sie dann die sachge-wäßesten Verhaltungsmaßregeln giebt. Hat die Gutsfrau hier ihrcm Namen „gnädige Mutter" aufs Treueste entsprochen, so fährt sie vor das lettische Schulhaus und läßt den Lehrer die Ingcnd im Lesen, Rechnen, biblischer Geschichte :c. eraminiren. Die Resultate merkt sie sick genau uud bespricht dann mit dem Pfarrer, der vierteljährig die Sckulen inspicirt, worauf der Lehrer noch besonders Acht haben müsse-um vorgefundene Lücken auszufüllen nnd seine lettisckcn Zöglinge der größtmöglichen, ihren Berufs-kreisen entsprechenden Bildung theilhaftig zu machen. Doch ich male das segensvollc birken cmer turi-schen Landedeldame mcht weiter aus. Habe ich doch ftcnug gesagt, um in dem Leser die Lust zu erwecken, bald uach Kurland zu reisen und eine holde Blume "us diesem herrlichen Frauengarten in den deutschen Voden zu verpflanzen. Ich gebe zum Schlüsse eine Strophe aus einem ^edichto. in welchem ich von Kurland Abschied nahm. Und iu dem ich. wie es nicht anders möglich war. 152 auch der unvergleichlichen kurischen Frauen voller Anerkennung gedachte. Diese Strophe lautet: Wenn Schiller jemals hätt' geschaut Die kur'schcn Damen lieb und traut, Nic sie erfüllen jede Pflicht. Der schwersten selbst entzieh'n sich nicht. Es wäre wohl sein Lied erklungen Noch feuriger, das er gesungen In seiner schönen, edlen Weis Zu holder Frauen Ehr' und Preis', Ich neig' mein Haupt und tüss die Hand Den Damen all' im Kurenland, Vcr kurische Adel. Richl bemerkt in seinem Buche-. „Die Familie," wo er so viele feine, aus dem sorgsamsten Beschauen der einzelnen Classen und Individuen hervorgegan-gene Bemerkungen über die Sitten nnd die Wesenheit der deutschen Nation niederlegt, Niehl bemerkt, daß die Germanen von Hause aus ein Landvolk gewesen, und daß der Stand des freien Grundbesitzers der Urständ der Deutschen sei, während die Griechen und Miner-uns als Stadtvolk entgegenträten. Diese lelttere Behauptung hat übrigens nur eine thcilwcise Wahrhett. Dcr Ackerbau war eine der ehrenvollsten Beschäftigungen der alten Nomer. Ein berühmter Dictator ward zur Rettung des Vaterlandes vom Pfluge geholt, der sonst der Schrift-stellerei nicht geneigte Eato legte seine Erfahrungen über das Landleben in einem gediegenen Werke 153 nieder, und weise römische Gesetzgeber, das Fluctui-^ende und Unstäte der. nicht Ackerbau treibenden Bevölkerung in's Auge fassend, bevorzugten die ländlichen Tribus auf die unzweideutigste Weise. Aber das allerdings ist wahr, daß kein Volk sich mit solcher beharrlichen Liebe, wenn ich mich so ausdrücken darf, an die Brust der Wiese, des Waldes, der Flur, wir einem Worte, des Landes geschmiegt hat, wie das deutsche, und diese Neigung theilen noch heute sämmtliche germanische Nationen. Welche Verbesserungen verdankt die Landwirthschaft nicht England und Holland! Dieselbe Vorliebe nun, die der englische Adel für das Landleben hat, ist auch für die kurische Aristokratie charakteristisch. Was Luther ^ seinem Sendschreiben an den Adel deutscher Na-twn ausspricht, daß das Ackerwerk zu mehren sei, ^ vun beiden Aristokratien beherzigt worden. Wenn man nun die Schönheit und männliche Kraft des englischen Adels, seine blühende Gesichtsfarbe, seinen hohen, athletischen Van, seinen freien, holzen Sinn von dem innigen Verkehre mit der Natur hat herleiten wollen, so kommen auch der frischen Aristokratie durch ihren vorzngsweiscn Aufenthalt auf dem Lande manche von diesen Vortheilen zu Gute, aber freilich nicht alle. Die kurlän-blsche Aristokratie hat meist auch ein kräftiges, Eichendes Aussehen; sie ist aber, wenn man sie als ^"uzes zusammenfaßt, keineswegs schön. Ich hüte nnch im Allgemeinen sehr vor dergleichen generellen 154 Bemerkungen. Wic sehr spottete man nicht in den Ostseeprovinzen über Kohls Behauptung, das; der livländische Adel im Ganzen feiner sei, als der km« und esthländische. Dies geschah von Seiten der Km- und (MMnder nicht ans Verdruß, sondern aus dem ganz vernünftigen Grunde, daß man einwarf, wie Kohl durch einen nicht sehr langen Aufenthalt in den baltischen Landen, wo er kaum vierzig oder fünfzig Individuen des Adels in seder der drei Provinzen habe kennen lernen, keineswegs zu einer so gewagten Parallele berechtigt werde, Uebrigens, glanbe lch, behauptet Kohl dies auch nicht so. als wenn obige Bemerkung aus seiner eigenen Beobachtung hervorgegangen sei, sondern er erwähnt es als eine feststehende Ansicht, die in den Ostsceprovinzen allgemein herrsche. Wenn ich nun allerdings unter den Herren des kurlänoischcn Adels keinen Apollo, Adonis, Antinous, Hyacinthus, Narcissus. Hylas fand — hieß nicht so der reizende Knabe, der den Herkules auf dem Argonantcnzugc begleitete und von den Najaden geraubt ward? —; wenn mich ferner, um Schönheiten aus der neueren ^eit zu wählen, von denen wir bestimmte Porträts und nicht bloß die entzückten Schilderungen der Dichter besitzen, wenn mich die kurischcn Aristokraten weder an Raphael's himmlichcs Antlitz, noch an das königliche AeußereLudwigsXIV., noch an Marlborough's vornehme Physiognomie erinnerten; wenn ich also unter dem kurischen Adel neben manchen schlanken 155 Männern mit energischen, regelmäßigen oder geistreichen Zügen — oft fanden sich auch alle drei Ei-genschaftcn in einem Antlitze vereinigt — viele untersetzte Herren mit gewöhnlichen, ja oft häßlichen Zügen antraf, so würde ich mich deshalb doch nicht zu der generellen Bcmerknng berechtigt glauden, daß ein ganzer, aus so zahlreichen Mitgliedern bestehender Stand nicht schön sei. Ich kannte, wenn auch viele Herren der wuschen Aristokratie, doch die Mehrzahl nicht, nnd diese konnten ja alle in körperlicher Hinsicht untadelhaft sein. Vei meinem bestimmten Anssvrnche über die Schönheit oder Unschönheit des kurischen Adels Me ich mich auf das Urtheil des Freiherrn von V —. eines kurischen Edelmanns, der seine ganze Provinz genau kennt, und dem ich manche schätzbare Belehrung verdanke. Gegen diesen nun sprach ich meine Verwunderung "us, den kurländischcn Adel in, Allgemeinen nicht hübsch ^i finden, während ich gerade geglaubt habe, b"ß er sehr schon sei. Die Knrländer nämlich, die ich bisher in Deutschland gesehen hatte, waren alle schlanke, hübsche Männer, mit sehr einnehmenden 3ügen. gewesen. Da nun die Jugend nach Schiller's Aussprache schnell fertig mit dem Worte ist. so schloß lch. daß alle Kurländer ebenso hübsch sein müßten, l"ie diese. Wenn ich aber das erste Mal beim Ge-"eralisiren nach der günstigen Seite hin geirrt hatte, so durfte ich doch jetzt, nachdenkender und überlegen-"" geworden, nicht ebenso vorschnell ein, die Allge- 156 memheit betreffendes, ungünstiges Urtheil aus-sprcchcn. Ich komnie immer mehr und mehr von der Methode ab, aus einzelnen, anscheinend übereinstimmenden Thatsachen einen generellen Schluß zu ziehen; mir scheint der langsamere, aber sichere Resultate gebende Weg dcr Erfahrung, auf dem Aristoteles wandelt, dcr vozuziehende. Doch wenden wir uns jetzt zu der Schönheit oder Unschonheit des kurischcn Adels zurück! Ich werde nicht so vorschnell urtheilen, daß, weil ich A, B. C und D häßlich fand, alle Uebngen bis zu Z hinunter ebenfalls garstig sein müssen. Ich stütze mich, wie gesagt, auf den Varon von V—c, der sich auf Schönheit vortrefflich versteht und in allen Museen und Ateliers Europa's sein angeborenes Kunst' gefühl und seineu ästhetischen Sinn ausgebildet hat. Dieser versicherte mir nun, daß. im Ganzen genommen, der Adel Kurland's nicht schon sei. Ich be-sinnnc mich, in dem bei Cotta erscheinenden Journal „Das Auslaud" (Nr.223, 17.September 1847) einen Aufsatz üdcr Kurland gelesen zu haben, dessen Verfasser von dem Aussehen der Adeligen dieser Provinz wahrscheinlich nach denselben Prämissen ein Urtheil sällt, wie ich es that, bevor ich in den Norden gekommen. Er wird nämlich die Kurländer alle für schlank und blond halten, weil die acht oder zehn, die ihm begegneten, zufällig so aussahen. Da besinne ich mich aber gerade, als Beweis, daß nicht alle turischcn Adeligen blond sind. auf einen sehr 15)7 brünetten und zugleich sehr eleganten Baron von K—. der denselben Namen führt, wie das Herzogs geschlecht, dem Kurland mehrere vortreffliche Negen^ ten verdankt, und das bei seinem Erlöschen den Biron's Platz machte. Dieser Varon K— zog im Libaucr Pavillon meine Aufmerksamkeit wegen seines schonen dunklen Haares auf sich, das lang und mit seidenartiger Weiche sich um sein bleiches, anziehendes Antlitz legte. Hätte der Verfasser des Artikels im Auslande diesen Baron K— und namentlich mehre Herren aus der Familie von Bystram gesehen, die ebenfalls stark brünett sind, so würde er wahrscheinlich von den schwarzhaarigen Kurlän-bmi gesprochen haben. Ein Herr von Nystram verschönte bekanntlich in eben dem Grade das Leben dcr Gräsinchalm-Hahn, wie Elise von der Recke die ^egcn seines unpraktischen Wesens einer Lenkung bedürftige Existenz Tiedges. Nach dem Urtheile icnes Schriftstellers im Auslande müßte man alle Kurländer für Männer von blondem Haupthaar, vornehmem Aeußern und tadellosen Manieren hal-"N- Ich gestatte mir, einige Stellen aus dem gedachten Aufsatze wörtlich anzuführen. Sie lauten: ,.Wer kennt sie nicht, die schlanken blonden Männer mit dem aristokratischen BeHaben uud dem verbindlichen höflichen Lächeln, mit der gewandten , Körperbewegung und dem eleganten baltischen Dialekt, wie sie uns in allen Gesellschaflssälen Deutschlands begegnen, und wie wir sie wicderfin- 158 den in den Bädern, wie wir sie alls der Reise in Frankreich, in der Schweiz, in Italien erblicken? Sie gehören fast wie eine Nothwendigkeit in die Versammlungen der vornehmen Welt, und ihre mit Wappen geschmückten Neisewagen sind eine gewohnte Staffage der ^runäo i-onw.^ Nachdem ich bemerkt habe, wie die meisten Kur-lünder nicht schlank und viele nicht vlond sind, muß ich noch den Irrthum berichtigen, der sich in Bezug auf die mit Wappen geschmückten Ncisewagen in jenem Aufsätze ausspricht. Gewöhnlich bringen die Kurläuder Wagen aus dein Auslande mit nach Hause, weil sie dort besser und billiger, als in Mitau oder Riga, zu kaufen sind. Dann sieht man aber bei den Herren der altern Generation noch Nagen, die meist gar nicht nut Wappen geschmMt, ja nicht einmal lint Federn versehen sind, so daß, wenn man das Unglück hat, darin zu sitzen, Einem die Karrete eines Landpastors oder Pächters einfällt, die übrigens in Deutschland auch bald so verschwinden wird, wie in dessen Wäldern das Elenn. Doch über die hiesigen, nicht allzu eleganten, Equipagen wervc ich mich auslassen, wenn ich auf den wahrhaft adeligen Sinn der Kurlünder zu sprechen komme, der alle Ostentation verschmäht und durch äußern Prunk kein Aufsehen erregen will. Sie ziehen es vor, durch iunere Eigenschaften und durch ihre ganze Persönlichkeit sich Geltung zu verschaffen. Vor allem möchte ich als eine charakteristische 159 Agenschaft der kurländischen Aristokratie, sowohl der Männer wie der Frauen, die Gediegenheit bezeichnen. Man findet sie vielleicht nicht so encyclo-pädisch gebildet, wie es jetzt die vornehmen Generationen der großen Städte Dentschlands sind, aber Worauf sie sich gelegt haben, das erfassen sie auck ganz. In den Bibliotheken des Adels findet man die Werke Arago's, Humboldt's. Ranke's, Macau-^Y's u. a. in., nebst vielen deutschen nnd freindlän-Aschen Klassikern. An den langen Winterabenden ^est die Mntter oder eins der erwachsenen Kinder ^wr, nnd der Vater erklärt wissenschaftliche Anspucke, die über den Horizont der Frauen oder der Jünglinge gehen, welche letztere den Höhepunkt der ^'ldung erst erreichen sollen. Flache französische ""mane finden keine Stätte in den Häusern der wuschen Aristokratie, so geläufig ihr auch die Sprache ^"usseau's nnd Voltage's ist. Voltaire's Werke ^be ich wenig in Kurland gefnnden, häufig aber dlc Rousscau'schcn. Wahrscheinlich, daß der Erstere ^ui gediegenen und strengsittlichen Wesen der Kur-""der allzu wenig genügt. Da ich kurz zuvor vou Romanen gesprochen ^/ so fällt mir das merkwürdige Product „Nil- ^ «cut Den«" ein, welches christlich sein sollende "ttrk allerdings auch in Kurland viel gelesen ward; ^ erfreute sich aber eines nur sehr bedingten Lobes. uin gah dein Verfasser mmmigsache Kenntnisse zu, >"nd die Charaktere abcr u,eist unnatürlich nnd die 160 Situationen verrenkt. Auch üder die Sittlichkeit dieses christlich sein sollenden Werkes schüttelte man bedenklich den Kopf. Weit größeres Glück machten Gutzkows „Nitter vom Geiste" und Freitag's„Soll und Haben." Da man gute belletristische Sachen in Kurland langsam und nicht, wie von Hunden gehetzt, zu lesen liebt, auch saubere Bücher in der Hand zu haben wüuscht, so borgt man sie sich nicht für ein paar Groschen aus der Leihbibliothek, wie dies von so vielen reichen und angesehenen Leuten in Deutschland ohne Scham geschieht, sondern man kauft sie, Der kurische Adel bewährt hier eine neue Aehnlich-keit mit dem englischen, da dieser es gleichfalls für seine Pflicht hält. Verlegern von Werten, welche der Literatur Ehre machen, dadurch zu Hülse zukommen, daß er ihnen eine bedeutende Anzahl von Exemplaren für seine Bibliotheken abkauft. Der Roman „Soll und Haben" wurde in allen drei deutsch-russischen Ostseeprovinzcn bis nach Petersburg hinauf viel gelesen und nut großer Anerkennung besprochen. Die Mitauer, die überhaupt em leicht entzündliches Völkchen sind, schwärmten besonders für chn. Zu gleicher Zeit hatten sie sich für zwei sehr interessant aufsehende Herreu von Bakunin enthusiasmivt, die während eines großen Theils des Winters von l^)5 auf 1^)li als Ofsicicre der Druschinen in Mitau ihr Standquartier hatten. Die Herren von Bakunin sollen in der That sehr angenehme junge Leute sein, aber keineswegs so hinreißend. 16l daß man sich die Schwärmerei der Damen hätte erklären oder gar natürlich finden fönnen. Eic sind Brüder jenes bei dem Dresdener Aufstande gefangen genommenen nnd später anNußlaud ausgelieferten Batunin, dessen hartes Loos seit dem Jahre 1857 eine bedeutende Linderung erfuhr, wahrscheinlich anf Verwendung seines Oheims Murawieu, des humanen, von General Williams so warm gepriesenen Eroberers von Kars. (Neuesten Zeitungsnachricht ten zufolge ist Bakunin durch das Amur-Gebiet glücklich ans Sibirien entflohen und befindet sich bereits sicher ni England.) Als ein Herr vom Lande, zur Zeit. da „Soll und Haben", sowie dieVatunin's in Vtitau grassirten. dorthin kam und eine Verwandte besuchte, so fragte, diese ihn sogleich, ob er die gefeierten Nüssen gesehen und den berühmten Noman gelesen haoe. Da er nun das Eine. wie das Andere, der Wahrheit gemäß verneinen mnßte. so neth sie ihm mit großer Entschiedenheit, sich nicht eher in der Gesellschaft blicken zu lassen, als bis er beiden Pflichten genügt habe. Wenn ich mich jeizt dazu wende, das Leben des kurifchcn Adels auf seinen Gütern zu schildern, so wird es nicht insoweit geschehen, als die Existcuz der kurischen Aristokratie mit der deutschen identisch ist, sondern, wo sie dann abweicht. Im Allgemeinen sind die Sitten und Gewohnheiten des Adels derOstsceprouinzcn so deutsch, daß nur einem 162 scharfen Auge einige Nuancen des germanischem Grundtons aussallen werden. Kurland ist nicht reich an Schlössern, die Wohnhäuser des Adels sind aber ineist von stattlichem Aussehen, durch und durch massiv, gewöhnlich zwei. Stockwerke hoch und sich lang nach beiden Seiten hin ausdehnend. Eine prächtige Vorhalle, Treppen von Mahagoniholz, mit Tcppichen bedeckt, findet nian hier nicht. Das Ganze trägt den Stempel der Wohlhabenheit, aber nicht der Pracht. Ja, über einiges fast zu Einfache verwundert man sich, wenn nian damit den Luxus vergleicht, der jetzt auch in ganz gewohnlichen Bürgcrshäufern zu Tage tritt. Die adeligen Familien in .sturland essen zum Beispiel nicht jeden Mittag mit silbernen Messern und Gabeln, sondern nur, wenn Gäste da sind. Ich finde dies eigentlich nicht vornehm, da man schönes Geräthe nicht bloß für seine Gäste, sondern ganz besonders für sich selber halten soll. Mir scheint es richtiger, wie es bei der englischen Aristokratie und in den meisten vornehmen Häusern des Continents Negel ist, die Tafel stets so decken zu lassen, daß ein König plölzlich daran Platz nehmen könnte, ohne den Wirth zu einer Entschuldigung wegen der nicht würdigen Aufnahme zu nöthigen. Mit meiner Vorliebe für die Griechen, die aus dem Schönen einen Cultus machten, hängt anch die Neigung zusammen, allem, was zum Hausrathe gehört, eine ästhetische Forin zu geben. Deshalb ist für mich zu 163 einem Diner und Souper, das mir vortrefflich schmeckeu soll, eine Anordnung der Tafel unerläßlich, bei welcher der Schönheit und der Pracht eine Stimme eingeräumt wird. Herrlich glänzende, mit Schmetterlingen und Vögeln durchwirkte Damastgedecke, reiches Silberzeug von geschmackvoller Arbeit, ein Meißener Tafelscrvice, prächtige, mit schim^ mernden Früchten geschmückte Crystallschaicn, schöngeformte, verschiedenfarbige Weingläser und Basen von leichtem, gefälligem Bau, aus denen wunderbar duftende Blumen emporblühen: alle diese () in-zelheiten, harmonisch geordnet, erwecken in mir so poetische Gefühle, daß ich ganz und gar vergesse, wie ich mich eigentlich einer sehr prosaischen Beschäftigung hingeben will. Das Essen, wenn man es nicht unter ästhetischen Formen verhüllt, hat etwas entschieden Thierisches. Alle die Requisiten nun, welche ich so eben an eine Tafel stellte, die auf einen gebildeten Menschen einen wohlthuenden Eindruck machen soll, sind bei der kurischen gänzlich unberücksichtigt geblieben. Nimmt man zu dieser ungeschmück-ten kurischen Tafel noch die überaus derben Gerichte, die jedem feiner gewöhnten Magen schrecklich vorkommen müssen, so erhellt hieraus am Besten die Liebenswürdigkeit der nordischen Wirthe, daß sie in ihre Provinz gekommene fremde Reisende auf längere Zeit zu fesseln verstehen, troh ihres unästhetisch gedeckten Tisches und ihrer, mir wenigstens durchaus nicht zusagenden Kochweise. Die Schlafzimmer, m 164 die man geführt wird, haben, außer dem Verdienste der Reinlichkeit, kein anderes. Das Sopha. das man darin findet, ist von einer impertinenten Härte, die Waschcommode das tannene Product eines lettischen Landtischlers, die Wände des Zinnners sind meist geweißt und haben nur höchst selten Tapeten, und an Gardinen ist nun schon gar nickt zu dcnkcn. Wenn der Freiherr von Minutoli in seinem Werte: „Portugal und seine Kolonien im Jahre 1^54" erzählt, daß in diesem Lande häufig keine Gardinen an den Fenstern zu finden seien, so hätte er bei einer Reise in den Norden die Abwcsenhctt dieses traulichen Zimmerschmilckes auch in vielen Häusern der kurischcn Aristokratie bemerken können. Gewiß nlit großem Nechte hebt Adalbert Stifter an einem Hause, das er schildert, als besondern Schmuck „glänzende Fenster" hervor und fügt dann hinzu: „Hinter denselben hingen ruhige, weiße Vorhänge." Wäre er nach Kurland gekommen, so hätte er das häufige Fehlen der Gardinen gewiß in sinniger Weise beklagt. Sonst findet man in den Wohnhäusern des kurischen Adels große und weite Näume. die fast durchgehend parkrtnrt sind. soweit sie als Empfangs-und Gesellschaftszimmer benutzt werden, meist, aber nicht immer Kronleuchter — einen ganz vornehmen Eindruck macht eine Neihe von Zimmern ohne diesen Zicrrath niemals —zuweilen, aber selten, scköne Gemälde und Statuen. Elegante Nippessachen und sonstige Tändeleien, wie man sie m den Zim- 165 mern der vornehmen deutschen, englischen und französischen Damen bis zur Ucberladung antrifft, fehlen hier gänzlich. Auch sind die Möbel hin und wieder noch sehr altmodisch und entbehren namentlich der bequemen Polsterung. Ja, in den älteren kurischen Wohnungen sind Sopha und Stühle, sowie das übrige Ameublement, häufig aus Virken-und nicht aus Mahagoniholz. Da fällt mir ein, daß ich auch hier aus den: Munde von ganz vornehmen Menschen hörte — in Deutschland vernahm ich es sehr oft; es klang mir aber immer sehr ungebildet —, wie sie statt „Mahagoni" blos „magoni" sagten. Auch mit den Livreen der Dienerschaft wird sehr wenig Prunk getrieben. Meist sind die Diener sunge lettische Vauersöhne, die durch längeren Aufenchalt in dem Herrenhause deutsch gelernt haben. La Fleur, dieser ächte Franzose, der mitdenvonNorik empfangenen vier Louisd'or solche Wundei der Toilette bewirkte, würde hier alle Lust, sich zu adonisireck, vcr-luren haben, da seine MitdomesMen ihn wegen derartiger Versuche derb ausgelacht und verspottet hätten. Die Diener sieht man hier selten in Livree, sondern gewöhnlich in bürgerlicher Kleidung. Mei-stentheils sind es die abgetragenen Röcke und Westen ihrer Herren. Da nun diese selbst sich nicht nach der neuesten Mode kleiden, so hat das Kostüm der Diener durchaus nichts Elegantes. Ihre rothen, zuweilen unsaubern Hände verdarben mir oft den Appetit. Möchte man doch in allen Häusern, wo man 166 sich nicht so viele Domestiken hält, daß die bei Tafel aufwartenden Bedienten von grober, die Hände entstellender Arbeit verschont bleiben, ihnen helle Handschuhe wahrend desHerumpräsentirens geben! Auch winde zu einem frischen, sauborn Eindrucke eine tadellos weiße Cravatte wesentlich beitragen. Leider hat die weiße Cravatte seit einem berühmten oder berüchtigten gräflichen Erlasse den Beischmack des Lächerlichen bekommen. Die meisten kurischen Gutsbesitzer, oder doch wenigstens sehr viele, trinken für gewöhnlich Bier bei Tische. Wein lassen sie nur auf die Tafel stellen, wenn Gäste da sind. Auch haben mich die Talglichte in die höchste Verwunderung verseht, die man am Abeno in den Wohnzimmern des kurischen Adels antrifft. Beim Souper freilich sind stets Nachslichtc, und auch während des übrigen Abends in den Wohnzimmern ohne Ausnahme dann, wenn fremde Gäste erscheinen. Ich war ganz entsetzt, als ich die Talg-lichte, meine alten Feinde, so wider alles Vermuthen in hochadeligen Häusern vor mir stehen und mich keck und dreist mit trübem, gelblichem Auge anblicken sah. Ich hatte sie nimmer in so anständiger Gesellschaft anzutreffen erwartet. In den übrigen vornehmen Häusern des Continents sind die Talglichte zu meiner Beruhigung gänzlich verschwunden. Sie wichen den Wachs- oder Stearinlichten. Ja, selbst dei unbemittelten Familien hilft man sich mit den freundlichen Lampen, die glücklicherweise jetzt so 167 wenig kosten, daß sie für die Meisten sich als ein zu erschwingendes Gut herausstellen. Ich habe alle obigen — vielleicht minutiösen — Einzelnheiten deshalb angeführt, um dem geehrten Leser den Beweis zu liefern, wie sehr das Leben des kurischen Adels den Prunk verschmäht. Wenn nun verwöhnte Reisende, ungeachtet ihrer luxuriösen Neigungen und ihres Vertrautseins mit Allem, was zum Comfort gehört, sich dennoch sehr wohl iu Kurland fühlten und meist länger daselbst verweilten, als sie ursprünglich beabsichtigten, so kann hieraus am Besten ermessen werden, was das für feine und liebe Leute sein müssen, die so zu fesseln verstehen, trotzdem, daß ein meist trüber Himmel über dem Haupte hängt, trotzdem, daß Speisen, Zimmergeräthe und andere Dinge den Ansprüchen durchaus nicht genügen, die zu den höheren Ständen Deutschlands, Frankreichs und Englands gehörige Personen zu erheben gewohnt sind. Ist es in Bezug auf den Comfort, wie es aus Obigem erhellt, in den Häusern des kurischcn Adels theilweise recht mangelhaft bestellt, so herrscht doch mit sehr vereinzelten Ausnahmen daselbst ein feiner Ton, gleich fern von aller steifen Etikette, wie von den gesellschaftlichen Licenzen, die der sogenannte „den wn" der Jetztzeit leider sanctionirt hat. Vor Allem berührt es bei dem kurischen Adel so angenehm, daß er frei von jedem Iunkerthum ist. Hiermit hängt der liebenswürdige, für die kurischen An- 168 stokratcn charakteristische Zug zusammen, daß sie einen vertrauten und innigen Verkehr mit Personen unterhalten, die sich durch Tugend und Geistesbildung auszeichnen, mögen letztere auch aus ganz niederem Stande entsprossen "sein. Ich hebe aus vielen, meine Behauptung erläuternden Beispielen ein einziges heraus. Ein Herr D-^ nämlich, der mir von einem der vornehmsten Edelleute Kurlands als sein Freund vorgestellt ward, nannte sich mit den ersten Adeligen „Du", war auf ihren Landgütern ein stets willkommener Gast und ward von ihnen mit den zartesten Aufmerksamkeiten überhäuft, so daß ein fremder, bevor er genauer unterrichtet war, glauben mußte, es sei ein Fürst, dem man wegen seiner hohen Geburt besondere Rücksichten schulde. Hierzu kam noch, daß man von dem sehr gebildeten Geiste des Herrn D— nur mit größter Mühe Nutzen ziehen konnte, da er im höchsten Grade taub war. Die kurländischen Edelleute, ihre Lungen aufs Heldenmüthigstc preisgebend, unterhielten sich mit ihm, ohne einen Stillstand in die Conversation kommen zu lassen. Ich strengte mich vergebens an, von dem Herrn D— gehört zu werden. Obgleich ich wie Stcntor schrie, und mir wie eine der Trompeten von Jericho vorkam, so hielt er doch stets sein Ohr hin uud machte Mienen, die sein Nichtverstehen andeuteten. Wahrscheinlich erschwerte ihm mein fremder Dialekt das Verstehen. Ich war in Verzweiflung, einmal wegen der furchtbaren Anstren- 169 gungen, die ich meiner Lunge zumuthcn mußte, und bann wegen der verlegenen Situation, in der sich der Schreiende und der Beschrieene befanden. Vernünftiger Weise gab ich nach so mißlungenen Versuchen eine Conversation aus, die ihm und mir nur ^ual bereitete. Zum Glück fiel ihm einmal seine Serviette und später sein Schnupftuch herunter; beides hob ich schnell auf und bezeugte ihm durch verbindliches Ueberrcichcn meine Hochachtung, Wie viel Anheimelndes die wrische Existenz trotz ^s mangelnden Comforts dennoch selbst für den verwöhntesten hat. dafür zeugt das schnelle Ein-leben einer schönen Grafentochter, in deren herrliche, ^unlele Augen ich so gern blickte, und der ich eine huldigende Erinnerung bewahre. Kurland darf stolz ^rauf sew, daß sein edler Fraueugarten um diese schöne Inselolume reicher geworden ist. Nach einem ^ahre schon hatte diese junge Dame, die in den ^'Mn Kreisen Kopenhagens am meisten gefeiert ^rd, die fast in allen glänzenden Badeortcrn und ^ Wehreren europäischen Höfen unter Huldigungen ^Hirnen war, sich gänzlich in Kurland eingelebt, ^"d söhnte sich wol nach ihren Acltern und Ver-"'"ndten, aber nicht nach den prangenden Bällen Und Fasten zurück, auf denen sie eine der schönsten Gerden gewesen. Der Himmel hatte ihr. außer den ^zügen der Geburt und des sehr einnehmenden äußern, eine liebliche, zu Herzen dringende Stimme ^schenkt, die von den ersten Gesangslehrern aus- 170 gebildet war. Daß sic eine wahrhaft große Dame sei, bewies sie dadurch, daß sie sich nie sperrte und weigerte, wenn man sie bat, den gesellschaftlichen Kreis durch ihr Talent zu beglücken. Sie schützte keine Heiserkeit oder andere Indisposition vor, wie es die Damen bei ähnlichen Gelegenheiten zu thun pflegen, sondern sang, sobald man sie darum ersuchte, mit der liebenswürdigsten Vereitwilligkeit. Der Himmel war ihr auch darin günstig gewesen, daß er sie in eine sehr kunstliebcnde Familie geführt hatte. Ihr Schwiegervater ist nämlich jener Freiherr von B—, dessen feiner, ästhetischer Bildung ich bereits gedachte, Man darf ihn einen wahrhaften Virtuosen auf dem Klavier nennen, und er hat auf seinen vielen Reisen sich durch seinen eleganten und zugleich gefühlvollen Vortrag in allen Kreisen der KautQ vol6o Europas die lebhafteste Anerkennung errungen. Dieser Freiherr von B— überträgt seinen musikalischen Sinn auch auf die Natur, und wie er sehr hübsche Sachen für das Klavier compo-nirt hat, so sind seine Compositionen in Garten und Park ebenfalls überraschend gelungen, und würden sich selbst das Lob eines Pückler-Muskau erzwingen. Wie der Garten und Park dieses Freiherrn den Geschmack bekunden, der bei der Anlage und Weiterbildung beider die oberste Aufsicht führte, so sieht man auch in dem Wohnhause dieses kunstlicbendcn Mannes einen feinen, ästhetischen Sinn walten. Man wird nicht durch Pracht geblendet, wohl aber 171 durch den gewähltesten Geschmack angenehm berührt. Man hatte mir schon, bevor ich dem Freiherrn meinen Besuch machte, von der holländischen Reinlichkeit erzählt, die in seinem Hause herrsche, und die durch eine Unmasse von geflochtenen Strohmatten und draußen angebrachten eisernen Abtretern aufrecht erhalten werde. Mir war es sehr angenehm, daß man mich hierauf aufmerksam gemacht hatte, da ich sonst nicht viel Zeit bei dergleichen Verrichtungen zu verlieren liebe. Als ich ihn das erste Mal im Winter besuchte, war meine Vorsicht nicht nöthig, da ich Pelzstiefeln trug. diese mir vom Bedienten im Porhause ausgezogen wurden, und ich so mit makellosen Sohlen die inneren Gemächer betrat. Anders war es im Sommer, wo er mich über eine Stunde in seinem Garten und Parke umhergesührt und mir rnele geschmackvolle Anlagen gczcigthatte. Veim Nachhausegehen waren meine ein-gestäubteu Stiefeln allerdings nicht salonmäßig. So langweilig mir auch das Abputzen und Abkratzen ist, so dachte ich doch, als wir unten bei der Freitreppe anlangten, an die schönen Parkets des Hauses und an die Gefälligkeit, die ich meinem licbmswürdigeu Wirthe genug, ich warf mich mit Selbstverleugnung auf ein eisernes Ding, über welches ich mit meinen Sohlen dahmfuhr, daß es eine Freude war. Ich kratzte und kratzte mit einer Unverdrossenhcit, daß ich mir innerlich selbst die höchsten Lobsprüche er- 172 theilte. Jeden Augenblick erwartete ich aus den: Munde meines Wirthes: „Genug!" zu hören. Er fand indeß diese Anstrengungen zu Ehren der Sauberkeit höchst natürlich nnd sprach nicht das befreiende Wort. Zuletzt wurde mir ganz wirr im Kopfe; es flimmerte mir vor den Augen, mein Fuß fuhr mechanisch, aber in wildester Bewegung, über den eisernen Kratzer dahin, und weil ich es wirklich nicht mehr aushalten konnte, so machte ich der angreifenden, mich mit einer Ohnmacht bedrohenden Arbeit endlich Einhalt, ohne dazn autonsirt zu sein. Als ich mich nach dem Varon umsah, so war er bei dem andern eisernen Abtreter und reinigte seine Füße mit einer Gründlichfeit, daß Einem Hören und Sehen «ergingen. Bei seiner feinen Lebensart hörte er aber sogleich auf, als er mich die Freitreppe emporsteigen sah. Um noch einmal an die derben Gerichte Kurlands zu erinnern, über die ich wohl schon etlichcmale geseufzt habe, so aß auch dieser ästhetisch gebildete Varon gebratene Schafsköpfe mit äußerstem Behagen. Es ist dies ein Lieblingsgericht des Herbstes in hiesiger Gegend. Ich selbst hatte dies mir neue Gericht ohne alles Vorurthcil in den Mund genommen, war aber bei dem ersten Kosten stehen geblieben und versuchte nie zu ergründen, was die Kurlünder hieran so Deliciöses finden könnten. Da ich mm meine Abneigungen von mir zusagenden Persönlichkeiten gern getheilt sehe, so äußerte ich im Zwiegespräche mit dem Baron von 173 V-meinenWiderwillen gegen die gebratenen Schafs-köpfe, sicher erwartend, daß der ästhetische Mann dies unästhetische Gericht streng verdammen werde. Leider aber war er ein begeisterter Anhänger desselben. Uebrigens will ich doch nicht zu erwähnen vergessen, daß ein kalter Lammswpf das Lieblingsge-richt Walter Scott's war, und daß auf seinem Frühstückstisch dasselbe niemals fehlen durfte. Für den wenig stolzen Sinn des kurischen Adels scheint mir auch zu sprechen, daß bei Nennung von Namen adeliger Fräuleins stets das „von" weggelassen wird. Sie werden so im Gespräche von den bürgerlichen jungen Damen gar nicht unterschieden, denn die Töchter der studirten, aber nicht adeligen Classen werden hier keineswegs „Mamsell" genannt, wie es in Deutschland vor etwa zwanzig Jahren noch in den meisten kleinen Städten und auf dem Lande Sitte war. Die Tochter des Pastors Katter-feld, um nur ein Beispiel anzuführen, stellt man als „Fräulein Katterfeld" und die Tochter des Barons von Nonne gleichfalls nur als,.Fräulein Nonne" vor. Also ist nicht der geringste Unterschied in der Benennung adeliger und bürgerlicher Fräuleins. Ferner ist es in Kurland Sitte, zn den jungen adeligenDamen nicht „gnädiges Fräulein." sondern bloß Fraulein zu sagen, aber den Vaternamen hinzuzufügen. Man sagt also: Fräulein Buchliolz. FräuleinFircks, Fräulein Kleist. Fräulein Mrbach, Fräulein^ Nolde, Fräulein Sacken. Auch ist cs eine Eigenthümlich- 174 leit Kurlands, bei der Familie Osten-Sacken die beiden ersten Sylben consequent wegzulassen. Ue-brigens sind die freiherrlichen Familien Osten -Sacken, Fircks, Nonne durch die zahlreichsten Glieder repräsentirt. Zur Zeit, als ich in Kurland war. gab es, nach der Versicherung des Freiherrn von B—, sunfzig Baronessen Fircks. Ich kenne selbst deren mehrere, die mir einen sehr angenehmen Eindruck hinterließen. Unter den adeligen Familien Kurlands zeichnet sich die fürstlich Liven'sche durch große Frömmigkeit, sowie durch den edlen Eifer aus, den Armen und Kranken in reichster und stets zartester Weise Hülfe, Trost und Pflege zu spenden. Manche beschuldigen die Livens allerdings, daß ihre Frömmigkeit in Pietismus ausarte, doch ist die flache, rationalistische Richtung so mancher Halbgebildeten nur zugeneigt, jede Gemüthsvertiefung mit diesem Namen zu bezeichnen. Möchten alle lichtfreundlichen Herren und Damen nur so wohlthätig sein, wie es die angeblich pietistisch gefärbte Familie Liven ist! Es gäbe dann des Hungers, Kummers und Elendes viel weniger in der Welt. Was man mir von der segensreichen Wirksamkeit einer verwitweten Fürstin' Liven erzählte, gemahnte mich an die edle Fürstin Gallitzin zu Münster. — Allen Denjenigen, die in den vierziger Jahren die Salons von Paris besuchten, wird die geistreiche Fürstin Liven in Erinnerung geblieben sein, die treue Freundin Guizot's. Es dürfte selten 175 eine Dame Pfunden werden, die eine so feine, gleich-mähige Aufmerksamkeit für alle ihre Gäste hatte. Der frciherrlich Liven'schm Fanülie rühmt man hervorragende Geistes- und Herzenseigcnschaften nach. Ein besonders sich auszeichnendes Mitglied dieser freiherrlichen Linie steht in hoher Gunst bei dem Kaiser Alexander II. Er ist dessen Gencral-Adjndant und war bis vor kurzem General-Quartiermeister der russischen Armee. Zu meiner Freude ist er seit einigen Monaten, was ich früher oder später sicher erwartete, zum General-Gouverneur der Ostsceprovinzen ernannt worden. Es war seit lange mein Wunsch, daß die höchste Stelle in diesen, von deutschen Adeligen und deutschen Vürgern bewohnten Prooiuzen durch einen Deutschen bekleidet werde. Uebrigens zwingt mich die Gerechtigkeit zu erwähnen, das der bisherige General-Gouverneur, Fürst Suwarow, ein äußerst aufgeklärter Mann von dem vielseitigsten Wissen ist der sich ganz besonders Riga's, wo er auf dem Schlosse wohnte, bann aber auch sämmtlicher, unter seiner Leitung stehenden Provinzen aufs Wärmste annähn:. Indeß ist es doch besser, daß jetzt ein Deutscher, und vor allem ein so edler, hochbcfähigter Mann, wie der Freiherr von Liven, an der Spitze Kur-, Liv- und Esthlands steht. Der gräflich KeyserlingMn Familie schreibt man allgemein einen scharfen Verstand, ungewöhnlich tiefe Pilduna, und den aufgeklärtesten, vorurtheil- 176 freisten Sinn zu. An dcn Mitgliedern dieser Familie, die ich das Vergnügen hatte kennen zu lernen, fand ich die eben erwähnten ausgezeichneten Eigenschaften sämmtlich vorhanden, und bewahre ich denselben eine. mit Verehrung gepaarte, freundschaftliche Nückerinnerung. Die sehr zahlreiche freiherrliche Familie Fircks soll ungemein viel Mutterwitz besitzen, aber die Pferde und das Wild in den Wäldern mehr lieben, als Apollo und die neun Musen. Unter den Mitgliedern dieser großen Familie, mit denen ich mich häusiger berührte, ist mir vor allen der Freiherr Julius von Fircks, Erbherr aufKalwen, in treucstcr Erinnerung geblieben, durch seltene Charakter- und Gemüthseigenschaften ausgezeichnet, und als Ehrenmann im strengsten Sinne des Worts in allgemeiner Achtung stehend. Er hatte, während ich in Kurland war, den Schmerz, seine Tochter Isalie, das reizendste Kind, das ich in meinem Leben je gesehen habc, durch ein Nervensieber zu verlieren. Sein Schmerz war wohl noch seclennagender, als der Lamartine's bei dem Tode seiner einzigen Tochter Julia, da der Sänger der ,.Msäiwtion8" seine innern Qualen ausströmen konnte in elegische Klagen, während der kurischc Freiherr, bei einer schweigsamen, sich in sich verzehrenden Natur, sein namenloses Wehe im tiefsten Herzensschiein verschlossen hielt und seinem Jammer teineit Ausdruck gestattete. Die Religion und dicZeit werden Balsam auf sein schwergettoffc- 177 nes Herz legen. Wohl Niemand hat seinen Verlust damals inniger mitbctrauert. als ich. Den Freihcrrn Wilhelm von Bagge of Voo, Majoratsherrn aufDinsdorf. darf ich wohl als den untadelhaftesten Repräsentanten des feinen Tons einer leider vergangenen Zeiiperiode bezeichnen. Solche verbindliche nnd bezaubernde Manieren hatten die Marquis am Hofe Ludwigs XIV., dieses Musterkönigs in Bezug aufAnstand und feine Sitte. Ein Freiherr vonGwthuß, derinLibau lebt, möchte dem Freiherrn von Vaggc in Bezug auf guten Ton am nächsten stehen. Unter dem jungem Herren-Personale gedenke ich besonders eines Barons Otto von Kleist und eines Barons Kettler als eleganter Erscheinungen. Die jüngeren Barone vonGrothuß waren fast ohne Ansnahme sehr hübsche Männer, von liebenswürdigen und gefälligen Umgangs-feiten. Wenn auch kein erschöpfendes, so glaube ich doch ein anschauliches Bild von dem knrischen Adel gegeben zu haben. Jedenfalls witterten wohl die Anhänger des anoicn i-eZilNL und die Liebhaber feu-dalistisch-pictistischer Zustände aus meiner Schilderung zu ihrem Leidwesen heraus, daft in Kurland hochlnüthige