Mario Ruggenini WAHRHEiT, iDENTiTÄT, DiFFERENZ i. Die Wahrheit Europas und des Abendlandes - die Wahrheit, wie sie die grie- 203 chisch-christlich-moderne metaphysische Geschichte der Welt gedacht hat - ist die Wahrheit des Identischen : eine einzige Wahrheit für alle, ohne die es nichts als Zersplitterung und unlösbare Konflikte gäbe. Noch am Höhepunkt der Moderne wird Kant darüber klagen, dass sich die Metaphysik im Unterschied zur Wissenschaft immer noch als Schauplatz unendlicher Kämpfe darstellt. Noch für ihn, der das substanzialistische Paradigma, das die vorausgehenden Epochen prägte, in den Fundamenten erschüttert, steht die Wahrheit unter der Identität und nicht umgekehrt die Identität unter der Wahrheit. Dies bedeutet, dass die von der metaphysischen Tradition vorausgesetzte Verwandlung des Wahren in Identität noch nicht zum Problem werden kann, sondern vielmehr außer Diskussion steht, und zwar auch für die kopernikanischen Revolution, dass die Wahrheit entweder für alle identisch ist oder überhaupt nicht ist. Durch die Transzenden-talisierung der Subjektivität wird die Identität der Vernunft vor der Gefahr der empirischen und damit unkontrollierbaren Vervielfältigung bewahrt. Die Wahrheit Kants beansprucht also noch, das Identische der universellen Vernunft zu sein, und das zu einem Zeitpunkt, wo das Zur-Sprache-Kommen der Erfahrung des Wahren gemäß den drei Kritiken die Identität der Vernunft als reiner Vernunft brüchig werden lässt. 204 In der Zwischenzeit hat allerdings die europäische Geschichte hinreichend erfahren, zu welchen Ausmaßen an Gewalt und Trennung der Geltungsanspruch der Wahrheit als absoluter Wahrheit führt, einer Wahrheit, zu der sich alle Menschen als christliche, allein Heil und Erlösung bringende Wahrheit zu bekennen hätten. Ich werde überblickshaft einige wesentliche Momente nachzeichnen, über die sich das metaphysische Schicksal des Identischen erfüllt, das mit den kantischen Gedanken, und d. h. mit der Erfahrung der unhintergehbaren Endlichkeit der Vernunft, unwiderruflich in die Phase der Krise mündet. Kant selbst widersteht dieser Krise noch, indem gerade er den Weg zur Metaphysik der Versöhnung öffnet, d.h. den Weg zu den Wiederherstellungsversuchen des klassischen deutschen Idealismus. Nach dem Scheitern dieser letzten Unternehmungen kommt der Phänomenologie die extreme Aufgabe zu, an die Universalität des Geistes zu appellieren, was jedoch nur mit Mühe die äußerste Anstrengung der europäischen Menschheit verbirgt, sich als Bewahrerin eines universellen Sinns von Vernunft zu präsentieren, trotz der unwiderruflichen, unumkehrbaren Krise, in der sich Europa bereits befindet, und trotz der tragischen Schatten, die die auf ihm liegen. a) Die griechische Metaphysik fasst die Wahrheit als Wahrheit des Identischen, außerhalb derer sich der Bereich des Geschwätzes, der Verbreitung von Meinungen, deren unlösbaren Widerstreits, d. h. in den Worten der antiken Problematik, der Bereich der Sophistik und des Skeptizismus, in moderner Begrifflichkeit der Bereich des Relativismus und Nihilismus auftut. Das antike substanzialisti-sche Paradigma der Wahrheit setzt das Sein als dauerhafte Anwesenheit und Präsenz an und dementsprechend Wahrheit als das Anwesendbleiben des Anwesenden. Dieses Verständnis wird in der christlich-theologischen Auffassung von Sein als vollkommene Anwesenheit an und für sich selbst noch radikalisiert, in dessen Augen alles in vollkommener Transparenz offen liegt. In der vollkommenen Selbstidentität dieses Seins versammelt sich die unendliche Vielfalt der Bestimmungen und alles wird eins. Das Sein ist in diesem Sinne Wahrheit, weil es Einheit ist, und es ist Einheit, weil es Wahrheit ist. Ens, unum, et verum convertuntur. Die griechische Theologie mit ihrem offensichtlichen Polytheismus und ihrem naturalistischen Fundament (Aristoteles: die Natur ist göttliche Vernunft) kann diese mächtige, für die christliche Theologie charakteristische Vereinigung des Wirklichen und des Wahren noch nicht hervorbringen.1 Nicht einmal der erste 1 „ho theos kai hephysis ouden mdtenpoiusin", De Caelo,I,4,27i a 33 (Aristotle, De Caelo, edited by D.J. Allan, Clarendon Press, Oxford 2005); Protrepticus, B 50 (Der Protreptikos des Aristoteles, Einl., Text, Übers. u. Komm. von Ingemar Düring, Klostermann, Frankfurt/M, 1969). In Phys., 11,198 a 10-13 (Aristotelis Physika, recognovit brevique adnotatione critica instruxit W. D. Ross, Clarendon, Oxford 1950) behauptet Aristoteles, dass nous und physis die Ursachen der Weltphänomene sind und nicht der Zufall. In seiner Monographie über Aristoteles. Darstellung und Interpretation seines Denkens, Winter Verlag, Heidelberg 1966, schreibt Beweger bei Aristoteles kann als Denken des Denkens die grundlegende Allergie überwinden, die ihn von der Welt der Bewegung trennt; diese bleibt nämlich dem sich selbst denkenden Gott äußerlich. Diese für das griechische metaphysische Denken konstitutive Schwierigkeit, den Bezug zwischen dem Sein, das die Bewegung übersteigt, und den vielfältigen, dem Entstehen und Vergehen unterworfenen Wirklichkeiten zu fassen, findet ihren extremsten Ausdruck im Denken des Einen bei Plotin. Hier findet sich nämlich sowohl die endgültige Anerkennung der irreduziblen Dualität, die das Sinnliche dem Intelligiblen gegenüberstellt, als auch die Bejahung der grundlegenden Einheit des Ganzen in seinem transzendenten Ursprung (Urgrund, Prinzip), den die christliche Theologie begierig zu erlangen sucht, um das höchste Seiende in seiner Absolutheit zu denken. Auf der einen Seite also das Seiende in Bewegung, d. h. das Sein als ghenesis, nicht als ousia; auf der anderen das Sein, das immer ist, to de on aei, unsichtbar, unveränderlich, immer sich selbst gleich, unentstanden und unzerstörbar.2 Plotin prägt so die Idee des Einen, numerisch Identischen, das überall ist und zugleich ein Ganzes ist: „to hen kai tauton arith-moi pantachou hama holon einai „. Er bezieht diese Idee auf das, was die Menschen vom Sein Gottes denken sollen, „der in uns allen ist", der aber durch seine Allgegenwart nicht vervielfältigt werden kann.3 Die Selbstidentität des Einen ist von der unveränderlichen Transzendenz seines Seins in dem Moment ausgedrückt, in dem es sich als Ursprung der Vielheit setzt und damit ein Bedürfnis nach Einheit radikalisiert, das die große Metaphysik vor ihm nicht zu stillen wusste bzw. in dieser Dringlichkeit nicht wahrgenommen hatte. Dennoch greift Plotin gerade auf ein platonisches Motiv zurück, nämlich auf das „epekeina tes ousias" der Politeia, VI, 508-509, um die Einheit des Einen mit sich selbst als „das stärkste Prinzip von allen" zu denken: „panton bebaiotate arche". Dieses Motiv treibt das Denken über die Dimension des Seins als Substanz hinaus zur radikalen Differenz des Einen gegenüber der Gesamtheit des Seienden; nichtsdestotrotz wird das Eine in seiner Eigenschaft als erstes und letztes Prinzip gerade durch das Streben aller Dinge, die Einheit des eigenen Seins zu verwirklichen und zu bewahren, offenbar: „Der Wunsch nach dem Guten [...] führt wirklich zum Einen: jede Natur strebt nach dem Einen, d. h. zu sich selbst. Darin nämlich besteht das Gute für eine Natur: sich selbst zu gehören und sie selbst zu 205 Ingemar Düring, dass der Philosoph die göttliche und vernünftige Ordnung in den Naturprozessen sieht und bemerkt, dass diese Überzeugung über Platon hinaus auf Vorstellungen des antiken Griechentums zurückgeht. 