Benjamin Kaiser MITTEILEN UND URTEILEN. EINE ANNÄHERUNG AN DAS MITTEILEN MIT FRANZ KAFKAS „DAS URTEIL" 1. Einleitung Dieser Essay möchte mit der Analyse von Franz Kafkas Kurzgeschichte „Das Urteil" ein erstes philosophisches Verständnis für das Phänomen des Mitteilens wecken. Dafür soll Kafkas Erzählung hinsichtlich des Mitteilens untersucht werden. Da „Das Urteil" aus einer Aneinanderreihung von verschiedenen Arten der Mitteilung besteht (Brief, Selbstgespräch, Gespräch) ist dieser Text besonders für die Analyse dieses Phänomens geeignet. So lässt sich der Text als eine Parabel über das Mitteilen lesen. Kafka entwickelt einen spannungsreichen Aufbau zwischen eigentlicher, uneigentlicher und verletzender Mitteilung. Letztere ist weniger eine Mitteilung als vielmehr eine Verurteilung, ein Urteil. Somit kann auch ein innerer Zusammenhang zwischen dem Aufbau des Textes als Aneinanderreihung von Mitteilungen mit dem titelgebenden Ende der Geschichte als konsequente narrative Strategie verstanden werden. Anhand dieser Analyse wird ein erster Blick auf das Phänomen der Mitteilung möglich: Es wird gezeigt werden, dass das Phänomen des Mitteilens selbst mit anderen Phänomenen einer zu entwickelnden Lehre des Teilens in Beziehung steht, wie etwa bei Kafka mit dem Phänomen des Ur-Teilens. Abschließend soll versucht werden, die Teilens-Lehre von Theorien, welche vom Atom ausgehen, 255 abzugrenzen. Das Teilen weist immer schon über das Teil hinaus. So könnte weiterhin eine Vorstellung vom Teil gewonnen werden, welche vom Teilen ausgeht. 2. Mitteilen und Urteilen in Kafkas „Das Urteil" 2.1 Methodologische Vorbemerkung - Sinn und Eigensinn Dieser Essay versucht, ein Phänomen von einem Text ausgehend zu beschreiben. Damit ist es fraglich, in welchem Verhältnis Analyse und Text stehen. Eine Interpretation von Kafkas „Urteil" ist ausdrücklich nicht das Ziel dieser Analyse. Eine Interpretation neigt dazu, ein Sinn-Ganzes eines Textes beschreiben zu wollen, einen Text zu lesen im Sinne eines Deutens. Sie möchte den Text erklären. Allein durch diesen Anspruch wird der Text zu etwas Äußerem und Objektartigen, dem man sich mit 256 einer Vielzahl verschiedener Methoden nähern kann1. Es scheint gar so, als ob der Text nicht für sich selbst sprechen könnte: anders ist die zweifellos interessante, aber für den Text selbst irrelevante Menge an biographisch-psychologischen Interpretationen nicht zu verstehen, die den Sinn des „Urteils" vor allem im Leben und der Zeit Franz Kafkas zu verorten sucht2. Ebenso wenig versucht sich diese Analyse daran, die „Kritik" Kafkas an den Institutionen der Familie, des Staates oder der Gesellschaft aufzeigen zu wollen. Das Gesellschaftliche, Bürgerliche und Erotische an sich scheinen insbesondere in der Literatur zu Kafkas „Urteil" vielmehr die Themen der Interpretationen zu sein als des Textes selbst3 - wenn der Text davon handeln würde, würde er es selbst mitteilen. In der folgenden Analyse soll kein Hintersinn im Text aufgesucht werden: es wird 1 Dies trifft insbesondere auf Kafkas „Urteil" zu. Für u.a eine hermeneutische, strukturalistische, gender-theoretische und diskursanalytische Interpretation siehe: Oliver Jahraus und Stefan Neuhaus (Hrsg.), Kafkas „Urteil" und die Literaturtheorie: Zehn Modellanalysen, Re-clam, Stuttgart 2002 2 Vgl. für eine Übersicht hierzu etwa Monika Ritzer, „Das Urteil", in: Manfred Engel und Bernd Auerochs (Hrsg.), Kafka-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, Metzler, Stuttgart 2010 3 Für eine Interpretation, deren Hauptanliegen das Aufdecken des „kritischen" Sinnes Kafkas ist, vgl. Oliver Jahraus, Kafka. Leben, Schreiben, Machtapparate, Reclam, Stuttgart 2006, S. 190-213, v.a. S. 193 davon ausgegangen, dass der Text selbst mitteilt, was er meint, aus seiner Eigensinnigkeit seinen eigenen Sinn bestimmt. Insofern kann man den Ansatz der Analyse als phänomenologisch bezeichnen: Gegenstand des Beschreibung soll nur dasjenige sein, was sich wie von sich aus zeigt4. Insofern ist es notwendig, alles außerhalb des Textes (verschiedene tradierte (Vor-)Urteilsmöglichkeiten wie Analyseschemen, die Biographie Kafkas, zeitgenössische Normativität) einzuklammern, Epoche zu üben. Die Betrachtung des „Urteils" soll so vorurteilslos wie möglich geschehen. Auf diese Art der Beschreibung kann eine Reduzierung des Textes auf Biographie, Sinn oder „Kritik" umgangen werden. Wie man an dieser Vorbemerkung merkt, ist die Frage nach der Methode schon ganz vom Text abhängig, ebenso wie der Text von der Methode. Mit einer oben dargestellten phänomenologischen Analyse werden die Phänomene gewonnen, die sich von sich aus zeigen. Ein Paar von Phänomenen zeigt sich so besonders nachdrücklich im „Urteil": Mitteilen und Urteilen. Insofern ist die Wahl der aus dem Text herausgegriffenen Phäno- 257 mene nicht willkürlich. Der Ansatz, das Hauptaugenmerk der Betrachtung auf diese Phänomene (und nicht etwa auf Figuren, Stilmittel oder Sinn) zu lenken, schließt nicht andere Betrachtungsweisen aus, vielmehr ermöglicht er die Fokussierung auf eine neue Betrachtungsweise. So ist die Wichtigkeit der „medialen Komponente"5 im „Urteil" von Jahraus bereits genannt worden, eine konsequente Analyse lag bisher noch nicht vor. Ebenso versteht sich diese Analyse als eine Möglichkeit, die „mediale Komponente" in einen Zusammenhang mit dem Titel der Geschichte zu setzen. Ganz im wörtlichen Eigen-Sinn des Textes soll hier aber nicht die Kommunikation oder das Mediale betrachtet werden, sondern das Mitteilen. Inwiefern sich das Mitteilen von Kommunikation und dem Medialen unterscheidet, wird aus der Analyse des Phänomens des Mitteilens selbst nicht gewonnen werden können, und bleibt ein Forschungsdesiderat. An dieser Stelle kann nur die Eigenheit der Teilhaftigkeit, welche das Mit-Teilen auszeichnet, als ein Abgrenzungskriterium gegenüber von dem Medialen und Kommunikation genannt werden. 4 Bzw. was sich von sich aus mitteilt. Insofern ist eine Analyse des Mitteilens auch mit dem phänomenologischen Programm insgesamt verbunden. 5 Oliver Jahraus, Kafka. Leben, Schreiben, Machtapparate, Reclam, Stuttgart 2006, S. 195 2.2 Eine kurze Zusammenfassung von Kafkas „Das Urteil" Die Geschichte beginnt an einem warmen Frühlingstag, an dem der Protagonist Georg Bendemann einen Brief an seinen in Petersburg sich befindenden Bekannten schreibt. Jedoch hat das Schicksal den einstigen Freunden gegenteilige Leben beschert: Georg bekam ein gelingendes Leben, sein Petersburger Bekannter ein Mühsames zugeteilt. Da der Erfahrungshorizont nicht mehr derselbe ist, schreibt Georg seinem Freund nur banale Dinge, um ihn mit seinen eigenen Erfolgen nicht zu verprellen. Doch eine wichtige Veränderung in seinem Leben soll er auf Drängen seiner Verlobten doch mitteilen: die Verlobung. Unter dem Einfluss seiner Freundin teilt Georg die Verlobung