Landjunker kaum aufzustöbern sein möchten. Unsere Landjunker würden ein Anathema ausrufen über den Liberalismus der nordischen Varonc. Diese sprechen nicht von der Umkehr der Wissenschaft, wie ein jüngst verstorbener Professor n 178 der Staatslehre, sondern rufen, gleich dem zwar aristokratischen, aber vernunsthcllen und jeder Verdummung und Verdumpfung abgeneigten Goethe'. .Mehr Licht! Mchr Licht!"' Der kurische Adel ertheilte dem Grafen von Nü-diger und dem General von Todlcben, Beide von bürgerlicher Geburt, bereitwilligst und nach einstimmigem Beschlusse das Indigenat. So wenig verschwenderisch er auch im Allgemeinen mit dem In-digenate ist, das heißt, mit dem ertheilten Nechte. sich zur eingeborenen Aristokratie zu zählen, so liberal gewährt er es dem unbestrittenen Verdienste und fragt dann dem Ursprünge des Recipirenden keinen Augenblick nach. Hätte der französische Adel im Jahre 1789 so viele brave, charakterfeste, tugendhafte, anspruchslose und freisinnige Männer in seinem Schooße gezählt, wie es der kurländifche heutigen Tages thut, es würde sich zwischen ihm und dem Volke nicht eine so tiefe Kluft gebildet haben, die Marat frevelhaft genug war, durch 200,000 Aristokratenköpfe ausfüllen zu wollen. Der kurische Aocl ist des schönen, aber auch so große Anforderungen stellenden, eine Welt von Pflichten in sich bergenden Spruches i „Nadi^c obU^-e" immerdar eingedenk. So lange er diesem Spruche nachlebt, wird er ein stets grünender und kühlenden Schatten gewährender Zweig am großen Staatsbaume sein, dessen Absterben unbedingt zu beklagen wäre. 179 Der lurischc Mtcratenstllnd. Daß das oratorische Eleinent nn russischen Reiche gar wenig gepflegt wird, merkt man schon in Kurland, wo die Advocatcn. Aerzte, Pastoren und die sonstigen Stndirten sich lange nicht so gewandt und fliehend ausdrücken, wie in den Staaten, wo ein öffentliches Leben herrscht. Sie haben sonst gewiß nicht mmder gediegene Kenntnisse, als die entsprechenden Kreise in Deutschland, aber der Gedanke umkleidet sich hier nicht so schnell und glücklich mit dem adäquaten Wortausdrucke, wie bei den Völkern, wo öffentliche Discussioncn an der Tagesordnung sind. Sonst dürfen die studirten bürgerlichen Klassen Kurlands, die man unter der Bezeichnung „Die Litevaten" zusammenfaßt, und die den Persönlichen Adel haben, als höchst gebildete und unterrichtete Leute hervorgehoben werden. Die Gramma, die sie bestelln müssen, sind nicht minder schwer, als in Deutschland. Ich hatte mir immer vorgestellt, daß die Advocaten, Aerzte und Pastoren m Nußland dem Adel gegenüber viel demüthiger sein würden, als in Deutschland. Dies ist aber durchaus nicht der Fall. Sie zeigen sich im Verkehr Mit dem Adel — wenigstens habe ich dies in Kurland dnrchgchend gefunden — höchst unbefangen und benehmen sich ihm gegenüber als vollkommen gleichberechtigt. Ich werde hier einige Anekdoten Wählen, die am besten geeignet sind, klar zumachen, 180 wie dreist und keck die Bürgerlichen den Adeligen in den Ostseeprovinzen zu antworten wissen, wenn diese etwas Ungereimtes behaupten oder durch hoch-wüthigen Ton sie niederzuschmettern vorsuchen. Ein Graf K—st. der in Kurland mehrere Güter besitzt, aber kein Eingeborener der Provinz ist, pflegt, um mich eines volksthümlichen Ausdrucks zu bedienen, „barbarisch" zu lügen. Die Kurländer bei ihrer großen Wahrheitsliebe machen sich dieses Fehlers fast nie schuldig, Einstmals sitzt der Graf K—st mit einem Advocaten, der wegen seines Witzes bekannt ist, spät Abends beim Souper und bricht gemeinsam mit ihm einigen Flaschen den Hals. Der Wein entstammt sein Lügentalcnt zu den gewagtesten Sätzen. Lange Zeit hört der Aduocat die unwahrscheinlichsten Dinge mit der größten Geduld an, bis der Graf es ihm denn doch zu arg macht. Der Graf nämlich, sich seiner vielen Talente rühmend und nur das eine aus falscher Vcscheidenheit verschweigend, worin er gerade am Großartigsten war, nämlich die Gabe, den Herrn von Münchhau-stn in Bezug auf das Lügen, worin dieser doch ein Niese und sprichwörtlich geworden ist. als Zwerg neben sich zu erblicken, —der Gras also, auf der abschüssigen Bahn der Unwahrheit schnell weiter gleitend, kommt zu dem bedenklichen Punkte, wo er erzählt, daß er in einer Nacht das Schwedische gelernt habe. Der Advocat schiebt sich ganz ruhig eine furchbare Prise Schnupftaback in seine Nase, 181 die ebenso groß war. wie die des Kaisers Rudolph von Habsburg, und antwortet, indem ans seinen pfiffigen, grauen Augen ein Strahl der Malice zu dem Lügen-Virtuosen hinübergleitet: „Herr Graf, das geschah unzweifelhaft in der langen Nacht." Wenn diese Anekdote zeigt, wie hier in Nußland ein witziger Bürgerlicher, obgleich er als gutbezahlter Rechtsbeistand allen Grund hatte, den reichen, mehrere Güter besitzenden, Grafen mit Sammet-pfötchen anzufassen, einen Adeligen, der allzu frech log, mit den Waffen der Ironie züchtigte, so wird eine andere den Beweis liefern, wie auch niedrige Beamte gegenüber den Matadoren der Hierarchie den Mund aufzulhun wissen, sobald sie nicht im Dienste sind, und kein Vergehen, dessen sie sich schuldig machten, den Vorgesetzten berechtigt, chnen einen Verweis zu geben. Der Marquis von Paulucci, ein Italiener, der sich als General-Gouverneur der Ostsecprovinzcn mannigfache Verdienste um die baltischen Lande erworben hat, gab emst in Riga ein großes Diner, zu dem er sehr viele Adelige, Ofsiciere, Beamte, reiche Kaufleute geladen hatte: genug, alle irgendwie angesehene Persönlichkeiten fanden sich bei ihm versammelt. Der Marqnisvon Paulucci, der bei gutem Herzen ein sehr cholerisches Temperament hatte, bemerkt, daß ein Secretär, der ebenfalls sein Gast ist, beim binsclienkcn von Burgunderwein einen großen rothen Flecken auf das Tischtuch gemacht hat. Hierüber in Zorn gerathcnd . 583 und ganz vergessend, welche Rücksichten er seinem Gaste schuldet, ruft er in seinem schlechten italienischen Deutsch über die Tafel herüber! „Herr Secrc-tare, sagen Sie doch, in was für ein Haus wurden Sie denn groß?" Aller Angen richteten sich, einige voll Spott, doch die meisten voll Theilnahme nnd Mitleid, auf den mit solchem Hohn angegriffenen und scheinbar wehrlos dasitzenden Eecretär. Die Frage des General-Gouverneurs besagte nämlich mit klaren Worten, daß er zwischen Bauern groß geworden sein müsse, weil er sonst gelernt haben würde, Wein einzuschenken. Zum Glück hatte der Secretär, wie man im gewöhnlichen Leben zu sagen Pflegt, Haare auf den Zähnen. Sich tief verneigend, antwortete er: „Excellenz, ich wurde in einem Hause groß, wo man jeden Tag ein neues Tischtuch aufdeckte." Der kluge General-Gouverneur schwieg, da er merkte, daß er seinen Mann gefunden habe. Wäre mir diese Anekdote in Deutschland erzählt worden, oder hätte ich sic in einem Auche gelesen, so würde ich geglaubt haben, daß der General-Gouverneur sofort eine Telega hätte anspannen lassen, damit dem frech antwortenden Unterbeamten in Sibirien der Witz einfriere. Jetzt, naäi genauem Umschauen in Rußland, habe ich mich überzeugt, daß nur Diejenigen, die etwas verbrochen haben, von der Strafe eneicht werden, daß dcv Arm des Gesehes allein über die Schuldigen mächtig ist, daß 183 aber nicht der Uebermuth und die Willkür der Vornehmen mit Solchen, die weniger hoch, als sie, auf der socialen Leiter durch das Schicksal gestellt sind, nach Belieben verfahren können. Ich habe hier einzuschalten, daß Nußland das Eldorado der Lehrer und Gouvernanten ist. Man behandelt sie hier mit vieler Rücksicht und Zuvorkommenheit. Oft lassen sich nun Menschen, die reich an Kenntnissen, aber arm an Takt sind, zu Dreistigkeiten verleiten, die in guter Gesellschaft unangenehm empfunden werden. Dieses Fehlers machte sich auch ein Lehrer Unbehagen schuldig. Er war nicht ohne Nil), liebte aber auch deshalb allzu sehr das Witzeln. Einmal wagte er sich an den Baron von Rummel, der ihn aber an Witz und schlagender Replik bei weitem übertraf. Es gab zu der Zeit, wo der ebenbesprochene Lehrer in Kurland war, noch nicht so gute Landstraften, wie heutzutage. Der Baron von Rummel langte nun eines Abends von einer sehr beschwerlichen Reise auf dem Gute an, wo der Lehrer Unbehagen conditionirte. Obgleich der Letztere den Gast des Hauses zum ersten Male sah, so machte er sich mit seinem Witze doch sogleich an ihn. Die schlechten Wege und der Name des Barons schienen ihn zu einem sehr natürlichen und sehr guten Witze aufzufordern. Es prickelte ihn und ließ ihm keine Ruhe, bis er sagte: „Nun, Herr Varon, Sie sind auch wohl nur so h erg e rum-melt?" Hatte der Lehrer den Namen des Barons 184 zum Wortspiel mißbraucht, so revanchirte dieser sich sofort und autwortete, ohne sich eine Secunde zu besinnen: „Sprechen Sie mir nicht von der schrecklichen Fahrt! Mir wird ganz übel und schlimm bei der bloßen Erinnerung. Ich kann nur mit dem ekelhaftesten Unbehagen davon reden." Diese Anekdote beweist durchaus keinen aristokratischen Hochmuth, denn der Baron hatte nicht nöthig, sich von einem ihm ganz unbekannten Lehrer Witzeleien über seinen Namen gefallen zu lassen. Daß der Lehrer überhaupt daraus kommen konnte, an einem eben angelangten Gaste seinen Witz spielen zu lassen, zeugt allerdings zuerst von seinem geringen Takte, aber dann auch von der gleichberechtigten Stellung, die man ihm eingeräumt hatte. So wenig dem Herrn Unbehagen auch die scharfe Entgegnung des Barons behagen mochte, so verdiente er doch wegen seiner Taktlosigkeit die kleine Züchtigung. Ich habe an dem Beispiele eines Secretärs und eines Lehrers gezeigt, wie dreist und unbefangen hier die Bürgerlichen mit den Adeligen umgehen. Zum Schlüsse gebe ich noch eine Anekdote, aus der man ersieht, wie auch die niedrigen Classen Kurlands frisch und frei von der Leber weg reden. Die erste Person der Stadt Goldingen hatte einen Appetit, der alle Vorstellung übertraf, dahingegen strengte sie sich in ihrer amtlichen Sphäre fast gar nicht an. Nun bekam dieser vielessende, aber 185 wenig arbeitende Herr weiße Haare in seinen Backenbart, während sein Kopf ganz davon verschont blieb. Nei seiner geringen Neigung zum Arbeiten war ihm der Barbier am Morgen stets eine sehr angenehme Erscheinung, da diese Menschenspecies hier ebenso, wie in Deutschland, alle Neuigkeiten am Schnürchen herzuzählen weiß. Einmal fragt der vornehme Beamte, den die weißen Haare in seinem Barte sehr verdrießen, seinen Barbier, ob er ihm nicht erklären könne, weshalb er oben anf dem Kopfe ganz schwarz sei, während seine Wangen und sein Kinn bald wie von einem beschneiten Walde umgeben sein würden. Der Barbier, sich nicht lange besinnend, antwortete: „Das kommt daher, weil Tic mit dem Munde so viel, mit dem Kopfe so wenig arbeiten." Diese Anekdoten thun dar, daß dieLiteratenund überhaupt die bürgerlichen Classen Kurlands keineswegs dem Adel gegenüber in tiefster Devotion ersterben, sondern sich im Verkehre mit ihm frisch und frei zu benehmen wissen. Der Adel übrigens mit geringen Ausnahmen ist so liebenswürdig und so wenig ehrsüchtig, daß er auf keine Weise die Litera-ten herabzudrückeu und eine Stufe niedriger zu stellen bedacht wäre. '186 Ueber das Loos des turischcn Bauern. Bei einem großen Interesse für das Volt, war meine vornehmste Sorge, als ich den Boden Rußlands betrat, natürlich die, genaue Erkundigungen einzuziehen, wie man dasselbe behandle. Was nun zunächst Kurland betrifft, so waren die Gindrücke, die ich dort empfing, im Allgemeinen tröstliche. Die Bauern Kurlands, Lievlands und Esthlands sind bekanntlich seit vierzig Jahren cmancipirt und können ihrem Gutsherrn, der sie rauh behandelt, jeden Augenblick aussagen. Der Tag, an welchem die Bauern für ftei erklärt wurden und von dem mir nicht gleich das Datum einfällt, wird alljährlich durch Gottesdienst und gänzliches Ruhen der Arbeit gefeiert. Während meines Verweilens in Kurland wollte ein Baron von B—. ein sonst sehr gütiger Herr. der aber schon damals von Anfällen einer Geisteskrankheit heimgesucht ward, die ihn später in's Irrenhaus führte, seine Leute an dem Tage ihrer Freiheits-Gr-klärung zur Feldarbeit zwingen. Sie weigerten sich entschieden. Da keß er ihnen fünfzehn Hiebe aufzählen, was ihm nach den Gesetzen gestattet ist, natürlich aus die Gefahr hin, daß der Bauer ihn beim Hauptmanns-Gcrichte verklagt. Die Bauern arbeiteten nun allerdings, reichten aber den folgenden Tag bei dem Grobiner Hauvtmanns-Gerichte eine Klage ein, und der Baron von B— mußte eine beträchtliche Geldstrafe bezahlen. Der arme Mann 187 war eigentlich aber unzurechnungsfähig, da er, wie schon erst bemerkt, bald daranf in's Irrenhaus gebracht werden mußte. Im Allgemeinen nun scheinen die kurischen Gutsbesitzer sehr gütig gegen ihre Bauern zu sein. Obgleich sie, wie ich bereits erwähnte, insofern die Po-lizeigcwalt über ihre Leute haben, als sie ihnen fünfzehn Hiebe aufzählen lassen dürfen, so machen sie doch nur im äußersten Nothfalle von diesem ihrem Rechte Gebrauch. Viel lieber bringen sie die Sache vor das Gemeinde-Gericht. Hier werden die Banern von ihren Pairs abgeurtheilt, das heißt uon Männern, die sie aus sich selbst gewählt haben. Selbstverständlich müssen sie die von diesen Männern ausgesprochene Sentenz respcctircn, da sie dochvcrnünf-tiger Weise die Besten und Edelsten aus sich gewählt haben werden. Die Bauern beklagen sich über die vom Gemeinde-Gerichte gefällten Urtheile auch fast nie. Glauben sie dagegen, daß ihr Gutsherr sie ungerecht habe bestrafen lassen, so können sie, wie ich dies schon hervorhob, sich sofort an das nächste competente Gericht wenden, und ein Assessor wird mit der Untersuchung beauftragt. Mir liegen nun allerdings nicht gerade actcmnäßige Beweise von der Unparteilichkeit dieser richterlichen Entscheidungen vor; doch ist mir uon aufrichtigen Männern, 5ne keineswegs beflissen waren, über die Gebrechen ibrer Provinz den Schleier der Localeitelkeit zu werfen, versichert worden, daß die Assessoren in den 188 häufigsten Füllen zu Gunsten des klagenden Bauern entschieden Hütten. Uebrigens genießen die kurlän-dischen Richter eines ausgezeichneten Rufes uud die Unparteilichkeit des Mitauer Ober-Hofgerich tö ist über alles Lob erhaben. Mich setzte es nun oft in Verlegenheit, daß die Kurländer, wenn ich sie mit barbarischen russischen Einrichtungen neckte, spottend darauf hinweisen tonnten, wic ein aus dem Herzen Deutschlands zu ihnen gekommener Gutsbesitzer die Bauern so rauh habe behandeln lassen, daß sich das Gericht veranlaßt gesehen, ihm die Polizcigewalt zu nehmen. Ich pro-testirte, mußte mich aber dem unerbittlichen Factum ergeben. Diese, mich sehr unangenehm berührende Thatsache ist nun folgende! Ein Graf K., der durch seine Vcrheirathung mit der Komteß M. auch Grundbesitzer in Kurland gc-wordcn war, kam ans seine dortigen Güter. Der Gedanke, in Kurland cine Polizeigewalt ausüben zu dürfen, die der in Deutschland alles verschlingende Staat an sich gerafft hatte, mußte ihm ganz besonders behagen und verführerisch erscheinen. Genug, er ließ die Fuchtel schwingen, daß es nur so klatschte. Die Bauern aber. wohl wissend, wo sie Necht zu suchen hatten, beklagten sich bei dem Hauvtmanns-gerichte; ein Assessor kam zur Untersuchuug, und da sich nun herausstellte, daß der Graf für eine liebliche Rothe des Fleisches seiner kurischen Unterthanen eine allzu zärtliche Sorge getragen, so ward ihm die 189 Polizeigewalt genommen. Hierüber aufs Aeuherste aufgebracht, wandte Graf K. sich seinen deutschen Gütern zu, und die kurischen Bauern hatten nicht mehr das Vergnügen, daß er ihre weiße Haut nm empfindlicher Nöthe üoerhauchen ließ, Uebethauftt haben die Ausländer die unrichtig' sten Vorstellungen über das resignirte Verhalten des kurischcn Bauern in Bezug auf Körperstrafen. Es haben viele Edelleute Brauereien auf ihren Gütern angelegt und zu deren Leitung Sachverständige aus Vaynn kommen lassen. Mehrere von den t'urischcn Gutsbesitzern haben mir nun erzählt, daß sie ihre schr tüchtigen Brauer nicht hätten behalten können, weil diese die, ihnen zu Handleistlingen beigegebenen Letten auf sehr rohe Weise prügelten. Die ächteren wären nun nicht geneigt gewesen, eine ihnen so ungewohnte brutale Behandlung zu dulden. Eo hätte sich jeden Tag Streit und Zank in den sonst so ruhigen Verkehr des Hofes disharmonisch eingedrängt, und es wäre nichts übrig geblieben, als die rohen Bayern in ihre Heimath zurückzusenden. Mir gereichte es während meiner Reise durch Kurland zur besonderen Befriedigung, über das Schicksal der Bauern doch nicht allzugroße Besorgnisse hegen zu müssen. 1W Die lurische Küche. Ob ich im Stande sein werde, all' die Pein, die mein armer Magen in Kurland auszustehen hatte, auch wenn ich die gräulichsten Farben wähle, zur schrecklichen Anschauung zu bringen, bezweifele ich mit allen, Grunde, in richtiger Kenntniß meines Naturells. Ich finde nämlich für das Gute, Sanfte und Schöne viel eher Farben, als für das Schlechte, Rauhe und Häßliche. Und wie schlecht ist in Kurland z. V. das Fleisch, wie rauh und grob sind die Erbsen, wie häßlich die gebratenen Schafstöpfe, die Blutkuchen und andere schreckliche Dinge, die mir das Blut bei der flüchtigsten Erinnerung schon gerinnen machen! Wenn Aeneas seine Zähren nicht zurückhalten konnte, als er der Dido den Untergang seiner Vaterstadt schilderte, so fließen meine Thränen kalarat'tenweise, wenn ich den Min meines Magens betrachte. Nicht allgemeine Reflexionen, sondern schreckliche Einzelheiten mögen einen Begriff von der kurischen Küche geben. Ich beginne sogleich mit der Suppe. Wie furchtbar die Suppen der Kurländer sind, kann daraus abgenommen werden, daß eine Composition aus Milch, Schweinefleisch und anderen heterogenen Stoffen, welche für die Magen dieser Provinzianer ein Gdttcressm ist, nicht von Ausländern, sondern von Livländern, also von ihren freund-nachbarlichen Ostscebrüdern, „kurischcr Jux" gc- 191 nannt wird. Ein jeder Nicht-Kurländer bekommt das kalte Fieber bei dem bloßen Gedanken an diese furchtbare Suppe. In Kurland wird aus allem Möglichen und Unmöglichen Suppe gekocht. Es giebt kein Thier des Waldes, keine (5nte und Gans des Teiches, keinen Fisch der größeren und kleineren Gewässer, der von den Kurländern nicht zu ihren Suppen verwendet würde. Und diese mnthete man mir zu, hinunter-zuwürgen! „MMisstr Himmel, erbarme Dich! Verloren, verloren, wer rettet mich?" Die Kurländerhaben bei ihrer Gewohnheit, aus Allem Euppo zn kochen, mit den Indianern Aehnlichkeit. "luch diese kochen aus Gemüse und Korn, aus Fisch und Geflügel, kurz aus Allem Suppe. Ich habe noch die Kuhlsuppe besonders zn erwähnen, die auch eins Mcr abscheulichen Gerichte ist, deren Anblick in Kurland mein Auge beleidigte. Meine Zunge dabe ich natürlich nie damit gefoltert, da, wenn man in b" großen Welt lebte, man längst über die Kinder-Vorschrift weg ist, daß es für unanständig gilt, dm herumgereichten Gerichten nicht zuzusprechen. Die eben erwähnte Kohlsuppe verhindert die Kurländer durchaus nicht (anch Eaurampfer-Suppc wschlingcn sie mit Leidenschaft), entschieden keine Vegetarier zn sein, sondern Fleisch in großen Massen in verzehren. Sie würden sich demnach zu Schülern bks Pythagoras schlecht geeignet haben. Bekommt 192 man einmal bei ihnen Bouillon zu sehen, was freilich selten geschieht, da sie ihre abscheulichen Gänse-, Enten-, Ferkel-, Fisch- n. s. w. Suppen bei weitem vorziehen, so schwimmen darin große Fleischstücke, Kartoffeln und Wurzeln umher, die man hier „Por-kahnen" nennt. Die Kurländer sprechen diese von ihnen umgetaufte Wurzel „Burkahne" aus, doch wird sie derNcgel nach wol „Porlahne" geschrieben werden müssen; wenigstens fand ich es so in den „Briefen aus und nach Kurland" von Herrn von Mirbach. Dieser alte gelehrte Herr wird wol ein Ding zu schreiben gewußt haben, das er so oft in seiner Suppe umhcl schwimmen sah. Meine geliebte reine Bouillon ist mir in Kurland fast nie zu Gesichte gekommen. Auch kochen sie im Frühling eine Suppe, die durch und durch aus Petersilie, oder Gott weiß welchem andern Kraute besteht.