2 Plotin, Enneaden (Platins Schriften. Grie.-dt., übers. v. R. Harder, 7 Bde., Meiner, Hamburg 2004), VI, 5, 2, 10-15. 3 Plotin, V, 5, i,ie 5, 4, 1-13. 206 sein; und das bedeutet: eins zu sein." Wenn für jedes Seiende demnach das Gute im eigenen Sein besteht, ergeben alle Dinge in diesem Streben nach der Einheit des Seins eins: hen árapánta ta ónta.4 Das Eine, das sich nicht vervielfältigt, steht somit am Anfang und am Ende der Vielheit der Seienden. Daher kann es auch kein Seiendes sein, und daher steht auch die Erinnerung an die rätselhafte Stelle bei Platon im Mittelpunkt des Denkens von Plotin, der sich jedoch mehr in Richtung einer notwendigen Integration bewegt als in Richtung einer Infragestellung des griechischen Substanzialismus mit seinem grundlegend Ungedachten. Dennoch aber führt die irreduzible Differenz des Einen - die man in mehr als einer Hinsicht im herakliteischen Verständnis des lógos und der Wahrheit als sophón, d. h. im Denken des hen pánta einai, vorweggenommen sehen kann - in das abendländische Denken eine Möglichkeit ein, jenseits des Seins des Seienden zu denken, die von Plotin selbst auf sehr doppeldeutige Weise wahrgenommen wird, oder vielmehr ganz fallen gelassen wird, und die in ihrer radikalen Tragweite auch für die christlichen Theologen undenkbar bleibt.5 Diese sehen vielmehr in der Differenz des Einen, oder besser in seiner gleichsam absoluten Abgeschiedenheit, eine äußerste, von der griechischen Metaphysik eröffnete, aber über sie hinausgehende, ja gegen sie und auch Plotin gerichtete Denkmöglichkeit, die Abstammung aller Wirklichkeit von einem einzigen, höchsten, in sich subsistierenden Prinzip im Sinne eines radikalen Schöpfungsgedanken zu fassen.6 Der christliche Schöpfungsgedanke bricht - mit der simplifizierenden Gewalt eines irreversiblen Bruchs - in das Lebendige dessen ein, was er als Unsicherheiten der griechischen Metaphysik in Bezug auf das Verhältnis zwischen Gott und Welt, und vor allem zwischen dem Gott und dem Göttlichen wahrnimmt. Getrennt von der Welt in einer Weise, wie kein griechischer chorismós es je zu denken imstande war, unterhält der Schöpfergott ohne Störungen den Bezug zu den Geschöpfen, die er aus dem Nichts geschaffen hat, immunisiert (und unangreifbar gemacht) durch die unendliche ontische Differenz zwischen dem, was abso- 4 Ibid., VI, 5, i, 8-26. 5 Heraklit, Fragmente (hrsg. von Bruno Snell, Heimeran, München 1989), 10, 32, 41, 50 DK Porphyrius sagt vom Einen, dass es „Nicht-Sein jenseits des Seins" ist, in dem Sinne, dass es kein endliches Seiendes ist. Später wird es Skotus Eriugena als „Nichts" bezeichnen. 6 Andere namhafte Experten vertreten hingegen die Auffassung, dass das Eine Plotins bereits Schöpfer ist. Plotinus, The road to reality, Cambridge University Press, Cambridge i967(Neudruck 1980). Dass das Eine „jenseits des Seins" ist, heißt nach Rist nämlich, dass es unendlich ist und insofern der Urgrund für alles endliche Sein. Die Unendlichkeit des Einen markiert in den Augen Rists die „enorme Differenz zwischen Plotin und Platon" (pp. 26-27). Ungeklärt bleibt dabei allerdings der entscheidende Punkt, ob nämlich die Stellung des Einen als universeller Urgrund bei Plotin auch den Gedanken der Schöpfung des Seienden aus dem Nichts einschließt. lut in sich und für sich ist, und dem, was absolut von anderem und für anderes ist, weil es an sich nichts ist.7 Diese typisch substanzialistische Differenz zwischen dem positiven Absoluten und dem negativen Absoluten wird vom Bedürfnis der Theologie und der Offenbarungsmystik, Gott als das ganz Andere gegenüber den von ihm im Sein abhängigen Wirklichkeiten zu denken, nicht angegriffen. Das Motiv der namenlosen Transzendenz des Einen, das im Mittelpunkt der metaphysisch-religiösen Erfahrung Plotins steht, wird vielmehr vom Substanzia-lismus der christlichen Metaphysik aufgenommen, d. h. von der Gründung der totalen Positivität des Wirklichen in seinem ersten Prinzip; auf diese Weise wird die beunruhigende Aporetik unter Kontrolle gehalten, die von dem dichten Netz an Negationen entfesselt wurde, mit dem Plotin die Alterität der arche zu schützen sucht. Man muss allerdings sehen, dass diese Alterität durch das Seiende unwiderruflich kompromittiert ist aufgrund des metaphysischen Bedürfnisses, aus ihr das Prinzip der unendlichen Abstammung von allem Wirklichen zu machen. Das Eine nimmt so die erste Ursache der christlichen Theologie vorweg, jedoch noch ohne die Macht der Hervorbringung des Seienden aus dem Nichts zu verwirklichen. b) Die moderne Konzeption des Verhältnisses von Identität und Wahrheit zersetzt das substanzialistische Paradigma und löst es schließlich auf, behält aber die Identität als Instanz auf der Ebene des Seins des Subjekts als Selbstgewissheit bei, als Prinzip und Fundament der Welterkenntnis, die als Bildung und Vorbereitung des Wirklichen für das Tätigwerden der wissenschaftlichen Vernunft verstanden wird. Die Tatsache, dass sich diese Gewissheit im Selbstverständnis des absoluten Subjekts als Weltgeist vollzieht, oder im Unendlichen der Teleo-logie des Sinns im Geschichtsverständnis des späten Husserl, verwandelt zwar den Grundgedanken der Wahrheit als Wahrheit des Identischen, in dem sich alle Vielfalt auflöst und seine Rechtfertigung erhält, behält ihn aber prinzipiell bei. Die Identität einer grundlegenden Selbsttransparenz rechtfertigt jede Dunkelheit und jede Grenze, indem sie deren ungewisses Schicksal offenbart. Die Krise Europas als Krise der Philosophie, „die Krise der europäischen Menschheit", von der Husserl in Wien im Mai 1935 spricht, ist die Krise der abendländischen Auffassung von Vernunft, deren voluntaristischen Grundzug er mit dramatischer Deutlichkeit zum Ausdruck bringt. Dieser Grundzug kommt nämlich versteckt zum Vorschein als letzte Substanz einer Rationalität, die in Wahrheit 207 7 Thomas von Aquin drückt sich diesbezüglich in De aeternitate mundi, contra murmurantes (Sancti Tho-mae de Aquino. Opera omnia iussu Leonis XIIIP. M. edita, t. 4, Editori di San Tommaso, Rom 1976, S. 4989) in aller Klarheit aus: „Das Geschöpf hat kein Sein, wenn nicht von anderem, sich selbst überlassen und für sich genommen ist es nichts: daher liegt in ihm seiner Natur nach zuerst das Nichts und nicht das Sein [...] seine Natur ist so, dass sie nichts wäre, würde sie sich selbst überlassen." 