Review scientific paper Pregledni znanstveni članek DOI: 10.32022/PHI32.2023.126-127.2 UDC: 130.121:165.721 Nihilismus als operativer Begriff Dragan Prole University of Novi Sad, Faculty of Philosophy, Dr Zorana Dindica 2, 21102 Novi Sad, Serbia proledragan@uns.ff.ac.rs Nihilism as an Operative Concept Abstract At the famous colloquium in Royaumont 1957, which was dedicated to Husserl's phenomenology, Eugen Fink spoke about the difference between the thematic and the operative concepts. In contrast with the great philosophical themes, the operative concepts represent the source, from which they emerge. Operative concepts are a phainomena 32 | 126-127 | 2023 kind of thought shadows, the invisible that does not appear within the thematization. The contribution seeks to establish the concept of nihilism as an operative concept of modernity. At the same time, it emphasizes Fink's idea of ontology as an attempt, not at accepting the idea of nothing, but at its expulsion from the field of philosophical sight. Therefore, nihilism can be considered, on the one hand, as a contemporary phenomenon, but also, on the other hand, as timeless, since ontology itself seems to be, from its beginning onwards, a form of nihilism. Keywords: Eugen Fink, phenomenology, nihilism, modernity, ontology. Nihilizem kot operativni pojem Povzetek V okviru znamenitega kolokvija v Royaumontu leta 1957, ki je bil posvečen Husserlovi fenomenologiji, je Eugen Fink govoril o razliki med tematičnimi in operativnimi pojmi. V nasprotju z velikimi filozofskimi temami, operativni pojmi predstavljajo vir, iz katerega sami izhajajo. Operativni pojmi so nekakšne miselne 28 sence, tisto nevidno, kar se pri tematizaciji ne prikaže. Prispevek želi izpostaviti pojem nihilizma kot operativni pojem moderne. Obenem v ospredje postavlja Finkovo idejo ontologije kot neke vrste poskusa, pri katerem ne gre za sprejetje ideje niča, temveč za njegov izgon iz filozofskega zornega polja. Nihilizem potemtakem lahko beremo, na eni strani, kot sodoben in, na drugi strani, kot brezčasen fenomen, kajti tudi ontologija se od svojega začetka dalje izkazuje za obliko nihilizma. Ključne besede: Eugen Fink, fenomenologija, nihilizem, modernost, ontologija. Dragan Prole 1. Der Streit zwischen Konstruktion und Rekonstruktion Als Schüler von Husserl und Heidegger tritt Eugen Fink in eine neue Auseinandersetzung mit dem historischen Scheitern der Philosophie. Der phänomenologische Blick auf die Geschichte der Philosophie bringt hier eine verpasste Chance zutage, eine Vernachlässigung der ursprünglichen Intention, eine Art „Vergessen". Der Zeitunterschied zwischen den Philosophen markiert zugleich eine Art Unterschied in dem, was gewollt wird: Das, was die ersten Philosophen wollten, geht unter, den Erben steht nun etwas anderes vor Augen, so dass schließlich der Zweck als selbstverständlich hingenommen wird, anstatt verwirklicht und reflektiert zu werden. Wie im Neuen Testament sind auch bei Husserl die Gründe der Korruption zugleich Gründe des Willens. Deshalb sollte sich der moderne Philosoph zunächst fragen: „Was willst du?" -und sich mit der Geschichte der Philosophie im Sinne einer Antwort auf diese Frage auseinandersetzen. Entscheidend ist die Konsistenz dessen, was gewollt wird. Denn es ist ja nicht so, dass ich die Originalität meiner philosophischen Position auf den Entwurf eines Zieles gründe, das noch nie jemand vor mir 29 gedacht hat. Im Gegenteil, meine Philosophie wird nur dann originell sein, wenn es mir gelingt, einen Kontakt zu dem herzustellen, was die ersten Philosophen wollten. Je weniger originell mein Wille ist, desto origineller wird die Philosophie sein, und das