— Ueberhaupt drangt sich die Petersilie hier frech in die Bouillon hinein, und wenn ich einmal so glücklich war, eine erträgliche Suppe zu sehen zu bekommen, so muhte ich mich eine Viertelstunde mit dem Heraussischen dieses unnützen Krautes beschäftigen. Dazu blieb mir aber leider oft nicht die Zeit, indem die Kurländer meist sehr schnell essen und mir so einen zu sichtlichen Vorsprung abgewannen. Weil ich nun nichl wollte, daß man wegen des Mftra-stcns des folgenden Gerichts auf mich warten sollte, so winkte ich den Bedienten verstohlen, mir den fast noch vollen Teller eiligst wegzunehmen. Diese 193 Schöpse aber, an. den Appetit ihrer Herrschaften gewöhnt, die nie einen vollen Teller zurückgeben, waren zum Weguehmcn meist gar nicht zu bewegen. Meine verzweifelten Geberden zogen natürlich die Aufmerksamkeit meiner Tischgcnossen auf sich. Ich lackte mich dann kluger Weise zuerst aus. Das kurze Sitzenbleiben an der Tafel, das ich in Kurland fast durchgehend traf, erkläre ich aus dem großen Thatig-keitsdrange der Bewohner. Einst war ich zum Besuche in dem Hanse einer Baronin F —s, wo fast die ganze Familie Zahnschmerzen hatte. Ich schob es unbedingt auf die Gewohnheit des schnellen Ber-schlingens der noch glühenden Speisen. Uebrigens, da ich stets gerecht zu sein liebe, mindere ich in etwas den harten Ton meiner Anklage gegen die Kurländer wegen des unverantwortlichen Nermischcus der heterogensten Substanzen, die sie, in ein Gericht vereinigt, in liebender Gemeinschaft den Magen hinuntcrspediren. In vielen Provinzen und Ländern macht man es auch nicht besser. So erzählt Lamartine in seiner Beschreibung des Orients von einem Gerichte, das man in der Umgegend des Libanons lßt, und das durchaus nichts Verführerisches hat, nämlich saure Milch mit Oel gemischt, ^s klingt dies unglaublich, aber Lamar-line sagt wörtlich! ,,Kttti'(:äIn!.n-8o c:c>lni>ul'lnt c,I'nn äe I'liuile." Ich neckte natürlich die Km'länder häusig mit ihren gemischten Gerichten, in Betreff 194 derer ich meine Abneigung bei meiner großen Offenheit keinen Augenblick verhehlte. Um es nicht zu vergessen', sei hier doch erwähnt, daß die kurischen Kinder vermöge der ausgezeichneten Erziehung, die sie empfangen, alles essen und nie ein Gericht zurückschieben, oder vorübergehen lassen, das ihnen nicht mundet. Hierdurch gewinnen sie ihre heimische Kochweise so lieb, daß sie sich später an den bestbcsetzten Tafeln Europa's stets nach ihren kurischen Gerichten sehnen und in dem Lande der Orangen und Myrrhen von „Porkahnen, gebratenen Schafskopfcn und kurischcm Jure" träumen. Nie mächtig die Ge-wohnhcit ist, erhellt daraus, daß der berühmte Su-woross, als er auf seinem Gute Kobrin von jener Krankheit befallen ward, die seinem Leben ein Ende machte, und seiner Abneigung gegen die Arzneimittel treu blieb, sich durch ein Schwitzbad, Hafergrütze und Kwas zu curiren hoffte. Diese drei Dinge waren ihm bei seinem, meist im Felde verbrachten Leben durch häufigen Gebrauch und Genuß überaus lieb und angenehm geworden, und. selbst als schon die Krankheit in ihm wüthete, die seinem Erdenwallen ein Ende machte, verloren Schwitzbad, Hafergrütze und Kwas den Reiz nicht, den sie in seinen gesunden Tagen auf ihn ausgeübt hatten. Auch der Fürst PaskcwM) gonoß in seiner letzten Krankheit, die durch eincn Magenkrebs zu einer so überaus schmerzlichen ward, vorzugsweise gern Kohlsuppe. Er hatte auf seinen vielen Feldzügen dies Gericht besonders 195 lieben gelernt. Wie also Suworosi auf seinem Sterbelager noch Kwas, Paskcwitsch noch Kohlsuppe verlangte, so begehren auch die Kurland« bis zum letzten Lebenshauche und überall nach den derben Gerichten ihrer Heimath. Mir ward wenigstens von niedreren vornehmen furischen Damen berichtet, denen das Reisen im Auslande vorzüglich deshalb mißfallen habe, weil sie ihre vielgeliebten heimischen Gerichte nie zu sehen bekommen. Gott sei Dank! daß diese für mich wenigstens furchtbare Küche keine Propaganda gemacht hat. Die Kurländer vertheidigen übrigen ihre heimischen, von mir sehr angefochtenen Gerichte aufs Tapferste. Daß dieselben genießbar seien, zeigten sie einmal durch die That, indem sie große Massen davon verschlangen, und bei meiner ironischen Bemerkung, welche unvereinbaren Substanzeil sic unter einander mcngteu, wiesen sie auf andere Länder hin — und bei ihren vielen Neisen hatten sie hierin reiche Erfahrungen gesammelt — wo man ebenfalls Dinge zusammenthue, die an das Chaos vor der Schöpfung erinnerten, und wodurch uu Magen gewiß tem Licht, sondern nur eine trübe Mischung hervorgebracht werde. Da nun die Kurländer die Küche fremder Völker gar nicht bewundern, und Bacon in seinem berühmten Werke. ,,!)<-cli^niww ot nu^»»-!»«^ «cienwllum" voll Wahrheit behauptet, ,,t c^!" Ja. er hatte die ehrliche Absicht, ihr einige Kopfnüsse zu versehen; zum Unglück spielte sie aber immer das Prävcmre. Einmal kam der Lcidcnsträger mit einer auffallend geschwollenen Backe aus die Kanzel und war naiv genug, seiner Gemeinde zn erzählen, wie diese Gesichtsentstellung seine Frau verschulde, die ihm in einem ihrer satanischen Einfälle ein frisches Roggenbrod an den Kopf geworfen habe. Uebrigens sollen Seine Hochehrwürden auch keineswegs dem Geschlechte der Engel angehören. Diese sehr unpassenden Kämpfe in dem Hause eines Predigers machten natürlich in der Umgegend das größte, ja schmerzlichste Aufsehen, umsomehr, da in Kurland im Allgemeinen das Eheleben ein ausgezeichnet sittliches genannt werden darf, und Versündigungen gegen die vor dem Altar beschworcne Treue oder auch nur ein unzartes Benehmen der Eheleutc gegen einander hier einen ebenso strengen Areopag finden, als in England. Der Ruf von diesem Unfrieden in dem Hause eines Gottesdiencrs drang denn auch bald zu den Ohren des Propstes, und dieser hielt es für seine Pflicht, sich zu dem Pfarrer zu begeben und ihn durch einige väterliche Ermahnungen anfden rechten Pfad zurückzuleiten. Der Pfarrer, der den Zweck dieses Besuches errathen und zu der Erkenntniß gelangt sein mochte, daß, wenn er nicht auch von Zeit zu Zeit seine Fäuste 203 gebrauche, die Roggcnbrödc. mit denen es seiner Frau gefiel, ihm den Kopf zu bombardiren. täglich großer werden würden, empfing den Propst sofort wit einer Auseinandersetzung, wie die Römer, diese ersten Juristen der Welt, eigentlich doch sehr Recht gehabt hätten, die Frau nur als eine Sache zu betrachten. Er identificirtc bei diesen Worten seine Ehehälfte gewiß einem Tische, auf den man getrost losschlagen kann, ohne den geringsten Widerstand zu finden. Ich habe mein ^o^u8 inri« nicht so im Kopfe, um ganz genau angeben zu können, wie die technischen Ausdrücke für die Stellung der Frau dort lauten mögen. So viel besinne ich mich allerdings, daß die den Frauen zuerkannte Rechtssphäre keine so würdige war, wie die Germanen und das Christenthum dem schönen Geschlechte anweisen; allein so niedrig, wie der Herr Pfarrer die romischen Damen zu stellen beliebte, standen sie doch wohl nicht. Die Mutter des Gracchen , Cato's edle Tochter und jene heldcnmüthige Gattin, die das unendlich rührende Wort sprach! ..Pactus, es schmerzt nicht!" — jene drei hochherzigen Frauengcstalten wurden gewiß von den Römern für etwas mehr angesehen, als ein Tisch oder ein Stuhl. Indeß mag der Herr Pastor in seinen iunstischcn Deductwnen doch nicht so gan^ unecht gehabt haben, denn bei der allwöchentlichen Anschwellung seiner Wangen durch das Roggenbrod lwas mag der arme Mann innerlich empfunden 204 haben, wenn er Gott auf der Kanzel um eine reiche Ernte bitten mußte und dabei an die künftige geringe Sparsamkeit seiner Frau im Noggenbrodwer-fen dachte?!), welche ihm nicht gestattete, sich außerhalb seines Hauses zu zeigen, mag er wohl, tiefe Blicke in das (^n-v^ ^uri^ gethan und so dle Stellung der römischen Frauen vielleicht rich' tig aufgefaßt haben. Ich glaube nun, daß es dem Herrn Pfarrer, der die Kämpfe mit seiner Ehehälfte durchaus nicht aufgeben wollte, vollkommen gelang, den Probst durch seine juristischen Argumentationen zum Schweigen zu bringen. Sollten Sie, freundlicher Leser oder schöne Leserin, einmal nach Kurland reisen, so können Sie sich bei diesem würdigen Pfarrer zu Gaste bitten; gewiß wird er zu Ehren eines so ausgezeichneten Besuches die berühmte Noggen-brodschlacht mit seiner Frau zum Besten geben. Ländlich sittlich! Ob dieser rasende Roland und außerdem evangelische Pfarrer niemals die herrliche Bergpredigt gelesen haben mag? Dort hat doch der HeUand also gesprochen: „Seüg sind die Scmftmüthigen; denn sie werden das Erdreich besitzen." Der Herr Pfarrer ist aber gar nicht sanftmüthig, sondern kämpft gegen seine Frau mit rasender Hitze an; leider ist der Erfolg immer auf ihrer Seite. Edclmüthig ehrt er dann ihren Triumph durch die 205 Illumination seiner Wangen. Seine einzige Rache besteht darin, daß er sie, natürlich wenn sie nnd ihr Roggenbrot) nicht dabei sind, nach römischen Rechtsbegriffen für eine Sache erklärt. Man würde sehr ungerecht gegen mich sein. wenn man aus der eben von mir gegebenen, durchaus wahrhaften Erzählung, welche die dramatischen Kämpfe eines kurischen Landpredigers zum Vorwurf hat, und die von mir keineswegs ausgeschmückt, sondern getreu so dargestellt worden ist, wie mir glaubwürdige Personen sie berichtet, ich sage, daß wan sehr ungerecht gegen mich sein würde, wenn wan aus dieser Erzählung schließen wollte, als mache es mir Vergnügen, die Schwächen und Fehler der Pastoren an's Licht zu ziehen. Ich hege deu Predigern gegenüber nicht minder herzliche Gesinnungen, wie die sind, mit denen ich die ganze Menschheit umfasse; aber meine Ansprüche sind an Männer, die uns das Wort Gottes auslegen und uns zur Buhe erwähnen, weit strenger, als an solche, die uns die besehe deuten, zuweilen auch verdrehen, oder den kranken Körper gesund, leider aber häufiger den gesunden Körper krank machen. Wer sich würdig glaubt, in die Fußtapfen der Apostel zu treten, soll Nlchts von jenen groben Fehlern an sich baben, die uns selbst an den gewöhnlichsten, den niedrigsten Beschäftigungen zugewandten Menschen empören würden. Aber ebenso wenig, wie ich cs sehr christ-l'ch fand, daß die Bischöfe auf der Kirchenversamm- 206 lung zu Nicäa — vielleicht war es auch auf einer andern, wo sie sich keilten —, als sie ihre geistlichen Controvcrsen in keine befriedigende Harmonie und Concordienformel auflösen konnten, zu den Schemeln griffen und sich die Köpfe blutrünstig schlugen, ebenso wenig kann ich es billigen, daß ein Pastor und seine Gattin sich gegenseitig das Antlitz roth, blau und gelb färben. Man erzählt nämlich, daß der kurländische Pfarrer sich einmal ermannt nnd seiner Frau das Angesicht ebenso colorirt habe, wie sie ihm sein hochchrwürdiges seit Jahr und Tag. Uebrigens sind kriegerische Pfaffen nichts Seltenes, nur verwandten sie ihre Kräfte gegen Männer und kämpften nicht gegen das schwache Geschlecht. Nach meiner Ansicht ist jedes kriegerische Auftreten von Priestern, die doch Nachfolger der Jünger des Heilandes sein wollen, ein Sacrileg, Auch Richard Löwenhcrz, obgleich er Schlachten und Turniere über alles liebte, konnte sich mit kämpfendcn Geistlichen nicht befreunden. Als ill seinem Kriege mit dem Könige von Frankreich ein Verwandter desselben, der Bischof von Beauvais, nach heißem Kämpft und tapferster Vertheidigung in englische Gefangenschaft gerieth, so ward dieser von dem Papste als sein geliebter Sohn zurückgefordert und seine längere Norenthaltung als ein Verbrechen gegen die Kirche hingestellt. Richard Löwenherz wollte dem Papste und der ganzen Clerisei eine Lehre geben. Er schickte deshalb dem Heiligen Vater den von Blut über und 207 über bedeckten Harnisch des Bischofs mit der ironischen Frage: „Sollte dies der Nock Deines geliebten Sohnes sein?" Ebenso könnte man den, durch den Anprall des Roggenbrodes gelb und blau gefärbten kurlündischen Pfarrer zu seinem Superintendenten schicken und diesen fragen lassen i „Ist dies ein Verkündiger des Evangeliums?" Da mir sehr uiel daran liegt, auf mein unschuldiges Haupt kein Ketzergericht herabzuziehen, so will ich meine Zärtlichkeit für die Prediger dadurch beweisen, daß ich ihrem ssollegcn, der von seiner Frau nntNoggcnbröden beworfen wird, etwas Muth einhauche, indem ich ihm seine kriegerischen Ahnen, außer dem schou erst erwähnten Bischöfe von Bcau-vais, den Papst Julius II., Neinold, Erzbischof von Köln, und namentlich den Bischof Christian von Mainz in's Gedächtniß zurückrufe, der mit seinem Morgensterne achtundfunfzig Feinden die Zähne einschlug. Ich will nun gerade nicht anrathen, daß der kurische Pastor seiner Frau alle Zähne einschlage aber eine verdiente Züchtigung mag er ihr immer administriren. Die Damen werden mir das offene Geständnis; nicht übel nehmen, daß ich trotz meiner Galanterie für das schöne Geschlecht dieser kriegerischen Frau Pfarrerin dennoch eine kleine Lection Onne. Um mich durch meinen Freimuth nicht nm alle Gunst bei Denjenigen zu bringen, deren zarte Sorgfalt dem männlichen Dasein die beseligendsten Stunden schenkt, schranke ich die angerathcne Züch- 208 tigung dahin ein, daß ich auf eine häusliche Bestrafung hinter verschlossenen Thüren bestehe. Diese Scene muß durchaus einen patriarchalischen Charakter an sich tragen. Hierbei denke ich an Maria Theresia, die den Söhnen der östreichischen Aristokratie, wenn sie sich gegen die Sittlichkeit vergangen hatten, von ihren nächsten Verwandten hinter ver-schwssenen Thüren eine gewisse Anzahl Nuthenhiede avpliciren lieh. Ich wünsche der kurischen Pastorin deshalb eine kleine Züchtigung, damit die übrigen Frauen nicht von ähnlichen kriegerischen Neigungen ersaßt werden. Die Männer leiden schon so viel von dem Pantoffel; wehe ihnen, wenn noch das Noggen-brodwerfen in die Mode kommt! Uebrigens zittere ich nicht wenig in Bezug auf den siegreichen Ausgang des Züchtigungsversuches von Teitdn des kurischen Pastors. Seine Frau soll mehr als mann-hast sein. Vielleicht wird er der Gebritschte, statt das Britschen seiner Candidatenzeit zu erneuern. Jedenfalls hätte diese amazonenhafte Pastorin, von der ich mit dem sehr lebhaften Wunsche Abschied nehme, nie ihr Schleudertalcnt an meiner Backe zu erproben (die Kurländer, auch in der gewöhnlichsten Unterhaltung, und wenn sie von dem Schwünge der Rede am allercntferntesten sind, gebrauchen stets das bei uns nur in der Poesie und bei erhöhtem diese kräftige Pastorin hätte, sage ich, nicht den ersten besten Schwächling'erhören, sondern, wie die Heb 309 dinncn, von denen uns die Lieder melden, erklären sollen, daß sie nur Demjenigen als Weib gehorsamen wolle, der ihr an Starte überlegen sei. Ich besinne nnch da auf die Tochter des mongolischen Chans Kaidu, die nach dem Berichte des berühmten Marco Polo erklärtei clio i^un ^icndri-c^do inni-ito, «e Auch Brunhild im Nibelungenliede ergab sich ja bekanntlich nicht eher einem Manne, als bis sie im Kampfe von ihm besiegt war oder doch wenigstens besiegt zu sein glaubte. Wer sich die Mühe des Reifens nicht verdrießen läßt, kann den kurischen schwarzröckigen Streithahn m eigener Person kennen lernen. Bei der Frau Pastorin darf man sich, meiner Ansicht nach, nur dann melden lassen, wenn sie keinen satanischen Einfall im Kopfe und kein Roggenbrot) zur Hand hat. 8a^ionti «:U. In Kurland chrt man dcn Obcrrock. Dem einfachen, schlichten, jedem irgendwie Theatralischen und nnnöthig Ceremoniellen abholden Sinne der Kurländer entspricht es, daß die Kleidung bei ihnen kein Objekt des wichtigsten Nachdenkens ist, und daß sie nie ängstlich umherfragen, ob die Mode nicht auch schon neue veratorische Gebote aufgestellt habe. Ihre große Gediegenheit verbietet 210 ihnen, an dergleichen Nichtigkeiten die Zeit zu verlieren. Zu nicht geringem Verdienste gereicht es nun meiner Ansicht nach den kurischen Herren, daß der Obcrrock bei ihnen in verdienten: Ansehen steht. M ist diesem achtnngswerthcn Kleidungsstücke in Knr-land schon gelungen, den Frack in die Ecke zu drängen; vielleicht wird er mit der Zeit ganz und gar zum Teusel gejagt. Ich meinerseits würde es als ein Glück betrachten. Ist überhaupt unsere ganze Art und Weise, uns zu kleiden, unendlich geschmacklos, und bringtnmsere moderne Tracht den Bildhauer, der sie treu wiedergeben soll, aus den triftigsten Gründen zur Verzweiflung, so bleibt doch dem Frack der nicht beneidenswerte Vorzug, das 5l<>n pw« nw-u eines unästhetischen Anblicks darzubieten. Die kurländischen Edelleute leben mit diesem schwal-bcnschwänzigen Ungeheuer in der sichtbarsten Feindschaft und gönnen ihm die Ehre, aus ihren Körpern zu Paradiren, nur bei den seltensten Gelegenheiten. Um übrigens den kurländischen Herren keine Gründe unterzuschieben, die ihnen fremd sind, so bemerke ich. daß ihre Bevorzugung des Oberrocks zum Nachtheil des Fracks weniger ästhetischen Rücksichten, als der Bequemlichkeitsliebe entspringt. Sie fühlen sich in dem Oberrocke entschieden behaglicher und werden jetzt ganz und gar zu seiner Fahne schwören. Die neue Uniform nämlich, die sie als kurische Land' stände bekommen haben, und in der sie ihrem Kai- 211 ser während seines Verweilens in Mitau aufwarteten, ist ganz von derselben Form, wie der bekannte preußische Waffenrock; vielleicht fehlt ihm hinten die tokettirende Kürze. Die kurländischen Edelleute, die früher nur Gründe des Instincts für ihre Abneigung gegen den Frack hatten, werden sich setzt mit folgendem nicht ganz unlogischen Schlüsse zur Vertheidigung ihres geliebten Oberrockes bewaffnen: „Wenn wir unserm Herrn und Kaiser in einer Tracht aufwarten durften, die den Magen bedeckte