MUZIKOLOŠKI ZBORNIK • MUSICOLOGICAL ANNUAL XXXIV UDK 384.3 Schubert:Wolf Albrecht Riethmüller HEINE, SCHUBERT UND WOLF: "ICH STAND IN DUNKELN TRÄUMEN"* Günter Eich hat eines der Stücke seiner Kurzprosasammlung Ein Tibeter in meinem Büro von 1970 mit der Überschrift "Beethoven, Wolf und Schubert" versehen. Dem verdankt sich die Formulierung unseres Titels. I. Zugänge zu einem Klavierlied nach Heine Heines Gedicht oder Lied "Ich stand in dunkeln Träumen" entstammt seinem insgesamt knapp hundert Gedichte umfassenden Zyklus Die Heimkehr won 1823/24, in dem ein hochromantisches, fragiles lyrisches Ich kein Bein auf die Erde bringt, - insbesondere was die Liebe als das Zentralthema betrifft. Zusammen mit fünf anderen Heine-Gedichten setzte Schubert es in seinem Todesjahr 1828 in Musik. Erschienen sind die sechs Klavierlieder nach Heine im Folgejahr in der vom Verleger unter dem Titel Schwanengesang zusammengefaßten Sammlung. Das 1826 erstmals veröffentlichte Gedicht war brandaktuell, als Schubert sich seiner annahm. Wolf wiederum schrieb sein entsprechendes Klavierlied im Mai 1878 als eines von sieben, die den "Liederstrauß" von 1878 bilden und auf Gedichte aus Heines Buch der Lieder, zu dem auch Die Heimkehr gehört, komponiert sind. Die ungefähr 15 inzwischen publik gewordenen Klavierlieder von Wolf nach Heine entstammen den Jahren zwischen 1876 und 1880, sind also - und es ist entscheidend, dies festzuhalten - frühe Kompositionen; nur eines folgte 1888, also erheblich später, nach: "Wo wird einst des Wandermüden" als erstes der Vier Gedichte * Hier zum ersten Mal veröffentlichter Vortrag, den der Verfasser im Mai 1996 im Rahmen des von der Internationalen Hugo-Wolf-Akademie veranstalteten Symposiums "Musikalische Lyrik: Hugo Wolf und seine Dichter an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart (Bundesrepublik Deutschland) gehalten hat. 69 MUZIKOLOŠKI ZBORNIK • MUSICOLOGICAL ANNUAL XXXIV nach Heine, Shakespeare und Byron. Wenn der Komponist seine Lieder für Klavier und Gesang hier als Gedichte bezeichnet, so kehrt er den Spieß um, der Literaten seit alters dazu brachte, ihre Gedichte Lieder zu nennen. Mit "Ich stand in dunkeln Träumen" steht Schubert am Anfang, Wolf schon eher am Ende der ersten und mächtigen "Vertonungs"-Welle von Heine-Gedichten. Dazwischen liegen Mendelssohn, vor allem jedoch Schumann und Liszt, neben anderen aber auch etwa Hans von Bülow und der auf dem Heine-Feld schon quantitativ nicht zu unterschätzende Robert Franz. Die Gründe, warum die Woge abebbte, sind verzweigt. Als Anhaltspunkte seien nur genannt: Die Aktualität Heines war wohl verblaßt, seine Popularität blieb zwar bestehen, war aber restringiert. Es dürfte typisch sein, daß unter den Musikern ebenso Liszt wie Bülow, die Heine anfänglich vertonten, sich später distanziert über ihn geäußert haben. Nicht zu unterschätzen ist dabei - unter anderem - auch, daß der Antisemitismus sich zwischenzeitlich merklich verstärkt hat. Der Dichter Heine und mit ihm das Heine-Gedicht konnten im deutschen Kaiserreich nach 1871 und in der allmählich sterbenden habsburgischen Monarchie keine wirkliche Repräsentanz mehr für sich in Anspruch nehmen. Und zumal für einen Wagner-Jünger wie Wolf (wie übrigens auch für Bülow) könnte es von einem bestimmten Punkt an eine Rolle gespielt haben, daß Richard Wagners infame Wortkampagnen gegen Heine womöglich nicht ohne jene Wirkung geblieben sind, die sie haben erzeugen sollen. Zwischen Schuberts spätem Versuch von 1828 und Wolfs frühem Versuch von 1878 liegt ein