208 an ihrer Aufgabe gescheitert ist. Der Wandel, den Husserl beschwört, fordert das Subjekt auf, endlich und voll umfänglich Subjekt zu sein. Auf diese Weise behauptet sich die Vernunft als solche, die er sich als Bewegung ständiger Selbstklärung vorstellt, nur aufgrund eines Willens zur Rationalität, dem nichts anderes übrig bleibt, als auf eine unendliche Teleologie der Vernunft zu rekurrieren. Vernünftig sein bedeutet nach Husserl zuerst und vor allem, es wollen, insofern es vernünftig sein sollen ist: „vernünftigsein im Vernünftigsein wollen". Das ist das wesentliche Schicksal des Menschen: „Menschsein ist ein Teleologischsein und Sein-sollen", und die Verantwortung, die der Philosophie daraus erwächst, ist die, im europäischen Bewusstsein die teleologische Bestimmung zur Vernunft wieder zu erwecken, die Europa dank der Phänomenologie zu verstehen in der Lage ist und zu deren Förderer sie sich machen muss: „Die Philosophie ist Rationalität [...] im Erringenwollen der wahren und vollen Rationalität."8 Das Ideal, das die Vernunft im Sinne einer unendlichen Anstrengung antreibt, ist das einer Wahrheit, auf die die Bewegung der Selbstbehauptung der Subjektivität als Bestimmung der planetarischen Menschheit unaufhaltsam zuläuft. Der Sinn der Geschichte ereignet sich so durch die Inanspruchnahme der Würde als Subjekt seitens des Menschen, das deren vernünftiges Wesen erfüllt. Aber die Wahrheit des Subjekts ist bei Husserl die Bejahung der modernen europäischen Idee der Rationalität, in der sich jeder Versuch, die historische Aufgabe der Menschheit zu verstehen, wiedererkennen müsse. Aus diesen Hinweisen wird ersichtlich, dass der Grundzug, den die Philosophie durch ihre Geschichte hindurch beibehält, der eines Denkens ist, das im Identischen das notwendige Maß der eigenen Wahrheit sucht, sowohl auf der Ebene der Ontologie als auch der Theologie und zuletzt der Teleologie. Ebenen, die sich stets als ineinander verwoben zeigen, oder als solche, die sich wechselseitig aufeinander beziehen, und nicht so sehr als klare Gliederung von Instanzen des Denkens, die sich nicht aufeinander reduzieren lassen. Kant, der eine wesentliche Vervielfältigung der Ebenen des Urteils vorschlägt, weicht selbst, wie bereits angedeutet, vor den erschütternden Implikationen der eigenen Kritik zurück, indem die von ihm hervorgehobene Vervielfältigung sich aus einem Element des Bruchs zu einem Faktor des Kompromisses verwandelt. Denn das, was auf der einen Seite wegfällt - nämlich die Möglichkeit der theoretischen Vernunft, die letzte theologische Sanktion der Ordnung der Welt zu erreichen - wird auf der anderen Seite, im Reich der praktischen Vernunft, wieder eingeholt aufgrund eines fundamentalen Sinnpostulats, das noch einmal den Rückgriff auf den meta- 8 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hus-serliana VI, Nijhoff, Den Haag 1962, S. 273-276 physischen Gott rechtfertigt. Die grandiose Rückkehr des transzendenten Gottes, dessen kategorische Behauptung von der theoretischen Vernunft ausgesetzt wurde, wird begründet im Willen zum Sinn der Vernunft des Subjekts (bzw. einer Vernunft, die subjektivistisch gefasst wird, wenn auch in transzendentalem Sinn). Die Kritik der Urteilskraft arbeitet noch weiter an dieser Wiederherstellung, die der große metaphysich-spekulative Einsatz, der im deutschen Idealismus zum Ausdruck kommt, in einer regelrechten Versöhnung dessen, was als untragbare Trennung zwischen Subjekt und Wirklichkeit erfahren wird, aufzulösen sucht. Aufgrund dieser Trennung ist, wie Hegel sarkastisch anmerkt, Gott selbst auf die Seite des Noumenon gefallen. Die äußerste Konsequenz dieser radikalen Ausgrenzung des Göttlichen aus dem Reich der theoretischen Vernunft, deren Frevelhaftigkeit Kant selbst nicht wahrnimmt, wird kurz darauf der Verlustschrei des „tollen Menschen" sein: Gott ist tot, was den Einbruch des Nihilismus als Ende der modernen Metaphysik bedeutet. Trotz Nietzsche schreitet der Gang der aufklärerischen Vernunft - von Kant zu Hegel und Husserl - dennoch weiter in Richtung der Reduktion des empirisch Vielen der anthropologischen Standpunkte auf die Einheit der spekulativen Erfassung, d.h. der transzendentalen Konstitution der Welt. Aufgrund dieser Letztgenannten verwirklicht das Subjekt-Ich seine eigene Absolutheit durch die Unterwerfung der Natur selbst, sowie noch einmal als Weltgeist seinen letzten Triumph über die Geschichte und deren unkontrollierbare Irrationalität. Trotz des Scheiterns des Hegelianismus und trotz der dramatischen Anklage des unaufhaltsamen Fortschreitens des Nihilismus bei Nietzsche, die wahrzunehmen Husserl nicht Zeit hatte, obwohl seine Analyse der Sinnkrise, in die die europäische Menschheit geraten war, im Kern davon spricht, kann der Meister der Phänomenologie noch einmal in tiefem Gleichklang mit dem spekulativen Idealismus an die letzte Bestimmung des Geistes appellieren: „Die ratio ist nichts anderes als die wirklich universale und wirklich radikale Selbstverständigung des Geistes in Form universaler verantwortlicher Wissenschaft [...] Die Universalität des absoluten Geistes umspannt alles Seiende in einer absoluten Historizität, welcher sich die Natur als Geistesgebilde einordnet." Auf der vorangehenden Seite hält Husserl feierlich fest: „Der Geist und sogar nur der Geist ist in sich selbst und für sich selbst seiend, ist eigenständig und kann in diesem Eigenstand, und nur in diesem, wahrhaft rational, wahrhaft und von Grund auf wissenschaftlich behandelt werden [...] Nur wenn der Geist aus der naiven Außenwendung zu sich selbst zurückkehrt und bei sich selbst und rein bei sich selbst bleibt, kann er sich 209 210 genügen."9 Also besteht das Problem, das sich wegen der heimtückischen Reduktion des Wahren auf das Identische gar nicht stellt, darin, ob das Schicksal des Geistes die Wahrheit ist, oder ob das Wesentliche vielmehr ist, dass er die Identität mit sich selbst verwirklicht, d. h. die eigene Selbstbehauptung auf planetarischer Ebene. Behauptung eines äußersten Selbstbewusstseins, eines äußersten Bewusstseins der eigenen Aufgabe, und daher auch der eigenen Macht der europäischen Vernunft, und nicht Gehorsam einer Wahrheit gegenüber, die in der Lage wäre, der Vernunft ihre unüberschreitbaren Grenzen aufzuzeigen. Und dennoch geschieht etwas Wesentliches in den spekulativen Unternehmungen des modernen Denkens, das sich zugespitzt im Nietzscheschen und Husserl-schen Sinn der Krise des metaphysischen Europas und im Appell an einen extremen Willen zum Sinn vollzieht. In dieser Richtung konvergieren auf paradoxe Weise die Zerstörung der absoluten Werte durch Nietzsche in seiner „Philosophie mit dem Hammer" und das gewagte Programm einer Neugründung der Philosophie von Grund auf, das Husserl mit Nachdruck verfolgt. Was geschieht, ist die Auflösung des Substanzialismus der traditionellen Metaphysik, und sei es, um dadurch Platz zu schaffen für die Selbstbehauptung des Subjekts als Prinzip des Sinns. Dieses Geschehen erfordert eine neue Erfahrung von Wahrheit und macht sie möglich, ja notwendig, jenseits der äußersten Inanspruchnahme der Ressourcen des Prinzips der Subjektivität, die sich sowohl in der nihilistischen Konzeption der Wahrheit als fixe Scheinvorstellung des Willens zur Macht als auch in der transzendentalen