schließlich auch mit. Dann verändert sich der Ton der Geschichte: Georg geht, das erste Mal seit langer Zeit, in das Zimmer seines Vaters, um ihm mitzuteilen, dass er dem Petersburger 258 Freund von der Verlobung geschrieben hätte. Der Gang zum Vater wird als ein Gang in die Kälte, Dunkelheit, Magerheit und Stickigkeit beschrieben, da in des Vaters Zimmer wegen der geschlossenen Fenster keine frische, warme Luft Einzug erhalten kann, sich das Zimmer auf der Schattenseite der Wohnung befindet und der Vater kaum isst. Der Vater wird durch die Mitteilung seines Sohnes ganz aufgebracht - er meine, Georg belöge ihn, denn er hätte gar keinen Freund in Petersburg. Von der Thematik ablenkend, ja ausflüchtend beginnt Georg damit, dem Vater Verbesserungsvorschläge hinsichtlich seiner Lebensweise in der Dunkelheit zu geben. Georg legt den Vater ins Bett, doch springt dieser wieder aus ihm auf, und hält Georg vor, auch den Freund in Petersburg zu belügen, mit dem er schon lange in Kontakt stünde. Er sei des Freundes Vertreter am Ort, und hätte ihn über alles weit ehrlicher und ausführlicher Bericht erstattet als Georg. Aufgrund Georgs charakterlicher Mängel verurteilt der Vater Georg schließlich zum Tode durch Ertrinken, woraufhin Georg sofort aus der Wohnung zum Wasser eilt und sich von der Brücke wirft. 1.3 Die Rolle der Mitteilungen in Kafkas „Das Urteil" Die Geschichte präsentiert sich zweigeteilt: der erste Teil erzählt von den Briefen Georgs an seinen Petersburger Freund, der zweite schildet das Gespräch zwischen Georg und seinem Vater. Wahrend der Schilderung des Briefeschreibens sind außerdem vom Erzähler eingefügten Erinnerungen Georgs aus Gesprächen mit seiner Verlobten eingebunden. So ist festzustellen, dass die gesamte Geschichte aus zwei Mitteilungsarten besteht - dem brieflichen Verkehr, und dem Gesprochenen. In der Geschichte stehen nicht die eigentlichen Geschehnisse, sondern vielmehr die verschiedenen Mitteilungen und ihre intendierten und nicht intendierten Wirkungen im Vordergrund. Deshalb ist es möglich, Kafkas „Das Urteil" als eine Parabel6 über das Mitteilen zu lesen. Im Folgenden sollen die Mitteilungen näher betrachtet werden. 1.3.1 Die Briefe an den Freund: die uneigentlichen Mitteilungen Die Geschichte beginnt damit, dass Georg einen Brief an seinen Jugendfreund, welcher in Petersburg sein Glück versuchte und dort nicht recht vorankam, beendet hat. Der Erzähler lässt den Leser an Georgs Gedanken hinsichtlich 259 des Briefeschreibens an den Freund teilhaben: „Was wollte man einem solchen Manne schreiben, der sich offenbar verrannt hatte, den man bedauern, aber nicht helfen konnte."7 In der Frage, was man schreiben könne, zeigt sich das Problem, dass Georg mit dem Freund nichts mehr zum Teilen hat - weder könnte der Freund Hilfe annehmen oder solche akzeptieren, noch ist darauf zu hoffen, dass sich sein Leben zum Besseren wende: „Aus diesen Gründen konnte man ihm, wenn man überhaupt noch die briefliche Verbindung aufrecht erhalten wollte, keine eigentlichen Mitteilungen [Hervorhebung B.K.] machen, wie man sie ohne Scheu auch den entferntesten Bekannten geben würde."8 Dieser Satz ist für eine Analyse von Mitteilungen bei Kafka entscheidend: Kafka führt hier eine Unterscheidung zwischen eigentlichen und uneigentlichen Mitteilungen ein. Eine eigentliche Mitteilung wäre eine, mit der man das Eigene mitteilt, eine uneigentliche Mitteilung ist eine