MUZIKOLOŠKI ZBORNIK — MUSICOLOGICAL ANNUAL XIII, LJUBLJANA 1977 UDK 78.085.24 Bach ZUR HERKUNFT DER POLONAISE BWV ANHANG 130 Karl-Heinz Viertel (Leipzig) Im Kritischen Bericht des Klavierbüchleins für Anna Magdalena Bach1 beklagt der Herausgeber Georg von Dadelsen, daß sich die »Autoren der vielen anonymen Sätze.. „ nur in beschränktem Umfange ermitteln ließen«.2 Verschiedentlich konnten nun in den letzten Jahren einige Johann Sebastian Bach zugeschriebene oder bereits als zweifelhaft erkannte Werke bezüglich ihrer Herkunft identifiziert werden. Als markante Beispiele seien hier lediglich zwei angeführt: Cornelius Heinrich Dretzel ist der tatsächliche Autor von Präludium und Fuge für Cembalo BWV 897 — Isolde Ahlgrimm hat darüber im Bach-Jahrbuch 1989 ausführlich berichtet3 — und es gelang dem polnischen Musikwissenschaftler Karol Hiawiczka die Provenienzen zweier Bachscher Polonaisen aus alt-polnischen Quellen überzeugend zu erhellen.4 Einem glücklichen Zufall ist es nun zu verdanken, daß bezüglich der Polonaise Nr. 28 (G-Dur), BWV Anhang 130 aus dem Klavierbüchlein für Ana Magdalena Bach der Komponist entdeckt werden konnte. Es ist mit hoher Sicherheit Johann Adolf Hasse, der von 1733 bis 1763 in Dresden als Königlich-Polnischer und Kurfürstlich-Sächsischer Kapellmeister (seit 1750 als Oberkapellmeister) gewirkt hat.5 In der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin, Musikabteilung, wird eine Handschrift verwahrt (Signatur: BB Mus. ms. 9640), die unter der Autorschaft Johann Adolf Hasses »Sonate e Sinfonie per il Cem- 1 Johann Sebastian Bach, Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Serie V, Band 4, Deutscher Verlag für Musik, Leipzig, 1957. 2 Kritischer Bericht, p. 72. 3 Ahlgrimm L, Cornelius Heinrich Dretzel, der Autor des J. S. Bach zugeschriebenen Klavierwerks BWV 897. in: Bach-Jahrbuch 1969, p. 67—77. 4 Hlawiczka K., Die Herkunft der Polonaise-Melodie der Ouvertüre h-Moll (BWV 1067), in: Bach-Jahrbuch 1966, p. 99—101. 5 Dieser Sachverhalt stellte sich bei Vorbereitungsarbeiten für die Edition Hasseschen Cembalo-Sonaten innerhalb der Reihe »Musica alla corte sassone-polacca« heraus, einer Gemeinschafts-Edition zwischen VEB DVfM Leipzig und PWM Krakow. Mit dem Erscheinen der ersten beiden Bände ist in absehbarer Zeit zu rechnen. 36 balo« überliefert, so die Beschriftung auf dem äußeren Buchdeckel. Es ist die Handschrift eines unbekannten, resp. bis jetzt noch nicht ermittelten Kopisten, welche in einen grauen Pappeinband mit blauem Rücken gebunden ist; Format der Blätter 29,4 cm x 21,0 quer. Erhaltungszustand des Bandes: ausgezeichnet. Bei den Sinfonien, die in unserem Zusammenhang ohne Bedeutung sind, handelt es sich um Cembalo-Versionen (wir würden heute sagen: Klavierauszugfassungen) von folgenden Hasseschen Werken: 1. dem Oratorium I PELLEGRINI AL SEPOLCRO (Mennicke Nr. 8)6 2. der Oper ALCIDE AL BIVIO (Mennicke Nr. 51) (= Die Wahl des Herakles) 3. der Oper EZIO (Mennicke Nr. 45) 4. der Oper LEUCIPPO (Mennicke Nr. 77) 5. der Oper SOLIMANO (Mennicke Nr. 70) 6. dem Oratorium ST. ELENA AL CALVARIO (Mennicke Nr. 9) Diesen sechs Sinfonien (= Opern-Ouvertüren) sind vorangebunden sieben Cembalo-Sonaten Hasses, die im Innern jeweils (bis auf eine Ausnahme, die Sonate Nr. 6) mit einem gesonderten Titelblatt versehen sind, das die Formulierung enthält »Sonata per il Cembalo, del Sigr. Giov. Adolfo Haße detto il Sassone« (Sonaten 1, 3, 4, 5, 7). Bei zwei Sonaten heißt es »Sonata per Cembalo, del Sigr. Giov. Adolfo Haße detto il Saßone« (Titelblatt Nr. 2 und Überschrift Nr. 6). Fünf Sonaten dieses Berliner Bandes enthält auch eine Handschrift der Sächsischen Landesbibliothek Dresden, Signatur: Mus. 2477 — T — 3. Beide Manuskripte, das Dresdener und das Berliner, weisen einen hohen Übereinstimmungsgrad des Notentextes auf.7 Lediglich zwei der Berliner Sonaten (Nr. 1 und 2) sind nicht im Dresdener Ms. enthalten. Bei Nr. 2 — der für uns Relevanten — fällt zunächst ins Auge, daß sie hinsichtlich der Satzfolge umfangreicher ausfällt, als bei den meisten Cembalo-Sonaten Hasses üblich. Dem einleitenden Allegro-Satz in C-dur (in sich geteilt durch Wiederholungen) folgt ein Andante im 3/8 takt, dem sich ein Menuett mit Trio anschließt. Den Abschluß bilden zwei Polonaisen, der Orthographie der Zeit entsprechend als »Polonoise 1° und 2°« bezeichnet. 6 Mennicke C, Hasse und die Brüder Graun als Symphoniker, Breitkopf & Härtel, Leipzig, 1906. Darin befindet sich ein Them. Verzeichnis der Opern und Oratorien Hasses, p. 500—525, dessen entsprechende Nummern hier zur Orientierung mitgeteilt seien. : 7 Hoffmann-Erbrecht L., Deutsche und italienische Klaviermusik zur Bachzeit. Studien zur Thematik und Themenverarbeitung in der Zeit von 1720—1760. Jenaer Beiträge zur Musikforschung, herausgegeben von Heinrich Besseler, VEB Breitkopf & Härtel Musikverlag Leipzig, 1954, gibt diese in Berlin fehlende Sonate auf p. 140 (Incipit Nr. 9) irrtümlich als im Berliner Ms. befindlich an. Doch ist diese Sonate dort nicht enthalten. Dafür fehlen auf p. 141 (Incipit 13 u. 16) die Hinweise auf Quelle BB Mus. ms. 9640. Und zwar bei Nr; 13 = Nr. 1 und Nr. 16%= Nr. 2. Nähere Angaben siehe im Vorwort und Lesarten Verzeichnis der unter Anm. 5 angeführten Hasseschen Cembalo-Sonaten (Dedikations-Sonaten für Maria Josepha). v , 37 Polonaise Nr. 2 nun, obzwar bei Hasse in F-Dur stehend, ist identisch mit der im Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach befindlichen Polonaise BWV Anhang 130, Nr. 28, G-Dur. Polonois© 200 tu tr tr tr f- ir ^fHTj A j---------[ \mtjr&-4 .....m l^JUa-^