Das Uema der Kosmogonie in litauischen Folklorenarrativen Nijole Laurinkiene In this article Lithuanian folk narratives describing the creation of the World and its constituents (Earth, celestial bodies, human beings) are analyzed. By their origin and nature these narratives are supposed to be related to the archaic creation myth, although in many cases they are closely intertwined with successive fragments of Christian religion. In der mündlichen Überlieferung vieler Völker sind Erzählungen über die Entstehung der Welt - des Himmels, der Erde, der Himmelskörper, der Pflanzen, des Menschen und der Tiere - erhalten. Die Narrativen dieses Inhalts gelten als Mythen (in diesem Falle als kosmogonische Mythen) oder ätiologische Sagen, d.h. Folklorewerke, die die Herkunft von etwas, meist vom Weltall und seiner Elemente, erklären. Kosmogonische Mythen sind meistens in epischen Dichtungen festgehalten (zu nennen wären der altindische Rigveda, das babylonische Enuma Elish, die isländische Lieder-Edda, das karelisch-finnische Kalevala). Die Folklore als Quelle der Erzählungen kosmogonischen Inhalts hat einen anderen Charakter, sie ist im Laufe der Zeit mehr abgeschliffen. Die Sagen über die Entstehung der Elemente des Universums werden in manchen Völkern beinahe bis zum heutigen Tage erzählt, - eben deshalb haben die spätere Denkweise und die spätere Weltanschauung eine beträchtliche Wirkung auf sie ausgeübt. Dennoch bleiben auch in der Folklore ziemlich beständige, unveränderte Sujets erhalten, die archaisch genug und ihrer Herkunft sowie ihrer Natur nach mit dem Mythos der Schöpfung verbunden sind. In diesem Artikel werden litauische Folklorenarrativen untersucht, die die Genesis des Kosmos und seiner Komponente erklären. Die Litauer haben kein Epos wie die oben genannten; auch den schriftlichen Überlieferungen - den Zeugnissen der Chronisten und Historiker - sind nicht zu viele Mythen und andere mit der vorchristlichen Religion verbundene Informationen zu entnehmen, so bleibt die Folklore die wichtigste Quelle bei der Rekonstruktion der litauischen Mythologie. Die Besprechung der Folkloresujets kosmogonischen Inhalts wird sich hier hauptsächlich auf die Sagen stützen, teilweise aber auch auf die Angaben der schriftlichen Quellen und der Sprache. Die Vorgeschichte der Welt Die Erschaffung der Welt beginnt in litauischen Sagen mit der Situation vor der Schöpfung - mit der Darstellung des Nichts. Dieses Nichts wird so geschildert, dass es in jenen Zeiten »nichts da war«. Häufig wird angegeben, dass die Hauptkomponenten der Welt fehlten, und sie werden dann auch aufgezählt: Erde, Himmel oder andere: 249 Das Uema der Kosmogonie in litauischen Folklorenarrativen Pradzioje pasaulio nebuvo nei zemes, nei saules, nebuvo nieko, tiktai vien vanduo (LMD I 851/1/; Am Anfang der Welt war keine Erde, keine Sonne, es war nichts, nur Wasser allein). Kai dar nebuvo dangaus nei zemes, dievas su velniu vaiksciojo ant vandens pavirsiaus (BsV p. 280, Nr. 3; Als es noch weder Himmel noch Erde da war, wanderten Gott und Velnias auf der Wasseroberfläche). Sako, pradziai, pries sutverimo pasaulio, kol dar nieko nebuvo, tiktai vieni vandenys visur. Ponas Dievas zadejo sutverti, bet niekas nezinojo kq (LTR 1973/4/; Man sagt, am Anfang, vor der Schöpfung der Welt, als es nichts da war, waren nur Wasser überall. Gott der Herr gedachte zu schöpfen, doch niemand wusste, was). Nebuvo nieko, tik vanduo (LTR 2991/38/; Nichts war da, nur Wasser). Buvqs tik vanduo. Laiveliu yresi dievas ir velnias (LTR 2368/121/; Es war nur Wasser. In einem Boot ruderten Gott und Velnias). Beim Erzählen vom Nichts vor der Entstehung der Welt wird häufig eine Einschränkung gemacht: es wird behauptet, dass es damals nur Wasser gab. Auf diesem Hintergrund werden die kreativen Handlungen der Schöpfer - meistens sind es Gott (Dievas) und Velnias - dargestellt. Velnias ist in der litauischen Mythologie ein anthro-pomorphisches oder zoomorphisches Wesen, das mit der Unterwelt und mit Toten verbunden ist und in späteren Zeiten die Eigenschaften des christlichen Teufels erworben hat. Manchmal erwähnt die Beschreibung der Vorgeschichte der Welt einen Nebel, der rund herum herrschte. Es wird gesagt, dass vor langer langer Zeit, als es noch nichts da war, weder Erde noch Himmel, wären nur Nebel und Wasser da (LTR 1560/20/). Oder es wird erzählt, dass vor langer Zeit, als die Welt noch nicht da war, nur Gott alleine lebte, und er lebte in Nebeln (LMD I 513/11/). Der Nebel galt offensichtlich als Kennzeichen des Chaotischen, Nichtorganisierten, das bis zur Schöpfung des Weltalls herrschte. Die ungeformt, amorph anmutende Vorgeschichte der Welt wird auch als Finsternis und als Kissel - ein gallertartiger Brei, somit als etwas Dickflüssiges, bezeichnet (LMD I/32a/). Man stellte sich vor, die Erde sei einst flüssig gewesen und habe erst später begonnen, allmählich dick und hart zu werden. Es wird erzählt, dass Gott die Erde flüssig wie Kissel und die Steine wie Klösse erschaffen hat. Doch später begann die Erde dicker zu werden und die Steine zu wachsen (LTR 952/53/). Ähnliches wird auch in einer anderen Sage behauptet: einst war die Erde flüssig und die Steine weich; die Erde wurde immer härter und die Steine wuchsen (LTR 2560/293/). So konnte die Formierung der Erde als das Erhärten ihrer ursprünglichen Konsistenz zur festen Masse erklärt werden. Indem die Erde dicker, härter wurde, bekam die Welt allmählich eine feste Grundlage. In einigen Sagen wird bemerkt, dass die Schöpfung in einer bestimmten Reihenfolge geschehe. Zuerst konnte der Himmel erschaffen werden, dann die Erde (LTR 1580/455/). In einer anderen Stelle behauptet man, dass die Erde vom Wasser getrennt wird, und dann wird ihre Oberfläche geformt (LRT 3783/444/). Die Vorbedingung der 250 Nijole Laurinkiene weiteren Schöpfung kann die Zergliederung des Universums in seine Hauptelemente sein. Am häufigsten wird in den Sagen eine einzelne Episode der Welterschaffung dargestellt. Doch nur ihre Gesamtheit zeigt das allgemeine Bild der Schöpfung des Kosmos. Die Erdschöpfung durch Tauchen in die Urwasser Besonders archaisch unter den Sujets der betreffenden ^ematik ist das vom kosmo-gonischen Tauchen (die Erde wird aus dem Sand erschaffen, den Velnias oder ein anderes Wesen aus dem Meeresgrund ausgeschöpft hat). Es ist in Indien, Indonesien, Nordamerika, Mittelasien, Sibirien, bei den finnougrischen Völkern, in rumänischen, bulgarischen, polnischen, ukrainischen, weissrussischen mythologischen Überlieferungen anwesend und, wie bereits erwähnt, auch in der litauischen erzählenden Folklore fixiert1. Da der Mythos vom Tauchen zum Grund der Urwasser nicht nur im Areal der indoeuropäischen Ursprache, sondern auch viel weiter verbreitet war, liegt die Annahme nahe, dass er noch vor der Formierung der Indoeuropäer entstanden ist2. In litauischen Sagen vom kosmogonischen Untertauchen wird erzählt, wie am Anfang der Welt, als noch nichts da war, allein nur Wasser rund herum, fuhr ein