halbes Jahrhundert, das als kompositionsgeschichtliche Erfahrungsund Entwicklungszeit seine Spuren hinterlassen hat. Aber so sehr die Kompositionsgeschichte im allgemeinen und die Liedkomposition im besonderen sich zwischenzeitlich hörbar verändert hat, so wenig ist die Einheit zu übersehen, die das Klavierlied als Genre aufweist. Zwischen einem Lied von Schubert und einem von Wolf liegen aufs ganze gesehen weder kompositorisch noch geschichtlich trennende Welten. Auch im Blick auf "Ich stand in dunkeln Träumen" wäre es, so verständlich der Standpunkt sein mag, unangebracht, nur das Trennende ausfindig machen zu wollen. Bei der Betrachtung von Klavierliedern richtet der Blick sich unter Musikern - aber nicht nur bei ihnen - in der Regel von der Musik (der Vertonung1) zurück auf das Gedicht (die Verse). Selten ist es umgekehrt, daß vom Gedicht als dem zumeist Anfänglicheren her auf die Komposition geschaut wird. Seit Generationen lernt jemand ein Gedicht oft nur kennen, weil ein Klavierlied nach ihm verfaßt ist. 1 Der übliche Ausdruck "Vertonung" ist zwar durch und durch problematisch, aber schon insofern kaum verzichtbar, als im Deutschen ein Synonym fehlt, das ihn ersetzen könnte, ohne in sprachliche Umständlichkeiten zu geraten (z.B. durch das altmodisch gewordene "in Musik setzen", dem "to set to music" im Englischen entspricht). 70 MUZIKOLOŠKI ZBORNIK • MUSICOLOGICAL ANNUAL XXXIV Gewöhnlich wird durch die Komposition hindurch auf das Gedicht zurückgegangen, statt - wie der Komponist - vom Gedicht zu der Komposition zu gelangen2. Maßstab bleibt das Klavierlied, nicht die Gedichtvorlage. Das hat zur Folge, daß dem Gedicht sozusagen der Anwalt fehlt, der sich fragt, was eigentlich vom Gedicht in der Musik überhaupt noch übriggeblieben ist, weil der Eindruck unabweisbar ist, daß eineitig die Frage im Vordergrund steht, was alles die Musik am Gedicht eingefangen hat. Nun sind die meisten Gedichte zuerst einmal nicht dazu geschrieben und dazu da, von einem Komponisten bearbeitet zu werden, sondern sie sind Kunstgebilde sui generis und eigenen Rechts. Heine mag von Vertonungen seiner Gedichte geschmeichelt gewesen sein: Die Poeten wissen die Zugewinne an Popularität durch Töne zu ihren oft - freilich nicht im Falle Heines - weniger populären lyrischen Produkte zu schätzen, können aber deshalb auch neidisch werden, da es für ein Gedicht als Gedicht ein zweifelhaftes Kompliment ist, erst durch jene Töne bekannt zu werden, die es im wesentlichen tangieren und unvermeidlich ramponieren. Es ist eigenartig: Auf der einen Seite haben angehende Sängerinnen und Sänger, Liedbegleiter und Musiktheoretikerinnen, die die Lieder wiedergeben oder zum Gewinnen von Aufschlüssen über den Tonsatz in ihre musikalischen Bestandteile zerlegen, ein Anrecht darauf, daß ihnen die zugrundeliegenden Gedichte durch Erläuterung vertraut gemacht werden, um des konkreten Ganzen besser habhaft zu werden. Auf der anderen Seite sollte man den Exegeten der Musik die Gedichte vielleicht eher vorenthalten, um in den verbalen Interpretationen Wildwuchs zu vermeiden und sie davor zu bewahren, sich bei der Erklärung der Kompositionen - der Lieder als Musik - zu sehr an die Gedichte zu klammern und sich von ihnen leiten zu lassen. Wichtiger als die Interpretations-Absicht der Exegeten dürfte der Versuch einer Rekonstruktion dessen sein, wie der Komponist selbst die Vorlage (das Gedicht) analysiert hat; denn dies ist, wie etwa Luciano Berio betont hat, ausschlaggebend für das musikalische Ergebnis, - natürlich im Rahmen