philosophische Projekt, an dem ich arbeite, hat eine größere Chance, eine teleologische Berührung mit dem Verlauf der Philosophiegeschichte herzustellen: Es ist klar (was könnte hier sonst helfen), daß es eingehender historischer und kritischer Rückbesinnungen bedarf, um vor allen Entscheidungen für ein radikales Selbstverständnis zu sorgen: durch Rückfrage nach dem, was ursprünglich und je als Philosophie gewollt und durch alle historisch miteinander kommunizierenden Philosophen und Philosophien hindurch fortgewollt war. (Husserl 1976, 16.) Finks Beitrag zur phänomenologischen Thematisierung der Geschichte der Philosophie ließe sich durch die begriffliche Differenz von Konstruktion und Rekonstruktion umschreiben. Bei der Entstehung und Entwicklung eines phainomena 32 | 126-127 | 2023 philosophischen Gedankens sind nämlich nicht alle Fäden und Wege im Voraus bekannt. Philosophieren heißt auch Wege bereiten, dem Denken einen Durchgang dort eröffnen, wo etwas vorher unpassierbar war. Das bedeutet dann, dass die wahrhaft Anfangenden keine ganz klare Vorstellung davon haben können, was aus ihrem Denken entstehen wird und welche Zwecke damit erreicht werden sollen. Mit anderen Worten: Die Rekonstruktion einer bestimmten Denk- oder Geschichtsperiode ist falsch, wenn ihr von vornherein transparente Wünsche und klar definierte Denkkoordinaten zugeschrieben werden. Die Annahme ist klar: Für den Konstruierenden gibt es keinen klar definierten Zweck, als solcher erscheint er nur denjenigen, die den historischen Weg der Philosophie bereits rekonstruiert haben: Auch für den ursprünglichen Denker sind die Richtung, der Weg und das Ziel seiner Forschungen nicht im Voraus klar: er verlässt sozusagen das Festland, wo Wege und Ziele im Voraus bekannt sind; er gibt sich 30 der Wucht seiner philosophischen Problematik hin ... (Fink 1937, II.) Das Problem des phänomenologisch-teleologischen Ansatzes sieht Fink darin, dass die Teleologie nicht durch einen vorgegebenen Zweck entsteht, sondern durch die Geschichtlichkeit eines Problems, das erneut oder zum ersten Mal überhaupt auftritt. Im Rückblick auf einen apriorischen Zweck der Philosophie werden wir in die Irre geführt. Der Zugang a priori projiziert und fixiert, verwandelt Ungewissheit in Gewissheit und interpretiert Versuch und Experiment als detaillierten Plan. Daher ist es verkehrt, eine Überlieferung oder einen individuellen Gedanken zu interpretieren, indem man sich primär auf die „Ausgangslage", auf die ursprüngliche Sichtweise oder die Absicht dessen verlässt, der etwas von Anfang an wollte und dabei sehr genau wusste, was das war: „Reproduktives Verstehen [...] kehrt die am häufigsten teleologische Sinnrichtung bei der Entwicklung einer ursprünglichen Philosophie ins Gegenteil um: in eine motiviert-kausale Bedingung der gesamten Entwicklung durch Ausgangspositionen." (Fink 1937, III.) Fink hat jedoch die Wucht der Problematik erkannt, die das frühe ontologische Denken in seinem Bemühen antrieb, die Begriffe „Raum" und „Zeit" aus dem Begriff des Wesens zu Dragan Prole verdrängen. Was wahres Sein, wahre Wirklichkeit ist, darf nach den ersten Ontologen nichts mit Vergänglichkeit, Endlichkeit, Sterblichkeit zu tun haben. 