Boot, in dem Gott und Velnias sassen. Gott befahl Velnias zum Meeresgrund unterzutauchen und Erde von dort zu bringen. Gott säte diese Erde vom Meeresgrund - und es entstand das Flachland. Velnias versuchte es Gott nachzumachen und dasselbe zu tun. Er spuckte die im Mund versteckte Erde aus - und es erhoben sich Berge, und die Sümpfe bildeten sich (LPK 3005). Manche Varianten dieses Sujettyps werden durch die Erzählung fortgesetzt, wie Velnias Gott, der die Insel erschaffen hat, ertränken will. Velnias packt Gott an den Beinen und zieht ihn ins Wasser. Doch die Insel wird immer grösser, das Wasser zieht sich fort, und Velnias vermag Gott nicht zu ertränken (LTR 2368/121/, 2991/38/ u.a.). Das Bild Gottes als Schöpfer ist in den Sagen von der Entstehung der Erde ziemlich abstrakt. Er wird einfach Gott (Dievas) genannt, es wird angedeutet, dass er im Himmel lebt (LTR 2069/393/). Der Helfer Gottes ist sein Widersacher, ein chthonisches Wesen Velnias. Dieser wird in den Sagen von der Erdschöpfung verschieden charakterisiert: wie ein Diener, ein Bruder Gottes, wie ein anderer Gott, wie der Wasservogel Enterich (LTR 4642/83/; SISLSA Nr. 437; LMD I 851/1/; LTR 1560/20/). Velnias wird wie eine destruktive Person dargestellt. Davon zeugen seine ungelungene schöpferische Tätigkeit sowie seine offensichtlichen Bemühungen Gott zu schaden, sein Versuch ihn zu ertränken. Der wirkliche Schöpfer, der Initiator der Schöpfung ist immerhin Gott. Zwar sind beide durch die Funktionen, die sie erfüllen, verbunden, doch sind der Charakter dieser Funktionen und die Folgen ihrer Tätigkeit verschieden. Gott erschaffi das Positive, was dem Menschen von Nutzen ist, Velnias - das Negative, was den die Erde bewohnenden Wesen Schwierigkeiten bereiten, ja Schaden stiften kann. Angeblich hilft Velnias Gott die Welt zu erschaffen, doch seine Schöpfungen sind unvollkommen, oft unvollendet. Deshalb erscheint Velnias der ätiologischen Sagen als ein Trickster, d.h. ein Held, der die Handlungen Gottes des Schöpfers ungeschickt 1 ^7IMafle M. TpaKTaT no MCTopuu penurau. T. 2. - CaHKT-neTepöypr, 1999. - S. 329. 2 Schier K. Die Erdschöpfung aus dem Urmeer und die Kosmogonie der Völospa. - Märchen, Mythos, Dichtung. - München, [1963]. - S. 326. 251 Das Uema der Kosmogonie in litauischen Folklorenarrativen nachahmt. In den Mythen anderer Völker, genauso wie in litauischen Sagen, wird der das Positive verkörpernde Held weniger charakterisiert als sein Begleiter. Er kann in einem Verwandschaftsverhältnis zum Tauchenden stehen: beide seien zwei Brüder oder Bruder und Schwester, oder zwei Schwestern (in den Mythen der Indianer Nordamerikas, Altaier, Chinesen, Ainu, Burjaten; MNM I, S. 197, 408). In den Mythen der Völker der Welt entsprechen dem litauischen Velnias, der zum Grund der Wasser taucht und Erde holt, Tiere ähnlicher Natur, die mit der Erde oder ihren Gewässern verbunden sind. In der wedischen Mythologie kommt ein urzeitliches Wildschwein vor, das ins Wasser taucht und aus dem Schlamm die Erde erschaffi (MNM I, S. 224). In der Folklore der Ostslawen erfüllt die Rolle des tauchenden Demiurgs der Teufel und Vögel wie Ente, Taube, Schwan3. Auch in der finnougrischen mythologischen Tradition kann der Teufel oder ein Vogel - ein Taucher, ein Enterich - der Tauchende zum Grund des Ozeans sein4. Wie die Sujets des »kosmogonischen Tauchens« der Litauer und anderer Völker zeigen, ist die tauchende Person stets ein chthonisches Wesen, oder ein Vogel nicht selten mit den Wassern verbunden. Der Mythos von der schöpferischen Tätigkeit zweier mythischer Wesen, - die zusammenarbeiten und im Widerstreit stehen, - wird als ein dualistischer Mythos bezeichnet5. Gott und Velnias der litauischen Sagen sind Personen entgegengesetzter Natur, und ihre unterschiedlichen Schöpfungen widerspiegeln die Widersprüchlichkeit der Welt selbst. Laut M. Eliade, ist der kosmogonische dualistische Mythos eine Art Erklärung für die Entstehung des Bösen und für sein weiteres Bestehen in der Welt6. Gewöhnlich unterscheidet man in der Frage des Ursprungs des dualistischen Mythos zwei Ansichten. Die eine sieht die Ursachen der Entstehung dieser Mythen in der dualistischen Gesellschaftsordnung: jeder Volksstamm wurde in zwei Teile, zwei Fratrien, geteilt. Die Begründer der Fratrien, die im Verwandschaftsverhältnis zueinander stünden, können mit den geschwisterlichen Schöpfern der kosmogonischen Mythen in Verbindung gebracht werden. Soziale Strukturen widerspiegeln sich in Mythen nicht selten7. Andererseits wurde die Genesis des dualistischen Mythos auch aus der Psychologie des Menschen erklärt - aus der Teilung der Welt in entgegengesetzte Kategorien (MNM I, S. 408). Die Zahl 2 sei das Symbol der Verdoppelung, der Trennung, der Zwietracht, des Gegensatzes, des Konflikts, aber auch des Gleichgewichts; sie symbolisiert die Bewegung, die alle Entwicklungen erst in Gang setzt. Die Gegensätze von Schöpfer und Geschöpf, Licht und Schatten, Männlichem und Weiblichem, Geist und Materie, Gut und Böse, Leben und Tod - dies sind Phänomene, auf die sich die dualistische Weltsicht stützt. Besonders ausgeprägte dualistische Weltdeutungen stellen die beiden Elemente der chinesischen Philosophie Yin und Yang oder die Prinzipien des Guten (Ahura Masda) und des Bösen (Ahriman) des persischen Zoroastrismus dar8. In den kosmogonischen dualistischen Mythen, in denen auf dem Hintergrund 3 Ky3He^OBa B. C. flyanMCTM^eCKMe nereHflbl O COTBOpeHMM MMpa B BOCTOMHOCnaBSHCKOM ^onbKnopHOM TpaflM^MM. - HOBOCMÖMPCK, 1998. - S. 61; CMO7ieHCKMM ^THO^pa4>MMeCKMM CÖopHMK. CoCTaBMn B. H. floöpo-BonbCKMM. H. 1. - CaHKT-neTepöypr, 1891. - S. 229-230. 4 AnxeHBanbfl A. M., neTpyxMH B. H., XenMMCKMM E. A. K peKOHCTpy^MM MM(^O7roraqecKMx npegcTaBneHMM 4>MHHO-yropcKMx HapogoB. - Barno-cnaBaHCKMe McraegoBaHMa, 1981. - MocKBa, 1982. - S. 162-190. 5 ^7IMafle M. Ebd. - S. 328-338. 6 Eliade M. Kosmogininio mito funkcija ir struktüra. - Krantai, rugsejis, 1990. - S. 59. 7 3o7roTapeB A. M. PoflOBOM CTpoÄ u nepBOöbiraaa MM^O7roraa. - MocKBa, 1964. - S. 276, 278, 280. 