solche, indem man nichts Eigenes mitteilen möchte. Kafka beschreibt die unei- 6 Zur Parabelartigkeit von Kafkas Geschichten vgl. etwa Zadie Smith, „The limited cycle is pure", in: New Republic Vol. 229 Issue 18,New York 2003, S. 33-40 7 Franz Kafka, Drucke zu Lebzeiten, DzL/KA, Herausgegeben von Hans-Gerd Koch, Wolf Kittler und Gerhard Neumann, Fischer, Frankfurt a.M. 1994, S.44 8 Ebd., S. 45 gentlichen Mitteilungen, die Georg dem Freunde brieflich zukommen lässt, wie folgt: „So beschränkte sich Georg darauf, dem Freund immer nur bedeutungslose Vorfälle zu schreiben, wie sie sich, wenn man an einem ruhigen Sonntag nachdenkt, in der Erinnerung ungeordnet anhäufen."9 Das Uneigentliche ist das Bedeutungslose, das Ungeordnete. Dazu bedarf es aber gewisser Konzentration, eines gewissen Zwanges: ohne Nachdenken fallen Georg die bedeutungslosen uneigentlichen Mitteilungen nicht ein, sie drängen sich nicht auf. Weiterhin zeigt Kafka, dass die Art der Mitteilung stark vom Anderen abhängt -und, so scheint es an dieser Stelle, ist die Möglichkeit des Mitteilens einem Bekannten gegenüber schwieriger, in Georgs Fall sogar unmöglich, als es eine Mitteilung gegenüber einem anonymen Fremden wäre. Diese Schwierigkeit, diese Unmöglichkeit zur eigentlichen Mitteilung erwächst aus der Scheu. Die Scheu entsteht aus der persönlichen Diskrepanz, die sich auftat, Georg schämt sich ob seines recht erfolgreichen 260 Weges gegenüber dem Jugendfreund, dessen Weg wenig erfolgsversprechend gewesen ist. Er schämt sich seiner Erfolge, und weiter sogar, seines nun eingeschlagenen Lebensweges: „Der Freund aber hatte keine Ahnung von dieser Veränderung."10 Diese Veränderung der Lebensumstände zum Besseren hin ließ die alten Gleichheiten, die Gemeinsamkeiten verloren gehen, der Briefkontakt ist zu einem ungleichen geworden. Die Nötigung zur uneigentlichen Mitteilung geschieht, um den Briefverkehr nicht abbrechen lassen zu müssen. Der Empfänger dieser Briefe mit den uneigentlichen Mitteilungen, die Hilfe apriori für aussichtlos abtun, ist ein nicht erreichbarer anonymer Freund, ein Brieffreund in fernster Distanz. Der Wille Georgs hinter diesen Briefen, die nur uneigentliche Mitteilungen beinhalten, ist scheinbar der Schutz des Freundes: „Er [Georg] wollte nichts anderes, als die Vorstellung ungestört lassen, die sich der Freund von der Heimatstadt in der langen Zwischenzeit wohl gemacht und mit welcher er sich abgefunden hatte."11 1.3.2 Das Gespräch mit der Verlobten und die Bekanntgabe der Verlobung -der Entschluss zur eigentlichen Mitteilung 9 Ebd., S. 46. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 47. In indirekt wiedergegebenen Gesprächen mit seiner Verlobten Frieda Bran-denfeld wird der Kontakt zwischen den Brieffreunden erneut thematisiert. Auf die Frage Friedas, warum er dem Freund nicht schreibe, dass er sich verlobt hätte, erwidert Georg, dass er den Freund nicht stören wolle: „er würde wahrscheinlich kommen, wenigstens glaube ich es, aber er würde sich gezwungen und geschädigt fühlen, vielleicht mich beneiden und sicher unzufrieden und unfähig, diese Unzufriedenheit jemals zu beseitigen, allein wieder zurückfahren"12. Mit dieser Haltung zum Freund teilt er nichts mehr mit ihm, er urteilt über ihn, ohne sich dies explizit zu verdeutlichen. Er billigt dem Freund keine freie Entscheidung über sein Kommen und seine Aufnahme der Verlobung Georgs zu. Das Urteilen Georgs über den Freund