und keine unsinnigen Ausschncidungen zur Schau trug, so ist es uns doch gewiß gestattet, Personen gegenüber, die nicht Majestäten sind, in einem ähnlich geformten Gewände uns darzustellen, ohne daß wir fürchten müssen, Anstoß zu erregen." Man kann die Kurländer nicht genug loben, du-sem geschmacklosen Kleidungsstücke -ich meine den schwalbenschwänzigen Frack — den Dienst aufgekündigt zn haben. Da leider die Mode von Paris aus noch immer dictatorisch gebietet, so wünschte ich, daß sich dort ein Mann befände, der, wie einst der Graf d'Orsay in London, einen von Allen anerkannten Einfluß auf die Herrenkleider ausübte. Diesem würde ich den mit vielen triftigen Gründen begleiteten Vorschlag zukommen lassen, dem Fracke den Garaus zu machen, vielleicht ihn in einem öffentlichen Autodaft ebenso zu verbreunen, wic die Ncu-berin es mit dem Hanswurst that. Diese sonst stereotype Figur verschwand seitdem ganz aus dem i4 * 212 deutschen Lustspiel, leider kam das letztere aber dos halb noch immer nicht zur Blüthe. Der deutsche Molare soll erst geboren werden. Die Herren, welche die Bequemlichkeit lieben — und dieser giebt es gar viele — werden durchaus für Verbannung des Fracks stimmen; dann auch die ästhetisch gebildeten, die diesem verschnittenen Kleidungsstücke feinen Geschmack abzugewinnen wissen. Und da heutigen Tags der Pietismus wieder gewaltig um sich greift und das Fleisch mit unablässigem Eifer bekämpft, so muß es diesem Feinde der Materie doch gewiß willkommen sein, wenn der züchtige Oberrock gewisse Körpertheilc decent verhüllt, die der Frack schamlos hervortreten läßt. Ich gebe mich der schönen Hoffnung bin, den Frack allmälig verschwinden zu seben. Freilich darf ich nicht ganz fest daraufrechnen, den Pietismus als Bundesgenossen zubekommen, da er keineswegs stcts mit dem Verstände und der Vernunft operirt, so daß er nur das vor sich Gnade finden ließe, was, von diesen beiden geistigen Gestirnen beschienen, keine Flecken zeigt, sondern im Gegentheil gewissen conventionel-len Begriffen Unterthan ist, von denen er sich nicht loszusagen vermag. Uebrigcns gcbcn uns die Höfe der Jetztzeit ein beachtenswerthcs Beispiel in Bezug auf vernünftige Klcidertracht. Dic Damen gehen nicht mehr bis tief auf die Brust ausgeschnitten, und bei den Herren, wenigstens beim Militär, sieht man statt des un- 213 sinnig den Magen preisgebenden Fracks den zuschließenden Wasscnrock, der mit dem Obcrrocke Geschwisterkind ist. Wenn der Verfasser des Artikels, „Die bildenden Künste" im zwölften Bande der Gegenwart sehr richtig bemerkt: „Wir bespötteln die Noccocotracht und müssen nachgerade eingcstchen, daß unsere Kleidung noch ungleich häßlicher und formloser sich gestaltet, daß das Zeitalter des Puders und Ncifsrocks dem Auge des Künstlers zahlreichere Anregungen bot, als unsere ebenso unschöne als armselige Erscheinungsweise;" wenn gegen diese Behauptung wenig oder vielmehr gar nichts einzuwenden sein möchte, so verdienen die Kurlander ein unbestrittenes Lob, daß sie eine Reform unserer geschmacklosen Klcidertracht wenigstens insofern anbahnen, als sie zu der schwalbcn-schwänzigen Frack-Caricatur sich sehr abweisend verhalten, während sie dem treuherzigen, hausväter-lichcn Oberrocke alle mögliche Ehre zu Theil werden lassen. Möchte die Abneigung der Kurländer gegen den Frack in der Metropole der Eleganz getheilt werden! Leider aber sind alle verständigen Wünsche meist 214 Eine Präsentation tmliindischcr Freiwilligen beim Czarcn Nikolaus l. Bel den vielen politischen Enttäuschungen, die seit dem Jahre 1848 mein Herz betrübten, war es mir auf meinen Reisen immer ein kleiner Trost, wenn ich bedachte, welch' ungeheures Gebiet die deutsche Sprache beherrscht. Von Narwa bis tief in die Schweiz hinein wird deutsch gesprochen, und zwar in der erstgenannten Stadt nicht solch kauderwelsches, wie in Helvetien. In Büchern über die Ostsee-Provinzen babe ich häufig gelesen, das; man dort das beste Deutsch zu hören bekomme. Dies fand ich nun nicht bestätigt. Die Kmländer sprechen das Deutsche allerdings, wie es geschrieben wird, und dies ist schon ein großer Vortheil. Bei den Schwerern, Oesterreichern, Schwaben und theilweise auch Vaiern nuch der Norddeutsche sich immer aufs Rathen legen, was diese gemüthlichen Laute eigentlich bedeuten sollen. In einer solchen Verlegenheit befindet man sich nicht, wenn man mit den Bewohnern Kurlands, Livlands und Esthlands zu thun hat. Man versteht sie sogleich. Aber ihre reinen Klänge sind etwas hart, sehr wenig melodws; auch versündigen sie sich znwcilen gegen die Klarheit des „A." Für die Härte ihrer Sprache zeugt, daß die Meisten „schmall", statt schmal sagen. Vielleicht mag in ihrer Sprache Charakter liegen, aber ich liebe auch etwas WolMang für das Ohr. Das 215 Melodiöse in der deutschen Sprache ist am besten von den Hannoveranern vertreten. Was mir am meisten an der Sprache der Bewohner der Ostsee-Provinzen gefallen, war, daß sie dieselbe nicht mit französischen nnd englischen Brocken entstellen. Sie sind fast ohne Ausnahme vernünftige Puristen. Eben weil sie die englische nnd französische Sprache fast wie Landeseingeborenc beherrschen, sind sie von der Schwäche frei, wenn sie deutsch sprechen, durch Einstreuung fremder Laute mit dein Nimbus eines Mezzofanti strahlen zu wollen. Ich habe stets gefunden, daß solche Sprach-menger sehr oberflächliche Menschen waren und nicht allein das Englische und Franzosische schlecht kannten, sondern auch bei kitzeligen Fragen der dentschen Grammatik sich die größten Blößen gaben. Die Knrländer wachen auch sehr eifersüchtig darüber, daß die Erlasse der Obrigkeiten uuo Behörden in deutscher Sprache abgefaßt seien, wie ibre Privilegien ihnen dies garantiren. Eben wegen ihres eifersüchtigen Haltens auf die deutfcke Sprache berührte es sie fast schmerzlich, als der Kaiser Alexander II., bei seinem ersten Erscheinen in Mitau, die sich ihm vorstellende kurische Ritterschaft russisch anredete. Man erklärte dies dadurch, daß der Baiser Alerander zwar in der Unterbaltnng sehr gewandt deutsch spreche, aber daß bei emer längeren Nede, wie er sie bei der Präsentation der kurischen 216 Ritterschaft hielt, wo er Kurland für die im Kriege gebrachten Opfer dankte, ihm das Russische doch bequemer gewesen sei. Jedenfalls hätte der humane und liebenswürdige Monarch die russische Anrede vermieden, wenn er geahnt, daß er dadurch kränken würde. Zum Veweise, ein wie gutes und gewandtes Deutsch die Kurländer auf ihren Landtagen sprechen, gebe ich einen Bericht des Landes-Nevollmächtigten von Hahn, den er an seine Committenten über eine officielle Neise nach Petersburg abstattete. Veim Beginn des letzten Krieges nämlich rüstete die kurische Ritterschaft ungefähr vierzig Freiwillige aus — adelige Jünglinge der Provinz —, die in Regimenter eingereiht zu werden wünschten, die vor dem Feinde ständen. Der Baron von Hahn als Landesbcvollmächtigtcr hatte nun von dem kurischen Landtage den Auftrag bekommeu, sie dem Kaiser vorzustellen. Den Bericht über diese Mission werde ich, wie ich kurz vorher andeutete, genau nach den Landtagsacten folgen lassen. Ich übergehe den Eingang und beginne von dem Augenblicke, wo der Baron mit den, seiner Obhut anvertrauten Freiwilligen in Petersburg anlangtei „Gleich nach der Ankunft unserer jungen Leute unterlegte ich die Namcnsliste mit der gehorsamen Bitte, daß sie nach der Wcchl der Regimenter sofort in dieselben eintreten dinften. Unsere jungen Leute wurden darauf dem Herrn 21? General-Gouverneur, so wic unser»! dort anwesenden Generälen vorgestellt, die sie Alle gütig und wohlwollend empfingen. General Lieven unterzog sich mit seltener Bereitwilligkeit und Güte der großen Mühe, die Papiere jedes Einzelnen durchzugehen, zu ordnen und wo nöthig festzustellen, wobei General N. von Korff ihn gefülligst unterstützte. Den 9. Februar Morgens brachte mir ein Feld-jager die Weisung, daß die Präsentation Allerhöchst um 1^/2 Uhr angesagt sei. Um 12 Uhr waren Alle bei mir versammelt und zur Abfahrt bereit, als derselbe Feldjäger den Befehl überbrachte, daß die Vorstellung nicht stattfinden könne. Den 10, Februar um 11 Uhr war ich wiederum beschü'den, um 1'/^ Uhr im Palais zu erscheinen; rasch wurden die jungen Leute versammelt, gehörig nach der Größe geordnet und vorbereitet, und zur bestimmten Stunde war ich an ihrer Spitze, begleitet vom Kammerjunker von Fircks und Oberhofmeister von Kleist, im Winterpalais. Wir wurden in den (ioncertsaal geführt, wo wir den General-Gouverneur, den Oberhofmeister Graf Tchuwalow, der uns als Landsleute begrüßte, den General Korff und mehrere Andere fanden, die sich Alle gleiäi theilnehmend und freundlich bewiesen. Bald darauf erschien der Monarch, dem mich der Herr General-Gouverneur wssisch vorstellte. Mir gnädigst die Hand reichend, sachte der Monarch deutsch: ^,Ich freue mich, Sie zu sehen, und danke Ihnen für die schöne Stunde, 218 die Sie mir bereitet haben; ich spreche schlecht deutsch, meine es aber aufrichtig/' Mich verbeugend, erwiderte ich: „Ew. Kaiserliche Majestät haben die Gnade gehabt, die Bitte Ihrer getreuen Ritterschaft Kurlands zu gewähren, ihre Söhne dem Dienst ihres Herrn und Kaisers widmen zu tonnen, wozu wir gewiß Alle jederzeit bereit sind." Nasch entgegnete der Herr: „Das weiß ich und nehme es mit Dank an." Sich min zu Fircks und Kleist wendend, umarmte Er sie und richtete mehrere freundliche Fragen an dieselben, worauf Er mir sagte: „Stellen Sie mir Ihre jungen Leute vor." Ueber den Saal gehend, unterlegte ich, wie zwei nicht dieses Glückes theilhaftig werden tonnten, indem der eine, Baron Gideon Stempel, in Mitau und der andere, Baron Carl Fircks, hier erkrankt wären, worauf Er theilnehmcnd fragte: „Ich hoffe doch nicht gefährlich?" Auf meine Antwort: „Das nicht, Fircks ist in der Besserung," dabei anführend, daß die Ritterschaft noch zehn junge Edelleute vom Dienstadel aus Kurland stammend ausgerüstet habe, war die Erwiderung: „Das freut Mich, Ich danke sehr." Der Herr und Kaiser begrüßte dk Jugend russisch, und wo die Autwort in dieser Sprache nicht geläufig erfolgte, deutsch. Da die jüngsten der jungen Leute zur Vorstellung kamen, sagte mir der Monarch: „Sie haben Mir auch sehl junge Leute gebracht/' auf meine Erwiderung' „deren großer Eifer sich nicht zügeln ließ." bemerkte 219 Er huldvoll: „das ist schön, wir müssen sie aber schonen und daher in die erste leichte Cavallerie-Division eintreten lassen, die diesen Sommer bei Ihnen stehen wird." Auf meine Unterlegung, „daß gewiß Jeder bereit sei, mit Freuden überall dem Befehle seines Herrn zu folgen/' erwiderte Er gnädigst - „Ich überlasse Jedem die freie Wahl nnd bemerke dieses bloß znm Besten der Jüngeren." Den jungen Offenberg, der in seiner Senats-Uniwnn etwas abgesondert stand, stellte ich mit dem Bemerken vor, daß er seine unterthänige Bitte, aus dem Senat in den Militärdienst treten zu dürfen. Allerhöchst unterlegt habe. „Das bewillige Ich gerne," war die Erwiderung, indem Er ihm huldvoll die, Hand reichte und einige Fragen an ihn richtete. Darauf wandte sich der Herr und Kaiser an Alle und sagte: „Ich kann Euch nur wünschen, daß Ihr eben so werdet, wie Eure Eltern nnd verwandte. Kurland hat mir meine besten Generale gegeben, die Pahlen, Rüdiger und viele audere, dic Ich alle nicht gleich nennen kann: Kurland ist eine ausgezeichnete, Mir sehr werthe Provinz." Mir die Hand eichend, fügte er hinzu: „Ick danke Ihnen und bitte Ihren Mitbrüdern zusagen, wie sehr Ich diesen Beweis Ihrer Treue und Ergebenheit erkenne." Nie ich mich dankend beugte, umarmte Er mich gnädigst und grüßte, sich entfernend. Alle auf das Huldvollste. Den Eindrnck, den diese Vorstellung auf mich 220 machte, in seiner ganzen Wahrheit wieder zu geben, würde ich vergeblich versuchen; diese hohe erhabene Heldengestalt mit dem Ausdruck der huldvollsten Milde und gütigsten Sorgfalt, das Wohl des Allgemeinen, wie jedes Einzelnen, gleich umfassend, wirkte wahrhaft begeisternd. Darauf begaben wir uns zu Sr. Kaiserl. Hoheit dem Thronfolger. Mehrere der Herren Minister, die zu einer Konferenz bei demselben versammelt waren und unsere jungen Leute beim Heralistritt sahen, äußerten sich höchst beifallig über dieselben, so wie über den ganzen von der Ritterschaft gefaßten Beschluß. Se. Kais. Hoheit erschien, reichte mir die Hand und sagte: ,,Je vouö suis bicn rceonnnissant de la belle journee, quc vous avez donnee a Sa Majesti'" 1' Empercur, ellc Nous sera ä janiais memorable." 3ch erroiberte baremf: ,,Sa Majeste a eu la grace d'accepter a Son service les fils de mes confreres, et je prends la liberte de les recominander ä l'augustc bien-veillance de Votrc Altesse Imp<5riale." „Pour sür, je ne les perdrai jamais de vue^ la Courlande a donne un bei exemple et nierite a juste titrc la grace de Sa Majeste," war die huldvolle Erwiderung Seiner Kaiserlichen Hoheit. Fircks und Kleist huldvoll grüßend, ließ ^r sich die jungen Leute vorstellen, hielt ihnen bewegt eine 221 herzliche Anrede, in der Er gleichfalls die Hoffnung aussprach, daß sie dem Beispiel ihrer Aeltern und Verwandten folgen würden, die sich stets so ausgezeichnet haben, und wünschte Allen mit der wärmsten Theilnahme eine glückliche Zukunft. Mir nochmals huldvoll die Hand reichend, dankte Er und sagte: ,,VnN8 00NN3,i8862 IN68 8«ntimon8 et Vs)U8 tm 861-62 1'inter^r^tL." Tief bewegt folgten unsere Blicke dem würdigen Nachfolger eines so großen Vaters, mit den gerechtesten Hoffnungen für die Zukunft, da auch in Seiner Brust das warme Gefühl für Menschenwohl, dieser Stempel ächter Menschengröße, thront. Unter dem großartigsten Eindrucke, den diese Vorstellung hervorgerufen, in uns die Gefühle der Treue und inniger Ergebenheit zur wahren Begeisterung steigernd, verließen wir den Palast. Den Tag darauf kam General Lieven mit den Nerzeichnissen der Cavallerie-Regimenter, um nach dem Bestände der darin dienenden Officiere, ihren Verhältnissen, so wie den Commandeurs derselben, eine Auswahl für die jungen Leute zutreffen. Man muß Zeuge gewesen sein, wie dieser wahrhaft edle Mann, fast erdrückt von den im allgemeinen Interesse ihm übertragenen Geschäften, sich mit den Einzelheiten, das besondere Interesse eines Jeden betreffend, gleichviel, ob ihm bekannt, befreundet "der fremd, beschäftigte, um so den ganzen Umfang des wahren Verdienstes darnach ermessen zu können." 222 Das warme Lob, das der Baron von Hahn dem General vonLieven spendet, verdient dieser vollkommen, da er ein vortrefflicher Mensch, ein tapferer Heerführer und liebenswürdiger Cavalier ist, den überdies die höchste Bescheidenheit schmückt. Ich werde jetzt noch den sehr warmen Empfang schildern, den die jungen Kurländer bei den russischen Junkern in Pawlowsk fanden. Pawlowsk ist eine in der Nähe von St. Petersburg gelegene, sehr freundliche Stadt. Der Varon von Hahn berichtet hierüber: „Nach der getroffenen Wahl der Regimenter wurden die jungen Leute nach Pawlowst zu dem Muster-Negimente gebracht, wo sich Junker aus allen Kavallerie'Regimentern der Armee befinden, um sich dort ihre Uniformen zu bestellen. Unaufgefordert, aus freiem Impuls, empfingen die dortigen Junker unsere jungen Leute auf das Freundlichste mit einem Frühstück, wo nach der enthusiastisch ausgebrachten Gesundheit des allverehrten Monarchen und Seines Herrscherhauses, so wie der tapferen Land- uud Seemacht, auf die brüderliche Kameradschaft ein Glas geleert wnrde. Unsere Jugend erwiderte den Empfang mit einer Einladung nach St. Petersburg, wo dieses freundschaftliche Band im frohen Znsammenleben noch sester geknüpft wurde. Zum Einkleiden mußten unsere jungen Leute wieder nach Pawlowsk, wo der General Kurdjumow sie empfing und sie gleichfalls bewirthete, mit cmem 223 Toast auf ihr Wohlsein und das ihrer braven Landsleute. Auch dieser Empfang ist bestimmt charakteristisch, sowie das freundliche Entgegenkommen, welches wir überall fanden, als Beweis, welchen gerechten Anklang jede großartige Gesinnung findet. In ihrer Uniform wurden die jungen Leute dcu verschiedenen Autoritäten vorgestellt und auf das Wohlwollendste entlassen. Mit Herzlichkeit und dankbarer Zuneigung nahmen sie von uns und ihren Begleitern Abschied, die das in sie geschte Vertrauen durch aufmerksame Fürsorge und Thätigkeit in vollem Maaße gerechtfertigt hatten. Aufrichtig ihnen Glück wünschend, dankte ich ihnen für ihre mir bewiesene freundliche Willfährigkeit, so wie ilire wahrhaft Musterhafte Fübrung, da keiner von den jungen beuten, die jeht in Dienst traten, irgend einc Veranlassung zur Unzufriedenheit gegeben liatte und sie Ilch auch so ihrer Abstammung würdig bezeugten." Der Baron von Hahn erwähnt hierauf noch, wie ^ der Kaiserin, der Großfürstin Cäsarewna und der ^roßsürstm Helena vorgestellt wurde; doch dies hat nichts Charakteristisches und ich übergehe es deshalb. Diese Präsentation kurländischer Freiwilligen Und der Opferdrang so vieler Jünglinge, die aus bm günstigsten Lebenoverhältnissen schieden, wird dem Kaiser Nicolaus l. ein Lichtpunkt gewesen sein ^ den letzten Monaten seiner irdischen Ezistcnz, die burch Kriegssorgen und andere Bekümmernisse so sehr getrübt wurde. 224 Eine Lebcnsskizze des Generals Tudleben. Unter den Schissen, die im Hafen von Libau während des Sommers 1856, als ich dort Seebäder nahm, gebaut wurden, siel mir ein stattlicher Dreimaster wegen seines berühmten Namens auf. der in goldenen Buchstaben an seinem Spiegel prangte. Es war der General Todleben. Wie die denkwürdige Vertheidigung Sebastopols, das beim ersten Nahen der Verbündeten ein fast ganz offener Ort war, durch das seltene Ingcniemtalent Todlebens ermöglicht ward, hierüber brauche ich als etwas Allbekanntes nichts weiter zu erwähnen. Man sagt nicht zu viel, wenn man ihn einen russischen Vauban nennt. D ie Familie Todleben ist eine ursprünglich kur-ländische, und der Held von Scbastopol, Franz Eduard Todleben, ward den 8. Mai 1818 in Miwu geboren. Er ist demnach jcht, im Jahre 1862, in der Mittagshöhe des Lebensalters. Den 20. Juni 1818 ward er in der Trinitatis-Kirche zu Mitau getauft. Sein Vater war der Kaufmann Johann Heinrich Todlebcn, seine Mutter ist eine geborene Sander. Der Held von Sebastopol empfing seine militärische Ausbildung in der Nitolajew'schen In' genieurschule und zog schon vor Silistria, wo ft manche alte Lorbeeren verwelkten, die Blicke seiner Vorgesetzten aus sich. Mit welchem Enthusiasmus Todlcbcn in allen russischen Städten, wo er sich 225 bisher zeigte, empfangen ward, ist aus den Zeitungen bekannt. Beim Beginn des Krieges war Hodleben Ingenicnr-Capitän, am Schlüsse desselben General-» Adjutant des Kaisers Alezander II. Die Nikola-jew'sclie Ingenieurschule ehrte das Andenken an ihren berühmten Zögling dnrch eine Marmortafel, auf welcher man folgende einfach,,' Inschrift lies't! „Franz Eduard Todlcben, entlassen im Jahre 1838. 