8 Becker U. Simboliq zodynas. - Vilnius, 1995. - S. 59. Nijole Laurinkiene des ursprünglichen Nichts zwei handelnde Personen dargestellt sind, die einander gegenüberstehen, im Konflikt sind, gleichzeitig aber auch zusammenarbeiten und gegenseitig Hilfe leisten, - in diesen dualistischen Mythen kann man die Idee des Zusammenstosses jener ursprünglichen Gegensätze als Antrieb der Entstehung des Lebens, als Antrieb jeden Anfangs und seiner Entwicklung erkennen. In einigen Sagen, die einen gesonderten Sujettyp von der schöpferischen Tätigkeit des Velnias bilden, wird nicht erzählt, wie dieses Wesen zum Meeresgrund taucht (LPK 3015). Es wird nur dargestellt, was geschieht, wenn Velnias die Erde aus dem Mund ausspuckt oder sie einfach sät. Dann entstehen viele Steine. Und es wird immer mehr davon. Das ist verderblich - Steine können die ganze Erde bedecken. So beschliesst Gott die Kälte loszulassen und macht auf diese Weise dem Wachsen der Steine ein Ende. In manchen Texten wird angedeutet, dass die Steine bis zu den Weihnachten / bis zur Geburt Christi wachsen (6 Varianten: LTR 398/155/, 952/44/, 1158/224/, 1284/58/, 1289/131/, 1485/63/). Vom besonderen Interesse sind Varianten, in denen gesagt wird, dass die Steine so lange wuchsen, bis es blitzte und donnerte (3 Varianten: LTR 952/44/, LTR 952/53/, LTR 2376/32/). Weihnachten oder den Donner (in der Variante LTR 952/ 44/ werden beide Ursachen genannt) versteht man als eine Grenze, die die Macht von Velnias nicht mehr überschreiten kann. Wie bekannt, wird das Donnern in den Sätzen des Volksglaubens als der Kampf des Donnergottes Perkünas mit Velnias interpretiert, wenn es donnert, dann schlägt Gott die Velniai (LTR 739/11/, 1001/491/). So scheint es ganz verständlich und motiviert, dass in der Sage von Velnias, der die Steine wachsen lässt, Blitz und Donner zum Vorschein kommen. Zu bemerken ist, dass Blitz und Donner, und damit auch der Kampf Gottes mit Velnias, sich eben zu den Weihnachten, wie die analysierten Sagen bezeugen, so schicksalhaft zeigen. Denn die Weihnachtszeit galt einst für Litauer als der Beginn eines neuen Jahres. In manchen archaischen Traditionen wurde der Mythos vom Kampf Gottes oder eines anderen Helden mit einem das destruktive Element verkörpernden Wesen eben am Vorabend des Neujahrs oder während dieses Festes aktualisiert, durch diesen Kampf imitierende Rituale wiederholt. In Babylon wurde am Neujahrstag Enuma Elish - »Das Poem von der Schöpfung« feierlich vorgetragen. Der Kampf Marduks mit dem Meeresscheusal Tiamat wurde nacherzählt und imitiert. Dieses Scheusal wurde jedesmal besiegt und aus seinen Überresten der Kosmos geschaffen9. Der Kampf des altindischen Gottes Indra gegen die Dämonen wurde auch mit dem Neujahr verknüpft. Der Sieg über diese Dämonen, infolgedessen die Welt entstehen kann (die Wasser, die Tiere werden befreit, die Sonne in den Himmel gehängt), wird als mit der Einführung des neuen Jahres verbunden erklärt10. Das in litauischen Sagen erwähnte Weihnachten, als der Zeitpunkt, bis zu dem Velnias sich als Säer der Steine auf der Erde zeigt, ist auch als eine in kosmogonischer Hinsicht bedeutende Periode zu betrachten. Um Weihnachten wendet sich die Sonne, - dies konnte einen neuen Zyklus in der Zeit bezeichnen, der den Zusammenstoss der chaotischen und schöpferischen, mit dem Heiligen verbundenen Kräfte und die Durchsetzung des sacrum bedeutete. Deshalb waren um diese Zeit der kosmogonische Mythos und die damit verbundenen Rituale so wichtig, sie hatten die Erneuerung der Welt und des Menschen gleichsam gefördert. 9 Korga AHy coTBopun Heöo: HuTepaTypa gpeBHen MeconoTaMuu. nep. c aKKag. Coct. B. K. A^aHacbeBOM u M. M. flbaKoHoBa. - MocKBa, 2000. - S. 35-57. 10 Kennep O. B. H. Tpygbi no BeguÄcKoM Mu^onorau. - MocKBa, 1986. - S. 31. 253 Das Uema der Kosmogonie in litauischen Folklorenarrativen Die Erde, von einem Fisch getragen Das analysierte Sujet des »kosmogonischen Tauchens« ist die vorherrschende, doch nicht die einzige Erklärung des Ursprungs und der Natur der Erde in litauischen Sagen. In der litauischen Folklore findet sich der wohl auch internationale Sujettyp von der Erde in der Weite der Wasser, von einem riesigen Fisch getragen. Da nur zwei Varianten dieser Sage aufgezeichnet sind, liegt der Gedanke nahe, dass sie von woanders gekommen ist. Entsprechende Motive sind in der russischen, armenischen, mordwinischen, ainuischen, japanischen, burjatischen, altaischen, mongolischen Mythologie bekannt (MNM II, S. 392)11. In einer der beiden in Litauen aufgezeichneten Varianten der Sage vom Fisch, der die Erde trägt, wird erzählt, dass wenn der Fisch sich auf die andere Seite wendet, wird sich das Meer ergiessen und die ganze Erde überschwemmen (LTR 1977/25/). Die andere Variante der Sage erklärt, dass wenn der Fisch alt wird und stirbt, und wenn sein Schwanz zwischen den Zähnen heraushängt, dann kommt das Ende der Welt, denn die Erde, ohne Achse geblieben, fällt herab (LTR 1170/351/). Der Fisch wird hier für die Achse und die Stütze der Erde gehalten. Ohne Stütze könnte die Erde nicht bestehen. Der Fisch ist in diesen Sagen ein wichtiger Teil der mythischen Welt, dessen Verlust mit der Eschatologie verbunden wird. Ähnlich wird die Rolle des Fisches auf der makrokosmischen Ebene von Armeniern aufgefasst. Nach einer Version ihres Mythos ist die Erde von einem riesigen, in einem Ozean schwimmenden Fisch umschlungen. Der Fisch bemüht sich, seinen Schwanz zu fassen, doch es gelingt ihm nicht. Seine Bewegung verursacht das Erdbeben (MNM I, S. 105). Von Burjaten wird erzählt, dass wenn sich der Fisch - die Stütze stark bewegt, beginnt ein Erdbeben. In der altaischen Mythologie wird die Erde von drei Fischen getragen: wenn einer von ihnen seinen Kopf senkt, beginnt eine Flut. Das Bild des Fisches als einer Stütze der Erde konnte mit indischen Sätzen des Volksglaubens vom inmitten des Ozeans ragenden Berg verbunden sein (MNM II, S. 392). Der Berg konnte auch die Funktion der Erdachse erfüllen. Das Motiv des Fisches, der die Erde in den Urwassern umschlungen hält, ist vergleichbar mit der Rolle der Schlange in manchen mythologischen Traditionen, wo sie eine ähnlichen Funktion erfüllt: in der altindischen (Shesha), in der skandinavischen (die Midgard-Schlange), in der ägyptischen (Mechenta) (NMN, I, S. 470). Sowohl der Fisch, als auch die Schlange sind Tiere, die mit Erde und Wasser verbunden sind. So wird die Erde von Wesen chthonischer oder der Wassernatur gestützt und getragen. In der litauischen erzählenden Folklore konnte, wie die wenigen Sagenvarianten zeigen, ein Wasserwesen - der Fisch diese Rolle erfüllen. Erde - die Tochter der Sonne und des Mondes Manchmal wird die Herkunft der Erde nicht mit den Wassern und ihren Tiefen, sondern mit der himmlischen Sphäre verbunden. Die Sagen dieser Uematik sind im Vergleich zum Sujet des »kosmogonischen Tauchens« wahrscheinlich später entstanden. Hier handeln personifizierte Himmelskörper, himmlische Naturkräfte. In der Betonung dieser handelnden Personen und des Himmels als Ortes der Handlung widerspiegelt sich die indoeuropäische Ideologie. Die Erde - ein personifiziertes mythisches 11 Ky3He^oBa B. C. Ebd. - S. 148; AnxeHBanbfl A. M., neTpyxMH B. XenMMCKMM E. A. Ebd. - S. 175. 