Konstitution der Wahrheit als subjektiv gesicherter Sinn ereignet. Zugleich mit der Wahrheit als Substanz gerät auch die Identität in Krise, die sich nicht mehr auf eine Ontologie der physischen Präsenz des Seins stützt, sondern aus der Macht des Subjekts/des Willens hervorgeht, aus der Macht, den Sinn, den es/er braucht festzusetzen, um sich seinerseits - zumindest im Fall Husserls - jede bestimmte Realität als transzendente Identität zu konstituieren. Bei Nietzsche nimmt der äußerste Wille zur Identität die tragische und unmögliche Gestalt der ewigen Wiederkehr des Gleichen an. Und noch einmal wird die Wahrheit in Abhängigkeit von der paradoxen Identität des Willens zur Wiederkehr gefasst, anstatt dass sie sich als Maß setzt, dem jede Identitätsbehauptung unterstellt ist. 2. Die Möglichkeit einer erneuten Problematisierung des Verhältnisses von Wahrheit und Identität muss über den Weg einer Hermeneutik der Endlichkeit führen und dabei das metaphysische Vorurteil beseitigen, das aus der Endlichkeit die Grenze macht, die den Menschen von der Wahrheit trennt. Eine radikale Hermeneutik der Endlichkeit schließt vielmehr die metaphysische Idee einer ab- 9 Husserl, Krisis, Hua.VI, S. 345-346. soluten Wahrheit aus - die Wahrheit des christlich-metaphysischen Gottes, der vollkommenen Reduktion des Vielen in der Welt auf die grundlegende Identität, die es im Sein hält; für die Modernen: die Wahrheit des Seins, die sich als Subjektivität besitzt oder sich als Wille und Hervorbringung von Sinn verwirklicht, in immer dramatischeren Alternativen zum Gott als dem „höchsten Seienden" der christlichen Theologie. Jenseits der theologisch-metaphysischen Umformung des Wahren und Identischen, die auch im Falle der modernen metaphysischen Systeme der Subjektivität vollzogen wird als Transzendenz des Prinzips, das Einheit stiftet gegenüber der chaotischen Zerstreuung des Vielen, öffnet die Endlichkeit die Existenz für das Ereignis der Welt und damit für die ursprüngliche irdischweltliche, d. h. existenzielle Dimension der Wahrheit. Die hermeneutische Erfahrung kann sich nicht gegen eine endliche Wahrheit stellen, weil sie als Wahrheit nur jene denken kann, die sich im weltlichen Gespräch der Existenzen zeigt und behauptet. Keine Wahrheit, die trennt, wie die metaphysische Wahrheit im Namen ihrer angeblichen Einzigartigkeit und Absolutheit; keine unversöhnliche Wahrheit, die sich anmaßt, sich mit der Gewalt von nicht widerrufbaren Ausschlüssen zu behaupten; sondern vielmehr eine gastfreundliche Wahrheit, zumindest soweit sie sich sagen und sich nicht auf ein geschlossenes System endgültiger Aussagen reduzieren lässt. Eine Wahrheit, die -gerade weil sie nicht trennt - Differenzen zwischen den Gesprächsteilnehmern aufkommen lässt, die sie zum Gespräch ruft und die sie in ihrem wechselseitigen Sich-voneinander-Unterscheiden bleibend aneinander bindet. Eine EreignisWahrheit, nicht reduzierbar auf irgendeine als Verharren in der Präsenz gefasste Identität (nach der Art dessen, was vor den Augen liegt und was gemäß einer grundlegenden Selbigkeit dem Wandel gewisser ihm innewohnender Grundzüge widersteht); ebenso nicht reduzierbar auf irgendeine System-Wahrheit, die in ihrer Anmaßung auf Endgültigkeit von jedem neuen Wort widerlegt wird, das unvorhergesehen auftritt und ihre angebliche Herrschaft stört. Im Ereignis der Wahrheit, in der Eröffnung von Welt, die in der Sprache geschieht, kommen wir alle notwendigerweise überein, um miteinander zu reden, und d. h., um im Gespräch miteinander die Differenzen zu erfahren, die jedem ein eigenes Schicksal zuweisen (und zwar ein Lebensschicksal und nicht das eines abstrakt theoretischen Denkens). Das Paradox der Wahrheit des Gesprächs als einer endlichen Wahrheit liegt demnach in der Tatsache, dass sie diejenigen zusammenhält, die sie voneinander unterscheidet. Denn als Wahrheit erlaubt sie es niemandem, sich auf Kompromisse einzulassen, sie lässt sich also nicht mit einem konfusen Konsens verwechseln, im Gegenteil verlangt sie jedes Mal sorgfältige Berücksichtigung und verantwortliche Unterscheidungsvermögen. Da sie im Gespräch geschieht, lässt die 211 212 Wahrheit des Gesprächs keinerlei abschließende Anmaßung zu, sondern verlangt vielmehr nach weiteren Worten, die dazukommen, um die Konsistenz des Wahren zu prüfen, das sich sagen lässt gegenüber dem, was verschwiegen, weil noch zu denken oder notwendigerweise ungedacht bleibt. Allein in diesem Spiel von Entbergung und Verbergung, nur weil sich das Wahre, indem es sich sagen lässt, zugleich dem Schweigen übergibt, nur deshalb lässt es enthüllende, gleichwohl nie endgültige Worte entstehen. Die Wahrheit fordert nämlich immer neue Gesprächsteilnehmer, aber nicht deshalb, weil sie als schon vollkommen enthüllte Wahrheit noch eine Widerspiegelung bräuchte, sondern weil sie stets zugleich verborgen und offenbar ist und daher notwendigerweise als Wahrheit im Gespräch all jener geschieht, die das Ereignis der Welt zur Sprache ruft. Nun ist aber eine Wahrheit, die geschieht, die sich ereignet, die ankommt, im eigentlichen Sinne einer Ankunft (ad-ventus), wenn sie keine beständige Wahrheit ist, dann auch keine Wahrheit, die wird, im präsentischen Sinne des Seins als Anwesenheit, der die griechische Erfahrung prägt und dabei dem Sein selbst rein ontische Prädikate zuschreibt wie Wandel und Unwandelbarkeit, in Ruhe oder in Bewegung sein, eins sein oder in rein physischem Sinne verschieden sein, schließlich überhaupt sein oder nicht sein. Bezogen auf diese tiefe Erfahrung, die das metaphysische Denken beherrschte, „ist"die Wahrheit nicht, wie auch die Existenzen im Gespräch nicht „sind", aber nicht deswegen, weil sie im Gegensatz dazu „werden", sondern weil sich das Schicksal des Verhältnisses zwischen Wahrheit und Existenz nicht ausschließlich im kontrollierten Raum der paradigmatischen Instanzen der auf das Sein des Seienden gerichteten Analysen abspielt. Das Sein der Wahrheit ist kein Bleiben, ebensowenig wie das Sein der Existenz Werden ist, weil weder die eine noch die andere einfach anwesend oder abwesend ist. Wem es an Wahrheit mangelt, dem fehlt es nicht an etwas Ontischem, sondern an dem, was die geheimnisvolle Notwendigkeit seines Sprechens mit anderen birgt, am Ende seines Existierens. So wie auch der, der die Wahrheit findet, nicht einfach Dinge findet, auch kein System von Aussagen und Behauptungen, sondern vielmehr eine Verständnismöglichkeit, eine Antwortmöglichkeit auf Fragen, die ihn umtreiben, einen Grund, um seinerseits andere Fragen aufzuwerfen und so im Gespräch zu bleiben mit anderen Existenzen. Denn niemand besitzt die Wahrheit in den eigenen Reden, sondern sie geschieht in ihnen, wobei sie sich gleichzeitig auch entzieht und so auf weitere Gespräche verweist. Wenn sie also gesucht werden muss, wenn sie die Unruhe eines Wunschs hervorruft, der sich nicht stillen lässt, wird sie zur Bestimmung der Existenz, ist aber nicht das Produkt der Bestrebungen der Existenz - sie ist nicht Werk oder Frucht des menschlichen