Hans Rainer Sepp PHÄNOMENOLOGISCHE ÄSTHETIK. EIN GESCHICHTLICHER ABRISS 62 Seit ihren Anfängen hat sich Phänomenologie mit Fragen der Ästhetik beschäftigt. Bis heute liegt jedoch keine Darstellung der weltweiten Bemühungen auf diesem Gebiet vor.' Die folgenden Ausführungen geben erstmals einen ' Diesem Desiderat will das von Lester Embree und Hans Rainer Sepp vorbereitete Handbook for Phenomenological Aesthetics Abhilfe verschaffen. In über sechzig Artikeln gibt dieser Band erstmals eine Darstellung der gesamten Entwicklung einer Ästhetik im Kontext phänomenologischer Forschung (erscheint 2006 in der Reihe Contributions to Phenomenology, Springer, Dordrecht). -Das bisher wohl ausführlichste, von mehreren Autoren verfasste Kompendium zu Positionen phänomenologischer Ästhetik legten R. Poh und G. Scaramuzza in der Zeitschrift Ajjzomaf/iei vor: »Phenomenological Aesthetics«, Axiomathes. Quademi del centro studi per lafilosofia mitteleuropea, IX/1-2 (1998), Trento. Davor schon beschrieb G. Scaramuzza die Frühgeschichte Phänomenologischer Ästhetik (Le origini deU'estetica fenomenologica, Padova 1976; vgl, auch den von ihm edierten Sammelband Estetica monacense. Un percorso fenomenologico, Milano 1996); Scaramuzza gab auch den Sammelband La fenomenologia e le arti (Milano 1991) heraus, der Einzelstudien zu Themen phänomenologischer Kunsttheorie enthält. Werner Ziegenfuß unternahm bereits 1928 {Diephänomenologische Ästhetik, Berlin) den Versuch einer zusammenfassenden Darstellung; seine systematisch aufgebaute Untersuchung, die zum einen die »Gegenstandsbestimraung« und den »Erkenntnisweg« der phänomenologischen Ästhetik expliziert und zum anderen »ästhetische Elementarphänomene« und das Phänomen des Ästhetischen mit der Gegebenheit von Kunst konfrontiert, nimmt allerdings nur auf wenige phänomenologische Autoren Bezug. Vgl. auch das Kap. »Ästhetik, Literatur- und Kunsttheorie« in B. Waidenfels, Einführung in die Phänomenologie, München 1992, S. 107-113, sowie W. Henckmann und K. Lotter (hrsg.), Lexikon der Ästhetik, München 2004. knappen Überblick, wobei Vollständigkeit auch hier nicht intendiert werden kann. Zunächst werden für eine Phänomenologische Ästhetik besonders relevant erscheinende Autoren und ihre grundlegenden Forschungsansätze dokumentiert (I) und anschließend Ansätze zur Klärung einiger Hauptstücke einer Phänomenologischen Ästhetik - des Bildes und einzelner Kunstgenres wie Literatur, Bildende Kunst und Musik - skizziert (II). I. Korrelationsforschung - Ästhetik als Wertlehre ™ Philosophie der Kunst Auch für die Phänomenologische Ästhetik gilt, dass sie sich erst allmählich von traditionalen Schemata philosophisch-ästhetischer Forschung löste und eigene Wege beschritt. Bezeichnend für phänomenologische Untersuchungen zur Ästhetik war von vornherein eine spezifische Reflexion auf die Korrelation von ästhetischem Erleben und seinem Gegenstand. Fasst man den Terminus , Phänomenologische Ästhetik' in einem weiten Sinn, so umgreift er zum einen den gesamten Bereich ästhetischer Erfahrung und ihre Gegenständlichkeit sowie den schöpferischen Prozess des Gestaltens und Ausdrückens, ferner die Verorlung des ästhetischen (ursprünglich-krcaliven wie rezcptiv-nachverstc- 63 henden) Erlebens bzw. des ästhetischen Gegenstands resp. des Kunstwerks im Gesamtbezug des Menschen zur Welt, des weiteren die Verhältnisse von Wahrnehmung (aisthesis)^ und Imagination und die unterschiedlichen Möglichkeiten, typische Beziehungen zum Imaginären aufzubauen wie z. B. im Phantasieren,^ im (Tag-) Träumen'^ und vor allem in der Kunst und schließlich die Art und Weise, wie sich