254 Nijole Laurinkiene Wesen - wird in das Szenario der »himmlischen Hochzeit« aufgenommen. Es wird erzählt, dass sie die Tochter der Sonne und des Mondes ist. Einmal seien die Eltern der Erde in Streit geraten. Die Sonne wollte alleine auf die Erde aufpassen, doch der Mond war nicht einverstanden und verklagte die Sonne vor Gericht. Der Richter Perkünas be-schloss, dass die Sonne am Tage auf die Erde aufpasst, der Mond und seine Schwestern, die Sterne, - in der Nacht (LTR 4239/49/; s. auch LTR 10b/163/). So entstanden der Tag und die Nacht - die Zeit wurde in die helle und die dunkle Perioden geteilt. Nur zwei Varianten vertreten die Sage des dargestellten Inhalts. Dass dieses Sujet im baltischen Areal aber wirklich existieren konnte, wird von der lettischen mythologischen Überlieferung bestätigt. Laut lettischen Erzählwerken entsprechenden Inhalts, könnten Streitigkeiten zwischen der Sonne und dem Mond bei der Teilung ihrer Pflichten entstehen - wer sollte nun am Tage und wer in der Nacht scheinen12. Das Motiv der Sonne und des Mondes als eines Ehepaars ist sowohl in der litauischen, als auch in der lettischen Mythologie bekannt. Verschiedene Sujets, die auf der Grundlage dieses Motivs entstanden sind, widerspiegeln den sogenannten Mythos der himmlischen Hochzeit. Ausser der genannten Sagen, wird darüber noch in einem Werk des litauischen mündlichen Volksschaffens gesprochen. Gemeint ist hier ein Lied, das Anfang des 19. Jhs. von Ludwig Rhesa veröffentlicht wurde und das die Heirat des Mondes und der Sonne, die darauffolgende Untreue des Mondes, der sich in Ausrine (Morgenstern) verliebt, und Perkünas' Strafe dafür darstellt (RD I 27). Zwar wurde dieser Text von Rhesa stark redigiert, weshalb gewisse Zweifel bestehen, ob hier in der Tat der wirkliche Inhalt des Liedes wiedergegeben ist. Doch wenn man in diesem Falle dem Text nicht vertraut, so bestätigt die lettische Folklore die Authentizität dieses Inhalts ganz bestimmt. Von der Heirat des Mondes mit der Sonne oder mit ihrer Tochter und von seiner Untreue sind nicht wenige lettische Lieder (LTdz 8193, 8194), und auch Sagen (Ltt S. 36) aufgezeichnet. So kann man behaupten, dass sowohl die Litauer, als auch die Letten das Sujet der himmlischen Hochzeit hatten, nur ist es verschieden modifiziert erhalten geblieben. Als ein Typ dieser Sujets der himmlischen Hochzeit ist die besprochene Sage vom Ehepaar Sonne und Mond, von ihrer Tochter Erde und vom die Uneinigkeit dieses Ehepaars verurteilenden Perkünas zu betrachten. Die Sonnenschöpfung Die Sonne wird in der litauischen Mythologie vom Schmied erschaffen. Der Schmied als Demiurg - der Schöpfer der Elemente der Welt - ist in mythologischen Überlieferungen vieler Völker bekannt. In dieser Hinsicht ist der Gott dem Schöpfer gleich. Der litauische Schmied - der Schöpfer wird in einer historischen Quelle geradezu unter die Götter eingereiht. In einem Einschub der Chronik von Johannes Malala (aus dem Jahr 1261) wird als einer der litauischen Götter der Schmied Teliavel[is] genannt, wobei auch die von ihm ausgeführte Aktion beschrieben wird. Es wird behauptet, dass Teliavelis die Sonne geschmiedet und in den Himmel geworfen habe (BRMS I, S. 268). Vom Schmied als dem Schöpfer der Sonne spricht man auch in einer litauischen Sage. Sie erzählt, dass in alten Zeiten ein Mensch, der Schmied, lebte. Damals war es 12 Mitologijos enciklopedija. - T. 2. - Vilnius, 1999. - S. 154. Das Uema der Kosmogonie in litauischen Folklorenarrativen überall finster wie in der Nacht. So habe dieser Schmied beschlossen, die Sonne zu schmieden. Er habe ein glitzerndes Eisen genommen, habe geschmiedet und geschmiedet, und in sechs Jahren wäre er fertig. Dann sei er auf die höchste Hütte gestiegen und die Sonne in den Himmel geworfen (LTR 4239/506/). Die schöpferische Tätigkeit des Schmiedes und konkret das Schmieden der Sonne wird auch von der lettischen Folklore bestätigt. Hier schmiedet der Schmied auf Gebot Gottes eine runde Scheibe. Gott färbt sie golden und hängt im Himmel auf. So sei die Sonne entstanden (Ltt S. 35). Die Sonnenschöpfung als Verdienst des Schmiedes ist also sowohl von der litauischen, als auch von der lettischen Folklore, und auch von Angaben der schriftlichen Quellen bezeugt. Mit dem Mythos von der Sonnenschöpfung ist die Erzählung vom Raub der Sonne und von ihrer Befreiung verbunden. Diese Erzählung ist in einer historischen Quelle festgehalten, vorgelegt vom Historiker des 15. Jhs. Enea Silvio Piccolomini. Er schreibt von einem Stamm, den der Mönch Hieronymus von Prag, der das Christentum in Litauen verbreitete, gefunden habe; dieser Stamm verehrte die Sonne und hielt einen eisernen Schmiedehammer von ungewöhnlicher Grösse in Ehren. Die Priester, gefragt, was die Verehrung bedeute, antworteten, dass es einst lange Monate keine Sonne gab: der mächtige König hätte sie gefangen und im festesten Turm verschlossen. Dann seien die TierkreisZeichen zur Hilfe gekommen. Mit einem riesigen Schmiedehammer hätten sie den Turm zerschlagen, die Sonne befreit und sie den Menschen zurückgegeben (BRMS I, S. 591-592, 595). So wird die Sonne also von den Tierkreis-Zeichen befreit. Die letzteren werden als ein personifiziertes, handelndes Wesen dargestellt, das den riesigen Schmiedehammer manipuliert. Der Tierkreis ist die Zone am Himmel, beiderseits der Ekliptik, innerhalb deren sich die Sonne und andere Planeten bewegen. Sie ist nach Sternbildern in 12 Teile geteilt, die mit einem entsprechenden Tierkreis-Zeichen versehen wurden. Die TierkreisZeichen symbolisieren also die Raumabschnitte, die die Sonne durchläuft. Wenn die Sonne geraubt war, so soll es heissen, dass sie sich durch das Himmelgewölbe, d.h. entlang dem Weg, der Tierkreis genannt wurde, nicht bewegt hat. Der Begriff der Tierkreis-Zeichen ist in einem sehr frühen Stadium der Zivilisation entstanden. Als ein System der astralen Symbole konnten sie in Litauen noch zu Zeiten der vorchristlichen Religion existieren. Es ist von schriftlichen Quellen bezeugt, dass der Altar des Perkünas-Tempels in Vilnius aus 12 Stufen bestand, von denen j ede einem Tierkreis-Zeichen gewidmet war. Auf diesen Stufen wurden jeden Monat, als die Sonne in ein bestimmtes Zeichen eingetreten war, Opfer verbrannt (BRMS II, S. 463, 465). Die Tierkreis-Zeichen wurden also mit der Sonne im Perkünas-Tempel verbunden. Demnach waren schon damals (im 13. Jh.) diese astralen Zeichen ein Bestandteil des Symbolensystems der alten Religion. Offenbar wurden sie nicht zufällig von Piccolomini erwähnt bei der Erklärung, wie sich die Litauer den Verlust der Sonne und ihre Rückkehr in den Himmel vorstellten. Das Besondere in dem von Piccolomini vorgelegten Fragment des Mythos ist, dass die Sonne mit einem Schmiedehammer befreit wird. Denn gerade der Schmiedehammer, das Werkzeug des Schmiedes ist es, womit die Sonne erschaffen wird. Möglicherweise sind die Tierkreis-Zeichen eine von Varianten, Abwandlungen des Schmiedes als einer mit der Sonne verbundenen Person. Die Verbindung der Tierkreis-Zeichen mit dem Schmiedehammer ist ein wenig ungewöhnlich. Jedenfalls kann man die Bedeutung des Schmiedehammers, des dem Schmiede eigenen Werkzeugs, nicht nur bei der Sonnenschöpfung, sondern auch bei der Rückgabe der geraubten Sonne den Menschen feststellen. Deshalb galt offenbar diesem Werkzeug besondere Ehre. Es ist übrigens zu bemerken, dass die 256 Nijole Laurinkiene Werkzeuge des Schmiedes in vielen mythologischen Traditionen besonders geehrt wurden und beinahe als heilig galten; man glaubte auch, dass die Arbeit des Schmiedes der schöpferischen Tätigkeit Gottes gleichkomme. In diesem Kontext scheinen die Sujets vom Schmied, der die Sonne schmiedet, und