der der jeweiligen Zeit zur Verfügung stehenden bzw. gängigen kompositionstechnischen Mittel und (musik)historischen Rahmenbedingungen. Um eine Hypothese etwas zugespitzt zu formulieren: Vielleicht sollte bei der Besprechung von Klavierliedern zwischen Schubert und Mahler oder Richard Strauss weniger das ins Zentrum gerückt werden, was am Text des Gedichts "getroffen", "eingeholt", gar verdoppelt ist, als vielmehr die Frage, ob ein treffliches, in sich stimmiges Musikstück entstanden ist. Demgegenüber kann es möglicherweise marginal bleiben, wie nahe das Musikstück sich an das Gedicht hält. 2 Eine andere Perspektive ergibt sich, wenn ein Klavierlied (wie etwa die meisten Schlager) so zustande kommt, daß ein Gedicht der Musik (nachträglich) unterlegt wird, statt daß die Verse vertont werden, - ein Verfahren, von dem bei Komponisten wie Schubert und Wolf nicht auszugehen ist. 71 MUZIKOLOSKI ZBORNIK • MUSICOLOGICAL ANNUAL XXXIV Unter den zahlreichen Erläuterungsstrategien, die bei (traditionellen) Klavierliedern des 19. Jahrhunderts verfolgt werden können, stechen drei hervor, obwohl sie selten unvermischt begegnen. Die erste geht von der Annahme aus, daß ein solches Klavierlied etwas von den Inhalten des Gedichts abbildet oder veranschaulicht, daß die Musik etwas vom Text einfängt bzw. etwas von ihm ausdeutet. Die petitio principu läuft Gefahr, auf eine bloße Verdoppelung dieser Inhalte in der Musik hinauszulaufen. Die zweite folgt der Annahme, daß Strukturen der Sprache abgebildet werden, daß sozusagen der Sprachkörper den gemeinsamen Nenner von Text und Musik bildet; diese Annahme begegnet zwischen der Hypostasierung von 'Intonationen" bis hin zu musik-sprachlichen Übereinstimmungen (wie etwa bei Thr. G. Georgiades), wobei von vornherein nicht feststeht, ob es sich nicht bloß um Analogien handelt, und in der Regel das "Nationalsprachliche" - was immer es sei - Grund und Ziel des Unterfangens bildet. Damit steht wenn nicht das Allgemeine, so doch das Besondere im Vordergrund, während das Einzelne - gerade dieses Klavierlied von Schubert, Wolf oder wem immer - eher am Rande figuriert und leicht aus den Augen gerät. Die dritte Strategie geht von einer Abbildung der formalen Strukturen eines jeweiligen Gedichts in der Musik aus. Wenn die Form-Strukturen im konkreten Fall jedoch von untergeordneter Bedeutung sind, dann bereitet diese Strategie notwendig Verlegenheit. Bei Heine-Gedichten ist dies stets wieder der Fall, vielleicht am wenigsten in den "prosaischen" Nordsee-Gedichten, unabweisbar jedoch in einem Gedicht wie "Ich stand in dunkeln Träumen". Vertonungen Heinescher Gedichte im 19- Jahrhundert spielen sich auf einer Skala ab, die gewissermaßen von zwei Extremen begrenzt wird. Nichts zeigt dies deutlicher als die "Lorelei", wie sie einerseits von Friedrich Silcher, andererseits von Franz Liszt in Töne gekleidet worden ist, und zwar räumlich nicht weit voneinander entfernt und fast zur selben Zeit, mithin unter denselben historischen Rahmenbedingungen um 18403. Silcher schreibt eine Art schlichtes Volkslied, das dem Aufbau bzw. der Form des Gedichts penibel folgt. Er läßt - ohne Rücksicht auf den Inhalt - Heines Strophen hersingen. Liszt hingegen nimmt das Gedicht zum Anlaß für eine Gesang-Szene oder symphonische Miniatur (eine kleine "symphonische Dichtung"), er komponiert über die Verse, über die Form des Gedichts tendenziell hinweg, um das, was in ihm geschieht, einzufangen. Er wendet sich dem in den Versen enthaltenen Drama zu, das Silcher in Moritaten-Manier gänzlich dem gesungenen Vortrag der Worte überläßt. Fast mag es - zugespitzt gesagt - so scheinen, als könnte bei Liszt, ganz anders als bei Silcher, die Singstimme sogar fehlen, ohne die Aussage der Musik zu schmälern. Konsequenterweise hat Liszt 3 Vgl. ausführlich dazu vom Verf., Heines "Lorelei" in den Vertonungen von Silcher und Liszt, in: Archiv für iMusikwissenschaft XLVHI, 1991, S. 169- 198. 