Kunst kulturell und interkulturell manifestiert, sich ausbildet in ,Genres' und zu Stilen und Richtungen bis hin zum konkreten Werk eines bestimmten Autors. Von einem engeren Begriff der Ästhetik macht Phänomenologie dort Gebrauch, wo sie Ästhetik als Wertforschung versteht; ^ W. Welsch, Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der Aristotelischen Sinneslehre, Stuttgart 1987; W, Welsch., »Ästhetik und Anästhetik«, in: W. Welsch., Ästhetisches Denken, Stuttgart 1990, 9^0; G, Böhme, Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001. - Vgl. auch das Buch von M. Diaconu zur Ästhetik der Sekundär sinne: Tasten, Riechen, Schmecken. Eine Ästhetik der anästhetisierten Sinne, Orbis Phaenomenologicus Studien, Bd. 12, Würzburg 2005. ^ E. Casey, Imagining. A Phenomenological Study, Bloomington/London 1976. J. Morley, »The Private Theater: A Phenomenological Investigation of Daydreaming«, Journal of Phenomenological Psychology, (2000); H. R. Sepp, »Phänomen Traum. Ein innerphänomenologischer Dialog«, in: U. Kadi, B. Keintzel und H. Vetter (hrsg.), Traum Logik Geld. Freud, Husserl und Simmel zum Denken der Moderne, Tübingen 2001, S. 110-124. hierbei wird analysiert, wie ästhetisches Erleben seinen Gegenstand in der Weise seiner spezifischen Wertigkeit erfasst, der zumeist eine apriorische Dig-nität zugesprochen wird. Davon lässt sich eine phänomenologische Philosophie der Kunst unterscheiden, die zum einen den Bereich des für sie ästhetisch Relevanten auf Kunst eingrenzt und zum anderen zumeist einem geschichts-philosophischen Ansatz verpflichtet ist. In dieser Unterscheidung einer phänomenologischen Ästhetik im engeren Sinne von einer phänomenologischen Kunstphilosophie spiegelt sich auch der faktische Verlauf phänomenologischer Forschung wider. Da diese Unterscheidung jedoch sachlich nicht exakt durchführbar ist und die ihr zugrundeliegenden methodischen Zugänge ihrerseits bis heute nicht in einen sachlichen Bezug zueinander gebracht sind, bietet es sich an, die Rede von ,Phänomenologische Ästhetik' auf jene weitere Bedeutung zu beziehen. Sofern Phänomenologische Ästhetik von der Frage nach dem Erleben von ästhetisch relevanten Entitäten bestimmt wird, mag sie auf den ersten Blick als eine Rezeptionsästhetik erscheinen. Doch sie griff schon in ihren Anfängen über eine solche hinaus. Der besondere Vorzug der phänomenologischen Per-64 spektive auf die im ästhetischen Erleben sich intentional verschränkende Relation von Erlebendem und Erlebten bestand nicht nur darin, dass Betrachter und Gegenstand nicht voneinander separiert wurden: das Sein des Gegenstands somit immer schon mit im Blick war^ und resp. im Fall der Kunst oftmals der Gesichtspunkt des Kunstschaffenden miteinbezogen wurde, sondern dass gezeigt wurde, wie Erleben und Erlebtes vorgängig von einem Gesamtereignis umgriffen sind, an dem Werk, Produzent und Rezipient partizipieren und das diese Unterscheidungen erst ermöglicht. In diesem Sinn hat Phänomenologische Ästhetik von vornherein die scharfe Trennung in eine Rezeptions- und eine Produktionsästhetik unterlaufen, nicht nur, indem sie beides beinhaltet, sondern indem sie diese Trennung in einem weiteren Konzept aufhob, zugleich damit aber auch das Rüstzeug an die Hand gab, Weisen einer Rezeptions- und Produktionsästhetik auf phänomenologischer Grundlage auszubilden. Bekanntlich besitzt Phänomenologie außer in den Denkbestrebungen Edmund Husserls (1859-1938) ihre Wurzeln in den Diskussionszirkeln des zur Mitte ^ Vgl. hierzu G. Bensch, Vom Kunstwerk zum. ästhetischen Objekt. Zur Geschichte der phänomenologischen Ästhetik, Phänomenologische