Genies - sondern vielmehr das Andere, das unerreichbar i und dennoch stets zu erwarten ist, solange es jeder Existenz gegeben ist, am Gespräch der Welt teilzuhaben. Nicht reduzierbar auf das Sein der Existenz, ist die Wahrheit dennoch nur Wahrheit für die endliche Existenz. Von einer absoluten Wahrheit, von einer feststehenden Identität im Vollbesitz ihrer selbst oder einer Identität, die sich umgekehrt auf fatale Weise in der Geschichte der Welt zu verwirklichen sucht und den vernichtenden Nicht-Sinn der menschlichen Ereignisse unter ihre wissende Kontrolle zu bringen sucht, kann die Philosophie überhaupt nichts wissen und nichts denken. Was die Philosophie versteht, ist, dass der Mensch existiert, weil er zu sprechen hat und er im Sprechen die Wahrheit und Gerechtigkeit seiner Worte und Taten zu verantworten hat. Seine Endlichkeit entzieht ihn nicht der unerschöpflichen Herausforderung der Wahrheit, sondern bringt ihn erst zu dieser Herausforderung, setzt ihn der Herausforderung einer Wahrheit aus, die in den Gesprächen der Menschen geschieht, ohne sich je auf eine unmögliche Summierung all ihrer Meinungen zu reduzieren. Und ohne sich je von der Initiative der Menschen zuvorkommen zu lassen: im Gegenteil, die Menschen werden zur Notwendigkeit geboren, sich zwischen Wahrheit und Irrtum zu orientieren, und zwar von dem Augenblick an, in dem sie dem ersten Wort Gehör schenken, das sie zum Gespräch mit den anderen Existenzen ruft. Dieser ursprüngliche Bezug zur Wahrheit wird also offenbar im Bedürfnis, das die Existenz in den verschiedensten Formen beunruhigt. Dieses Bedürfnis öffnet das Sein des Menschen auf die Wahrheit hin, die - ihm vorausgehend - auf ihn zukommt, und steht nicht umgekehrt am Ursprung einer Wahrheit, die als Versicherung gegenüber dem Leben gesucht wird. In diesem Licht versteht man auch, dass der grundlegende Sinn des Heils, den die Wahrheit den Menschen verheißt, und den zu verlangen diese sich auch berechtigt fühlen, sich in die Möglichkeit zu existieren, und nicht einfach zu leben, übersetzt, in eine Möglichkeit, die die Wahrheit dem Menschen eröffnet, sobald er sie findet, jedoch nur, um sie immer wieder von neuem zu suchen. Existieren heißt nämlich nichts anderes, als sich ständig über das Kommen und Gehen auf den Wegen der Freiheit Fragen zu stellen, Wege, die dem Menschen durch die Worte der Wahrheit eröffnet sind, die zu verstehen ihm zufällt oder die vorzubringen ihm gegeben ist. Die Existenz spricht also mit anderen auf der Suche nach Worten der Wahrheit. Sie übernimmt dadurch die Verantwortung der wechselseitigen Differenz. Das Ereignis der Kommunikation zwischen den Existenzen ist, wie schon gesagt, nichts weniger als das Ereignis des Paradoxen, demgemäß die Gesprächsteilnehmer zwar übereinkommen und sich verstehen müssen, aber nur, um jeder für sich die eigene Verantwortung und sein eigenes Schicksal zu finden. Die Kommunikation „gelingt" also nur, wenn sie die Differenzen eint, die sie zugleich bewahrt und fördert. Niemand, und am allerwenigsten die Betroffenen, vermögen 213 die Grenzen dieses Gelingens zu ermessen. Aber dieses Gelingen ist wesentlich für das Gespräch, das die Homo-logie der Differenzen hervorbringen muss, d. h., die Möglichkeit eines jeden, mit anderen zu sprechen, um sein eigenes Schicksal irreduzibler Individualität zu erkennen und jedes Mal von neuem auf die Probe zu stellen. Das Schicksal einer Individualität, die man nie „ist", aber die man jedesmal aufs neue ins Spiel bringen muss. „Homologein sophon estf, sagt Heraklit, weise ist die Übereinkunft im Hören auf den logos, nicht auf die idia phro-nesis eines jeden: also auf den logos, der xynon ist, nicht weil er aus allen Reden eine einzige machen würde, die alle zu wiederholen hätten, sondern weil er den Raum öffnet, in dem jedem die Möglichkeit gegeben ist, in den anderen die Gesprächsteilnehmer zu erkennen, die er braucht und die vom Gespräch zur Begegnung dazu bestimmt sind, nach der jeder - ob er es nun weiß oder nicht - auf der Suche ist.10 Im Gespräch des logos erfährt also jeder die Worte, die er als an ihn gerichtete wahrnimmt, weil sie seine Aufmerksamkeit verlangen, nicht nur als Worte einer anderen Existenz, sondern als Worte der Wahrheit, die über sein Leben entscheidet, der gegenüber sich sein Leben zu entscheiden hat. 3. Die Perspektive der notwendigen Pluralität des Wahren - einer Wahrheit, die sich als solche nicht aufgrund irgendeines transzendenten Intellekts oder Subjekts behauptet, sondern sich im Gespräch der Existenzen ereignet - erlaubt es, das Gespenst der Orthodoxie in Schach zu halten, das das metaphysische Denken mit einer zerstörerischen Macht ausgestattet hatte und vor dem man sich auch heute noch in Acht nehmen sollte, ebenso aber auch vor dem verwerflichen Schatten des Relativismus, dem man geneigt ist, mit allzu exzessiver Überstürzung immer mehr Platz einzuräumen. Da aber die Pluralität des Wahren kein gegebenes Faktum ist und auch die Wahrheit nie ein solches ist, hebt das hermeneutische Verständnis einer Wahrheit, die allein in den Worten der Menschen geschieht, zugleich auch die Voraussetzungen des Relativismus auf. Die Apologeten der Wahrheit als Identität können nicht wahrhaben, dass gerade die Trennung zwischen der Wahrheit und der Existenz - zwischen der Transzendenz und der dinghaften Festgesetztheit des Wahren einerseits und der grundlegenden gegenseitigen Fremdheit der menschlichen Subjekte andererseits, die als in ihr Selbst- 10 Heraklit, Frg. 50 DK, der im vollen Wortlaut sagt: „Ouk emou allä tou logou akousantas homologein sophon esti hen pdnta einai: Wenn sie nicht auf mich, sondern auf den logos hören, ist es weise zu sagen, dass alles eins ist." Fragment 2 weiß aber auch, dass wenn „der logos gemeinsam ist, die Vielen aber dennoch so leben, als ob sie über eine eigene Weisheit verfügten". Fragment 80 warnt allerdings: „Man muss wissen, dass Krieg (polemos) gemeinsam ist und Gerechtigkeit Streit und dass alles geschieht auf Grund von Zwist und Notwendigkeit." bewusstsein eingeschlossene Entitäten gefasst werden, das den Bezug zu Anderen ausschließt bzw. sekundär macht, dass diese Trennungen also nichts anderes zulassen als einen privaten und damit einen unvermeidlich relativistischen Bezug zur Wahrheit. Die Wahrheit, die das Endliche auf das Jenseits seines Seins projiziert, wird für das Endliche zum Absoluten. Und es kann zu dieser Wahrheit nur unter der Voraussetzung gelangen, dass die Wahrheit die Hindernisse seiner Endlichkeit aufhebt. Gegenüber der Transzendenz des Wahren wird die Wahrheit, zu dem das Endliche fähig ist, nichts anderes sein als Irrtum und Trugbild. Relativismus eben. Die Pluralität des Wahren, von der die Hermeneutik der Endlichkeit Zeugnis ablegt, ist zugleich die Notwendigkeit des Wahren. Die Hermeneutik öffnet auf diese Weise nicht jener zerstreuten Toleranz die Tore, die häufig nur die Maske der Indifferenz wird, die jeder im Innersten seines Herzens gegenüber dem, was der Andere zu sagen hat, empfindet. Die Hermeneutik