fasst Georg selbst jedoch als Rücksicht auf. Doch durch das Drängen seiner Verlobten, die das Verschweigen „eigentlich"13 kränkt, revidiert Georg sein Urteil. Er ändert seine eigene Haltung: „So bin ich 261 und so hat er mich hinzunehmen, [_] ich kann nicht aus mir einen Menschen herausschneiden, der vielleicht für die Freundschaft mit ihm geeigneter wäre, als ich es bin"14. Aufgrund dieser veränderten Haltung fasst Georg den Entschluss, die eigentliche Mitteilung, die Verlobung, bekanntzugeben, und fügt diese dem langen Brief an den Freund noch hinzu. Dies geschieht allerdings in einer äußerst anbiedernden Art und Weise - statt auf seine eigene Perspektive näher einzugehen, preist er den Nutzen, den Friedas Freundschaft dem Freunde bringen wird, an. Dies geschieht aus Georgs Rücksicht, welche für ihn wirklich ist, da er aus seiner Sicht in einem moralischen Dilemma gefangen ist. Die Art und Weise, in welcher Georg dem Freund die eigentliche Mitteilung übermittelt, geschieht nicht durch eine „große Loslösung"15, das heißt, die Mitteilung geschieht aus Pflichtbewusstsein, nicht aus einem sich ebenso wie den Anderen bejahenden Willen zur Freundschaft. Durch die nun im Brief enthaltene eigentliche Mitteilung fällt es Georg nun 12 Ebd. 13 Ebd., S. 48. 14 Ebd. 15 Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, KSA Bd. 2, S. 15. sichtbar schwer, den Brief gehen zu lassen und abzusenden: „Mit diesem Brief in der Hand war Georg lange, das Gesicht dem Fenster zugekehrt, an seinem Schreibtisch gesessen"16. Hier wird deutlich, dass es ungleich schwerer ist, eine eigentliche statt einer uneigentlichen Mitteilung zu machen, und ebenso schwer, diese auch auf den Weg zu bringen. Dies scheint im Falle Georgs vor allem deshalb so zu sein, weil er es nie unternahm, eigentliche Mitteilungen zu formulieren und anzubringen. Während das Uneigentliche einiges Nachdenken erfordert, so ist das Eigentliche schnell gefunden; doch lässt sich das Uneigentliche, wenn gefunden, leicht ausführen und darstellen, wohingegen das Eigentliche sich versteckt und mit Andeutungen begnügt. Das Eigentliche bleibt länger im Gedächtnis, während das Uneigentliche, kaum geschrieben, schon vergessen ist. Auch im Absenden zeigt sich ein Unterschied: Nach dem Nachdenken lässt sich das Uneigentliche viel leichter loswerden, wohingegen das Loslassen des Eigenen 262 eine Bedenklichkeit provoziert. 1.3.2 Die verurteilende Mitteilung Georg begibt sich schließlich, offenbar immer noch nach Bestätigung für die eigene Mitteilung suchend, zu seinem Vater: „Ich wollte dir eigentlich nur sagen das ich nun doch nach Petersburg meine Verlobung angezeigt habe [Hervorhebung B.K.]"17. Von des Vaters Zimmer trennt ihn nur ein schmaler, jedoch lange Zeit nicht überschrittener Gang. Die Geschehnisse im Zimmer des Vaters lassen sich schwer deuten, sie sperren sich gegen eine eindeutige Interpretation. Jedoch kann man sagen, dass diese Geschehnisse gewissermaßen als ein Spiegelbild zur vorherigen Szene in Georg Zimmer zu verstehen sind. Dies wird durch die konträren Stimmungen deutlich: wo es in Georgs Zimmer hell, freundlich, warm und luftig war, so ist es beim Vater dunkel, ungemütlich, kalt und stickig. Auch die Figuren selbst sind nun diametral entgegengesetzt: jung, kräftig und glücklich schien dem Leser Georg bisher, der Vater wird als alt, schwach und 16 Franz Kafka, Drucke zu Lebzeiten, DzL/KA, Herausgegeben von Hans-Gerd Koch, Wolf Kittler und Gerhard Neumann, Fischer, Frankfurt a.M. 1994, S. 49. 