72 MUZIKOLOŠKI ZBORNIK » MUSICQLOGICAL ANNUAL XXXIV sein eigenes Lied gleich mehrfach zu einem "reinen" Instrumentalstück umgearbeitet. Er beansprucht durchaus, das wörtliche Geschehen von Heines Lorelei durch Töne allein zu repräsentieren. Während Suchers Melodie keinerlei Bezug zum Inhalt des Heineschen Gedichts aufweist, wohl aber Heines Gedicht als Gedicht in sich aufnimmt, läßt Liszts Klavierlied kaum mehr einen Bezug zu Heines Gedicht als sprachlichem Kunstwerk, wohl aber zu der von Heine erzählten Geschichte erkennen. Größere Gegensätze der Lektüre oder Analyse des Gedichts zum Zwecke der Schaffung eines Lieds sind in jener Zeit des Vormärz schwer vorstellbar. Es läßt sich nicht in ein paar Worten skizzieren, was ein Heine-Gedicht ist, zumal da die Formen vielfältig sind und die Exemplare überaus unterschiedlich ausgefallen sind. Angedeutet sei nur, daß in den meisten seiner Gedichte, und seien sie noch so kurz, die "Inhalte", voran Handlung und Erzählung, das Entscheidende zu sein scheinen. Ohne die Spezifik der Inhalte und Erzähltechniken läßt sich wohl kaum wirklich von einem Heine-Gedicht sprechen. Hingegen reicht ein Abzählen der Verse, Untersuchen der Metren und Zusammensuchen der Reime an Heine noch weniger heran als an andere Dichter seiner und der nachfolgenden Generation. Mit einem allein formellen Vorgehen ist bei ihm nicht allzuviel auszurichten, und auch die im 19. Jahrhundert entstandenen Lieder nach Heine versprechen nicht allein musikgeschichtlichen Aufschluß, sondern sind darüber hinaus geeignet, Einblicke zu gewähren in die Verfassung der bürgerlichen Epoche insbesondere des deutschsprachigen Raumes in dem Säkulum zwischen dem Wiener Kongreß und dem Ersten Weltkrieg. Es steht zu vermuten, daß die Dominanz von Inhalt, Handlung und Erzählung dazu beigetragen hat, daß Heines Gedichte sich trotz ihrer immensen Popularität, die freilich von Anbeginn an von Mißverständnissen begleitet gewesen sein mag, mit der Zeit etwas abgenutzt haben. Auch die schwindende Popularität könnte im Verein mit der so spürbaren Dominanz der "Inhalte" die Attraktivität von Heine-Gedichten für die erste Garde der Liedkomponisten gemindert haben. Schließlich dürfte es nicht zufällig sein, daß die bitteren, bissigen, bösen Heine-Gedichte weder zur Mitte noch zum Ende des Jahrhunderts zahlreich vertont worden sind; sie scheinen als lyrische Kabinettstücke schon auf das Kabarett vorauszuweisen, ohne sie damit verkleinern zu wollen, sofern das Kabarett offenbar unausweichlich mit "Kleinkunst" assoziiert wird. Der schöne Schein, nach dem die Bürger sich besonders in der Musik sehnten, hatte für den politischen Dichter, das Politikum Heine wenig Verwendung. Für Klavierlieder zwischen Mendelssohn, Schumann und Brahms wurden die frühen, die "romantischen" Gedichte Heines deutlich bevorzugt, - ganz unabhängig von der Frage, ob Heine nicht auch in ihnen (wie in der "Lorelei") das romantisch Gefühlvolle durchschaut und durchbrochen hat. Jedenfalls dominierten in den Kompositionen jene Gedichte, die Stimmung und 73 MUZIKOLOŠKI ZBORNIK • MUSICOLOGICAL ANNUAL XXXIV Gemütlichkeit trafen, die von Herz und