legitimiert also nicht jede Meinung, indem sie sich zufrieden gibt mit den ehrlichen Bemühungen, die der Gesprächsteilnehmer bisweilen an den Tag legt, sondern verlangt im Gegenteil vielmehr, dass die Konsistenz jeder Überzeugung am Maß der Wahrheit geprüft wird, das im Gespräch festgelegt wird. Sie idealisiert deshalb aber nicht die Möglichkeit der intersubjektiven Kommunikation im Sinne der Diskursethik, um sich eine paradiesische Gemeinschaft der Subjekte auszumalen, die in perfekter Reziprozität der Intentionen die volle Transparenz suchen, die von der Wirklichkeit stets negiert wird. Im Lichte dieses normativen Bezugs versucht Habermas bekanntlich die Bedingungen zu formalisieren, die die ideale Kommunikationssituation umschreiben, vergisst aber, dass die Wahrheit als Welteröffnung den guten Veranlagungen der Subjekte vorausgeht, um ihnen die Bedingungen ihres Sich-ereignens vorzugeben, das sich allerdings nur aufgrund ihrer Antworten vollzieht. Daher ist die Wahrheit der Gespräche, die die Menschen miteinander führen, die wirkliche, geschichtliche (oder wenn man will: schicksalhafte) Wahrheit ihrer endlichen Existenz und nicht der unmöglichen Möglichkeit, ohne Grenzen miteinander zu kommunizieren. Habermas versäumt es u. a. auch in Erwägung zu ziehen, dass auch die Grundvoraussetzungen jeder wahrheitsfähigen Kommunikation im Gespräch diskursiv definiert werden. Welches ist also die Wahrheit des Diskurses der „idealen Sprechsituation"? Er konzipiert Wahrheit als Verwirklichung des universellen und freien Konsenses aller Sprechenden, ohne zu bedenken, dass dies nur durch die Aufhebung der für die Existenz des Menschen konstitutiven Endlichkeit erreicht werden kann, also gerade durch die Aufhebung der Notwendigkeit des Miteinander-Kommunizierens der Existenzen. Das Ideal von Habermas ist demnach der Traum einer unendlichen Wahrheit, die in der Hand der Subjekte guten Willens liegt. Ihnen und nicht mehr dem Gott der metaphysischen Tradition ist die Aufgabe übertragen, die Wahr- 215 216 heit als Wahrheit des Einen und Identischen zu garantieren. Aber war das nicht letztendlich schon der Traum Husserls? Die These von der notwendigen Pluralität des Wahren setzt die Wahrheit hingegen dem Paradox des Endlichen aus, das der Wahrheit, die es anspricht, zu antworten hat, und zwar gerade indem es von der eigenen Endlichkeit und damit von den notwendigen Grenzen jeder seiner Antworten Rechenschaft gibt. Nur das explizite Annehmen der Grenze erlaubt es, die Endlichkeit der Wahrheit, die sich ihm zu denken gibt, nicht zu verraten, d. h., die Wahrheit des Wahren auf endliche Weise zu denken, ihr Sich-Ankündigen als solche innerhalb der Grenzen des Endlichen, und sich jede Extrapolation zu versagen, die vorgibt, sie in den Rang eines nur postulierten meta-physischen Unendlichen zu erheben. Auf der einen Seite bedeutet Meta-Physik also im wahrsten Sinne des Wortes das Bedürfnis der endlichen Vernunft, das absolute Fundament, von dem sie glaubt, dass es ihr fehlt, auf das Jenseits ihrer eigenen Endlichkeit zu projizieren. Dieses Bedürfnis offenbart aber vielmehr die Leichtigkeit, mit der die Vernunft irrt und sich verliert, und ist keine stichhaltige Rechtfertigung für die Flucht vor dem Endlichen. Also ein Argument für ihre Endlichkeit und nicht für ihr positives Sichberufen auf das Absolute. Auf der anderen Seite hebt das Bewusstsein des Endlichen nicht seine Endlichkeit auf, gemäß der bekannten metaphysischen Argumentationsstrategie, sondern lässt vielmehr die Übernahme von Verantwortung zu, die der Existenz das Geheimnis der irreduziblen Alterität des Wahren eröffnet. Wenn sich die Wahrheit nur als Wahrheit der Existenz ereignet - jeder andere Diskurs über die Wahrheit verliert sich in der meta-physischen Illusion -, ist die Existenz dennoch nicht die Wahrheit, vielmehr überkommt die Wahrheit stets die Existenz und schreibt sich ihr vor, indem sie Gehorsam verlangt, oder entzieht sich ihr, um sie zur Suche anzuregen oder gelegentlich auch, um sie in der Enttäuschung eines leeren Irrens zu lassen. Daher wird die Wahrheit auch in der berühmten Stelle von Sein und Zeit noch unvollständig, d. h. subjektivis-tisch gedacht, wenn es heißt: „Wahrheit „gibt sich" nur, sofern und solange Dasein ist".11 Diese Feststellung ist zu ergänzen durch die komplementäre These, die ihr die subjektivistische Einseitigkeit nimmt, nämlich dass sich auch das Dasein, die Existenz, nur gibt, wenn und solange die Wahrheit ist, d. h. also, sie die Existenz zum Da-sein in der Welt ruft. Darüber hinaus kann diese These die Bedingung der Wahrheit der ersten These umfassen, die immer noch die wesentliche Relativität des Wahren beinhaltet, indem sie jede Möglichkeit ausschließt, das „Sein" des Wahren im Sinne eines unabhängigen, absoluten Seins zu verkennen, das schlechthin undenkbar wäre. ii Martin Heidegger, Sein und Zeit, Niemeyer, Tübingen 1967, S. 226. Das endliche Denken des Endlichen ist jedenfalls in der paradoxen Situation, die Wahrheit, die sich ihm vorschreibt, nicht nicht festhalten zu können, trotz des unüberschreitbaren Wissens um ihre Vorläufigkeit. Jede Wahrheit ist nämlich immer auf die Aneignung angewiesen, durch die sie zum Ereignis wird, und auf die ständige Neuinterpretation, die sie vor dem Vergessenwerden bewahrt; auf diese Weise bleibt sie lebendig aufgrund der unfassbaren Kontinuität des Diskurses, die sie zugleich unvermeidlich als stets andere erscheinen lässt. Daher bleibt das endliche Denken fest in der Wahrheit verankert, der es so weit teilhaftig wird, wie es ihm erlaubt ist, die von ihm sogar verlangt wird als Antwort auf den dringenden Anruf, dem es Gehör geschenkt hat. Die Anstrengung des Begriffs, die Mühe, die dem Denken auferlegt ist, ist also nicht jene, die Wahrheit hervorzubringen, sondern beständig ihrer vorläufigen Stabilität zu vertrauen. Es ist auch nicht zu denken, dass das Endliche mit der Wahrheit irgendwie übereinkommen könnte; gerade weil es endlich ist, geht es nicht aus Eigeninitiative auf sie zu, sondern geht vielmehr die Wahrheit ihm immer voraus und wird es erreichen; die Existenz begegnet der Wahrheit nämlich als Alterität an der Grenze der eigenen Endlichkeit. Endlich verwirklicht sich das Feststehende an ihr als immer wieder aufs neue unvorhergesehene Beweglichkeit, über die das Denken selbst nur überrascht sein kann; denn immer wieder aufs neue überrascht die Wahrheit durch ihre unerwarteten Ansprüche selbst das Denken, das sich treu an die Wahrheit hält, sie bringt es immer wieder aus dem Konzept, indem sie es in eine instabile Situation versetzt, die es immer wieder neu in Bewegung setzt. Die Identität des Wahren zeigt sich so viel eher in seiner Unerfassbarkeit als in seiner beruhigenden Verfügbarkeit. Es ist nämlich weder, wie man sagte, die Identität von etwas Bleibendem noch das Werden eines Subjekts, das a priori, ausgehend von seinem Subjekt-Sein, weiß, welches sein Schicksal sein muss. Es ist die Identität eines Ereignisses, das sich als unscheinbare, nicht