2. Ontologie rühmt Ewigkeit und Idealität Alles, was der Korruption unterliegt, was geleugnet, eingeschränkt, zurückgehalten wird, repräsentiert eine Realität der minderwertigen Unterschicht. Von dieser Annahme geleitet favorisierte die Ontologie von Anfang an Ewigkeit und Idealität, während sie jegliche Form der Negation zum immanenten Merkmal einer niederen Realität erklärte. Die Gründe für das Scheitern der Ontologie hängen Fink zufolge nicht mit einem verfehlten Zweck zusammen, sondern mit ihrer ursprünglichen Erfüllung. Anders als bei Husserl gibt es laut Fink keine authentische Ontologie, die mit der Zeit vergessen hat, was sie ursprünglich wollte. Aus der Perspektive seiner Rekonstruktion verhält es sich vielmehr so: Wenn es keinen vorgegebenen individuellen Zweck gibt, gibt es weder ein stabiles noch ein originäres ontologisches Problem. Es gibt keinen authentischen Anfang der Ontologie, da der Anfang selbst verfehlt wird, weil er ein Missverständnis jenes Problems darstellt, mit dem sie sich befassen will. Fatale Fehler geschehen nicht nachträglich, sie ereignen sich ganz am Anfang in Bezug auf die Negation: Die Ontologie, sofern sie entspringt in der Urscheidung von Sein und Nichts, das Sein gegen alle Einbrüche des Nichts verteidigen und sichern will, - aber das Nichts selbst nicht denkend bewältigt, bleibt von Anfang an, wenngleich es in ihrem Geschichtsgang lange verhüllt ist, Nihilismus. Dieser ist kein später Gast, der einkehrt in der Abenddämmerung Europas, in der Stunde, wo der Christengott unglaubhaft wird für die Massen, [...] der Nihilismus ist bereits angelegt in der Morgenfrühe der europäischen Philosophie, in jenem Denken, das den Seinsbegriff freihalten will von Nichtigkeit. (Fink 1957, 51.) Der vorliegende Beitrag wird versuchen, den Begriff des Nihilismus skizzenhaft als einen operativen Begriff der Moderne zu etablieren. Gleichzeitig wird Finks Idee der Ontologie im Vordergrund als eine Art phainomena 32 | 126-127 | 2023 Versuch stehen, sich mit dem Nichts nicht zu befassen, sondern es aus dem philosophischen Blickfeld zu verbannen. Insofern kann der Nihilismus einerseits als zeitgenössisches, andererseits als nahezu zeitloses Phänomen gelesen werden, denn auch die Ontologie erweist sich von Anfang an als eine Form des Nihilismus. Finks Prämisse ist klar: Der ontologische Anspruch auf Totalität kommt nicht darum herum, das Nichts in sich aufzunehmen und zu integrieren. Es gibt keine Ganzheit ohne das Nichts, so Fink, wobei die Gleichung gilt: Je höher der ontologische Rang und Abstraktionsgrad, umso geschickter und wohldurchdachter wurde das Nichts „verarbeitet". In Anlehnung an Kant zeigt er, dass die bedeutsamsten ontologischen Begriffe zugleich höchst problematisch sind: [E]in lange versteckter „Nihilismus" bricht in den höchsten Denkgegenständen selber aus. Alles und Nichts: das scheint doch ein radikaler Gegensatz zu sein [...]. Gerade im schärfsten Gegenbegriffzum 32 Nichts, in der Allheit bezw. in dem herkömmlichen Allheitsbegriff deckt Kant eine Verlarvung des Nichts auf: in den schönsten Denkfrüchten der Tradition haust der Wurm. (Fink 1959, 92.) 3. Im Schatten des Denkens Auf dem berühmten Kolloquium in Royaumont 1957, das Husserls Phänomenologie gewidmet war, sprach Eugen Fink über den Unterschied zwischen thematischen und operativen Begriffen. Anders als große philosophische Themen stellen operative Begriffe die einzigartige Quelle dar, aus der diese Themen hervorgehen. Operative Begriffe sind eine Art Gedankenschatten, jenes Unsichtbare des Begriffes, das bei der Thematisierung nicht zum Vorschein kommt. Für sich genommen ist die Vorstellung eines Schattenbegriffs ein schwerer Schlag für das Selbstbewusstsein der Philosophie als einer distinguierten Haltung, deren Zweck nichts anderes ist als die Rationalisierung der menschlichen Lebenswelt. Der operative Begriffweist auf die dramatischen Grenzen der Thematisierung hin, da ihr treibender Motor weder in der Rationalität des Thematisierten noch Dragan Prole in der thematisierenden Subjektivität liegt. Finks unausgesprochene These lautet, dass sich das eigentliche „Subjekt" der philosophischen