Schmerz sangen. Fast scheint es so, als sei am raschesten dort bei Heine zugegriffen worden, wo wichtige Dimensionen seiner Gedichte gar nicht vorhanden sind. Der schwere Stand, den Heine dann gerade unter Künstlern und Intellektuellen im 20. Jahrhundert weithin hatte, dürfte mit diesem "Verständnis" zu tun haben. Wer Gedichte etwa von Baudelaire, Rilke oder Stefan George als Kunst-Leitsterne im Herzen trug, für den war - noch abseits von allen anderen zeittypischen Komplikationen wie dem Antisemitismus - die Gedichtkunst Heines etwas, über das zu überheben man sich leicht, vielleicht allzuleicht berechtigt glaubte. Die Strukturen, die ein Heine-Gedicht also besonders auszeichnen - vereinfacht gesagt der Inhalt, die Handlung und die Erzähltechnik -, müssen der Musik weitgehend unzugänglich bleiben, zum Beispiel Träume, Tagträume, Einbildungen und alle anderen Verwerfungen zwischen Realität und Irrealität, für deren Schilderung in ihren Graden die poetische Darstellung so geeignet ist. Aber gerade das, worauf der Reiz eines Gedichts am meisten beruht, läßt sich oft am wenigsten in Töne einfangen. Das gilt auch für die Verse "Ich stand in dunkeln Träumen" und ihr kompliziertes Geflecht aus Traum und Wirklichkeit, von dem nicht leicht anzugeben ist, in wie vielen Verschlingungen es anzutreffen ist4: Ich stand in dunkeln Träumen Und starrte ihr Bildniß an, Und das geliebte Antlitz Heimlich zu leben begann. 5 Um ihre Lippen zog sich Ein Lächeln wunderbar, Und wie von Wehmuthsthränen Erglänzte ihr Augenpaar. Auch meine Thränen flössen 10 Mir von den Wangen herab - Und ach, ich kann es nicht glauben, Daß ich dich verloren hab'! Strophenbau, Versbau, Metrik und Rhythmik sind so gewöhnlich und wenig aufschlußreich, daß man dem, was ein Heine-Gedicht ausmacht, in diesen Dimensionen kaum begegnet. Das Zentrum des Gedichts bildet die Beziehung des 4 Die Wiedergabe des Gedichts folgt Bd. 1,1 der von M. Windfuhr bei Hoffmann und Campe herausgegebenen Historisch-kritischen Geamtausgabe der Werke Heines (gleichlautend in den beiden dort S. 232/234 und 233/235 abgedruckten Versionen). 74 MUZIKOLOŠKI ZBORNIK • MUSICOLOGICAL ANNUAL XXXIV Ich zu einem imaginierten Du. (Nur bei Schubert ist dem titellosen Gedicht eine durchaus sinnvolle Überschrift gegeben: "Ihr Bild".) Das Arrangement hierfür ist kunstvoll: "Ich" steht gebieterisch am Anfang, kehrt aber erst in der dritten Strophe wieder (Z. 9: "meine"; Z. 10: "mir"; Z. 11 und 12 "ich"), während inzwischen - indirekt - von "ihr" und "ihre" die Rede ist (Z. 2, 5 und 8), ehe die Schlußzeile sowohl die direkte Anrede als auch die gewünschte, zugleich aber als (eingebildeter) Verlust begriffene Vereinigung in der Pointe "ich dich" vorführt. Nicht weniger ausschlaggebend ist die Folge der Verben, die einerseits verschiedene Bewegungsarten anzeigen und die andererseits in unterschiedlichen Tempora verwendet sind. Bis Zeile 9 lassen sechs Verben einen Prozeß erkennen, in dem sich Stillstand über Starre in Bewegung auflöst, mehr und mehr liquidiert wird: "stehen", "starren", "zu leben beginnen", "sich ziehen", "erglänzen", "fließen". Bis hierher ist das Präteritum die einzige Zeitform. Zu Beginn des letzten Zweizeilers -durchgängig bilden Zweizeiler die inhaltlichen Einheiten - springt Heine, wie er es liebt, in gewisser Weise aus dem Gedicht heraus mit einem Verbum ganz anderer Qualität und im Präsens ("ich kann es nicht glauben"), ehe alles definitiv der Vergangenheit überantwortet wird (nun im Perfekt: "ich dich verloren hab'"). Eigentlich alles