Untersuchungen, Bd. 3, München 1994. Bensch beschränkt sich auf die Positionen von Geiger, Ingarden, Sartre, Dufrenne sowie Lukäcs. der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts gegründeten »Psychologischen Vereins«, dem Dozenten und Studenten der Universität München angehörten;® und da die meisten der frühen Mitglieder des Vereins Schüler von Theodor Lipps (1851-1914) waren, der selbst mit einer psychologisch fundierten Ästhetik hervortrat,^ war es kein Zufall, dass dabei Themen des Ästhetischen und der Kunst einen breiten Raum einnahmen. Wenngleich Husserl selbst sich nur am Rande mit ästhetischen Fragen befasste, wobei allerdings Probleme des Aisthe-tischen, der Wahrnehmung, im Zentrum seines Interesses standen, charakterisierte sich Phänomenologische Philosophie von Anfang an durch eine spezifische Nähe zur Ästhetik und Kunst. Ursache dafür war zum einen, dass Phänomenologie wie Kunst um 1900 eine Reaktion auf die Krisenstimmung der Zeit darstellten, und zum anderen, dass Phänomenologie selbst in der Anschau-barkeit eine zentrale Basis sowohl ihrer Forschung wie des Weltzugangs generell erblickte.® Münchener Phänomenologie. Spielte Ästhetik in der frühen Münchener Phänomenologie durchaus eine bedeutsame Rolle,^ so markierte sie doch selbst bei dem führenden Ästhetiker dieser Gruppe, Moritz Geiger (1880-1937), nur einen, wenngleich zentralen Bereich seiner philosophischen Interessen. In weil 65 ® R. N. Smid, »,Münchener Phänomenologie' - Zur Frühgeschichte des Begriffs«, in: H. Spiegelberg und E. Ave-Lallemant (hrsg.), Pfänder-Studien, Phaenomenologica, Bd. 84, The Hague/Boston/London 1982, S. 109-153. ^ Th. Lipps, Ästhetik. Psychologie des Schönen und der Kunst, 2 Bde, Hamburg/Leipzig 1903,1906. ^ Bereits in einem 1907 verfassten Brief an Hugo von Hofmannsthal bezeichnete Husserl das Verhältnis von phänomenologischem und ästhetischem Schauen als einander »nahe verwandt«; Beide Weisen der Anschauung besagen eine Ausschaltung aller »natürlichen« Stellungnahme, d. i. der »Ausschaltung jeder existenzialen Stellungnahme des Intellects und jeder Stellungnahme des Gefühls u. Willens, die solch eine existenziale Stellungnahme voraussetzt«. Das rein ästhetische Schauen sei damit dem Standpunkt verwandt, den der Phänomenologe mit der Durchführung der phänomenologischen Reduktion eingenommen hat, indem er alle »transcendenten Existenzen« einklammerte und nur die »bloßen .Phänomene'« übrigbehielt (Husserl, »Briefwechsel«, in: E. und K. Schuhmann (hrsg.), Husserliana Dokumente, Bd. VII, Dordrecht/Boston/London 1994, S. 133-138). - Vgl. R Fellmann, Phänomenologie und Expressionismus, Freiburg/München 1982; F. Fellmann, Phänomenologie als ästhetische Theorie, Freiburg/München 1989; H. R. Sepp, »Annäherungen an die Wirklichkeit. Phänomenologie und Malerei nach 1900«, in: H. R. Sepp, Edmund Husserl und die Phänomenologische Bewegung. Zeugnisse in Text und Bild, Freiburg/München 1988, S. 77-93. ® Zum künstlerischen Umkreis der Münchener Phänomenologie vgl. den Artikel von K. Schuhmann, »Philosophy and Art in Munich Around the Turn of the Century«, in: R. Poli (hrsg.), In Itinere, European Cities and the Birth of Modern Scientific Philosophy, Poznan Studies in the Philosophy of the Sciences and the Humanities, Bd. 54, Amsterdam 1997, S. 35-51. geringerem Ausmaß widmeten sich ihr der Nestor der Münchener Phänomenologie, Alexander Pfänder (1870-1941), sowie Johannes Daubert (1877-1947) und Aloys Fischer (1888-1937). Von Pfänder sind nur einige Bruchstücke von Reflexionen zur Ästhetik überliefert. Die Analysen zur Ästhetik aus dem Umkreis der Schüler von Theodor