Thematisierung außerhalb ihres Rahmens verbirgt, und stellt damit das Projekt der Philosophie als Idealismus ernsthaft in Frage. Wenn wir davon ausgehen, dass der Idealismus auf zwei Annahmen beruht - erstens, das Wesen der Realität sei rationalen, begrifflichen Ursprungs und, zweitens, die Ideen haben einen schöpferischen Charakter -, konfrontiert Finks Philosophie den Idealismus mit seiner eigenen Nichtigkeit. Nach Hegels spekulativem Begriff des Nichts, welcher der logischen Entwicklung der absoluten Idee immanent ist, stellt Finks phänomenologischer Begriff des Nichts die Bedingung der Möglichkeit alles Schöpferischen dar: „Jede Art von Produktion ist schon ein Umgang mit dem Nichts [...]. Nur ein Wesen, das dem Nichts eröffnet ist, kann überhaupt produzieren." (Fink 1974, 43.) Das Nichts ist mehr als nur der Fähigkeit des Subjekts vorbehalten, sich seiner Endlichkeit bewusst zu werden, sich der Sterblichkeit und der Verneinung existenziell „zu öffnen". Es ist aber nicht nur die noetische Seite, auch die operative Präsenz der Dunkelheit der Welt weist auf die Quelle der Klarheit, Bedeutung und 33 des Verständnisses hin, die wir bezüglich einzelner Phänomene erlangen und erlangen können: „[L]e concept de totalité mondaine est affecté d'une nécessaire obscurité au sein de laquelle se manifeste toute clarté, toute lumière ; tout apparaître, d'une obscurité par conséquent qui tient enceinte en elle toute illumination." (Fink 1957a, 233.) Wenn die klärende Kraft des Denkens nicht an sich, sondern im Schatten des Denkens liegt (vgl. Fink 1959, 118), dann liegt der Anfang der Philosophie nicht mehr in der kritischen Neutralisierung unseres naiven Glaubens an das Bestehende, sondern in der Einklammerung einer naiven Hinnahme des Glaubens an die Autonomie des philosophischen Denkens. Mit anderen Worten, Husserls in den Cartesianischen Meditationen aufgestelltes Forschungsschema - ego-cogito-cogitatum - entfällt. Anstelle der doppelten Fragerichtung, wie sie aus der phänomenologischen Reduktion hervorgeht, weist Finks Gedanke des operativen Begriffs auf eine neue Dualität hin. Ich reflektiere nicht mehr den Gedankenfluss und den Gedankengang, auf den sich dieser bezieht, sondern entblöße die Motive und die formative Strategie der Thematisierung, ausgehend von der Annahme, dass sie ihr phainomena 32 | 126-127 | 2023 nicht immanent sind. Phänomenologie und Systematik der Konstitution beschränken sich nun nicht mehr auf die Genese eines Gedankens, Erlebens oder Gefühls, sondern gleichen eher einer genealogischen Praxis. Anders gesagt, sie ähneln einer Erforschung des Ursprungs der Rationalität im Irrationalen. Bei Eugen Fink entfernt sich die Phänomenologie von Husserl und nähert sich Nietzsche an. Sie tut dies durch die Aneignung des Krisengedankens, der besonders in der These vom Werteverfall, wie sie traditionelle institutionelle Hochburgen des Idealismus vertreten, sichtbar wird. Zwar gibt es bei Fink kein asketisches Ideal, keinen moralischen Betrug des „Sklavenaufstands", keine Ressentiment-Saga im Blick auf den europäischen Menschen. Was es aber gibt, könnten wir als nihilistisches Fiasko der idealistischen Anthropologie der „zweiten Natur" bezeichnen: Nichts hat mehr Wert; es gibt nichts wertvolles mehr, um dessentwillen zu leben lohnt; aber nicht so, als gäbe es nicht mehr Religion, Philosophie, Kunst und Wissenschaft - sondern ihr Wert ist verlorengegangen, selbst 34 wenn sie da sind; sie bedeuten dem menschlichen Dasein nichts mehr; die Ideale des Heiligen, des Weisen, des Künstlers, des Erkennenden sind in den Mahlstrom eines ungeheuren Lebensekels hineingerissen. Es ist eine offene Frage, inwieweit Nietzsches