1854 Sscwastopol." Das; Kurland sich durch diesen, aus seinem Schote erzeugten Helden nicht wenig geehrt und beglückt fühlt, wird man sehr natürlich finden. Im Jahre l8.')5 forderte mau von Mitau aus in einem der Zeitung beigegebenen (^rtrablatte die Bewohner Kurlands auf, den Geburtstag ihres berühmten Landsinannes schlich zu begehen. Mit Genugthuung blickte man bei dieser Gelegenheit auf so viele tapfere und verdiente Männer zurück, welche der Provinz entsprossen sind. Ich führe hier eine Stelle aus dem erwähnten ^r.trablatte an: „Das t'leiue Kurland, das einem Füllhorn ähnlich in die offene See hinausschaut, hat schon so Manchen Namen den Annalen der europäischen Geschichte einverleibt, uud noch immer steigen aus seinem Herzen Sprößlinge empor, welche es mit Stolz dio Seinen nennen darf. Die jüngste Zeit, in welcher Britten und Franzosen mit endloser Schisss-wcnge zu den Gestaden Nußlands herangezogen s'nd und mit verheerendem Feuer die Südfeste zu 1ü 226 vernichten suchen, diese Zeit hat ihnen einen Mann entgegengestellt, welcher von der blauäugigen Göttin für die Zeit der Bedrüngniß mit der Aegide belehnt, das Medusenhanpt dem Feinde entgegenwies. Morgen ist des Mannes Wiegenfest und Kurland, solltest Du nicht auch freudig desselben im Herzen gedenken?" Als der Kaiser Alerandcr II. im Jahre 1856 um die Pfingstzeit (nach Iulianischer Zeitrechnung) in Mitau erschien, war General Todleben von Niga, wo er sich gerade zur Entscheidung der wichtigen Frage befand, ob die Fcstungsmauern dieser Stadt noch zu verstärken, oder ob sie, die Mittel einer erfolgreichen Vertheidigung nicht darbietend, lieber zu rasiren seien, ebenfalls nach Mitau gekommen' um seinem Kriegsherrn dort aufzuwarten. Ich brauche nicht zu bemerken, daß die Huldigungen der Stadt und aller Derer, die sich zum Empfange des Kaisers eingesunken hatten, ihm entgegcnwalltcn. Schon früher war ihm von den sämmtlichen Adelscorps der drei deutsch-russischen Ostseeprovinzen, nämlich Kurland, Livland und Esthland, das Indigcnat ertheilt und er so einem Kreise edler Männer beigesellt worden, die selbst einem Helden noch Schmuck zu gewähren vermögen. Vei dem entschiedenen Talente, von dem General Todlcben Proben abgelegt, würde er bei einem etwaigen neuen Kriege, den Nußland zu führen hätte, wahrscheinlich noch reichere Lorbeeren cmerndten- 227 Indeß muß man im Interesse der Humanität und Civilisation wünschen, daß ihm diese Gelegenheit nicht dargeboten werde. Durch die Vertheidigung Tebastopols wird der Name des Generals Todlcben wahrscheinlich ebenso unsterblich werden, wie, um nur an Fülle aus der neueren Kriegsgeschichte zu crmnern, Palafor durch Saragossa, Masscna durch Genua, Gneisenau durch Kolberg. Der General Todlcben m Mitcm. Wenn auch viele Einzelheiten aus dem Leben des Generals Todleben schon nach Deutschland gedrungen sind, so dürfte sein erstes Auftreten in M-tau, seiner Heimathstadt, doch nur Wenigen bekannt sein. Ich will deshalb eine Skizze seines dortigen Debüts geben. Die nicht affectirte, sondern natürliche Bescheidenheit des Generals Todleben machte bei seinem Erscheinen in Mitau einen überaus vorthcilhaften Eindruck. Man war einstimmig darüber, daß wohl selten Jemandem der Weihrauch so wenig zu Kopse gestiegen sei, wie ihm. Seine bürgerlichen Änlece-denticn keinen Augenblick vcrläugnend. nahm er sein Absteigequartier bei seinem Oheim, dein Kauf-Manne Samuel Todlebcn, vor dessen bescheidenem Hause sich die Equipagen des furländischen Adels drängten. Die kurische Ritterschaft machte, wie es sich auch geziemte, dem Helden Sebastopols den 228 ersten Besuch. Die Damen, deren Aufregung bei solchen Gelegenheiten stets überaus groß ist, waren auch bei dem Erscheinen Todlebcns außer Rand und Band. Der bescheidene Mann zeigte sich sehr wenig auf der Straße, um ft viel wie möglich allen Ovationen zu entgehen. Eine vornehme alte Dame, die dem Hause, in welchem Todleben abgestiegen war, gegenüber wohnte und zahlreichen Nichten- und Basen-Besuch aus allen Theilen der Provinz bei sich hatte, lag sammt den Landsräulein, die nach Mitau hcreingct'ommen waren, um den dem Kaiser zu Ehren veranstalteten Ball im Mtcrhausc mitzumachen, den ganzen Vormittag im Fenster, hoffend, der vielbesprochene Held werde über die Straße gehen. Er erschien nicht. Man war wie auf der Folter. Der Diener rief zn Tische. Man bat die Nirthschafterin — in Kurland sagtnmn stets „Wirthin" statt Wirth-schafterin —die Teller mit Speisen zu bedecken (denn auch der größte Enthusiasmus vermag nicht, kur-lündischem Appetite seine Vollkraft zu nehmen) und sie dann durch den Diener an das Fenster zu schicken. Man aß tüchtig, aber die Augen waren immer auf die gegenüberliegende Hausthür gerichtet, so daß mancher für den Mund bestimmte Bissen auf das Kleid siel. Es ward Nachmittag — der General Todlcdcn blieb noch immer unsichtbar. Die kurlän-dischen Damen fingen an zu stöhnen, und harrten keineswegs, wie Ritter Toggenburg, „ohne Schmerz und ohne Klage, bis das Fenster klang", Endlich 229 faßte dle alte Dame einen kühnen Entschluß. „Ich werde ihm einen Besuch machen," sprach sie, kleidete sich schnell zum Ausgehen an, nahm ihren Bedienten mit und ließ sich bei dem General Todlcben anmelden. Der Held war nicht zu Hause. Die gnädige Frau gab ihre Karte ab. General Todleben, ebenso galant wie tapfer, machte am andern Morgen seinen Gegenbesuch. Sämmtliche Damen verschlangen ihn mitihrcn Blicken. Ihm soll unter den Kugeln derFran-zosen und Engländer nie so schwül zu Muthe gewesen sein, als unter dem Kreuzfeuer der Landfräulein. Proben kurischer Tapferkeit. Ich liattc schon Gelegenheit, der sehr anerkennenden Worte zu gedenken, in welchen der Czar Ni-colaus Kurlands und der Menge tapferer und tüchtiger Generale Erwähnung that, die er dieser Provinz verdanke. Dies Lob war für Kurland um so schmeichelhafter, als der Czar Nicolaus, wie alle bedeutenden Persönlichkeiten, nur in sparsam gemessener Weise seine Anerkennung zu zollen pflegte. Aber dieses Lob bezieht sich doch zunächst nur auf den germanischen und nicht lettischen Bestandtheil der knr-ländischen Bevölkerung, da sämmtliche Generale, die der Czar Nicolaus in's Auge faßte, entweder den adeligen oder bürgerlichen Familim der Provinz entsprossen waren, die rcindentschen Blutes sind-Allein auch der eingeborene Staunn der Letten hat 230 sich bei vielen Gelegenheiten als kriegerisch bewährt. Vorzüglich stellte sich dieBravour der Letten in dem Parteigängerkriege heraus, den sie gegen die Schweden fühlten, als diese, auf Befehl ihres heißblütigen Königs, Karls X., den Herzog Jakob von Kurland gegen alles Völkerrecht treuloser Weise in seinem Mitauer Schlosse überfallen und sammt seiner Gemahlin, der Schwester des Großen Kurfürsten, in die Gefangenschaft nach Iwangorod abgeführt hatten. Vielleicht werde ich diese für Kurland so ver-hängnißvollc Periode später in ausführlicher Schilderung darstellen und will hier zunächst der Tapferkeit der Knrlänoer, sowohl des lettischen wie des deutschen Bestandtheils, in dem schwierigen und glänzenden Feldzuge gedenken, den das kleine Holland gegen die hereingedrungenen Schaaren des übermächtigen und übermüthigen Ludwig XIV. zu führen hatte. Das hartbedrängte Holland hatte durch die Vermittelung des großen Kurfürsten, der ein Schwager des Herzogs von Kurland war, drei Regimenter Kurländer anwerben lassen, die sich im Frühling des Jahres 1672 in Libau einschifften. Es waren zwei Regimenter Reiterei und ein Regiment Fußvolk. Der Erbprinz von Kurland führte sie in Person nach Holland hinüber. Dieser junge Fürstensohn focht, wie bei vielen andern Gelegenheiten, so zuerst bei Lier mit großem Muthe gegen die zahl' reichen Schaaren des Fürst-Äischofs von Münster, 231 der bekanntlich nebst dem Churfürsten von Köln und andern deutschen Ncichsgliedem durch das Gold Ludwigs XIV. in das französische Interesse war gezogen worden. Die Tapferkeit des kurländischcn Erbprinzen und der von ihm geführten Schaar konnte, bei der großen Nebermacht der bischöflichen Truppen, in der ersten Affaire, wo sie cngagirt waren, keinen Erfolg haben. Der Lorbeerkranz, den man mit Unrecht, nur dein mit Glück verbundenen kriegerischen Muthe und Geschicke ertheilt, schmückte zuerst die Stirn der kurländischen Hülfsschaar bei Groningen, welche reiche Stadt der Churfürst von Köln, der Fürst-Bischof von Münster und der Blschof von Straßburg umzingelt hatten. Diese Fürsten der Kirche erinnern an bekannte geistliche Figuren des Mittelalters, die das Kriegshandwerk, Jagd und Vankettiren mehr liebten, als das Trösten der Kranken, Studircn der heiligen Schrift und die Unterweisung des in religiöser Hinsicht noch sehr verwahrlosten Volkes. Wenn man behauptet hat. daft unter dem Talare eines Cardinals und Bischofs weit häufiger der Pferdefuß hervorgucke, als imter dem Gewände eines Nicht-Geistlichen, so konnten die geängstigten Gröninger den Bischof von Münster mit Nechtfür den leibhaftigen Satanas halten, da unter seiner Leitung und häusig eigenen Abfeuc-rung die für die Nase furchtbaren Stiukpotten in die belagerte Stadt geschleudert wurden. Was die Etinkvotten für Gefährliches an sich hatten, zeigt 232 schon ihr Name, der nicht wie 1ueu3 «, non luoenäo genommen ward. Diese Stinkpotten waren viel abscheulicher, als unsere jetzigen Granaten, da sie außer dem Feuer und den Kugeln, die sie nach allen Seiten schleuderten, die Luft weithin verpesteten. Sie verbreiteten ihren Gestank aber nicht erst, wenn sie an dem Orte ihrer Bestimmung anlangten, sondern schon, wenn sie fortgeschleudert wurden. Die feine Nase des Bischofs von Straßburg litt unendlich bei dieser verpesteten Atmosphäre, und er war naiv genug, von den belagerten Holländern wohlriechende Wasser für seinen gequälten Riechsinn und erfrischende Confitüren für seinen dürren Gaumen zu erbitten. Doch die Holländer waren nicht so artig, wie Dümomiez im Jahre 1792, der Friedrich Wilhelm dem Zweiten, der bekanntlich mit einem Heere unter Anführung des Herzogs von Braunschweig in Frankreich eingefallen war, Mocca und andere Erquickungen zusandte, als er gehört hatte, daß in der königlichen Hoftuche Mangel daran sei. Glücklicherweise bekamen die Herren Bischöfe, trotzdem daß sie vor den zerstörendsten Kriegsnutteln nicht zurückschreckten, Groningen doch nicht in ihre Gewalt und der arme Bischof von Straßburg hatte so ganz umsonst die durch die Stinkpottcn verpestete Luft in feine hochheilige Nase ziehen lassen. Es war übrigens gut, daß er sich, wenn auch ganz wider seinen Willen, an den Schwefelgeruch der Hölle gewöhnt batte, in die er mit den übrigen Eminenzen wegen 233 seines hunnischen und uandalischen Wüthens in einem christlichen Lande zweifelsohne gekommen sein wird. Daß nun diese Belagerung der bischöflichen Mordbrenner eine erfolglose blieb, verdankt Holland besonders der Tapferkeit der kurischen Regimenter. Uebrigens erkannten die Holländer die wirksame Hülfe des kurischcn Erbprinzen und der von ihm befehligten Truppen durch alle nur irgendwie zu ersinnenden Ovationen dankbarst an. Als der kurische Erbprinz, um sich von den Kriegsstrapazen ein wenig zu erholen, im Haag zum Besuche war, hatten die Bürger allenthalben Maibäume vor die Häuser gepflanzt, und auf demjenigen, der den nordischen Fürstcnsohn besonders verherrlichen sollte, befand sich die lateinische Inschrift', „^ääiäit kic ü^avi» Das tapfere Benehmen des kurischen Erbprinzen und seiner Schaar ist um so rühmlicher, da sie mit schweizerischen Soldtruppcn nicht in eine Linie zu stellen sind. Der sonst so gut gefüllte Geldbeutel der Gcneralstaaten befand sich nämlich dmch den gewaltigen ttrieg, den sie gegen den mächtigsten Herrscher Europas zu führen hatten, in jenem bedenk-lachen Zustande der Ebbe, wie er in den Staatskassen Griechenlands und Spaniens bereits seit Iahrzehn-^n herrscht und Diejenigen, welche spanische Pa-p^ere gekauft haben, wohl ebensowenig je zu ihrem, schun so oft vergeblich verlangten Gelde gelangen 234 lassen wird, wie die ehemaligen Inhaber westphäli-scher Domänen zu ihrem, ihnen nach den Principien des Völker-, Staats- und Privat-Nechts so sonnenklar gebührenden Eigenthum. Jene Confiscation der, unter den rechtsgültigsten Titeln erworbenen westphülischen Domänen hatte ebenso etwas Himmelschreiendes, wie zu unserer Zeit die Spoliirung der Orleans'schen Familie, Gewaltmaßregeln von Seiten französischer Machthaber waren von jeher an der Tagesordnung. Wer denkt nicht an das, unter Ludwig XIV. so schamlos ausgeübte Reunions-recht? Als Napoleon im Jahre 1810 ganz Holland verschluckte, so führten französische Journalisten, die bekanntlich um Gründe nie verlegen sind. den Beweis, daß die Niederlande mit Fug und Necht dem Kaiserreiche wären einverleibt worden, da sie nichts als eiue Anschwemmung der französischen Flüsse Maas und Schclde seien. Daß nun Ludwig XIV. das von Frankreich weggeschwemmte Land, nämlich Holland, nicht in seinen Besitz brachte, dazu trugen auch bedeutend die kurischen Regimenter und ihr erlauchter Anführer bei. die aus dem einfachen Grunde nicht als Söldner angesehen werden konnten, weil sie nie Sold zn sehen bekamen. Eine nicht minder glorreiche That, wie die Vertheidigung Groningens, war die durch die Kurlän-dcr. unter Anführung ihres Erbprinzen, bewerkstelligte UeberrumpcUmg von ssoevmden. In einer stürmischen und scharstalten Wmtemacht, wo die 235 Truppen des Bischofs von Münster, die übrigens etwas von den Schlüfselsoldatcn des Papstes an sich gehabt zu habcn scheinen, die Wälle nicht sorgsam genug bewachten, erklommen die an Schnee. Eis und den Boreas gewohnten Kurländer die Brustwehren, säbelten die halbverschlafenen Vertheidiger nieder, und die Festung gehörte wieder den Holländern, Wie sehr man die Tapferkeit der nordischen Krieger und ihres erlauchten Führers anerkannte, beweist ein Brief des Herzogs von Croy, worin er die Herrscherin Kurlands wegen der Kühnheit ihres Erstgeborenen becomplimentirt. Eine Stelle dieses Briefes lautet so: ,,Le iils de Votrc Altesse, le prince Frederic s'est couvcrt de gloire ä la prise de Cocvorden, sans qu'aucun accident lui soit arrive; je l'ai vu ä- la Haye sain et sauf. C'est une des plus belles actions dans toute la campagne." Auch der Kammerdiener des kurischen Erbprin-M, Kasimir Brandt, der von der Herzogin den Auftrag hatte, ihr fleißig Nachrichten über ihren Eohn und namentlich über dessen sittliches Verhalten zu geben, rühmt sehr die Tapferkeit seines fürstlichen Henn und berichtet, wie alle Zeitungen stines Preises voll seien. Der Erbprinz stehe überall in höchstem Ansehen. Nach den lateinischen Brocken w Briefe des Kammerdieners scheint er es wenig stens bis zum Cornelius Nepos gebracht zu haben. 230 Eine Stelle seines von lateinischen Brocken strotzenden Briefes lautet'. „Ich habe vor Freuden eine Menge lacunas effundiret und den großen Gott gebeten, dero Sohn in allen taftfern n<^i«n durch treuen deutschen Opfermuth sarmatische Per-räthcrci. Indeß, man möchte es fast bedauern, daß ein Held aus deutschem Blute sein Leben der Republik Polen zum Opfer brachte, die wegen Verräthcrei oder wenigstens wegen Uneinigkeit der mächtigen Adeligen ihre Erfolge nach außen stets gefährdete. Fiel doch auch die hochwichtige Festung Kaminiek in in Podolien, die ein Bollwerk gegen die Türken war, diesen Erbfeinden der Christenheit durch die Verräthcrei des Commandanten Potocky in die Hände. Diese Festung war zwar von den Türken cernirt, konnte sich aber bequem bis zu dem Entsahe halten, den der Held Sobicsky, welcher seinen Namen durch Wiens Befreiung unsterblich gemacht. 243 sicher verheißen hatte. Doch der Commandant von Kamimek, Potocky. gehörte einer andern Partei, als Sobiesky, an nnd wollte diesem die Rettung der Veste nicht verdanken. Er ließ also dies überaus wichtige Bollwerk lieber in die Hände der Türken fallen, als daß er dem Sobiesky und dessen Anhängern gegönnt hätte, durch den Entsatz dieser Festung ihren Namen weithin berühmt und beim polnischen Volke beliebt zu machen. Der Artilleriecapitän von Heyking verstand bei seiner geraden, deutschen Natur nichts von solchen verächtlichen Partcirücksich-ten; er war des Eides eingedenk, den er dem Könige von Polen geschworen, und in demselben Augenblicke, als die Türken in die Festung einzogen, sprengte er sich mit einein Pulvermagazin in die bust und verdarb so wenigstens tausend Christen-feiuden die Freude ihres Triumphes. Unsere Jetztzeit sal, in Delhi, das so blutig eingezeichnet ist in die Annalen des neunzehnten Jahrhunderts, eine ähnliche heldenmüthige Aufopferung von Seiten englischer Officierc. Ich könnte noch vielfache Proben kuriscker Tapferkeit anführen, die Bogen ausfülleu würdeu. Indeß paßt der kriegerische Lärm gar wenig zu dem Niedlichen Charakter der übrigen Gemälde, die ick Uach kurischen Borwürfen zu zeichnen versuchte. Nichr wilder Drommetenschall und das Schild- und Speer-lasselu des Kriegsgotts ist der Orundaccord meiner kuriscl^n Schilderungen, sondern die sanften Weisen, >!! x 244 die Pan seiner Hirtenflöte entlockt, und die weichen Lieder, welche die Schnitterinnen bei'm Winden des ssyanenkranzes zum Preise Dcmcters singen, der Flurenbehüterin. Möchten die stillen Fluren Kurlands für immer von Kriegslärm und Kriegsunglück verschont bleiben! Die Proben kurischer Tapferkeit, die m der Geschichte verzeichnet stehen, sind so zahlreich und auf so verschiedenen Schlachtfeldern abgelegt worden, daß von dem Nuhmc der Vorsahren noch viele nachfolgende Generationen werden zehren können. Die Ohrfeige des Consuls Hagedorn. Wie Homer seine Iliade mit dem Zorne des gewaltigen Achilles beginnt, durch den die Einnahme Troja's auf eine, für die Ungeduld der Griechen so peinliche Weise verzögert ward, ebenso will ich von dem Zorne des Consuls Hagedorn singen und sagen. Doch nein, mich eines Vesscrn besinnend, gebe ich in unserm proscuschcn Zeitalter lieber einen prosaischen Bericht und verspüre eine Schilderung in Hexametern für eine poetischere Periode, verschiebe sie mithin bis zu den griechischen Calenden. Wenn ich die Ohrfeige des Consuls Hagedorn unmittelbar den Proben kurischer Tapferkeit anreihe, so geschieht dies mehr in Folge einer heitern lind 245 ' scherzhaften Gemüthsstimmung, als daß ich es für eine Heldenthat hielte, wenn Jemand in der Men Gesellschaft, wo man auf solche Thätlichkeiten nicht vorbereitet ist, bei einem Zornesanfalle plötzlich mit der Hand ausholt und dem Gegenstande seiner Abneigung einen Schlag in das Gesicht versetzt. Da übrigens diese Ohrfeige von dem Consul Hagedorn einem unschuldigen Engländer applicirt ward, für den sie eigentlich gar nicht bestimmt war, so mag Man in der angedrohten Beschießung von Seiten der englischen Flottenabtheilung