Lipps waren — nach dem Vorbild ihres Lehrers - zunächst psychologisch orientiert: Lipps vertrat die Auffassung, ästhetische Werte seien von dem sie erfassenden, in den Gegenstand einfühlenden Subjekt abhängig. Diese Ansicht hing anfänglich auch Daubert an, der zeit seines Lebens nicht eine Zeile veröffentlicht hatte, aber einen umfangreichen, bis heute zum allergrößten Teil unpublizierten Bestand an Schriften hinterließ; ^^ er war der Motor, der die Phänomenologie als eine Bewegung in Gang setzte, indem er Husserl mit den Münchener Phänomenologen in Kontakt brachte. Daubert kritisierte in einem im Rahmen der Sitzungen des »Psychologischen Vereins« im Frühjahr 1899 gehaltenen Vortrag die Schrift des Münchener Bildhauers und Malers Adolf von Hildebrand, Das Problem der Form in der bildenden Kunst von 1893. Schon für Daubert gilt, dass die ästhetische Relevanz von Gegenständen nur in Korrelation zu ihrem Erfahrenwerden besteht, das er zunächst, wie sein Lehrer Lipps, als Einfühlung bestimmte. Gefühl und Form korrelieren: Einfühlung verleihe einem Gegenstand seine ihn ausmachende, ganzheitliche Form, so dass dieser zu einem Kunstgegenstand avanciert. Später löste sich Daubert von einer Orientierung an Lipps' Einfühlungsästhetik. In einer Analyse des Impressionismus betont er den partikularisierenden , Sofern-Charakter' (»Sofern-Betrachtung«): In der Moderne erfolge eine Auflösung des erfassenden Subjekts; nicht mehr der ganze Mensch stehe hierbei in Frage, sondern die reine Erscheinungsweise der Gegenstände, »der Mensch nur, sofern er sieht, fühlt, Spannung hat usw«.^^ Geiger, wie Pfänder und Daubert Schüler von Theodor Lipps, verband die psychologische Methode seines Lehrers mit Husserls phänomenologischem Vorgehen und konzentrierte sich in seinen Untersuchungen zu einer Phänomenologie des ästhetischen Genusses auf das ästhetische Erleben, das ästhetische Werte aufnimmt, die nicht relativ Vgl. die Manuskripte E III 1 (»Malerei und Zeichnung« [Referat über Max Klinger]), E III 2 (»Zum Problem des Stils«), E V(»Materialien zur Ästhetik«) in Pfänders Nachlass. - E. Ave-Lallemant, Die Nachlässe der Münchener Phänomenologen in der Bayerischen Staatsbibliothek, Wiesbaden 1975, S. 31. '' Seine Schriften zur Ästhetik sind hauptsächlich im Nachlasskonvolut Daubertiana A I 15 (Bayerische Staatsbibliothek München) gesammelt. - E. Ave-Lallemant, op. cit., 134 f.; K. Schuhmann, »Johannes Daubert als Ästhetiker«, in: R. Poli und G, Scaramuzza (hrsg.), Phenomenological Aesthetics, op. cit, S. 61-79. AI 15/78, zitiert bei Schuhmann, »Johannes Daubert als Ästhetiker«, op. cit., S. 77. auf es sind.'^ Auch ein weiterer Lipps-Schüler, Theodor Conrad (1881-1969), votierte für Ästhetik als »Wertwissenschaft« und wies in seiner Dissertation Definition und Forschungsgehalt der Ästhetik (Bergzabern 1909) ebenfalls darauf hin, dass gegen eine Psychologisierung ästhetischer Data nur phänomenologische Forschung es ermöglichen könne, Ästhetik als eine eigenständige Disziplin zu begründen.Fischer, auch er Schüler von Lipps, blieb hingegen dem Einfühlungskonzept seines Lehrers verbunden und machte in der Analyse des ästhetischen Objekts sowie des ästhetischen Genusses von einer phänomenologisch-psychologischen Zugangsweise Gebrauch. ^^ Der PfänderSchüler Maximilian Beck (1887-1950) behandelte im ersten Buch (»Die Realität des Äußeren oder das Schöne«) seines Werks Wesen und Wert auch Fragen der Ästhetik.