berechenbare, unbestimmbare Einheit einer irreduziblen Vielheit von Diskursen, Erfahrungen, Existenzen, die immer neuen und anderen Dingen und Existenzen begegnen, realisiert. Die Dinge offenbaren ihre vielfältigen Bedeutungen nach Maßgabe der vielfältigen Bezüge, die die Existenzen mit ihnen unterhalten, und zwar auf Grund der Tatsache, dass die Existenzen als solche ihrerseits von einer Art Bedürfnis der Dinge, sich als bestimmte Wirklichkeiten, eben als Dinge zu realisieren, angespornt werden, und dies auf Grund der Rezeptivität und der Bedürfnisse der Existenzen selbst. Diese wiederum kommen in der Anerkennung einer gemeinsamen Wahrheit überein, oder sie trennen sich, wenn diese schwindet, je nach der Veränderung ihres Bezuges zu den Dingen. In diesem Geschehen wechselnder Relationen erfüllt sich das Schicksal, dem die Existenzen zu entsprechen haben, indem sie Mal für Mal die Verantwortung für ihr Sein übernehmen. Wenn sich etwas in diesem Geschehen als bleibend erweist, dann ist das nicht das Feststehen einer 217 218 bloß angenommenen substanziellen Wirklichkeit, oder die Selbstidentität eines Bewusstseins, das sich in Wahrheit nie besitzt, sondern die Treue der Existenz zu ihrem eigenen Schicksal. Diese Treue gehört weder in die Ordnung des Seins noch des Werdens, noch lässt sie sich an äußerlich festgesetzten Kriterien messen. Sie gehört zu dem Geheimnis der Antwort, die die Existenz ständig der Al-terität schuldet, die sie sein lässt. Daher lässt sie sich nicht nur nicht in die Kategorien der Ontologie der Präsenz übersetzen, die das Sein und die Veränderung der Dinge als physische Wirklichkeit fasst und aus der Existenz selbst ein Ding macht; sie lässt sich auch nicht ausgehend von der Sinnforderung denken, die die unendliche Teleologie der Subjektivität beherrscht, d. h. seine immer wieder aufgenommene Spannung zur unerreichbaren Selbstbehauptung. Die Identität des Wahren, die sowohl die Ontologie als auch die Teleologie jeweils auf ihre Weise voraussetzen, ist notwendigerweise allergisch gegen die Alterität des Wahren, die sich der ontischen Alternative zwischen dem Einen und Vielen entzieht, und ebenso jener zwischen dem Bleibenden und dem Werdenden. 4. Das Andere der endlichen Existenz kann auf Grund der „Transzendenz", die als ein nicht auf das Einverständnis zwischen den Existenzen reduzierbares Ereignis eingefordert wird, nicht als Stütze einer restaurativen Allianz zwischen der Hermeneutik des Endlichen und der Metaphysik der Substanz oder des Subjekts fungieren, die es erlauben würde, die grundlegende Identität des Wahren wieder aufleben zu lassen. Im Gegenteil, das Andere ist das Prinzip, das das Sein eines jeden zum Bezug mit den Anderen bestimmt, weil es zur Existenz als Sprache kommt; als solches ruft das Ereignis des Anderen die Existenzen zum Gespräch, in dem jeder den Anderen Rechenschaft über die Wahrheit zu geben hat, die zu suchen sein Schicksal ist. Die endliche Existenz hat so in Anderem den Grund, der sie strukturell befreit vom Beharren im eigenen Sein und in der eigenen Wahrheit (in der idía phronesis, nach den Worten Heraklits), ein Verharren, das als Fundament einer universellen Wahrheit - der Wahrheit als Gewissheit des Identischen - von der Philosophie des Bewusstseins oder des cogito hingegen vorausgesetzt ist. Auch dem, was Heidegger mit großer Klarheit in Sein und Zeit festhält, dass nämlich Dasein Mitsein ist, fehlt es an der Dimension der radikalen Alterität, die den Rückfall in den Solipsismus verhindert, vor dem nicht einmal das große Eingangswerk verschont bleibt - trotz der Sprengkraft, mit der es in die Debatte der Blütezeit der Phänomenologie einbricht. Denn das Dasein entdeckt die Anderen in sich, soweit es Subjekt bleibt und noch nicht Ek-sistenz wird, so wie es die Welt in sich als Existenzial entdeckt, statt umgekehrt, sich in der Welt, d. h. sich in Anderem und daher immer mit Anderen zu finden: die Anderen, die dem Sein eines jeden immer vorausgehen, wie die Eltern dem Sein der Kinder, um ihnen das Leben und das Wort zu schenken, auf Grund der gemeinsamen Zugehörigkeit zum Ereignis der Welt als das Andere jeder Existenz ge- genüber.12 Noch genauer und konkreter bedeutet das, dass sich das Sein mit Anderen immer auf Grund vom Anderem ereignet, das als Sprache waltet und die Situation der Endlichkeit der Existenz de-finiert, im Sinne einer wesentlichen Um-grenzung und Ein-grenzung. Das ist nichts anderes und nichts weniger als die Notwendigkeit eines jeden, im Angesicht der Anderen zu sprechen und zu denken durch die Kraft der Wahrheit, die sich von allen suchen lässt, sich aber niemandem zur Verfügung stellt und auch nicht die ideale Belohnung der Anstrengungen des guten Willens der Gemeinschaft der Subjekte darstellt. Die Offenheit der Welt als das Anderes geschieht nämlich nur im Gespräch der Ek-sis-tenzen. Das Denken der Endlichkeit zielt damit nicht auf eine ideale Philosophie des Dialogs, weil es vielmehr sein Anliegen ist, den sozusagen heteronomen Charakter des Miteinander-Sprechens der Menschen aufzuzeigen. Es trägt den Grund seiner selbst nicht in sich, also in der Selbstbegründung einer pluralen und gemeinschaftlichen Subjektivität (der Paradigmenwechsel nach Habermas vom Solipsismus zur Intersubjektivität), sondern in der Wahrheit, die jeden Diskurs und jede Übereinkunft in Schach hält, indem es sich jedes Mal das Vorrecht sichert, sie zur Rechenschaft zu ziehen. Im Gespräch geht es nämlich in erster Linie um die Wahrheit, nicht um die Gemeinschaft der Sprechenden: dieser ordnet sich die Wahrheit nicht unter, und dennoch geschieht die Wahrheit nicht anderswo als im Miteinander-Sprechen der Existenzen. Aber gerade weil sich die Wahrheit, die im gemeinsamen Diskurs entsteht, nie auf das in diesem Diskurs Gesagte reduziert, sondern ohne Unterlass neue Worte fordert und dadurch das Ungenügen alles Gesagten gegenüber dem immer Ungesagten offenbart, hat das Gespräch notwendigerweise einen polemischen, streitbaren Charakter, der nicht verschwiegen werden kann. Die Worte und Gedanken treffen nicht nur aufeinander im Sinne des Austauschs und der Ergänzung der Perspektiven, sondern 12 In der Vorlesung des Sommersemesters 1927 Die Grundprobleme der Phänomenologie hält Heidegger fest: „Welt ist eine Bestimmung des Seins des Daseins. [...