Vision des Nihilismus bereits Wirklichkeit ist ... (Fink 1985, 13.) Konkrete Formen einer „höheren Menschlichkeit" werden abgewertet, der Geniegedanke pathologisiert. Einen wesentlichen Unterschied sehen wir jedoch darin, dass Fink Nietzsches Überzeugung, eine ontologische Konstellation durch kulturelle Phänomene deuten zu können, nicht teilt. Er hat weder Vertrauen in die philosophische Relevanz der Tragödie noch ist er geneigt, die Ursachen der europäischen Dekadenz im Untergang des tragischen Weltbildes zu erblicken. Obwohl Finks Blick von Anfang bis Ende ontologischer Natur ist, scheint er etwas von der Begeisterung für die Verwandlung zu bewahren, die in der Figur des Dionysos erkennbar ist. Nietzsches Philosophie ist für Fink vor allem als Demonstration einer Methode attraktiv, die es erlaubt, dem Werden prinzipiell näher zu kommen. Die operative Wirkung des Nihilismus lässt sich Dragan Prole also nicht nur auf Diagnosen des zeitgenössischen Fiaskos reduzieren - die Wirkung des Negativen kann sehr wohl anregend und kreativ sein. Es scheint, als wäre nur der zeitlose Nihilismus umstritten, während der zeitbezogene sogar ein ermutigendes Antlitz aufweisen kann. Die Ontologie des Seins, in der nichts etwas ist und etwas zu nichts wird, kennt keine starren Bestimmungen, sie ist vielmehr eine Szenerie der Mehrdeutigkeit, der Übergänge und Bejahungen, die zu Negationen ihrer selbst werden: „[A]lles ist zweideutig, ambivalent, es kann Zeichen des Niedergangs, der Dekadenz sein und kann auch Zeichen eines neuen Lebens [sein]." (Fink 1960, 156-157.) Mit Fink ist die Phänomenologie nicht länger eine Philosophie des Vordergrunds; sie gleicht vielmehr einer dekonstruktiv-genealogischen Praxis, in der die Autonomie des Seins aufgehoben wird und das Werden dem Sein nicht länger entgegengesetzt ist (vgl. Dixsaut 2015, 91). Finks grundlegender ontologischer Horizont erhellt, wo er sich der philosophischen Tradition zuwendet, nicht das Vergessen der ontologischen Differenz, sondern sieht darin eine Art Versuch, Sein und Werden scharf voneinander zu trennen. Hinter einer solchen Strategie verbirgt sich wiederum die operative Wirkung 35 des Nihilismus. Der erste ontologische Schritt wird daher als ein Schritt aus der Vergänglichkeit heraus interpretiert, als eine Flucht aus der Endlichkeit, die Etablierung einer Begriffswelt jenseits der Begriffe von Zeit und Raum. Die Ontologie ist insofern nihilistisch, als in ihrem Schatten die Neigung zum Zuge kommt, die Endlichkeit überwinden zu wollen. Fink interpretiert den Begriff des ens realissimum - Gott als das Wirklichste, als Quelle aller Wirklichkeit und damit als absolut notwendiges Wesen - als Paradebeispiel für die Wirkungsweise des Nihilismus. Manchmal entpuppt sich das größte unter den philosophischen Konzepten als Idealisierung des bloßen Nichts: „Auch das ,ens realissimum' hat, sofern es gegen das Nichts abgegrenzt und verteidigt wird - sofern es operativ aus dem Horizont des Nichts bestimmt wird, schon auf eine verborgene Weise Nichts an sich." (Fink 1957, 51.) Wahrscheinlich inspiriert von Nietzsches Gedanken aus § 289 von Jenseits von Gut und Böse, wonach „ein Abgrund [liegt] hinter jedem Grunde, unter jeder Begründung. Jede Meinung ist auch ein Versteck, jedes Wort auch eine Maske" (Nietzsche 1980, 234), radikalisiert Fink die negative phänomenologische Diagnose der Philosophiegeschichte von Grund auf. Anders als Hegels Begriff beruht der phainomena 32 | 126-127 | 2023 phänomenologische Begriff der teleologischen Geschichte nicht auf der Idee der Entwicklung: Husserls überzeugende Analyse, die sich auf den tatsächlichen Stand der philosophischen Forschung konzentriert, suggeriert, dass