das, was dieses Gedicht als Gedicht preziös macht, muß bei der Umsetzung in Musik (jenseits des Vortrags der Worte, sofern er verständlich bleibt) unter den Tisch fallen, voran das Ich-Du-Verhältnis und die Zeitformen; am ehesten lassen sich prinzipiell die Bewegungsformen kompositorisch einfangen. Der Komponist muß die Klippe umschiffen, die sich dadurch auftut, daß er das Zentrum des Gedichts nicht erreichen kann und dennoch sein Klavierlied schreiben muß. n. Schubert und Wolf im Vergleich Die folgenden Bemerkungen zum Vergleich der Lieder von Schubert und Wolf nach Heines "Ich stand in dunkeln Träumen" sollen, ohne die Lieder bewerten und gegeneinander aufrechnen zu wollen - nur auf einige Ähnlichkeiten und Unterschiede des Umgangs mit der Vorlage hinweisen und dem jeweiligen Grundzug der beiden Lied-Kompositionen folgen. Eine vollständige Analyse der Lieder ist weder beabsichtigt noch in Kürze möglich. Es scheint so, daß Schubert in seinem Vorspiel stockend, schleppend anfängt und damit von der Statik ausgeht, von der am Gedichtbeginn die Rede ist, während Wolf gleich mit der Bewegung einsetzt, in die das Gedicht erst allmählich übergeht, - zwei Lesarten, von denen jede etwas für sich hat (Beispiel l5). 5 Wir folgen im Falle von Schubert der 1976 von D. Fischer-Dieskau und E. Budde bei Litolff/Peters in Frankfurt a.M. besorgten Ausgabe des Schwanengesangs (Edition Peters 8302a, S. 36f.), im Falle von Wolf dem 1980 im Musikwissenschaftlichen Verlag Wien von H. Jancik vorgelegten Bd. VII, 1 (S. 7ff.) der Sämtlichen Werke. 75 MUZIKOLOŠKI ZBORNIK • MUSICOLOGICAL ANNUAL XXXIV Die zwei Töne, aus denen Schuberts Vorspiel besteht6, sind kaum mehr als eine Intonationshilfe für den Sänger und doch in aller Unscheinbarkeit eine, wenn nicht die kompositorische Zelle für das gesamte Lied. Beim Einsatz der Singstimme verwendet Schubert sie sogleich wieder. Wolf verfährt ebenso mit dem ersten Motiv -den ersten fünf Tönen - seines opulenteren Vorspiels, dessen chromatische Folge charakteristisch ist; die Verwendung chromatischer Vorhalte erweist sich im gesamten Lied als Manier, wobei es schwierig ist zu entscheiden, inwieweit diese Manier für den damaligen Wolfschen Tonsatz typisch oder für dieses Lied speziell charakteristisch ist. Nur ein Schelm wird an der Tonfolge die retrograde Form des 6 Vgl. zuletzt (unter Rückverweis auf H. Schenker und J. Kerman) R. Kramer, Distant Cycles. Schüben and the Conceiving of Song, Chicago und London 1994, S. 132f. 76 MUZIKOLOŠKI ZBORNIK • MUSICOLOGICAL ANNUAL XXXIV so bekannten (angeblich "sprechenden", in Wirklichkeit abstrakt symbolisierenden) b-a-c-h-Motivs herauslesen und einer Analyse des Liedes zugrundelegen wollen, obwohl der fünfte Ton - der Ton es in der Mitte - weit weniger stört, als es den Anschein haben mag: Erstens ist es ohne methodische Skrupel in den musikanalytischen Zuordnungsspielen höchst gewöhnlich, daß die gesuchten Töne nicht in ununterbrochener Reihenfolge erscheinen, zweitens kann gerade der in der Mitte liegende Ton es denen, die das symbolische Geschäft der Zuweisung von Buchstaben und Tonbezeichnungen lieben, willkommen sein, weil sich mit dem Ton es die Initiale S (für Sebastian) verbinden läßt, - ebenfalls eine allzu geläufige Zuordnung. Unabhängig von einem solchen wagemutig-waghalsigen Symbolismus liegt es näher zu fragen, wozu Wolf mit einer Art zweistimmigem Fugato beginnt, das an eine Invention gemahnt. Ist man nicht versucht, in den beiden Stimmen zwei Personen - das Ich und das Du des Gedichts - zu erkennen? Aber