17 Ebd., S. 50. enttäuscht eingeführt. Die sich verändernde Stimmung teilt sich selbst durch die verschiedenen Räumlichkeiten mit. Durch die Verwandtschaft der beiden Figuren, sowie das Leben in einer gemeinsamen Wohnung wird aber der Zusammenhang der beiden Seiten betont. Auch im Mitteilen sind die Figuren konträr: wo Georg lieber täuscht um den gemeinsamen Friedens willen, so fordert der Vater die Ent-Täuschung, ganz ohne Rücksicht auf die Gefühle des Anderen: „es ist nichts, es ist ärger als nichts, wenn du mir jetzt nicht die volle Wahrheit sagst"18. So ist es auch verständlich, wenn der Vater den Sohn fragt: „Täusche mich nicht. Hast du wirklich diesen Freund in Petersburg?"19 - damit meint er nicht etwa, ob der Freund in Petersburg überhaupt existiere, sondern ob Georg überhaupt noch der Freund des Petersburger Bekannten ist. Durch diese Art zu fragen und seine äußere Erscheinung wird der Vater Georg zum „Schreckbild"20 - zum Schreckbild seiner selbst. In der Figur des Vaters formulieren sich genau die Ängste, die Georg bisher dazu trieben, 263 eigentliche Mitteilungen zu vermeiden, etwa die Angst, den Freund dadurch zu verprellen, die Freundschaft aufgeben zu müssen oder zu seinem eigenen Leben zu stehen und nicht nur zu den dem Anderen genehmen Seiten des eigenen Lebens. So kulminiert die rücksichtlos enttäuschend Rede des Vaters in den Worten, welche Georg so auch dem Freund in Petersburg mitteilen könnte: „Bleib, wo du bist, ich brauche dich nicht! Du denkst, du hast noch die Kraft, hierher zu kommen und hältst dich bloß zurück, weil du so willst. Daß du dich nicht irrst! Ich bin noch immer der viel Stärkere"21. Diese Worte richtet aber nicht Georg an den Freund, sondern der Vater an Georg. Die enttäuschende, rücksichtlose, aber auch wahre Art des Mitteilens hat der Vater auch dem Petersburger Freund gegenüber angewandt: so schrieb er ihm, ebenso wie sein Sohn Georg, Briefe, in denen er schonungslos offen bereits all jenes mitteilte, was Georg verschwieg. Der Vater stellt die beiden Arten von Briefen ihrem Nutzen nach gegenüber, indem er sagt: „Deine Briefe [Georgs] zer- 18 Ebd., S. 52. 19 Ebd. 20 Ebd., S. 56. 21 Ebd., S. 58. knüllt er ungelesen in der linken Hand, während er in der Rechten meine Briefe zum Lesen sich vorhält"22. Hier zeigt sich der Wert der eigentlichen Mitteilungen gegenüber der Uneigentlichen: wo das uneigentlich Mitgeteilte unlesbar ist, so ist das eigentlich Mitgeteilte etwas, was man hochheben kann, was hervorsticht. Die schonungslose Art des Mitteilens, der Rede des Vaters gipfelt schließlich in einem schonungslosen Urteil: er verurteilt Georg zum Tode durch Ertrinken, weil er ein teuflischer Mensch sei - Georg muss untergehen. Die Grundlage für diese Verurteilung besteht in der Eigentlichkeit Georgs: „Jetzt weißt du also, was es noch außer dir gab, bisher wußtest du nur von dir! Ein unschuldiges Kind warst du ja eigentlich, aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch! [Hervorhebungen B.K.]"23. Der Urteilsspruch des Vaters, des Schreckbildes seiner selbst, betont zuerst den Anderen als Anderen, welchen Georg nicht wahrnahm - so war der Freund in Petersburg nur das, wie Georg ihn beurteilt hatte. 264 Auch die Zweischneidigkeit von Georgs Rücksicht wird angesprochen: wo er als Kind, als unschuldig erscheinen möchte, erscheint er durch seinen fehlenden Willen zur eigentlichen Mitteilung eigentlicher, d.h. eigentlich als teuflischer Mensch, als täuschender Mensch. 