es in dieser Geschichte eher um den inneren Zusammenbruch einer Leitidee geht als um den fruchtbaren und erfolgreichen Weg zu ihrer Erfüllung. Wie Husserl zu Beginn der .Knsis-Schrift bemerkt, gelte es, „hinter" die geschichtlichen Manifestationen zurückzufragen, da das Wahre nicht mehr das Ganze sei, sondern das Verborgene, das Latente, das Unbeobachtete: [D]er gesamte geschichtliche Prozeß [hat] eine sehr merkwürdige, erst durch eine Auslegung der verborgenen innersten Motivation in Sicht kommende Gestalt [...]: nicht die einer glatten Entwicklung, nicht die eines kontinuierlichen Wachstums bleibender geistiger Erwerbe oder einer aus den zufälligen historischen Situationen zu erklärenden Verwandlung der geistigen Gestalten, der Begriffe, der Theorien, der Systeme. (Husserl 1976, 9-10.) 36 Wenn irgendetwas in dieser Welt stabil ist, dann sind es der Misserfolg, die Fehleinschätzung, Variationen des Themas eines Missverstehens des ursprünglichen Motivs. Ein phänomenologischer Blick auf die Geschichte der Philosophie wird immer im Auge behalten müssen, dass die ursprünglichen Absichten nicht verwirklicht wurden, dass Entwicklung simuliert wurde, dass die Rhetorik des Fortschritts eher dazu diente, das Scheitern zu kaschieren. Daher haben die Phänomenologen ein besonderes Gehör für das kultiviert, was ursprünglich latent war, aber von den Erben möglicherweise überhört und übersehen wurde. Die Geschichte des objektiven Geistes ist für die Phänomenologen somit lediglich eine nicht erkennbare Ansammlung von Symptomen einer Krankheit, von der wir nicht einmal etwas zu wissen scheinen. Die phänomenologische Auseinandersetzung mit dem gescheiterten Gleichgewicht der Geschichte der Philosophie läuft im ersten Schritt auf Hegels Idee hinaus, die Triebfeder der Geschichte seien dialektische Meinungsverschiedenheiten und Unzulänglichkeiten. Der entscheidende Unterschied besteht darin, dass diese Meinungsverschiedenheiten bei Hegel und Heidegger eine affirmative Rolle Dragan Prole spielen, während die Phänomenologen Husserl und Fink die produktive Behandlung von Krisen in der Überwindung von Unzulänglichkeiten erkennen. Es gibt keinen fruchtbaren Widerspruch zwischen dem ursprünglichen Motiv und seiner Ignorierung, davon war Husserl überzeugt. Daher wird seine Leitfrage ausgesprochen einfach sein: Was hat die Wissenschaft überhaupt dem menschlichen Dasein bedeutet und was kann sie ihm bedeuten? Husserls Rückfrage will die Zeit überspringen, eine Zeitlücke überwinden, sie will Original und Zeitgenössisches verbinden. Zu diesem Zweck müssen wir uns zum urstiftenden Genius der gesamten Philosophie zurückwenden. Ein Ausweg aus den historischen Missverständnissen, die uns als Erben hinterlassen wurden, ist nur dann möglich, wenn die ursprünglichen und die modernen Genies gleichsam in einer Person zusammentreffen. Was passiv ererbt wurde, könnte womöglich reaktiviert werden; was einmal aktiv war, erneut aktiv sein. Danach gilt es, [...] bei der hier fraglichen Passivität das passiv Geweckte sozusagen zurückzuverwandeln in die entsprechende Aktivität: es ist die 37 einem jeden Menschen als sprechendem Wesen ursprünglich eigene Vermöglichkeit der Reaktivierung. Danach vollzieht sich also durch das Niederschreiben eine Verwandlung des ursprünglichen Seinsmodus des Sinngebildes, in der geometrischen Sphäre der Evidenz des zur Aussprache kommenden geometrischen Gebildes. Es sedimentiert sich sozusagen. Aber der Lesende kann es wieder evident werden lassen, die Evidenz reaktivieren. (Husserl 1976, 371-372.) Die heroische Pose der Phänomenologen entspringt dieser unerhörten Aufgabe. Andererseits gibt es Heidegger zufolge keine