^® Göttinger Phänomenologie. Die Untersuchungen, die Husserl in seiner Vorlesung »Hauptstücke aus der Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis« vom Wintersemester 1904-1905 präsentierte und die Bausteine für eine von ihm geplante großangelegte neue Kritik der Vernunft darstellten, enthielten M. Geiger, »Beiträge zur Phänomenologie des ästhetischen Genusses«, in; Jahrbuch für PhiloSophie und phänomenologische Forschung, Bd. 1, Halle 1913, S. 567-684. Geigers übrige Schriften zur Ästhetik wurden von K. Berger und W. Henckmann herausgegeben (M. Geiger: Die Bedeutung der Kunst. Zugänge zu einer materialen Wertästhetik, München 1976). - W. Henckmann, »Moritz Geigers Konzeption einer phänomenologischen Ästhetik«, in: Ibid., S. 549-590; M, C. Beai^dsley, »Experience and Value in Moritz Geiger's Aesthetics«, Journal of the British Society for Phenomenology, 16 (1985), S, 6-19. - Vgl. auch R. Odebrecht, Gefühl und schöpferische Gestaltung: Leitgedanken zu einer Philosophie der Kunst, Berlin 1929. Vgl. G. Scaramuzza, »Theodor Conrad and Phenomenological Aesthetics«, in: R. Poli und G. Scaramuzza (hrsg.), Phenomenological Aesthetics, op. ciL, S. 93-103. A. Fischer, Zur Bestimmung des ästhetischen Gegenstandes, München 1907. - Vgl. R. D. Rollinger, »The phenomenological aesthetics of Aloys Fischer«, in: R. Poli und G. Scaramuzza (hrsg.), Phenomenological Aesthetics, op. cit., S. 81-92. - Weitere Lipps-Schüler: Walter Meckauer fasste seinen Begriff der »ästhetischen Idee« in einer Kompilation der Ansätze von Lipps, Geiger und Husserl (»Aesthetische Idee und Kunsttheorie. Anregung zur Begründung einer phänomenologischen Ästhetik«, in: Kantstudien XXII, 1917, S. 262-301). Schüler von Lipps, die über Themen zur Ästhetik arbeiteten, aber nicht im strengen Sinn den Phänomenologen zuzurechnen sind, waren Wilhelm Worringer, dessen Dissertation AZj^r/'flMon und Einfühlung, Ein Beitrag z,ur Stilpsychologie (München 1908) auf Kandinsky und den Blauen Reiter gewirkt hatte; femer Max Ettlinger (»Bildende Künstler als Ästhetiker«, in: Hochland, 1 (1903/1904), S. 441-456) und Walter Dohm {Die künstlerische Darstellung als Problem der Ästhetik. Untersuchungen zur Methode und Begriffsbildung der Ästhetik mit einer Anwendung auf Goethes »Werther« [Beiträge zur Ästhetik, Bd. 10], Hamburg/Leipzig 1907). M, Beck, Wesen und Wert. Grundlegung einer Philosophie des Daseins, 2 Bde., Berlin 1925, V-VIII. Kap. 68 ausführliche Analysen zu Phantasie und Bildbewusstsein, die Husserl in den Folgejahren fortentwickelte.^^ Im Gegensatz zu diesen Studien sind Husserls überlieferte Äußerungen zu kunstästhetischen Themen ihrem Umfang nach marginal.^® Die Studien, mit denen der Husserl-Schüler Waldemar Conrad (1878-1915) in seiner in den Jahren 1908 und 1909 publizierten Studie ebenfalls den »ästhetischen Gegenstand« in seiner Korrelation zum »ästhetischen Erleben« untersuchte, waren auf dem Gebiet phänomenologischer Ästhetik insofern ein Novum, als er die Korrelationsanalyse erstmals auf künstlerische Genres: die Musik, Wort- und Raumkunst sowie das Theater bezog. Einen besonderen Fall verkörpert Wilhelm Schapp (1884—1965), ebenfalls Schüler von Husserl in Göttingen. 1909 hatte er bei Husserl mit der Arbeit Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung promoviert;^" doch erst 1953 veröffentlichte er das Buch In Geschichten verstrickt, das seinen eigenen Denkansatz vorstellte. In diesem und der folgenden Publikation, der Philosophie der Geschichten von 1959, nahm er verstreut auf ästhetische Phänomene Bezug.