vom aussergewöhnlichen Schmiedehammer, womit die Sonne befreit wird, völlig logisch und verständlich zu sein. Die Entstehung der Sternbilder Grizulo Ratai (der Grosse Bär) Neben den besprochenen Himmelskörpern, haben die Menschen von alters her manche Sternbilder beobachtet und ihre Herkunft erklärt. Gut bekannt war das Sternbild des Grossen Bären (Ursa Major), auf Litauisch Didieji Grizulo Ratai. Bei vielen Völkern wurde es nämlich nach den Rädern, dem Wagen (lit. ratai) genannt. So haben sich dieses Sternbild die Griechen, die Römer, die Phryger, die Hethiter vorgestellt, sie haben es auch als Räder bezeichnet, nur nicht mit Wörtern mit gemeinsamer Wurzel, sondern mit jenen verschiedener Herkunft13. Der litauischen Bezeichnung der Grizulo Ratai ist auch der lettische Name dieses Sternbilds verwandt: Greizie Rati. Das Wort greizie bedeutet »krumm«, »verbogen«, »schief«, übersetzt hiesse es also »schiefe Räder«. Das Wort Grizulo wird vom Verb grgzti - »biegen«, »(zurück)wenden« hergeleitet. So enthalten auch die Bezeichnungen Grizulo und Greizie die Bedeutung der Krummheit, des Biegens, des (Zurück)wendens. Mit dieser Semantik ist auch der Sinn von Grizulo Ratai in der Folklore verbunden. Die litauische erzählende Folklore stellt sich die Grizulo Ratai als Räder vor, als einen Wagen, der bei einer Fahrt über den Himmel an etwas angestossen, steckengeblieben oder gar gebrochen und bis jetzt dort liegengeblieben sei. Mit diesem Wagen könnten Alijosius oder Einikis gefahren sein (LTR 1300/30/). Diese Personen der christlichen Religion - Elias und Henoch (lit. Alijosius und Einikis) - sind in der litauischen mündlichen Überlieferung eine ziemlich späte Folge der Transformation des Donnergottes Perkünas. Bis zum heutigen Tag ist immer noch der Satz des Volksglaubens verbreitet, dass der mit einem Wagen über den Himmel fahrende Alijosius (mit ihm kann auch Einikis sein) eigentlich der Donner oder schlechtweg Perkünas selbst ist (LMD I 613/45/, LTR 739/1/, 832/76/, 2212/147/, 3867/216/). In einem Satz des Volksglaubens wird übrigens gesagt, dass der Donner entsteht, wenn der hl. Gregor (lit. Grigalius) mit kleinen Rädern über die Wolken rattert (LTR 1181/741/). Der Name Grigalius klingt ähnlich wie Grigas, sie beide können wie zwei Varianten eines und desselben Namens betrachtet werden (Grigas wäre die Kurzform des Namens Grigalius). Im übrigen werden Grizulo Ratai manchmal Grigo Ratai genannt. So konnten also Grigo, oder Grizulo, Ratai mit Perkünas verbunden sein. Mit diesem Wagen, mit diesen Rädern, die eben im Himmel lokalisiert sind, sei einer der Götter, der mit dem oberen Bereich der mythischen Welt verbunden war, und zwar der Donnergott, gefahren. Die klar erkennbare Verbindung zwischen Grizulo Ratai und Perkünas wird übrigens durch die Bezeichnung des betreffenden Sternbilds bestätigt, an die man sich in einer Ortschaft Litauens (in der Gegend von Gruzdziai) noch erinnert, - Perküno ratai, »Perkünas' Räder«14. 13 TaMKpenMfl3e T. B., MBaHOB B. B. MHgoeBponeÄCKUM 33MK u uHgoeBpone^bi. PeKOHCTpy^ua u ucTopu-K0-TMn07roraqecKMM arnnu3 npaa3biKa u npoTOKynbTypbi. - T. 1-2. - Töunucu, 1984. - S. 686. 14 Klimka L. Apie lietuviskuosius zvaigzdynq vardus. - Tautosakos darbai. - [T.] 9(16). - Vilnius, 1998. - S. 109. 257 Das Uema der Kosmogonie in litauischen Folklorenarrativen Offensichtlich wurde das Mythologem von Grigo, oder Grjzulo, Ratai in das Bildersystem des Mythos des Donnergottes einbezogen. Der Wagen, die Räder sind, wie schon erwähnt, auf jeden Fall ein charakteristisches Attribut von Perkünas. Häufig wird er sich mit einem Wagen über den Himmel fahrend vorgestellt. Das Rattern der Räder wird als der Donner erklärt, die unter den Rädern hervorspringenden Funken - als Blitze (LTR 832/146/, 2567/228/). So konnte das Sternbild, das nach den Rädern benannt ist, motiviert mit Perkünas oder seinem Ersatz Alijosius verknüpft werden. Wie in der Sage erklärt wird, fuhr Alijosius mit diesem Wagen in die Hölle, doch die Deichsel (lit. rodiklis, grjzulas) des Wagens war an etwas angestossen, und so wurde sein Wagen Grjzo Ratai genannt (LTR 1300/30/). Die Räder haben also diese Bezeichnung deshalb bekommen, weil sie angestossen und stehengeblieben sind. In einer anderen Variante der Sage fährt der Mond mit Grigo Ratai, wobei ein Rad an die Ecke der Hölle anstosst und bis zum heutigen Tag dort stehenbleibt (LTR 1300/174/). Dieses Sujet erscheint ungewöhnlich, denn der Mond wird in der litauischen Folklore nicht mit Fahren in einem Wagen verknüpft. Vielleicht ersetzt er hier eine andere Person, die mit Grigo Ratai gefahren ist. Mit Grigo Ratai sei auch der Zauberer Vardauskas (oder Tvardauskas, der auch in den Sagen vom Ursprung der Flecke, die auf dem Mond zu sehen sind, vorkommt, - LTR 1160/80/, 3857/153/) gefahren. Die Räder seien gebrochen, und Vardauskas sei auf den Mond gefallen - nun ragen dort seine grossen Wangen hervor. Die Räder seien aber im Himmel geblieben, wo sie in der Kälte knarren15. Noch eine Variante der betreffenden Sage erzählt von Gott und dem hl. Peter, die mit Grigo Ratai gefahren sind. Sie wollten den Himmel besichtigen. Doch diesmal sei die Achse gebrochen, die Pferde scheuten, setzten sich in Trab und kippten diesen Wagen um. So sei er dann auch auf dem Himmel umgekippt geblieben (LTR 1352/3/). Die litauische Folklore stellt sich also das Sternbild des Grossen Bären, Grjzulo Ratai, als einen Wagen vor, der einst über den Himmel gefahren und zur Seite gebogen, gebrochen und umgekippt ist, mit dem Alijosius oder der Mond, oder Vardauskas, oder Gott mit dem hl. Peter gefahren sind. Das heisst, dass die litauische mündliche Überlieferung die in der Welt weit verbreitete Vorstellung des betreffenden Sternbilds als der Räder, oder eines Wagens, ergänzt. Sietynas (das Siebengestirn) Noch eine Sterngruppe hat von alters her das Interesse der Menschen geweckt - das Siebengestirn (Pleiades), auf Litauisch Sietynas, das zum Sternbild Stier gehört. Das Motiv von Sietynas ist für die litauische mündliche Überlieferung bezeichnend - es kommt sowohl in der gesungenen, als auch in der erzählenden Folklore vor. In Liedern wird Sietynas in die Familie der personifizierten, symbolisierten Himmelskörper aufgenommen und gewöhnlich nach Menuo (dem Mond) - dem Vater und Saule (der Sonne) - der Mutter genannt, wobei ihm der Status des Brüderchens, des Beschützers des Waisenmädchens oder des Soldatenjungen, zuerkannt wird: Sietyns brolelis, Sietyns brolelis, Sietyns brolelis Lauku lydejo (LTt I 334; Das Siebengestirn das Brüderchen, das Siebengestirn das Brüderchen, das Siebengestirn das Brüderchen Über das Feld begleitete). - Zauniereliai vargdieneliai, kur jüsq broleliai? - Müs brolaliai, müs raiteliai, - danguj sietyneliai (LMD I 915/69/; Sol- 15 Ebd. 258 Nijole Laurinkiene datchen ihr Armseligen (Dim.), wo sind ihre Brüderchen? - Unsere Brüderchen, unsere Reiterchen, - im Himmel die Siebengestirnchen). In der erzählenden Folklore wird von Sietynas in Texten