wirkliche ontologische Diskussion, in der die Übereinstimmung von Sein und Seiendem aufrechterhalten wird, sodass sich der Begriff des Seins als das Wesen des Seienden erweist. Die Unreduzierbarkeit einzelner Wesen auf die Idee des Seins, die Distanz zwischen ontischem und ontologischem Wissen, der mögliche Dialog zwischen Immanenz und Transzendenz, all das sind Dissensmuster, die Heidegger bewahren muss, in denen die Philosophie phainomena 32 | 126-127 | 2023 sinnvolle Ausdrucksformen findet. Die zu überwindende grundlegende Unzulänglichkeit bezieht sich bei Fink auf die Aneignung der Negation, die Einführung von Nichts, Korruption und Endlichkeit in führende ontologische Begriffe. Wenn es Dekadenz ist, was die ursprüngliche philosophische Zeit und unsere Zeit miteinander verbindet, dann sollten wir in ihr die Fähigkeit suchen, die Zeichen eines neuen Lebens zu setzen. Daher hat die Ontologie ein Zukunftsrecht als Theorie des konstitutiven Werdens (vgl. Fink 1998, 11). Fink bleibt uns eine Erklärung in der Frage schuldig, ob der operative Begriff thematisch werden kann. Vielleicht besteht das neue Leben der Ontologie gerade in der Transformation des Nihilismus vom Schatten zum Licht, von der unreflektierten Ebene, die in der Dunkelheit schafft, zum Zentrum der Erleuchtung der menschlichen Existenz. Das wäre nicht der Rationalismus, den wir bisher hatten. Wenn wir einen Schatten beleuchten, hört er nicht auf, ein Schatten zu sein. Da sowohl der zeitlose Nihilismus als auch der zeitliche in uns allen wirksam sind, ist es grundsätzlich notwendig, sich ihrer Auswirkungen bewusst zu werden. Finks „Schritt zurück" besteht in einer 38 neuen Art von Konstitutionsphänomenologie, deren zweifache Aufgabe darin besteht, uns immer wieder vor unserem träumerischen Hang zu warnen, eine ideale Welt jenseits von Raum und Zeit zu errichten. Andererseits kann Finks Perspektive etliche sachdienliche Zeugnisse dafür geben, dass das Wertvolle und Schöpferische im Menschen seiner Auseinandersetzung mit dem Dunkel und der Verneinung entstammt, die in jedem von uns zu finden sind. Bibliography | Bibliografija Dixsaut, Monique. 2015. Platon-Nietzsche. Lautre manière de philosopher. Paris: Fayard. Fink, Eugen. 1937. „Predgovor." In Zagorka Micic, Fenomenologija Edmunda Huserla. Studija iz savremene filozofije. Beograd: F. Pelikan. ---. 1957. Zur Ontologischen Frühgeschichte von Raum - Zeit - Bewegung. Dordrecht: Springer. ---. 1959. Alles und Nichts. Ein Umweg zur Philosophie. Dordrecht: Springer. Dragan Prole ---. 1959a. „Les concepts opératoires dans la phénoménologie de Husserl." 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Kirsberg | Izak Hudnik Zajec | Primož Turk | Adriano Fabris Phainomena 31 | 122-123 | November 2022 Cathrin Nielsen - Hans Rainer Sepp - Dean Komel (Hrsg. | Eds. I Dirs.) Eugen Fink Annäherungen | Approaches | Rapprochements Cathrin Nielsen | Hans Rainer Sepp | Alexander Schnell | Giovanni Jan Giubilato | Lutz Niemann | Karel Novotny | Artur R. Boelderl | Jakub Capek | Marcia Sa Cavalcante Schuback | Dominique F. Epple | Anna Luiza Coli | Annika Schlitte | Istvan Fazakas Phainomena | 31 | 120-121 | June 2022 Andrzej Wiercinski & Andrej Božič (Eds.) Hermeneutics and Literature Andrzej Wiercinski | John T. Hamilton | Holger Zaborowski | Alfred Denker | Jafe Arnold | Mateja Kurir Borovčic | Kanchana Mahadevan | Alenka Koželj | William Franke | Monika Brzostowicz-Klajn | Julio Jensen | Malgorzata Holda | Ramsey Eric Ramsey | Beata Przymuszala | Michele Olzi | Simeon Theojaya | Sazan Kryeziu | Nysret Krasniqi | Patryk Szaj | Monika Jaworska-Witkowska | Constantinos V. 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