^' Dietrich von Hildebrand (1889-1977), Sohn von Adolf von Hildebrand, studierte bei Lipps und Pfänder und promovierte bei Husserl. In seiner zweibändigen Ästhetik^^ " E. Husserl, »Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen. Texte aus dem Nachlaß (1898-1925)«, in; E. Mai'bach (hrsg.), Husserliana, Bd. XXIII, The Hague/Boston/London 1980. - H. R. Sepp, »Bildbewußtsein und Seinsglauben«, in: Recherches husserliennes, 6 (1996), S. 117-137; P. Volonte, Husserls Phänomenologie der Imagination. Zur Funktion der Phantasie bei der Konstitution von Erkenntnis, Phänomenologie Kontexte, Bd. 2, Freiburg/München 1997; R. Ijuin, Bild und Flächenkonstitution L Ein uner-schlossener Boden von Husserls Analysen zum Bildbewusstsein [jap,], Kyoto 2001. Verstreutes enthält der Husserliana-BanA XXIII (op. cit., vgl. die Einleitung des Herausgebers, S. Ixxvi ff.). Weitere Hinweise vor allem in Konvoluten der Nachlass-Gruppen A V (Bemerkungen zum Kunstwerk, zum Verhältnis von Kunst und Spiel) sowie B I (B I 21 und 28: vor allem zum ,wissenssoziologischen' Status des Künstlers). »Ein Husserlmanuskript über Ästhetik« wurde von G. Scar-amuzza und K. Schuhmann publiziert, in: Husserl Studies 7, 1990, S. 165-178. W. Conrad, »Der ästhetische Gegenstand«, Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 3 (1908), S. 71-118,469-511; Zeitschrift ßr Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 4 (1909), S. 400-^55; »Bühnenkunst und Drama«, Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine KunstWissenschaft, 6 (1911), S. 249-277, 355-404; »Die wissenschaftliche und die ästhetische Geisteshaltung und die Rolle der Fiktion und Illusion in derselben«, Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, 158, (1915), S. 129-167; 159, (1916), S. 1-61. - D. Angelucci, L'oggetto poetico. Conrad, Ingarden, Hartmann, Macerata 2004, S. 17-49. Die 1909 verteidigte Dissertation erschien ein Jahr später (1981) in Halle/S.; Neuausgabe, Vorwort von C. F. Graumann, Frankfurt/M, ^^ V^. Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Vorwort von H. Lübbe, 3. Aufl., Frankfurt/M. 1985; Philosophie der Geschichten, neu hrsg. von J. Schapp und P, Heiligenthal, 2. Aufl., Frankfurt/Main 1981. entwarf er eine Wesensanalyse des Werts der Schönheit in ontologisch-me-taphysischer Hinsicht: Als Wert ist Schönheit zwar unmittelbar durch Intuition zugänglich, aber als eine Eigenschaft des Gegenstands nicht relativ auf den sie Erfassenden. Dem geistigen Umfeld der Göttinger Phänomenologie sind auch Max Scheler und Roman Ingarden sowie in einem gewissen Sinn Nicolai Hartmann verpflichtet. Während Ingarden Schüler von Husserl war, verband der in der Konzeption seiner Phänomenologie sehr eigenständige Scheler (1874—1928), der bei Rudolf Eucken promoviert und von 1906 bis 1910 an der Universität München gelehrt und anschließend eine Vorlesungstätigkeit bei der »Göttinger Philosophischen Gesellschaft«, dem Sammelbecken der Göttinger Phänomeno-logen, wahrgenommen hatte, die Münchener Phänomenologie mit der Göttinger Richtung der jüngeren Generation. Schelers nur fragmentarisch überlieferte Auffassung von Ästhetik, die im wesentlichen eine Ästhetik kreativer Prozesse ist, umzirkelt drei Themen: eine Theorie ästhetischer Werte, eine Ästhetik der Natur und eine Philosophie der Kunst. Im Gegensatz zu ethischen Werten gründen ästhetische Werte nicht in personalen Akten, sondern in Gegenständen, die den Bereich alltäglichen Lebens übersteigen. Doch auch sie sind in ein Korrelationsverhältnis von Akt und Gegenstand eingebunden, wenngleich die Gegenstände den Akten insofern vorausgehen, als sie diese zu einem , Antworten' veranlassen. Die Natur begreift Scheler als eine Bilder schöpfende, durch deren »Bildphantasie« alle Natursphären und ihre Bestände in Erscheinung treten. In seiner Kunstphilosophie vertrat Scheler die Ansicht, dass ein Werk seinen repräsentierenden Charakter nur im Schaffensprozess selbst entfalte.