im Jahre 1854, die wir in einem früheren Kapitel schilderten, so mag Libau hierin das Walten der Nemesis erblicken, denn der Consul Hagedorn war ein Bürger dieser Stadt und in ihren Mauern wurde der furchtbare Backen-streich verabreicht. Berichten wir jetzt kurz den Hergang'. Der Consul Hagedorn ans Libau, ein sehr reicher, braver und herkulisch starker Mann, war während eines längeren Aufenthaltes in Riga mit einem Engländer bekannt geworden, den ebenfalls Handelsinteressen dorthin geführt hatten, und der wegen der stürmischen Jahreszeit — man besand sich im Spätherbst — soviel wie möglich zu Lande in sein Vaterland zurückkehren wollte. Die beiden Herren hatten sich gegenseitig schätzen gelernt, und der Consul Hagedorn ersuchte den Engländer dringend, seine Neise doch so einzurichten, daß er bis zum Syl-vesteradend in Lilian angelangt sei. wo er ihn in 246 einein heitern Kreise guter Freunde antreffen werde, unter denen es ihm scholl gefallen solle. Der Engländer versprach, diesem Wunsche, wenn es nur irgend angehe, zu willfahren. Am Eylvcsterabend hat nun der gute Konsul Hagedorn nach langjähriger Gewohnheit zahlreiche Freunde um sich versammelt. Die verschiedensten Wcinc werden getrunken, die den Herren, bei allzu reichlichem Poculiren, doch endlich zu Kopfe steigen. Sie saugen nun an, abweichender Ansicht zu werden und zuletzt sich recht tüchtig zu zanken. Der Consul Hagedorn gcräth bald in den heftigsten Etreit mit einem Bekannten, der, durch zu häufiges Leeren seines Glases um seine Besinnung gebracht, die Gefahr vergißt, die es hat, einen Löwen zu reizen. Plötzlich ruft der unbesonnene Gast seinem jähzornigen Nirthc ein Wort zu, das diesem ganz besonders empfindlich ist. Mit furchtbarem Gebrüll packt ihn jetzt der Consul Hagedorn beim Kragen, hebt ihn wie cmen leichten Ball in die Höhe, dreht ihn mchreremale in der Luft herum und wirft ihn dann ins Vorzimmer, mit den drohenden Worten-. „Bube, wage meine Schwelle nicht wieder zu betreten!" Der so geschüttelte uud herausgeworfene Gast zieht ruhig seinen Pelz an und schleicht nach Hause. Er war anscheinend von einem lammesfrommen Naturell. Zum Unglück muß unterdes; der arme Engländer, seines Bm'prccheus eingedenk, in Libau angelangt sein. Der pünktliche Insulaner hat aus sei- 247 nein Gasthause Begleitung mitgenommen, um sich die Wohnung des Consuls zeigen zu lassen, und will überraschend, wie einäeu» ox imicMn^ in dem Kreise heiterer Menschen erscheinen. Leise, ohne daß ihn irgend Jemand gehört, schleicht er durch das Vorzimmer und steckt plötzlich seinen Kopf mit echt englischer Ungeschicklichkeit in den Eßsaal. Doch der Consul Hagedorn, noch blind vor Wuth, und wähnend, sein Gegner von vorhin wolle ihn durch sein Wiedcrerscheinen verhöhnen, springt mit einem furchtbaren Satze auf den armen, verblüfften Cng-länder los und giebt ihm ein paar Ohrfeigen, die sich gewaschen haben. Der arme Insulaner fand diese Begrüßung durch eine Ohrfeige sehr hyperbo-räisch und barbarisch, worm ihm jeder Mensch recht geben wird. Ueber diese Ohrfeige wurde, kurz nachdem sie avvlicirt worden, von einem zwar unendlich kleineren Kreise von Menschen, aber mit derselben Lebhaftigkeit in Liban und in vielen Theilen Kurlands debat-tirt, wu- in London über die Olnfeige. welche die Königin Victoria dem Prinzen von Wales gab, als er in der großen Ausstellung von 1851 in kindlicher Nengierde ein Ding, das ihm besonders gefiel, angefaßt hatte, was doch durch die Etatuten verboten war. Nur äußerten sich die Libauer und die Kur-lander, wenngleich sie herzlich dabei lachten, stets wißbilligend über die Hagedom'sche Ohrfeige, während die Engländer über diesen neuen Beweis, wie 248 ihre geliebte Königin sich und die Ihrigen stets unter das Gesetz stelle, entzückt waren, uud ihre Achtung und Liebe dadurch noch einen Zuwachs bekam. Von Ohrfeigen, die in dcr Geschichte viel von sich reden machten, will ich noch an die sehr physische erinnern, die der Dey von Algier dem französischen Consul versetzte und die ihm seine Statthalterschaft kostete, sowie an die moralische, die dcr französische commandirende General in Rom dem Kriegsminister des Papstes anbot, als der Herr von Marode sich in sehr herabwürdigeuder Weise über den Kaiser Napoleon III. ausgelassen hatte. Uebrigens kann der päpstliche Kriegsminister noch sehr froh sein, mit einer moralischen Ohrfeige abgekommen zu sein, da bekanntlich auf Befehl des französischen Königs, Philipp des Schönen, der Papst Vonifaz VI11. durch einen französischen Ritter zuerst geohrfeigt und dann rückwärts aus einen Esel gesetzt ward, so daß er aus Scham über diese ihm angethane Schmach den Verstand verlor. Für mich hatte die Erzählung von der, dem Eng' lander durch den Consul Hagedorn zu Theil gewordenen Ohrfeige die Folge, daß ich, bevor ich mich in die Mauer Kaufmannskreise wagte, meine körperlichen Kräfte sorgfältig prüfte, und da ich mich leider nicht als einen Simson erkannte, mit schüchternster Aengstlichkeit eine Gesellschaft mied, in dcr sich nur Athleten ganz sicher und behaglich zu fühlen vermögen. 249 Kaiser Alexander ll. in Mitau. Sie schreiben mir, geschönter Freund, daß mein Urtheil über den Baiser Alexander N., welches ich in einem Briefe uou< Juli 185,6 gegen Sie aus-spracht und das dahin lautete, er scheine mir die Seele eines Titus zuhaben, er werde für das russische Reich ein Apostel dcr Humanität werden und alle dortigen Nauhhciten und Nohheiten verschwinden machen; diesem mein Urtheil, versicliem Sie mir, werde uon allen Denjenigen in Deutschland getheilt, die in die Nähe deö^zaren gekommen seien und sich an seiner herzerquickenden Erscheinung gelabt hätten. Weil nun der Kaiser Alexander II. durch alles das, was Sie über ihn geHort, Ihnen außerordentlich interessant geworden, bitten Tie mich, mein lange gegebenes versprechen doch endlich erfüllen und Ihnen das erste Auftreten des (^zarcn in der kurischcn Hauptstadt, Mitau, schildern zu wollen. Ich willfahre Ihrem Wunsche gern, da Alexander II. wegen aller der Segnungen, die durch ihn auf das, vor Kurzem nocli durch Leibeigenschaft gedrückte Nußland herabträufcn werden, meinem Herzen überaus theuer ist. Als im Jahre I85,ss die Kunde Kurland durch-eUte, daß der Zar uou Berlin aus den Landweg wähln, und nngcfähr zur Zeit des Psingstfestes lnach dem russischen Kalender) in Mitau eintreffen werde, da hatte der surische Landcsbcvollniäänigte. 250 Baron von Hahn. die schwere Aufgabe, den Adel der Provinz, der das Landleben über Alles und den Aufenthalt an Hosen gar wenig liebt, zusammenzutrommeln. Ich bediene mich mit vollstem Bewußtsein dieses Ausdrucks, weil er die Schwierigkeit andeuten soll, die der Baron Hahn hatte, den kurischen Adel zu bewegen, seine Men, gemüthlichen Landsitze zu verlassen und nach Mitau zur Aufwartungan das kaiserliche Hoflagcr zukommen. Der kurische Adel nämlich, obgleich mcistenthcils durch elegante Manieren ausgezeichnet, hat durchaus nichts Hosmännischcs. Ich nehme dies Wort in der üblen Bedeutung, welche die große Mehrzahl der Jetztzeit damit verbindet. Um kurz zu sein, in Kurland giebt eö keim Hosmarschalls von Kalb, die selig sind, in der prinzlichen Atmosphäre athmen zu dürscn uud die, uach dem derben Ausdrucke Schiller's in „Kabale und Liebe", ein Register über die Stuhl" gange ihres hochfürstlichen Herrn führen. Die Kurländer haben der russischen Negierung seü lange geschickte Diplomaten und vortreffliche Generäle g» liefert; sie sind in den hohen Regionen wegen ihrer großen Loyalität überaus beliebt und werden von den Mitgliedern der kaiserlichen Familie stets aus' gezeichnet; aber nichts desto weniger hat der Ausenthalt am Hofe nichts Lockendes für sie, sondern sic ziehen es bei Weitem vor, als kleine Könige auf ihrem Grunde und Boden zu leben. Sie haben aus meiner Schilderung gewiß schon entnommen, dap 251 die Loyalüät die krmschen Adeligen nicht verhindert, gesinnungstüchtige Lentc zu sein, die sich ein eigenes NrtheU über die Dinge bilden und nicht die allerhöchste Parole abwarten, bevor sie mit ihrer Meinung zu Tage kommen. Genug, die kurischcn Adeligen, die ihrer Mehrzahl nach das Anticham-briren, die krnmmcn Rücken und die säuselnde Sprache nicht lieben, würden gewiß wenig zahlreich nach Mitan gekommen scin, wenn es nicht gegolten hätte, einem Kaiser ihre Hochachtung zu bezeugen, von dem sie Wichten, welche menschenfreundlichen Absichten sein Inneres erfüllten, die er mit der Zeit alle verwirklichen werde. Wenn nun zuerst auch, als die Aufforderung des Landesbevollmächtigten durch d« Provinz erscholl. Jeder seinen Nachbarn zu überreden suchte, doch ja dem kaiserlichen Herrn aufzuwarten, um selbst zu Hause bleiben zu tonnen, w siegte über die Bequemlichkeitsliebe und über die Angst vor der an Stickstoff reichen Hofluft doch end' lich die Erwägung, wie ein solcher Monarch es wohl verdiene, daß man sich um seinetwillen etwas z^no auferlege, und daß es schon ein Genuß sein müsse, das in Humanität getauchte Antlitz des Zaren betrachten zu dürfen, So erschienen denn die kurischen Adeligen zur anberaumten Zeit zahlreich in Mitau, Mit Ausnahme der Edelleute des Oberlandes, des früheren Semgallcn. Dies ist nämlich das kunsche Vöoticn. Die Edelleute sollen dort theilweise noch ,',>wd«-<^ux^ ^ ^^. ^M you jenem Schliff 252 und jenen feinen Formen an sich haben, wodurch sich sonst der kurische Adel auszeichnet. Diese meine Behauptung gründet sich allerdings nicht auf eigene Erfahrung, da ich nicht in diesem Theile Kurlands war. Aber ich bin nur das Organ dessen, was allenthalben in den kurischen Gesellschaften über diesen Landcsstrich geurtheill wird. Die Vorbereitungen in Mitau, die zum Gnpfange des Kaisers getroffen wurden, unterschieden sich durch nichts uou ähnlichen Vorkehrungen bei gleichen Gelegenheiten an andern Orten. Es wurden Ehrenpforten gebaut, die Häuser mit Guirlanden geschmückt, über die Valcons Teppiche gebreitet: wm cainmc? c!i62 nou». Das Einzige, was in Deutschland nicht hätte geschehen könncn,,Ha man zum Glück dort die Jugend nicht schon in Uniformen steckt, war die besondere Vorsorge, mit welcher der militärische Chef, der über das Mitau'sche Gymnasium gestellt ist, das soldatische Aussehen der Schüler überwachte. Ihnen wurde eingeschärft, ja auf ihre Uniform Acht zu haben, damit sie Alle sehr sauber und „adrett" aussehen möchten. Diese eigenthümliche uud für unsern deutschen, überhaupt für den europäischen Verstand ganz unbegreifliche Maßregel, den Universitäten und Gymnasien militärische Chefs zu geben, wird vernünftiger Weise unter Kaiser Alerander II. mit der Zeit ganz abgeschasst werden. Die Mitau'schc Liedertafel stndirte sich ein von dem Oberlehrer Pf—n verbafttes Ge- 253 dicht ein, das vielen Schwung gehabt haben soll, mir aber leider nicht zu Gesichte gekommen ist. Ich Hütte es nämlich deßhalb gern gelesen, weil ich vermuthe, daß viele liberale Hoffnungen darin ausgesprochen waren. Zu dieser Voraussetzung berechtigt mich der Umstand, daß der damalige Gouverneur von Kurland, Herr von Valujew, dem es zur Einsicht hatte vorgelegt werden müssen, es Anfangs verboten hatte. Doch die Mitauer, die das Gedicht sehr schön fanden, beruhigten sich keineswegs bei der Ansicht des Gouverneurs, sondern nahmen Gelegenheit, es dem General-Adjutanten von L—n, einem durch hohe geistige Vilduug hervorragenden Mann, der ein geborener Kurläuder ist, mitzutheilen und sich seine Meinung zu erbitten. Dieser konnte auch nicht das geringste Anstößige darin ent-decken, unterbreitete es dem Kaiser und dieser befahl, daß es am Abend gesungen werden solle. Ich vermuthe nun vorzüglich deshalb, daß das Gedicht viele freisinnige Stellen gehabt haben müsse, weil der Gouverneur, der nach der mir von ihm gemachten Schilderung durchaus kein'Stockrusse sein kann, ks sonst sicher nicht verboten haben würde. Sein äußeres Auftreten ist entschieden das eines Gentle-wan, und er soll namentlich in Kunst und Wissenschaft sehr zu Hause sein. Herr von Valujew ist nämlich, wie sein Name schon anzeigt, kein Kurlän-der, soudern ein gcborncr Nüsse. Er spricht aber ^trefflich deutsch, und soll üoer unsere Literatur 254 ein competenter Richter sein. Ein kurischer Edelmann, der während des Landtages häufig die Abendgesellschaften des Gouverneurs besucht hatte, erwähnte gegen mich in sehr anerkennender Weise sein feines Benehmen und sein Orientirtscin auf den Höhen des deutschen Parnasses. „Denken Sie sich," sagte derKurlünder zu mir, „was der Gouverneur Einem oft für polizeiwidrige Fragen thut. So waren Guhkow's „Ritter vom Geiste" in Ruß' land, bald nach ihrem Erscheinen, verboten worden, was uns aber nicht im Mindesten verhindert, sie insgesammt zu lesen. Nie gesagt, die Censur hatte ihr Veto eingelegt und dieser vortreffliche Noman stand auf dem inä^x ^n-ornin ^roliidiwi-um. Nun war es aber ein Lieblingsthema des Gouverneurs, die „Ritter vom Geiste"-zu besprechen, uns unser Urthe'l über diese oder jene Figur des Romans abzufragen und dann mit uns über die verschiedene Auffassung zu dcbattiren. Ich nun, niemals die Wahrheit verhehlend, bekannte offen, daß ich die „Ritter vom Geiste" nicht blos; gelesen, sondern auch für meine Bibliothek gewonnen habe, wie ich es mit allen guten Büchern zu machen pflege." Es war mir auffallend, daß die meisten Kurländer den Namen „Mchkow" falsch aussprachen. Sie haben unter ihrem Adel keinen einzigen Namen auf „ow", von denen wir in Deutschland so sehr viele ausweisen können. Ich erinnere nur beispielsweise an die Vülow, Lühow, Massow, Passow,Quitzow. Rochow, 255 Stechow, Zastrow. Die Kurländer sprechen deshalb die Namen auf „ow" russisch aus. So ftagte man wich stetsi „Kennen Sie Gutzkoff?" Sie legten nämlich den Ton auf die letzte Sylbe, und während wir das „w" gar nicht aussprcchen, ließen sie es wie ..ff" klingen. Doch ich will seht zu dem Kaiser Alexander übergehen und nur noch bemerken, daß das innige Familienleben in Kurland, und vor Allein die Pietät der Kinder gegen dic Aeltem, auf mich einen äußerst wohlthuenden Eindruck machte. Die Kinder nämlich, auch wenn sie schon erwachsen sind. umarmen nicht die Aeltern, sondern küssen ihnen ehrfurchtsvoll die Hand. Die Aeltern küssen den Kindern dann die Stirn. Im übrigen Europa küssen die jungen Herren und Damen denen, die ihnen das Leben schenkten und die sie mit unzähligen Wohlthaten überhäuften, den Mund und die Wangen mit einer Vertraulichkeit, die, nachdem ich die schöne Ehrfurcht der kurländischen Kinder so häufig sah, für mich ttwas Frevelndes an sich zu haben scheint. Eine Schweizerin sagte mir, daß man in ihrer Hcimatli üder ein Kind lachen würde, das seinen Aeltern die Hand küßte. So schlimm ist es bei uns in Deutschland wohl nicht. Aber befremden würde es doch jedenfalls. Wie Ehrfurcht gegenüber den Aeltern für das Herz auch des ganz Ünbethciligtcn etwas schr Rührendes, alle edleren Instincte wohlthätig Wcirendes hat, fühlte ich an mir, als ich eine heran- 256 wachsende Jungfrau mit goldenem Haar und Veilchen-Augen sich auf die Hand ihres Vaters niederbeugen und sie küssen sah. Uelmgcns ist die schöne Ehrfurcht der Kinder vor den Aeltern nicht specifisch kurländisch, sondern für ganz Rußland charakteristisch. Mt wie rührenden Worten empfiehlt nicht der Czar Nicolaus in seinem Testamente dem Thronfolger, keine wichtige Handlung seines Lebens zu begehen, bevor er sich zu derselben die Einwilligung und den Segen seiner Mutter eingeholt habe. Ja. fürwahr, cs ist jedem Menschen vergönnt, bei großen, entscheidenden Schritten sich des Veirathes einer Nymphe Egeria zu erfreuen. Er braucht nur, so lange der Himmel ihm Diejenige zur Seite läßt, die, seitdem sie ihm das Leben schenkte, stets aus unerschöftftem Füllhorn Gaben der Liebe auf ihn ausschüttete; er braucht nur fromm zu den Füßen seiner Mutter zu kniccn und ihr zu beichten, was er zu thun beabsichtigt. Und wenn aus dem milden Strahle ihres klugen Auges ihm Zustimmung geleuchtet — denn jede Mutter ist mild und klug, wenn sie ihr Kind, mit einem großen Entschlüsse ringend, zu ihr emporblicken sieht —; wenn sie zu ihm gesprochen ^ „Thue, was Du vorhast, getrost; es ist nicht gegen Gottes Gebot und zum Nutzen der Menschheit," da mag er sich freudig an seine hohe Aufgabe machen. Sollte er auch nicht zu seinem Ziele gelangen und den Schwierigkeiten erliegen, so bleibt ihm doch dle 257 tröstende Gewißheit, daß die Bitten seiner Mutter, zu Engeln geworden, die den Schweiß von seiner Streiterstirn trocknen, unablässig für ihn zum Himmel emporsteigen. Starb aber Diejenige, die ihn am reinsten und uneigennützigsten geliebt, so mögen wir mit einer treuen Gattin unsere wichtigen Pläne berathen. Die Liebe, diese Tochter des Himmels, die überall, wohin ihre azmenen Sohlen treten, kost' liche Blumen hervorsftrießm läßt. durchgeistigt die ohnehin schon so feine Organisation der Frauen bis zu dem Grade, daß sie zu Prophetinnen werden. So hat der Kaiser Alexander II. außer der Stimme des Allmächtigen, die, wie ich meine, hell in der Brust Desjenigen spricht, dem er das Loos von fast siebzig Millionen seiner Kinder anvertraut hat, zur Veratherin bei den Entschlüssen, durch die er seine Unterthanen zu beglücken denkt, seine mildherzige, verstandesscharfe Gemahlin. Diese besitzt alle Vorzüge, die das germanische Weib kennzeichnen, und gereicht ihrer Nation, die so viele ihrer Fürstentöchter fremde Throne zieren sieht, zu gerechtem Stolze. Wenn ich es jetzt unternehme, Ihnen die herzgewinnende Persönlichkeit des Kaisers Alexander zu zeichnen, so fühle ich mich in der That befangen Sie wissen, daß fast Alle, welche so glücklich waren, die Königin Louise im Leben zu sehen, und später ihr Bild erblickten, bei der größten Aehnliäikeit der Züge doch die wunderbare Schönheit der Mienen vermißten, welche das Spiel der Seele über ihr n 25)8 holdes Antlitz ergoß. Diese Schönheit der Mienen ist von der Großmutter auf den Enkel übergegangen. Der Kaiser Alexander ist schön durch die wunderbare Milde, die in seinem Auge schimmert. Ich schaute lange'in dasselbe und ward durch das Hineinblicken zu folgenden Versen begeistert: „Hab' geschaut in Deine Augen, mächten Kaiser, lange, lange, Hab' das Salz umr mancher Thräne gern bemerkt auf Denier Wange. Brauchst, wic jener finstre Philipp, nicht zu lernen Thränen weinen, Bist ein Mensch im schönsten Sinne, wie gesch'n ich edler Keinen." Der Kaiser Alezander hat durchaus etwas Imposantes in seiner äußern Erscheinung. Er ist nicht ganz so groß, wic der Zar Nicolaus war, aber darum nicht minder eine schlanke, erhabene Heldengestalt. Weil ich so unendlich viel Mildes und Liebenswürdiges über den jetzigen Herrscher Rußlands von Leuten gehört habe, die in Bezug auf das innere Leben des Palastes in St, Petersburg und über die verborgenen Thaten seiner Menschenfreundlichkeit