eines Sujettyps der Sage gesprochen. Sietynas ist hier keine anthropomorphisierte Person, sondern nur ein Haushaltsgerät. Trotzdem ist er auf der Ebene der mythologischen Weltanschauung ein ziemlich wichtiges Objekt und Ursache bestimmter Kollisionen in der mythischen Welt. In den Sagen wird erklärt, Sietynas sei ein Sieb (lit. sietas, also ein Gerät, mit dem gewöhnlich Mehl gesiebt wird), das einer bestimmten im Himmel lebenden mythischen Person gehörte und einmal ihr gestohlen wurde. Hier eine der charakteristischen Varianten dieses Sujettyps: Danguje gyveno Norkus. Kartq velnias jam pavoge sietelj. Jis [Norkus - N.L.] nuejo j peklq ir eme taip trankytis, kad net zemeje buvo girdeti. Ir dabar, kai kas nors trankosi, sako: »Trankosi, kaip Norkus po peklq« (LTR 1001/101/; Es lebte im Himmel Norkus. Einmal hatte ihm Velnias das Siebchen gestohlen. Er [Norkus - N.L.] ging in die Hölle und begann so herumzupoltern, dass man es auch auf der Erde hören konnte. Auch jetzt, wenn jemand herumpoltert, sagt man: »Poltert herum, wie Norkus in der Hölle«). Zuerst spielt sich die Handlung im Himmel ab, in der Umgebung der hier lebenden mythischen Person Norkus, später - im Herrschaftsbereich der Velniai, in der Hölle. Es sind die Repräsentanten dieser beiden Bereiche, die in Konflikt um das Siebchen geraten. Das Sujet und die handelnden Personen der Sage können mit dem Mythos des Donnergottes Perkünas assoziiert werden, - und zwar mit einem Motiv dieses Mythos: wie Velnias ein dem Perkünas gehörendes Objekt stiehlt. Das Motiv des Diebstahls eines Geräts des Donnerers gilt als ein internationales Motiv - es ist auch aus den altindischen, altgermanischen, finnougrischen Mythen bekannt16. In der zitierten Sage entspricht Norkus dem Donnerer Perkünas. Diese Person, wie für eine handelnde Person des betreffenden Mythos auch bezeichnend ist, verfolgt Velnias wegen des Diebstahls eines ihr wichtigen Gegenstandes, gelangt sogar bis zur Hölle, wo sie herumpoltert, dass man es auch auf der Erde hört. Zweifellos ist das Herumpoltern von Norkus das Rollen des Donners. In einigen Varianten der Sage wird der hl. Morkus (Markus) als derjenige erwähnt, der mit den Velniai kämpft und das Siebchen zurückbringt (LTR 1300/29/, 1550/ 71/). Auf Maria's Bitte geht er in die Hölle das Siebchen holen. Vor Angst verdunkeln die Velniai die Hölle, doch Morkus findet das Siebchen und bringt es Maria zurück, die es zu den Sternen aufrängen lässt (LTR 1300/29/). In einer anderen Variante sagt man, dass wenn Maria das Siebchen vermisst, begibt sich Morkus in die Hölle und vertreibt alle Velniai. Es bleibt nur ein Lahmer, der ihm das Siebchen gibt. Morkus bringt es Maria zurück, und es wird am Himmel neben dem Mond aufgehängt (LTR 1500/71/). Phonetisch sind die Namen Morkus und Norkus sehr ähnlich. Der in der Variante desselben Sujets vorkommende Norkus ist sehr wahrscheinlich ein wenig geänderter Name Morkus. Es ist festgehalten, dass den Namen des hl. Morkus Perkünas bekommen konnte (LTR 832/674/). Zu vermerken ist ausserdem, dass der Tag des hl. Morkus, der gleich nach dem hl. Jurgis (Georg), d.h. am 25. April, kommt, mir Gewittern verbunden wurde. Am Tage des hl. Morkus wurden die Kreuze des Dorfes umgangen, damit keine Wellen (Gewitter) au&ommen (LTR 374/2254b/). 16 Laurinkiene N. Senoves lietuviq dievas Perkünas. - Vilnius, 1996. - S. 141-149. 259 Das Uema der Kosmogonie in litauischen Folklorenarrativen Dass Norkus bzw. Morkus dem Perkünas entspricht, wird von der Variante der Sage klar bezeugt, in der die Rolle des Verfolgers des Velnias wegen des Siebes eine Person erfüllt, die eben Perkünas genannt wird. Es wird erzählt, dass die Drei Könige zur Heiligsten Mutter gekommen sind, um den neugeborenen Gott zu besuchen, und dass sie ihr in einem Siebchen Geschenke gebracht haben. Die Heiligste Mutter hat das Siebchen am Himmel aufgehängt. Doch Velnias hat es gestohlen und unter einer Fichte versteckt. Die Heiligste Mutter bat Perkünas, das Siebchen dem Dieb wegzunehmen. Perkünas schlug in Velnias ein, der unter der Fichte sich versteckte, nahm ihm das Siebchen weg und gab es der Heiligsten Mutter zurück. Diese hängte es wieder am Himmel auf. So sei Sietynas, das Siebengestirn, enstanden (LTR 1471/64/). In der Sage sind Realien und Personen zweier verschiedenen Religionen vereinigt. Es ist anzunehmen, dass die handelnden Personen der christlichen Religion die Substituten der früheren mythischen Personen sind. Wahrscheinlich war einst anstelle der Heiligsten Mutter Laumé, die möglicherweise die Funktion von Perkünas' Frau erfüllte17. Es ist bemerkt worden, dass in lettischen Liedern das Sieb ein charakteristisches Gerät der Frau des Donnergottes und ihrer Kinder ist (BW 33699, 33708). Die Mutter der Brüder Perkoni oder Perkons' Töchter haben das Sieb zum Erzeugen des feinen Regens genutzt18. Das Sieb konnte also mit dem Regen verknüpft werden. Dies bestätigen übrigens auch die Mythen der alten Inder und Griechen. Aus diesem Grunde gehörte offensichtlich das Sieb Perkünas - dem Gott, der über meteorologische Erscheinungen waltete. Die Entstehung des menschlichen Wesens Wie in den Sagen behauptet wird, wurde am Anfang der Welt auch der Mensch erschaffen. Die Schöpfung des Menschen ist eine der Etappen des allumfassenden kosmogonischen Prozesses. In manchen Folklorenarrativen wird angedeutet, dass der Mensch oder ein anderes anthropomorphes Wesen »nach der Schöpfung der Welt« geschaffen wird (LTR 1542/375/, 1208B/1275/). Offensichtlich ist es ein kreativer Akt, der die Beendigung der Weltschöpfung bezeichnet. In litauischen Sagen wird der Mensch am häufigsten von Gott geschaffen. Dieser Gott wird mit keinem bestimmten Namen versehen. Allerdings behauptet man in einer Sage, dass er »König aller Könige« sei (LTR 10b/121/). Diese seine Charakteristik als eines Oberherrschers assoziiert mit dem Status des höchsten Gottes. Manchmal wird Gott - der Schöpfer des Menschen Viespats Dievas (LTR 10b/120/) oder Ponas Dievas (LTR 10b/121/; LMD I 561/10/) - beides heisst »Gott der Herr« - genannt. Zweifellos entstammen diese Bezeichnungen dem Christentum. Überhaupt müsste man zugestehen, dass die Sagen von der Schöpfung des Menschen von der christlichen Überlieferung beeinflusst sind, dass darin Bibelelemente auftreten, - doch daneben unterscheidet sich in vielen Fällen auch die Schicht der älteren vorchristlichen Religion. In der Folklore sind verschiedene Weisen der Menschenschöpfung festgehalten, die sich mit archaischen anthropogonischen Mythen anderer Völker verbinden lassen. Eine davon ist die Erschaffung des Menschen aus dem Speichel Gottes: 17 Vaiskünas J. Ar pazino senoliai zvaigzdes. - Liaudies kultüra, 1994, Nr. 1. - S. 17. 