^^ Nicolai Hartmann (1882-1950) knüpfte in seinem Werk vielfach an Scheler an. In seiner Ästhetik^'^ konstatierte er die Unabgeschlossenheit des Kunstwerks, betonte aber, dass diese nur die Rezeption des Werks betrifft: Einer unabschließbaren Mannigfaltigkeit der Aufnahme- und Deutungsmöglichkeit eines Kunstwerks steht dieses in sich selbst, das Werk in seiner nicht wandelbaren Gegenwart, gegenüber. ^^ D. V. Hildebrand, Ästhetik, 2 Bde. {Gesammelte Werke, Bde. V und VI), Stuttgart/Berlin/Köln/ Mainz 1977, 1984. ^^ M. Scheler, »Metaphysik und Kunst«, in: M. Scheler, Erkenntnislehre und Metaphysik, Schriften aus dem Nachlaß Band // (Gesammelte Werke, Bd. 11), M. S. Frings (hrsg.), Bern/München 1979, S. 28-45. - W. Henckmann »Grundlinien der nicht ausgeführten Ästhetik Max Schelers«, rn: R. Poli and G. Scarartiuzza (hrsg.), Phenomenological Aesthetics, op. cit., S. 131-168. N. Hartmann, Ästhetik, Berlin 1953. Die ersten Länder, in denen Phänomenologie außerhalb von Deutschland eigenständig rezipiert wurde, waren neben Polen vor allem Russland, Japan und Spanien. Wenn eine vertiefte Aneignung der Phänomenologie auf ihre Parallele zur Ästhetik aufmerksam werden lässt, dürfte es kein Zufall sein, dass es oftmals die Pioniere phänomenologischer Forschung in anderen Landern waren, die zugleich Interesse an Fragen einer phänomenologischen Ästhetik oder Kunstphilosophie bekundeten - wie Roman Ingarden in Polen, Gustav Spet in Russland, Nishida Kitaro in Japan, Jose Ortega y Gasset in Spanien, Antonio Banfi in Italien, France Veber in Slowenien, Jean-Paul Sartre in Frankreich. Polen. Es ist das besondere Verdienst von Czeslaw Glombik, die Ursprünge der polnischen Aufnahme phänomenologischen Gedankengutes, die bis ins Jahr 1905 zurückreichen, detailliert nachgewiesen zu haben.^^ Die frühe Phänomenologische Ästhetik erfuhr eine der kreativsten und kohärentesten Fortbildungen durch den Husserl-Schüler Roman Ingarden (1893-1970). Obgleich Ingarden der phänomenologischen Ästhetik breite Gebiete erschloss, stellten seine Untersuchungen zum Ästhetischen lediglich einen Baustein im Gesamt-70 system seines Denkens dar. So wandte er sich einer Analyse des literarischen Kunstwerks nur aus dem Grunde zu, um die Seinsart des künstlerischen Gegenstands als eines »rein intentionalen« von realen Gegenständen einerseits, idealen andererseits abzuheben und - gegen Husserl - zu zeigen, dass letztere nicht auf die reine Intentionalität des Bewusstseins rückführbar seien. Zugleich legte er den Grund zu einer Ontologie des literarischen Kunstwerks, bei dem er vier Schichten rein intentionaler Gegenständlichkeit unterschied: In der Schicht der sprachlichen Lautgebilde konstituiert sich die Schicht der Bedeutungseinheiten, die ihrerseits die Schicht der betreffenden Gegenstände zur Darstellung bringen, und diese werden wiederum in der Schicht spezifischer »Ansichten« anschaulich. Auch Ingarden analysierte das Kunstwerk in strenger Korrelation zu dem es Erfahrenden, wobei er zugleich den Wertcharakter des Werks im Blick hatte, wie dies der dreigliedrige Titel seiner späteren Publikation, Erlebnis, Kunstwerk und Wert, anschaulich zum Ausdruck bringt.