wohl unterrichtet sein konnten, so halte ich plötzlich inne bei der Porträtirung seiner Züge, fürchtend, ich könne bestochen sein, und laß Andere sprechen. Statt meiner möge eine schöne junge Dame, die Baronin Anna von B —c, rcden, die sich nach Kurland ver-hcirathet und trotz ihres häufigen Wandelns auf den Parkets der Höfe sich ein warmes Herz für die untern Klassen des Volkes und ein unbestochenes Urtheil über die Purpurgeborenen bewahrt hat- 259 Weil es mir sehr darauf ankam, ob dicst Dame, die, wennauch unt aristokratischen, doch freisinnigen Grundsätzen genährt ward, eben so wie ich getroffen worden sei von diesem Lichtmcere von Liebe und Humanität, welches die edle Gestalt des Kaisers Alexander 1l. ausstrahlt, so bat ich sie dringend, nur rein und nnbeeinfiußt von dem Urtheile Anderer, den Eindruck zu schildern, den sie von dem russischen Zaren empfangen. Sie erblickte ihn zuerst auf einem Ball im Nittnhause in Mitau, wo der Adel Kurlands den Kaiser als Gast bei sich zusehen die Ehre hatte. Seine Physiognomie war ihr von zwei wichtigen Momenten her eingeprägt geblieben, einmal, als Andacht und die Demuth des Erdensohnes vor dein Konig der Könige auf seiner Stirn thronte, und dann, als seine Züge von dem Strahl kindlicher Liebe und freudiger Mhruug verklärt wurden, nämlich als ihm durch einen Feldjäger aus Berlin die Nachricht gebracht ward, daß es seiner kranken, durch den Tod ihres Gemahls im innersten Lcbmsmarke gebrochenen Mutter viel besser gehe. Der Kaiser konnte bei deu vielen Dingen, die er während seines kurzen Verweilens in Mitauzn sehen und anzuhören hatte, nicht treu die Vorschrift befolgen, die Ludwig X VIII., der so trübe Jahre der Verbannung auf dem Schlosse der kurischcn Haupt' stadt verlebte, uuter vielen andern weisen Rath schlagen gegeben hat i „Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige!" Der Kaiser ward eine Stunde ,7» 260 auf dem Nitterhause erwartet. Zu beiden Seiten der großen Treppe war der Adel Kurlands in seiner Landstands-Uniform aufgestellt, die allerdings nicht sehr geschmackvoll ist. Die Herren vergleichen sich selbst mit einem Ministerialen, d. h, einem niedern Beamten, der zur Ausführung der Befehle eines Hauptmanns und seiner Assessoren angestellt ist. Ich erinnere daran, daß „Hauptmann" hier ein richterliches Amt bedeutet. Waren nun auch die Uniformen der Ritterschaft nicht sehr glänzend, so leuchteten doch die Vorhalle und die Treppe selbst von einem Flammenmeer, und ein Wald der schönsten Blumen verbreitete seine bezaubernden Wohlgerüche nach allen Seiten hin. Am obern Ende der Treppe empfing den Kaiser die Gräfin Medem, eine weltkluge, Dame, der die Formen der kauw volöo sehr geläufig sind. Der Kaiser schritt, nachdem er ihr einige verbindliche Worte gesagt hatte, an ihrer Seite in den Saal. Er gab der Gräsin nicht seinen Arm, was sehr erfreulich war, da es den Eindruck seiner Erscheinung sehr geschwächt haben würde. Gewöhnlich, wenn ein Herr und eine Dame sich untergefaßt haben, hindern sich Beide gegenseitig an der Entfaltung von Majestät und Grazie. Die Brust des Kaifers zeigte sich nicht mit Orden überladen; er war vorzüglich geziert mit dem Stern der Menschenliebe. Er legt wohl nur ungern jene glänzenden Kreuze an, die ihn, aber nicht leider alle Herrscher, stets an das Kreuz von Golgatha erin- 261 mrn, wo der Gottmensch für die Sünden des Weltalls geblutet hat. Das äußere Auftreten des Kaisers verschmähte jeglichen Prunk. Er fuhr in einem einfachen, mit zwei Pferden bespannten Wagen, ohne Vorreiter, mit einein einzigen Bedienten, so daß die meisten Carossen des Adels viel glänzender aussahen, als die kaiserliche Equipage. Es ist überhaupt Grundsatz und Gewohnheit der russischen Kaiser, für ihre Person allen Pomp zu verschmähen, während sie, wo die Majestät des Reiches zu repräsen-tiren ist, einen Glanz ausstrahlen, der wohl von keinem Hofe Europa's erreicht werden möchte. Daß die russischen Kaiser bloß durch ihre Person wirken wollen, finde ich, von ihrem Standpunkte betrachtet, sehr richtig. Wer von so vieler Liebe und Verehrung der Unterthanen umringt wird, bedarf keines Trosses von Lakaien und glänzender Ehrenwachen. Freilich .,Eines schickt sich nicht für All«. Sehe Jeder, wie er's treibe, Sehe Jeder, wo er bleibe, Und wer steht, daß er nicht falle." ^ Was für einen Herrscher Nußlands ohneGefahr ist, der, um mich eines Ausdrucks des großen Kurfürsten gegenüber seinen preußischen Ständen zu bedienen, seine „äuiniuution" auf einen „rock^ äs dronse" stabilirt hat, wäre bedenklich für die erste Person des von Gleichhcitsidecn durchwühlten Frankreich, Wenn Ludwig Philipp bei seinen Spazierfahrten stets von einem Gefolge umgeben war. 262 das gewiß mehr Kavalleristen enthielt, als mancher kleme deutsche Fürst Truppen besitzt, so mußte er dieß einmal thun, weil die häufigen Attentate ihm nicht gestatteten, seine Person ungeschützt dein Volke zu zeigen, und dann begriff er auch sehr gut, daß, da die Revolution dem Königthum jeden Nimbus geraubt, auf die Phantasie der Franzosen mit etwas Anderem gewirkt werden müsse, als mit seiner Physiognomie, die sie ja spottend mit einer Birne verglichen. Aus ähnlichen Gründen umgiebt sich Louis Napoleon mit solcher Pracht. Von den römischen Kaisern, die bekanntlich zum Spielball ihrer Präto-rianer geworden, war es, wenn ich nicht irre, Diocletian, der seiner Person durch morgenläudisches Gepränge viel Feierliches gab und es auch wirtlich erreichte, daß der verloren gegangene Respect vor dem Staatsoberhaupte in die Brust der, Soldaten-Horden zurückkehrte, Gin russischer Kaiser hat nun äußere Zuthaten, die ihm ein Relief geben, nicht nöthig. Semem Haupte fehlt noch nicht der ver-klgrende Nimbus und das Auge seines Volkes betrachtet ihn mit solcher aufrichtigen Verehrung, daß es selbst die sichtbarsten Unvollkommenheitcn nicht bemerken würde. Kaiser Alerander II. bedarf freilich feines nachsichtigen Anges; er hat, abgesehen von moralischen und intellectuellen Vorzügen, eine schlanke, edle, vornehme Gestalt, und sein Antlitz, ohne regelmäßig schön zu sein, verbindet mit der Majestät des Herrschers die rührende Milde des 263 Menschenfreundes, Doch ich verließ denCzaren, als er an der Seite der Gräfin Medem in den Ballsaal des kurischcn Ritterhauses trat, wo ein Kranz edler und holder Damen ihn unter Herzklopfen erwartete. Beim Eintreten des mächtigen Herrschers von siebzig Millionen beugte sich dies Beet schöner Blumen, wie wenn ein milder West über ihre Kronen dahin-gestrichen wäre. Der Kaiser sah Anfangs wohl nichts von diesen gewählten, frischen Toiletten, diesen strahlenden Brillanten, und was schöner als alles Uebrigc für ihn sein mußte, von diesen Hunderten von Augen, die mit inbrünstiger Liebe und Verehrung auf ihn gerichtet waren. Bei den Klängen der Nationalhymne, die ihm bei seinem Antritte entgegenschmctterten, zogen Wolken der Wehmuth über sein edles Antlitz. Er dachte an das Sterbebett seines verklärten Vaters, an die Tausende von Kriegern, die in dem letzten Kampfe geblutet, an seiue Gelöbnisse für das Heil des ilim anvertrauten Volkes, die er bei seiner Thronbesteigung zu den Füßen des allmächtigen Gottes niedergelegt hatte. Alle diese verschiedenen Gedanken spiegelten sich in seinem Antlitze, als er, am Onde des Saales angekommen, sich auf sein Schwert stützte, das Haupt senkte und die Wogen der Musik über sich dalnurauschen ließ. Bei diesem Anblicke, wo so viel Majestät und Milde, so viel Herrscherglanz und Christendemuth vereinigt waren, würde selbst der entschiedenste Mouarchen-feind den Empfindungen der Verehrung und Liebe 264 sein Herz geöffnet haben. Es ist eine merkwürdige Aufeinanderfolge, diese drei schönen Männer, die in unmittelbarer Succession den Thron Rußlands bestiegen- Alexander I., Molaus I., Alexander II. Bei der berühmten Zusammenkunft Napoleons I. mit Alexander I. in Erfurt sagte der Erstere zu dem Letzteren: „Sire, Sie find der schönste Mann, den ich je gesehen," und es hat Wahrscheinlichkeit, dah der mächtige Frankenkaiser, der zu stolz zur Schmeichelei war, dieß aus vollster Ueberzeugung gesprochen. Wie Alexander später die Pariser Damen bei der Occupation von 1814 durch seine Schönheit und Anmuth bezauberte, ist bekannt. Der Zar Nikolaus ist auf seinen häusigen Reisen in Deutschland, England und Italien von so vielen Augen gesehen worden, und die zahlreichen Abbildungen haben seine Züge Allen so vertraut gemacht, daß der aufgestellte Satz, er sei der schönste Mann seiner Zeit, von Allen geprüft werden konnte und fast niemals bestritten wurde. Dies möchte von dem Kaiser Alexander II-nun wohl nicht mit derselben Bestimmtheit behauptet werden können. Indeß darf man immer aussagen, dah, wenn sämmtliche Herrscher der Welt in einem Saale vereinigt waren, der Zar, ganz abgesehen von seinem Range, durch seine Persönlichkeit eine der ersten Stellen einnehmen würde. Bei dem jetzigen russischen Kaiser fällt mir das glückliche Wort ein, daß die Frau von StM zu Alexander I. gesprochen, weil es nicht minder auf ihn, als seinen 265 freisinnigen, humanen Oheim, Anwendung findet. Vei ihrer Anwesenheit in St, Petersburg, wohin die berühmte Frau vor Napoleon I. geflohen — dieser konnte sich mit den Notabilitäten des Geistes eben so wenig gut vertragen, wie Napoleon III. es heutigen Tages vermag — bei ihrem längeren Aufenthalte in St. Petersburg hatte Neckcr's edle Tochter mit dem menschenfreundlichen Zaren häusige Unterredungen über geschichtlichen Fortschritt und Völker-Wohl. Einst äußerte Alexander I., daß sie gewiß auf manche unerquickliche, ihrem philanthropischen Herzen schmerzliche Erscheinungen in Rußland gestoßen sei, daß es aber nicht in seiner Macht stehe — auch träten viele Gründe der Staatsklughcit einer so unvorbereiteten Maßregel entgegen — plötzlich, ohne Vorverhandlungen mit den in ihren Rechten dadurch Beschädigten, den vielen Millionen Leibeigenen eine Stellung als freie Vürger anzuweisen. Hätte er nichts zu befragen, als seine persönliche Neigung, so würde er gern seinem Volke eine Verfassung bewilligen. Frau von Staül antwortete dem Zaren, nicht mit der banalen Schmeichelei des Hofes, die w dem Munde einer so geistreichen Dame sehr de-placirt erschienen wäre, sondern mit dem Enthusiasmus und der Licbcsgluth, die dies edle, ganz dem Nohle seiner Unterthanen schlagende Herz ihr eingeflößt hatte- „Sire, Ihr Charakter ist eine Constitution!" Was von dem milden und aufgeklärten Zöglinge La Harpe's galt, darf mit nicht minder 266 großer Wahrheit von Alexander II. behauptet werden. Wie viel Segensreiches hat er nicht schon in semer furzen Negierungszeit gestiftet, und wie viel Herrliches nnd Beglückendes erwägt er nicht noch in seinem menschenfreundlichen Geiste! Ihnen gegenüber, verehrter Freund, vor dein die geheimsten Fibern meines Herzens offen liegen, bedarf es glücklicherweise der Versicherung nicht, daß ich nach wie vor der großen und edlen Sache des Volkes angetrauet bleibe, wenn mich mein Interesse für die Niedern und Gedrückten auch nicht verhindert, meine Symftathiem den Hohen und Mächtigen, sobald sie auf dem Pfade der Tugend und der Humanität wandeln, aufs Wärmste und Vereitwilligste auszudrücken. Es hieße fürwahr den Fürstcnhaß zur Religion des Herzens machen, wenn man, um zwei leuchtende Beispiele der Jetztzeit hervorzuheben, dem Könige Dom Pedro V. von Portugal (leider raffte den jugendlichen Herrscher der Typhus dahin) und dem Czaren Alexander !I, von Nußland seine Bewunderung versagen wollte. Der zwanzig-jährigeKünig von Portugal, dem die schönste Zukunft lachte in der langen Herrschaft über ein glücklich gelegenes Land und in der ehelichen Gemeinschaft mit einer lieblichen Gemahlin, setzte sich während mehrerer Monate täglich der Gefahr aus, von dem in Lissabon wüthenden gelben Fieber angesteckt und in dem Lenze seines Lebens dahingerafft zu werden. Während alle Vornehmen und Wohlhabenden, nahe 267 an vierzigtausend Menschen, Lissabon verlassen hatten; während die Geistlichkeit, deren schönes Amt es doch ist, bei großen Calamitäten durch religiösen Trost die Gebeugten aufzurichten, den Cardinal-Pa-triarchen von Indien an der Spitze, der unglücklichen Stadt den Rücken kehrte, weilte der junge Konig in den Spitälern, ermuthigte die von der furchtbaren Krankheit Ergriffenen durch milden Zuspruch, reichte ihnen Arzenei, trocknete den Schweiß auf der glühenden Stirn der Fieberkranken, rückte ihnen in demüthigem Wärterdicnste das Kopfkissen zurecht — kurz, vorrichtete die Samaritcrpsiicht in der umfangreichsten, edelsten Weise. In demselben Grade nun, wie ich das Ginsetzen seines hoffnungsvollen, so viele Blüthen verheißenden Lebens von Seiten des jungen Königs von Portugal bewuu-derungswürdig und rührend fand, ebenso rührend und bewunderungswürdig finde ich es, daß der Zar Alexander II., der erzogen war in dem Bewußtsein, dermaleinst der unumschränkte Herrscher von siebzig Millionen Unterthanen zu werden, dessen Ohr von Jugend auf die corrumpirendeSchaar der Höflinge umschmeichelt hatte, bei seinem Regierungsantritte allen Freuden und Genüssen entsagte, um einzig der hohen und edlen Aufgabe zu leben, über sein Volk die Segnungen der Civilisation auszugießen. Wenn ich, wie ich schon oben bemerkte, Ihnen gegenüber, der Sie die ftcisiinnigen Wallungen meines Herzens belauschten, nicht nöthig habe, bei 268 meiner nicht panegyrischen, sondern nm eben gerechten Schilderung des Zaren Alexander II., die mir dictirt wird von der gerührten Freude über das Glück, das er über siebzig Millionen meiner Mitbrüder theils schon gebracht hat, theils in Zukunft noch bringen wird, wenn ich auch Ihnen, verehrter Freund, gegenüber nicht nöthig habe, mich vor dem Vorwurfe der Servilität zu sichern, so möchten Andere, die mich weniger kennen, doch nur zu bereit sein, mit dieser unbegründetsten aller Anklagen gegen mich in's Feld zu rücken. Da decke ich mich aber, indem ich das Urtheil eines der tapfersten Söhne Altenglands über den Zaren Alexander II. anführe, das wahrlich nicht minder enthusiastisch lautet, als das meinige. Den Söhnen Albions aber, dieses an Helden und freisinnigen Männern so reichen Landes, hat noch Niemand — wenigstens war er dann reif für Bedlam oder Eharenton — Speichelleckereien und Tcrvilismus vorgeworfen. Der General Williams of Kars nun, so berühmt geworden durch seine Vertheidigung der kleinasia-tischcn Veste, von der er den Namen trägt, dieser tapfere und freisinnige Sohn Altenglands fand den passenden Ausdruck, als er bei einem Bankette, das ihm zu Ehren in London vom Army- und Navy-Club gegeben ward, ein Hoch auf den Kaiser von Rußland ausbrachte und sich dabei folgender Fassung bediente: ..Was den Souverän des Landes betrifft, ft 269 spreche ich von ihm in noch höherer Weise, Ich versichere Sie, die Güte und Achtung zu übertreffen, deren ich vom Kaiser theilhaftig geworden, wärr vollends unmöglich. Und nicht ich allein, nein, ich sagc Ihnen, alle seine Unterthanen von einem Ende des Landes zum andern erblicken in ihm den Genius des Wohlwollens selber, und darum bin ich sicher, Sie weihen dem Kaiser von Rußland ein Hoch." Ich halte hier inne, einem Andern, der mit größern Fähigkeiten ausgestattet ist, die lohnende Aufgabe überlassend, das Bild eines russischen Marc Aurel zu zeichnen. Die rühmlichste That des jetzt regierenden Czaren ist unbedingt seine Selbstbc-zwingung bei dem Pariser Friedensschlüsse. Mit der Opferfreudigfeit einer Nation von siebzig Millionen hätte er den Krieg noch lange fortführen und auf die Zerreißung eine Bündnisses speculiren können, dem viele Anzeichen keine allzu lange Dauer versprechen. Alexander II. befragte nicht die stolze Stimme des Ruhmes, die auf die Thränen von Wittwen und Waisen nicht achtet, wenn nur der ersehnte Lorbeerkranz für das Haupt gewonnen wird; er berieth sich mit seinem Gewissen, das Gott in einer so edlen Brust sicher besonders vernehmlich sprechen läßt, und dieses entschied sich für den Frieden, gefordert von der milden und doch so starken Stimme des neunzehnten Jahrhunderts. Der preis-- 270 werthen Selbstbczwingung des Kaisers Alexander II. verdankt Europa vorzüglich den Frieden. Und mochte auch der kriegerische Enthusiasmus des Heeres eine Fortsetzung des Krieges wünschen, mochten stolze, aber nicht mit klarem politischen Vlicke begabte Bojaren die Stellung Rußlands durch den Friedensschluß nicht genug gewahrt glauben, der denkende, aufgeklärte und deshalb mit seiner Abstimmungvorzüglich in die Wagschalc fallende Theil der Nation sprach i „Nulla salus bello, paccm te poscimus omnes." Und wenn ich zuvor den glücklichen Ausdruck des Generals Williams of Kars citirft, so möge es mir hier gestattet sein, an eine Stelle der eindringlichen Rede Massillon's, ,,8ui- I/llumanite de8 (Grands euvei-8 1e?euple," zu erinnern, wo er entwickelt, welch ein Eegcn gütige Herrscher für ihr Volk sind.
,x Iwininc«, trux clecet iia ieras," Er gönnt in seinen: Lande der Minerva gern den schönsten Platz, insofern sie Göttin der Weisheit ist und Licht und Kenntnisse uin sich her verbreitet. Als Göttin des Krieges, mit der Medusa auf dem Schilde, liebt er sie nicht. Wenigstens muß der Schild, wie bei der berühmten Statue der Pal' las im Parthenon, zu ihren Füßen liegen, dadurch andeutend, daß nicht herausfordernd der Krieg iu das Gebiet des Nachbarn getragen werden solle, sondern daß sie nur die ernste Hüterin des Friedens sei, aber auch bereit, mit aller Kraft Schild und Lanze zu schwingen, wenn ein ungerechter Angriff den wägenden Zeus sich auf ihre Seite neigen laßt. Die herrlichen Principien der heiligen Allianz, die leider, wie alle schönen Theorien, von dem Mehlthau der Praxis beschädigt und fast unkenntlich gemacht wurden, beschloß der Kaiser Alezander ll. nach Kräften zu rcalisiren, sich nicht verhehlend, daß eine göttliche Idee vor ihrem irdischen Abbilde ost nicht minder zusammenschrickt, wie das Pserd vor dem Kameele. „Virtu« ^^H-4 'vierte verbesserte Auflage. Herausgegeben von Elfried von Tcmra. Mit einem biogiüphOcli MMM da NiUcl In pmchlöand, mit GüldprejsmnM lui> Goldschnitt. iu/, Thlr, BcethoNli's Clalliasollllteli für Bon E. V. Mcrlcill, Zweite Auflagt. Preis 2N Ngr, in Italien, Deutschland und Frankreich von don ersten christlichen Zeiten bis auf die Gegenwart von l)i*. Fi'anx lireitdel. Dritto vcimolirtf Auflage. Preis 3 Tlilr. Heiner: eines Künstlers unter den Indianern Nordamerika's. Von Paul Acme. Mit Ä MdrnckMern mid V MjHültwl. Deutsche autorisirte Ausgabe. 5 Lieferungen, 5,10 Ngr, VnIl»rhtIIM!WP HntM aus dem Musikleben der Gegenwart. Von ' August Wilhelm Ambros. Preis IV, Thlr. Brasilien.. Erlebnisse eines deutschen Ansiedlers der Mncmy-liolonie. Hcrausgeqobm von W.Schrötcr. Mit Illustrationen. Vollständig in 5—6 Lieferungen. 5, IN Ngr.