3.Von Ka&as Mitteilungen zum Phänomen des Mitteilens Was ist eine Mitteilung? Diese Frage scheint leicht zu beantworten, wenn man aufzählt, in welchen Formen sich Mitteilungen wie etwa in Ka&as „Urteil" ausdrücken können: in Briefen, in Gesprächen, in Zeichen, in Stimmungen. Damit ist aber noch nicht geklärt, was Mitteilen eigentlich meint. So könnte man weiter erklären, dass eine Mitteilung ein Vorgang zwischen mindestens zwei Sprechern, Schreibern oder sonstigen sich miteinander austauschenden Akteuren ist. Eine dritte Möglichkeit, sich dem Mitteilen zu nähern, ist über das Verständnis des Wortes selbst zu erreichen: offenbar soll ein Teil eine Mittelposition einnehmen, oder etwas soll mit (einander) geteilt werden. Diese letzteren zwei Möglichkeiten, das Mitteilen zu verstehen, stehen einander gegenüber: wenn ein Teil sich 22 Ebd., S. 59. 23 Ebd., S. 60. eine Mitte sucht, so bleibt das Teil eigentlich ungeteilt (aber in anderer Position), falls aber etwas mit geteilt werden soll, so betrifft das Teilen dieses Etwas, den Inhalt einer Mitteilung, selbst. Diese Auffassungen des Mitteilens stehen sich aber nur solange gegenüber, wie man annimmt, dass Teilen das Gleiche meint wie Halbieren. Gerade hierin besteht das philosophische Problem im Phänomen des Mitteilens, welches sich durch unsere Sprache bereits anzeigte: beim Mitteilen ist es nie von vornherein klar, inwiefern die Mitteilung auch, falls überhaupt, geteilt wird - das heißt, ob sie auf- oder gar angenommen wird. Deshalb muss die Mitteilung vor allem unter dem Blickpunkt des Anderen untersucht werden. So ist dasjenige, das Teil, was mit geteilt werden soll, immer auch Mitteilung eines Teils von einem Selbst, den man mit einem Anderen teilen kann. Doch gerade durch das Intersubjektive wird deutlich, wie stark die Mitteilung von der Erscheinung des Anderen abhängt - ist die Erscheinung einschüchternd, freundlich, überrücksichtsvoll oder selbstlos bis zur Selbstverleugnung? 265 All dies ändert nicht nur die Art der Mitteilung, sondern die Mitteilung selbst. Dies zeigt sich beispielsweise darin, inwiefern sich Sprache, Ton oder Haltung der Mitteilung erst ergeben aus der erwarteten Erwiderung durch den Anderen. Nun scheint es aber das Spezifikum des Mitteilens zu sein, dass derjenige, der etwas zum Mitteilen hat, dies in Gänze (zumindest in Gänze der Intendierung nach, oft aber auch darüber sogar noch unfreiwillig hinaus) an den Empfänger der Mitteilung übermittelt, ohne das ihm nur ein kleinster Teil des Mitgeteilten durch das Mitteilen verloren ginge. Doch was soll das Ganze einer Mitteilung sein? Deutet das Wort nicht bereits an, dass immer nur ein Teil eines Ganzen sich mit teilen kann? Ein Teil kann niemals etwas Ganzes sein, deshalb ist die Mitteilung immer teilhaft. Es kann aber auch das Ganze einer Mitteilung geteilt werden - wobei das Ganze jedoch nie vollständig zu erfassen wäre. Wenn das Mitteilen wie beschrieben verstanden wird, so ist es zugleich Phänomen wie Phänomenologie selbst. Ein Erforschen des Phänomens des Mitteilens kann einen Weg zur Phänomenologie des Mitteilens anbieten, welchen zu 266 beschreiten Aufgabe zukünftiger Forschungen sein wird24. Wie in Ka&as Geschichte „Das Urteil" gesehen, tritt das Mit-Teilen mit anderen Phänomenen des Teilens in Beziehung, wie