entstünde dadurch nicht ein anderes willkürliches Metaphernspiel oder Symbolisieren, das nicht schon deshalb Plausibilität besäße, weil derlei Zuweisungen und Zuordnungen im musico-semantischen Alltag üblich sind und nicht selten zum Ausgangspunkt für Aussagen über Vokalmusik im allgemeinen und über Klavierlieder im besonderen werden? Die beiden Lieder von Schubert (b-Moll) und Wolf (As-Dur) sind ungefähr gleich lang, obwohl sie bei fast derselben Takt- und Tempovorschrift (Schubert: alia breve, "langsam"; Wolf: alia breve, "innig, ziemlich langsam") beträchtlich verschiedene Ausdehnung besitzen: 36 Takte bei Schubert und 62 bei Wolf. Wolfs Lied ist deutlich rascher zu singen. Es ist nicht einfach zu entscheiden, ob der Hinweis "innig" zu Beginn des Wolfschen Liedes einen Hinweis zur Deutung liefern soll oder liefert. Zu dem, was sich in dem Gedicht dramatisch zuspitzt, paßt er nicht. So gesehen liegt es nahe, "innig" als eine bloße Anweisung zum Vortrag anzusehen, und zwar als eine, die nicht einmal für das Wolfsche Lied selbst zur Gänze gelten kann; die Steigerung und der Höhepunkt gegen Ende des Liedes lassen sich sängerisch nicht "innig" darstellen. Wolf folgt dem Wechsel des Gedichts von anfänglicher Versunkenheit zu Resignation, die er sich, wie es scheint, nicht so sehr als still, sondern als theatralisch ausgreifend vorstellt. So wenig die Vortragsanweisung "innig" hier zu denotieren vermag, so üppig mögen im Umfeld von Stichworten wie "Romantik", "deutsches Lied" usw. die Konnotationen blühen. Die Disposition der drei Heine-Strophen in den beiden Liedern weist Ähnlichkeiten auf, am Ende jedoch auch gravierende Unterschiede. Die Symbolzeichen des Diagramms (Beispiel 2) sollen nur eine grobe Veranschaulichung des Aufbaus geben und sind gewählt, weil bei Halbkreisen und Dreiecken wohl niemand daran denkt, daß etwas an der Musik getroffen wird, wie es bei den üblichen, nicht weniger arbiträren Buchstabenzeichen (A, B, C; a, b, c usw.) als Repräsentanten 77 MUZIKOLOŠKI ZBORNIK • MUSICOLOGICAL ANNUAL XXXIV von musikalischen Formteilen so oft prätendiert wird, ohne daß es auch dort der Fall sein müßte (Beispiel 2). v>CH«6<2*C s a a Beispiel 2 Schubert vertont die erste und dritte Strophe Heines gleich, die zweite etwas anders. Die Halbierungen der Zeichen in dem Diagramm sollen andeuten, daß die für das Gedicht konstitutive Einheit des Verspaares, von denen jede Strophe zwei aufweist, gewahrt bleibt. Zwar beinnt auch Wolf die dritte Strophe reprisenartig, aber anders als Schubert weicht er dann davon ab. Während Schubert im gesamten Lied, auffällig genug, auf die Beigabe jeder Textwiederholung verzichtet, läßt Wolf in der Höhepunktbildung seines - anders als bei Schubert: final ausgerichteten - Liedes das letzte Verspaar zweimal vortragen7. Darauf wird noch zurückgekommen werden. 7 Sowohl Schubert als auch Wolf folgen streng dem Heineschen Wortlaut: Abweichungen sind so minimal, daß sie unberücksichtigt bleiben können, z.B. bei Schubert - wohl um die rhythmische Idee der doppelten Punktierung verwirklichen zu können - "starrt"' statt "starrte" in Z. 2 und bei Wolf "ich kann's" statt "ich kann es" in Z. 11. 78 MUZIKOLOŠKI ZBORNIK • MUSICOLOGICAL ANNUAL XXXIV Wenden wir uns zunächst dem Einsatz der Singstimme bei beiden Komponisten zu (Beispiel 3). Langsam fal i t f i r1 P r.f Mi' r^ Scltukwt Ich stand In dun - kein Trau - men und ^ j. *' äp ¦V%« J- * w ^^ J... J i J j." J* J J E?" IM i^ j.. jij,.i.iii=^ ** . st*.vi>t» Ihr RUd-nta ftn ^^ starrt* ihr Blld-ni» an. ® 6 /«*s