[ Sie gehört zur Existenzverfassung des Daseins. Welt ist nicht vorhanden, sondern Welt existiert." Alles klärt sich also auf Grund des Verständnisses des Seins des Daseins: Welt, Mitsein mit Anderen, Sein bei den Dingen. Trotz seiner gegenteiligen Beteuerungen wiederholt Heidegger das subjektivistische Unvermögen der leibnizschen Monaden, aus sich selbst hinauszukommen, und gewinnt so ein Außer-sich-sein der Existenz, das nicht über den Horizont ihrer konstitutiven Entwürfe hinausgeht, da die Alterität der Welt fehlt und aus der Existenzialisierung der Welt („Welt existiert, d. h. sie ist nur, sofern Dasein da ist") die strukturelle Bedingung der Transzendenz des Daseins gemacht wird: „Die Welt ist das Transzendente, weil sie zur Struktur des In-der-Welt-seins gehörig das Hinüberschreiten zu ... als solches ausmacht." In Wahrheit aber kann sich die Existenz nur dann „aus einer Welt verstehen", wie Heidegger es möchte, wenn die Welt ihr unfassbarer Ursprung ist, in diesem Sinne also das Andere, von dem her es mit Anderen zu sein hat, das aber seinerseits nichts Absolutes ist, das unabhängig von der Existenz sein könnte. (Martin Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie , GA. 24, Klostremann, Frankfurt/M. 1975, S. 420, 422, 425). auch im Sinne der Auseinandersetzung und Konfrontation, die zwar durchaus zuweilen zu einer wechselseitigen Bereicherung der Positionen führen kann, oft jedoch die Härte des Widerstreits nicht vermeiden und auch aufgrund der Unmöglichkeit sich zu verstehen zur Verhärtung der Differenzen führen kann, die sie schließlich wechselseitig undurchdringbar macht. Nicht immer ist es den Gesprächsteilnehmern möglich, die Argumente der jeweils anderen anzunehmen. Dies schließt allerdings nicht aus, dass die Wahrheit, die keinen Anspruch auf Absolutheit und auf das Bleibende des absolut Identischen mehr erheben kann, aus Prinzip aufgrund ihrer Endlichkeit eine gastfreundliche Wahrheit bleibt, wie man sagte, der es nicht erlaubt ist, die Wahrheit des Gesprächsteilnehmers absolut auszuschließen. Aber es zeigt auch, dass der Grund dieser Liberalität, dieser notwendigen Anerkennung der Pluralität des Wahren im dramatischen, paradoxen Charakter des Schicksals der Endlichkeit liegt. Das Endliche kann nicht anders, als der Wahrheit, über die es nicht verfügt, zu gehorchen. Aber gerade weil sich die Wahrheit auf endliche Weise offenbart, würde das Endliche die eigene Endlichkeit verraten, wenn es um jeden Preis die Schlichtung oder Vermittlung der Wahrheit suchte, der es Gehorsam schuldet, mit der der Erfahrung der Anderen. Oder wenn es der versöhnlichen Versuchung einer Wahrheit nachgeben würde, die am Ende alles und alle umschließen müsste. Die Existenz kann nicht ignorieren, dass die Situation der Endlichkeit, die ihr auferlegt ist, nach der Wahrheit zu suchen und die Wahrheit, die sich ihr offenbart, zu verantworten, sie zugleich beständig der Möglichkeit des Irrens aussetzt. Mehr noch, der Irrtum ist gleichsam das zweite Gesicht jeder Wahrheit, der sie Folge leistet, gerade weil nichts je ein für alle Mal definitiv ist und die Bedingung, um ein Wort zu verstehen, immer die ist, das Ohr für viele andere zu verschließen. Und dennoch ermächtigt diese Relativierung jeder Wahrheitserfahrung die Existenz nicht zu einem indifferenten Relativismus, sondern gibt ihr auf, die Wahrheit zu hüten, die sich ihr unerbittlich zuschreibt und die in jedem Fall - da sie nicht aus einer ihrer Entscheidungen hervorgeht - über den Bezug zu jeder anderen Wahrheit entscheidet, indem sie ihre Treue verlangt. In der Tat begreift die Existenz nur dank der Wahrheit, von der sie vielmehr umgriffen wird, dass sie einen Bezug zu den unterschiedlichen Erfahrungen haben kann, sei es, dass sie sich von der Möglichkeit zu fruchtbarem Austausch angezogen fühlt, sei es, dass sie die Inkompatibilität der jeweiligen Positionen einsieht oder sie als unüberwindlich fremd wahrnimmt. Jedenfalls können auch die unterschiedlichen Positionen, die sich zumindest an einem gewissen Punkt der Auseinandersetzung als falsch erweisen, nicht aus dem Gespräch ausgeschlossen werden dürfen und können, auch wenn sie deshalb in der Folge vielleicht nicht mehr bevorzugt in Betracht gezogen werden, denn im Gespräch zu bleiben mit allen am Gespräch Beteiligten, gehört zum Schicksal der Suche nach einer endlichen Wahrheit. Diese kann nämlich morgen schon den bisher unverstandenen Reichtum einer Position offenbaren, die man heute nur ablehnen kann oder deren Zugehörigkeit zur Sache man nicht wahrhaben mag. Die Pluralität des Wahren zeigt sich somit notwendigerweise als liberal und konfliktreich zugleich, gerade weil sie das Gegenteil der relativistischen Indifferenz darstellt und damit die Erfahrung der dramatischen und unauflöslichen Spannung zwischen Wahrheit und Irrtum unausweichlich macht. Was sich am Ende also als unhintergehbar erweist, ist der Gedanke, dass die Wahrheit des Gesprächs nur eine endliche Wahrheit sein kann. Sie führt nicht zur Synthese, in der alle Differenzen aufgehoben werden können, sondern im Gegenteil: sie geschieht als das Ereignis, in dem die Differenzen bestimmt werden. Sie bringt nicht die höhere Einheit eines transzendenten Blicks hervor, der das Ganze, das dem Blick des einzelnen entgeht, zu überblicken imstande ist, sondern eröffnet in der Auseinandersetzung für jeden die Möglichkeit, seine eigene Wahrheit unter Beweis zu stellen, und zwar nicht, um sie aufzugeben, sondern um möglichst treu ihren Hinweisen zu entsprechen. Wenn wir also davon ausgehen müssen, dass die Wahrheit aufgrund ihrer Endlichkeit anders ist als jede Übereinkunft und jeder Konsens, ist die Wahrheit aufgrund ihrer Alteri-tät endlich. Einerseits ist die Übereinkunft nur unter der Bedingung der Auslöschung der Differenzen möglich, die das Schicksal der Endlichkeit, das das Ereignis der Wahrheit bestimmt, unüberwindlich macht. Daher ist jede Übereinkunft vorläufig (und erfüllt nur eine untergeordnete Funktion im Verhältnis zur Notwendigkeit für jede Existenz, nach der Wahrheit zu suchen, für die er im Gespräch mit den Anderen verantwortlich wird). Andererseits braucht die Wahrheit die Existenz, für die und durch die sie geschieht, denn ohne die Existenzen reduziert sie sich auf den Fetisch eines in sich ruhenden Seins, das ohne Leben und ohne Denken ist, weil es jenseits von allen Gesprächen ist und nur dank des Gesprächs sich die Wahrheit als Leben und als Denken hervorbringen kann. Aber nur aufgrund des notwendigen Sich-voneinander-Unterscheidens der endlichen Existenzen, und daher aufgrund des notwendigen Sich-Vervielfältigens der Wahrheit, wird die Erfahrung der tiefsten Übereinkunft möglich, die jedem Übereinkommen und jedem Divergieren vorausgeht und das immer schon geschieht als Möglichkeit des Miteinander-Sprechens der Menschen, also aufgrund des Ereignisses von Welt in Sprache. Diese immer waltende, aber dennoch nicht verifizierbare Übereinkunft offenbart die tiefe Einheit, aus der jedes Gespräch hervorgeht und in der es übereinkommt. Diese Einheit bleibt aber unfassbar, weil es die unbegreifliche Einheit eines notwendigen Sich-Unterscheidens ist. Vielleicht spricht Heraklit von dieser Einheit, wenn er anhand des Bildes von Bogen und Leier jene tadelt, die - vielleicht in Bezug auf den logos? - „nicht verstehen, wie Sich-Unterscheidendes mit sich selbst übereinkommt". Auch sagt er, dass die „verborgene Einheit stärker ist als die offenbare"13, stärker wegen ihrer Unscheinbarkeit, unberechenbar, weil sich unterscheidend, so dass sie allein auf unbegreifliche Weise die Einheit des unendlichen Sich-Unterscheidens des Endlichen rechtfertigt. Also Identität als Differenz oder Differenz als einzig denkbare Identität. 222 13 Heraklit, Frg. 51 e 54 DK.