18 Ebd. 260 Nijole Laurinkiene Kada seniai Viespats Dievas ejo per vienq zemes plotq. Beeidamas du kartu nusispjove ir nuejo, kur jam reikejo. Taciau spjaudalai neisdziüvo, bet pavirto zmonemis: pirmas - vyru, antras - moterim. Tiedu zmones tenai ir gyveno (LTR 10b/120/; Irgendwann vor langer Zeit ging Gott der Herr über eine Landfläche. Beim Gehen spuckte er zweimal aus und ging seines Weges. Doch die Spucke ist nicht ausgetrocknet, sondern verwandelte sich in Menschen: die eine - in einen Mann, die andere - in eine Frau. Diese zwei Menschen haben dann dort gewohnt). So entsteht aus der Spucke Gottes das erste Menschenpaar. Durch Spucken schafft übrigens nicht nur Gott, sondern auch Velnias. Wie in den Sagen von der Erdschöpfung erzählt wird, entstehen dort, wo Velnias ausgespuckt hat, Abgründe, Sümpfe (LMD I 561/31/) oder einfach viele Steine (LTR 961/311/). Durch Spucken schaff: also Velnias die Erdoberfläche, Gott aber - den Menschen (manchmal auch den Velnias selbst). Dass der Speichel eine ausserordentliche Potenz besitzt, glauben auch die Ostslawen und Germanen19. In der Folklore der Ostslawen ist das Motiv bekannt, wie aus der Spucke Gottes der anthropomorphisierte Teufel (camana) entsteht20. In der germanischen Mythologie spucken zwei Göttergeschlechter - die Asen und die Vanen - als Zeichen ihrer Versöhnung in einen Kessel, und aus diesem Speichel entsteht die mythische Person Kvasir, der weiseste von allen Menschen21. Das anthropomorphe Wesen kann also in mythologischen Überlieferungen der Litauer und anderer Völker aus dem Speichel, und zwar aus Gottes Speichel, erschaffen werden. Das könnte man für eine Erscheinung der Emanation Gottes des Schöpfers halten, für das Sich-Ergiessen der kreativen Energie in materialisierter Gestalt. Mit der Menschenschöpfung aus dem Speichel ist auch seine Entstehung aus einem Wassertropfen vebunden. Der Speichel ist auch eine Art Wassertropfen, nur kein einfacher, sondern aus Gottes Munde. Der Wassertropfen, aus dem der Mensch entsteht, ist auch aufs engste mit Gottes Körper verbunden. Er tropft beim Waschen von Gottes Gesicht. Es wird erzählt, dass einmal Gott sein berusstes Gesicht wusch, weil er sich beim Ofenheizen beschmutzt hatte. Beim Waschen fiel ein Wassertropfen auf die Erde. Aus diesem Wassertropfen entstand der Mensch (LTR 10b/121/). Aus Wassertropfen, die von dem in den Meeresschaum gesteckten Gottes Finger abtropften, werden die Engel geschaffen. Gott habe den benetzten Ringfinger über einem Teller gehalten, und die vom Finger abfallenden Tropfen haben sich in schöne Engel verwandelt (LMD I 1000/163b/). Das menschliche Wesen kann also aus der Feuchte verschiedener Art entstehen: aus Gottes Speichel, aus einem Wassertropfen, der von Gottes Körper herabgefallen ist. In der Anthropogonie, wie auch in den Mythen der Weltschöpfung, erfüllt das Wasser oft nicht nur die Rolle der Urmaterie, in der das Leben entsteht, sondern es ist auch der Stoff der Schöpfung selbst. Nicht nur das Wasser ist das Lebenselement in der litauischen mythologischen Überlieferung, auch das entgegengesetzte Naturelement - das Feuer - kann es sein. Die Entstehung des anthropomorphen Wesens wird manchmal durch die Analogie mit der Entfachung des Feuers erklärt. Eine Sage erzählt, wie Gott zwei Steinchen aufeinander 19 Ky3He^oBa B. C. Ebd. - S. 63. Simek R. Lexikon der germanischen Mythologie. - Stuttgart, 1984. - S. 226. 20 Ky3He^oBa B. C. Ebd. - S. 63. 21 Simek R. Ebd. - S. 226. 261 Das Uema der Kosmogonie in litauischen Folklorenarrativen schlägt, so dass Engel »wie Funken« niederzuprasseln beginnen. (LTR 1208B/1275/). In einer anderen Sage sagt man, dass mit einem Feuerstein und einem Feuerstahl Funken geschlagen werden, die sich in Engel verwandeln (BLV S. 280). So entstehen Wesen in menschlicher Gestalt aus einem Funken, das heisst aus Feuer. Das Feuer, wie auch das Wasser, ist eines der Hauptelemente der Welt, das das Leben erhält und dem Weltall spendet. Das Schlagen des Feuers durch Reiben zweier Steinchen ist ein altes Verfahren zur Feuerentfachung. Da das Feuer aus der Reibung entsteht, wird es in vielen Kulturen mit Sexualität verbunden22. Das Reiben zweier Steinchen selbst erweckt die Assoziation mit einem Geschlechtsakt, der den Anfang eines neuen Lebens ermöglicht. So erschein es unter dem Gesichtspunkt der mythischen Denkweise völlig motiviert, dass die Entstehung des menschlichen Wesens aufgrund der Reibung und des infolgedessen entfachten Feuers erklärt wird. Noch eine Art und Weise der Erschaffung des Menschen ist sein Kneten aus Ton. Taip sako senoves zmogus Simonavicius is Pakalmones, sako, kad Dievas zmogq lipde su abiem rankom, o pirstq galus, aplipusius nuog moliq, tai vis vale ing pasturgalj. Ir visq künq pakolei nulipde, tai vis turejo nusivalyti pirstq galus, ir visq künq kolei sudailino. Delto dabar vis yra pasturgaly künas storesnis, taip ir vis kaltesnis, uz viskq tur atsakyti. Kas-ne-kas, o tas pasturgalis tur atsakyt (w skurq bierze). O kada Dievas visq cielq künq sutvere, ale nosiai nepriteko, tai is uzpakalio pasturgaly ravq padare, o molj is tenai iseme ir nosj is to sutvere. O delto ir siandien atsiliep pasturgalis su nosia: vos is pasturgalio kas brakst, ir tuojau j nosj smakst (BLS 35; So sagt der Mensch der alten Zeit Simonavicius aus Pakalmone, man sagt, dass Gott den Menschen mit beiden Händen knetete, und die Fingerspitzen, an denen Ton kleben blieb, wischte er immer am Hintern ab. Und bis er den ganzen Körper geknetet hatte, musste er immer die Finger abwischen, bis er den ganzen Körper schön geformt hatte. Deshalb ist nun der Körper am Hintern immer dik-ker, so auch immer schuldiger, muss alles verantworten. Wer schon immer, aber dieser Hintern muss verantworten. Und als Gott den ganzen Körper vollständig geschaffen hatte, aber für die Nase nicht gereicht hatte, machte er von hinten im Hintern einen Graben, nahm etwas Ton von dort und schuf davon die Nase. Und deshalb verknüpft sich auch heute der Hintern mit der Nase: kaum etwas aus dem Hintern heraus, gleich in die Nase hinein). Dieses Motiv erschliesst den irdischen Ursprung des Menschen. Die Vorstellung, dass zwischen dem Menschen und der Erde eine enge Beziehung besteht, wird auch von der Verwandtschaft der litauischen Wörter zmogus (Mensch) ir zeme (Erde) bestätigt. Diese Wörter entstammen einer gemeinsamen Wurzel. Eine ähnliche Beziehung besteht zwischen den lat. homo (Mensch) und humus (Erde). In der Bibel wird der erste Mensch Adam auch aus Erde geschaffen. Dort wird gesagt, dass Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Acker machte, ihm den Odem des Lebens in seine Nase blies, und so wurde der Mensch ein lebendiges Wesen (1.Mose 2,7). Es besteht die Meinung, dass die Erzählung diesen Inhalts aus dem mündlichen Volksschaffen in die Bibel gekommen ist23 (MNM I, S. 40-41). Das Motiv des Knetens des 22 Becker U. Ebd. - S. 287. 