etwa dem Ur-Teilen. Hier ließen sich Untersuchungen zu einer möglichen Theorie des Teilens - als Forschungen an den Phänomenen des Teilens - anschließen, beispielsweise eine Analyse des Verhältnisses vom Mit-Teilen zum Aus-Teilen, Um-Teilen, Ver-Ur-Teilen oder Ver-Teilen. All dies wären Elemente einer Teilens-Lehre, die nicht vom Atom ausginge, sondern vom Phänomen des Teilens. Das Teilen weist immer schon über das Teil hinaus. Es könnte weiterhin eine Vorstellung vom Teil gewonnen werden, welche vom Teilen ausgeht, sodass sich eine Absolutsetzung eines scheinbar autarken Teils verhindern ließe. Insofern wäre eine solche Theorie des Teilens ein Teilbereich einer Oikologie, indem sie nach der oiko-ökonomischen Metapher des Teilens in Ethik, Politik bis hin zur Teilchenphysik fragt. 4.Schluss Dieser Essay versuchte das Phänomen des Mitteilens anhand von KaThas Geschichte „Das Urteil" als philosophisches Problem einzuführen. Diese Geschichte bot sich deshalb an, weil sie um das Problem der Mitteilung der Verlobung Georgs kreist. So zeigten sich nach einer kurzen Analyse des Vorverständnisses vom Mitteilen in KaThas Kurzgeschichte gewisse Merkmale wieder, welche sich bereits in der ersten Betrachtung des Mitteilens andeuteten: etwa, dass das Mitteilen sich in verschiedenen Formen vollziehen kann: schriftlich, mündlich oder durch Zeichen und Stimmungen. Das Verhältnis zum Empfänger der Mitteilung ist in Kafkas Geschichte äußerst wichtig, da sich daraus die Art des Mitteilens ergibt. KaTha führte im „Urteil" zwei Arten des Mitteilens vor: ein eigentliches Mitteilen und ein Uneigentliches. Als dritte Mitteilungsart könnte man auch das 24 Bereits Eugen Fink wies in seinem späteren, „kosmologischen" Denken auf die Gemeinschaft stiftende Funktion des Mitteilens hin, wie sie sich vor dem Hintergrund einer „Ur-teilung im Sein" im „Teilen von Welt" vollzieht (Eugen Fink, Existenz und Coexistenz, herausgegeben von Franz-A. Schwarz, Königshausen und Neumann, Würzburg 1987. rücksichtlose Mitteilen des Vaters begreifen. Allerdings teilt der Vater eher aus als mit, sodass seine Mitteilungen vielmehr Verurteilungen sind. Somit wurde ersichtlich, dass das Mitteilen mit anderen Formen des Teilens, wie etwa dem Urteilen, in Beziehung steht. Weiterhin entwickelt sich parallel zu den Mitteilungsarten der intendierte Verletzungsgrad: wo bei der uneigentlichen Mitteilung alles geschönt und damit auch geschont ausgedrückt wird, so birgt die eigentliche Mitteilung bereits die Verletzungsgefahr. Das Verurteilen ist in seiner Schonungslosigkeit gar als bewusste Verletzung zu verstehen. Literatur Eugen Fink, Existenz und Coexistenz, herausgegeben von Franz-A. Schwarz, Königshausen und Neumann, Würzburg 1987. Oliver Jahraus, Kafka. Leben, Schreiben, Machtapparate, Reclam, Stuttgart 2006. Oliver Jahraus und Stefan Neuhaus (Hrsg.), Kafkas „Urteil" und die Literaturtheorie: Zehn Modellanalysen, Reclam, Stuttgart 2002. Franz Kafka. Drucke zu Lebzeiten, DzL/KA, herausgegeben von Hans-Gerd Koch, Wolf Kittler und Gerhard Neumann, Fischer, Frankfurt a.M. 1994. Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, dtv, München, Neuausgabe 1999. Monika Ritzer, „Das Urteil", in: Manfred Engel und Bernd Auerochs (Hrsg.), Kafka-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, Metzler, Stuttgart 2010. Zadie Smith, „The limited cycle is pure", in: New Republic Vol. 229 Issue 18, New York 2003. 267