23 Ope3ep fl®. fl®. OonbKnop b BeTXOM 3aBeTe - MocKBa, 1985. - S. 15-17. Nijole Laurinkiene Menschen aus Ton kommt in Mythen vieler Völker vor: der Babylonier, der Ägypter, der Griechen, der Australier, der Bewohner der Inseln Neuseelands, Tahiti, Borneo, der Stämme Afrikas, der Völker Amerikas - der Eskimos und der Indianer24. Dies zeigt, dass das Sujet der Menschenschöpfung aus Erde sehr archaisch und in der Welt weit verbreitet ist. Es ist nicht leicht festzustellen, was wäre die ursprüngliche Quelle der litauischen Erzählung vom Menschen, der aus Ton geknetet wird und dem dann der Atem eingeblasen wird - die Folklore oder die Bibel. Doch wenn in den Sagen auf ähnliche Weise Tiere aus Ton geformt und belebt werden, so müsste man annehmen, dass diese Idee in der litauischen Folklore bestehen konnte. Wie aus den Sagen bekannt ist, formt Gott oder sein Helfer Velnias aus Ton oder aus einem kleinen Klumpen Erde Haustiere und wilde Tiere, Vögel und andere Lebewesen: die Ziege, das Schaf, den Wolf (LTR 1419/20, 326/, 327/303/), die Lerche, die Taube (LTR 859/5, 43, 38/), den Frosch, die Kröte (LTR 752/34/). Ihnen, wie auch dem Menschen, bläst Gott den Geist ein. Erst dann werden sie lebendig. In litauischen Sagen können also sowohl der Mensch, als auch Tiere und Vögel aus Erde gemacht werden. Ihre Schöpfer sind in vielen Fällen nicht nur Gott, sondern auch sein Helfer Velnias. Allerdings erschaffi der Letztere häufiger Tiere und nicht Menschen. Es sind also in litauischen Sagen Erzählungen von der Schöpfung des menschlichen Wesens erhalten geblieben. Nicht selten, wie festgestellt wurde, verflechten sich darin Elemente der alten Religion mit eher aus der Heiligen Schrift stammenden Motiven, die alte mythische Weltanschauung mit der späteren christlichen oder sogar gegenwärtigen Tradition. Die archaischsten von diesen Motiven können als Fragmente des vorchristlichen anthropogonischen Mythos betrachtet werden, der als ein Teil des Mythos von der Weltschöpfung gilt. Dies sind die Sujettypen und Motive der kosmogonischen Uematik in litauischen Folklorenarrativen. Sie sprechen von der Vorgeschichte der Welt in illo tempore, in jenen Zeiten, als es noch nichts da war und langsam begonnen wurde, die Hauptkomponenten des Weltalls zu schaffen: die Erde, den Himmel, die Sonne, die Sternbilder und zuletzt - den Menschen. Die meisten dieser Erzählungen sind international, dafür findet man Analogien im europäischen Kontext, und in manchen Fällen - im weiteren Kontext der Mythen der Völker der Welt. Diese Analogien bestätigen die Authentizität, den archaischen Ursprung der Narrative, ihre Beziehung zur mythischen Weltanschauung. Durch Verbinden, Vergleichen der von der Überlieferung abgeschliffenen Erzählungen von der Weltschöpfung kann man versuchen, den Grundriss des litauischen kosmogonischen Mythos wiederherzustellen. Abkürzungen BLS - Lietuvi^ liaudies sakmes (Litauische Volkssagen). Parenge J. Balys. - Kaunas, 1940. BLV - Is gyvenimo lietuvisk^ veli^ ir velni^ (Aus dem Leben der litauischen Seelen und Teufel). Surinko dr. J. Basanavicius. - Chicago, 1903. BsV - Is gyvenimo veli^ bei velni^ (Aus dem Leben der Seelen und Teufel). Surinko Jonas Basanavicius. - Kaunas, 1928. 24 Ebd. - S. 16-17, 20, 23-25. 263 Das Uema der Kosmogonie in litauischen Folklorenarrativen BW - Barons Kr. un Wissendorffs H. Latvju dainas (Lettische Lieder). - Sej.5. - Petrogradä, 1915. LMD - Lietuvi^ mokslo draugijos rankrasciai Lietuvi^ literatüros ir tautosakos instituto Lietuvi^ tautosakos rankrastyne (Die Handschriften der Litauischen Gelehrten Gesellschaft im Handschriftenarchiv der litauischen Folklore des Litauischen Instituts für Literatur und Folklore). LPK - Balys J. Lietuvi^ pasakojamosios tautosakos motyv^ katalogas (Motivenkatalog der litauischen erzählenden Folklore). - Tautosakos darbai. - [T.] 2. Kaunas, 1936. LPTK - Lietuvi^ pasakojamosios tautosakos kartoteka, sudaryta Bronislavos Kerbelytés (Kartothek der litauischen erzählenden Folklore, zusammengestellt von Bronis-lava Kerbelyté). LTdz - Latviesu tautasdziesmas (Lettische Volkslieder). Izlasi kärtojusi: A. Anceläne, K. Aräjs, M. Asare, R. Drizule, V. Greble. - Sëj. 3. - Riga, 1957. LTR - Lietuvi^ literatüros ir tautosakos instituto Lietuvi^ tautosakos rankrastynas (Handschriftenarchiv der litauischen Folklore des Litauischen Instituts für Literatur und Folklore). Ltt - Latviesu tautas teikas: Izcelsanäs teikas (Lettische Volkssagen: Ätiologische Sagen). Izlase. Sastaditäja un ievada autore A. Anceläne. - Riga, 1991. MNM - Mh^h HapogoB Mupa: ^H^MK^o^eflMfl b gByx TOMax (Mythen der Völker der Welt: Enzyklopädie in zwei Bänden). - T. 1-2. - MocKBa, 1980, 1982. RD - Réza L. Lietuvi^ liaudies dainos (Litauische Volkslieder). - T. 1. - Vilnius, 1958. SlSLSA - Siaurés Lietuvos sakmés ir anekdotai (Sagen und Witze aus Nordlitauen). Surinko Matas Slanciauskas. - Vilnius, 1975. 264 Nijole Laurinkiene ^e Creation tteme in Lithuanian Folk Narratives Nijole Laurinkiene ^e purpose of the article is to provide an analysis of the relics of the cosmogonic myth that are closely allied with the mytho-poetic outlook and could be traced in the Lithuanian narrative folklore. Not rarely an intimate connection between them and the motifs and plots from the written sources of Christian religion exists; however, to demonstrate the possibility of differentiating the above mentioned surviving layers of religions in folklore and to ascertain their nature and origin one must refer to the comparative method in order to compare particular semantic structures of the Lithuanian folklore narratives with similar structures of other nations. ^e article deals with the subjects of legends on the prehistoric world, that is with the situation when »nothing was present« - there was no earth nor heaven nor the other elements which belonged to the world created afterwards. ^e theme of creating the Earth is reflected by the expanded and varying subject on the cosmogonic plunge (the Earth is created of the sands which are got out of the ground of the primary waters by the devil or some other entity). ^e subject of the image of depiction of the Earth in the wideness of waters held by an enormous fish, which is regarded as international, may be represented by several variations of legends. At times the origin of the Earth is linked with heaven rather than with waters in their entity. Lithuanian legends in this connection read that the Earth is the Sun's and Moon's daughter. ^e Sun, as is asserted by the data from the folklore and the written sources, is created by a blacksmith who might perform the part of demiurge and who by his status might be identified with God. According to the Lithuanian folklore narratives the origin of the constellations - the Ursa Maior and the Pleiades is also known as related to the myth of Perkunas, the Sunder god. Insofar as the origin of man is concerned, Lithuanian ethiological legends relate that he was created either by God from his saliva or made of clay. Angels containing anthropomorphic shapes were created as God was beating small stones one against another - angels fell pouring like live coals. ^is Lithuanian cosmogonical myth may possibly be reconstructed from fragmental survivals of the myth occurring in Lithuanian folklore, in the narrative folklore for the most part, and, partly, in the vocal folklore. 265