^^ Ingardens Unter- ^^ C, Glombik, Husserl i Polacy. Pierwszy spotkania, wczesne reakcje, Katowice 1999. Eine deutsche Ausgabe in der Übersetzung von Chr. Schatte ist in der Buchreihe Orbis Phaenomenologicus (Würzburg) in Vorbereitung. R. Ingarden, Das literarische Kunstwerk, 4. Aufl., Tübingen 1972 [1. Aufl. 1931]; Studia z estetyki, Bd. 1 und 2, Warszawa 1957, 1958; Vom Erkennen des literarischen Kumtwerks, Tübingen 1968; Erlebnis, Kunstwerk und Wert. Vorträge zur Ästhetik 1937-1967, Tübingen 1969. ~ P. Graff, suchungen zur Ästhetik fanden in Polen schon relativ früh breite Resonanz, wie z. B. Arbeiten von D. Gierulanka, Andrzej Pöltawski und Wladyslaw Strö-zewski, auf künstlerischer Seite von Waclaw und Pawel Taranczewski belegen. Auch im Ausland übten Ingardens Arbeiten großen Einfluss aus, so in der Phänomenologischen Ästhetik auf Nicolai Hartmann und Mikel Dufrenne, in der Literaturtheorie auf Emil Staiger, Wolfgang Kayser und Käte Hamburger, in den USA auf das Werk von Rene Wellek und Austin Warren, und sie standen Pate bei der Begründung der Rezeptionstheorie ästhetischer Erfahrung durch Wolfgang Iser und Hans Robert Jaus s. Russland war das erste Land, in dem 1909 mit den Prolegomena der Logischen Untersuchungen ein Werk Husserls in Übersetzung erschien.^'' Die Phänomenologie wurde hier vor allem durch Gustav Spet (1879-1937) eingeführt. Auch Spet, der bei Husserl in Göttingen gehört hatte und später versuchte, die Phänomenologie im Rekurs auf konkrete Fragen der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften weiter zu entfalten, konzentrierte sich auf das Verhältnis des ästhetischen Bewusstseins und die Struktur seines Gegenstands. Ästhetische Realität ist demnach fiktiv und korreliert dennoch mit empirischer Realität.^^ Spet bcfasste sich insbesondere mit hermeneutisehen Untersuchungen von 71 poetischen Formen; bezüglich des Worts unterschied er den ästhetischen Sinn vom emotionalen Gehalt, wobei auch letzterer als mit einem »mitfühlenden Verstehen« korrelierend einen gemeinschaftlichen Kontext des Verstehens voraussetzt.^^ Alexei Losev (1893-1988) verfasste Schriften zur Ästhetik und Sprachtheorie und widmete sich insbesondere einer Phänomenologie der Mu-sik.3o S. Krzemien-Ojak (hrsg.), Roman Ingarden and Contemporary Polish Aesthetics, Warsaw 1975; B. Dziemidok, R J. McCormick (hrsg.), On the Aesthetics of Roman Ingarden: Interpretations and Assessments, Dordrecht/Boston 1989; L. Sosnowski (hrsg.), Estetyka Romana Ingardena. Problemy i perspektywy, Krakow 1993. Logitscheskija Izsledowanija, Bd. 1, ins Russische übertragen von E. A. Bernstein und S. L. Frank, St. Petersburg 1909. G. Spet, Ästhetische Fragmente [russ.], drei Teile, 1922-1923. Als vierter Teil gilt die Abhandlung »Probleme der gegenwärtigen Ästhetik« (1923). A. Haardt, »Gustav Shpet's Aesthetic Fragments and Roman Ingarden's Literary Theory: Two Designs for a Phenomenological Aesthetics«, Wiener Slawistischer Almanack 27 (1991), S. 17™31; A. Haardt, Husserl in Russland. Kunst- und Sprachphänomenologie bei Gustav Spet und Aleksej Losev, München 1993. A. Losev, Dialektik der künstlerischen Form [russ.], Moskau 1927. - Von neueren Publikationen russischer Autoren: L. Vitalij, Einführung in die Phänomenologie der Kunsterfahrung [russ.], Samara 2002. Japan. Kitaro Nishida (1870-1945) führte noch vor dem Ersten Weltkrieg in Japan das phänomenologische Denken ein. Der für sein gesamtes späteres Denken zentraler Begriff des ,Orts'^' ~ als eines Bereichs, in dem das bewusste Ich verwirklicht ist - wurde auch zum Grundstein für seine Untersuchungen zur Ästhetik, insbesondere zum künstlerischen Schaffensprozess. Vertreter der von Nishida begründeten und phänomenologisch inspirierten »Kyoto-Schule« räumten der Kunstphilosophie ebenfalls breiten Raum ein, so Tanabe Hajime (1885-1962), der bei Husserl in Freiburg gehört hatte, und Hisamatsu Shin'ichi (1889-1980).32 Spanien. Das Werk von Jose Ortega y Gasset (1883-1955) - auch er war auf die Phänomenologie bereits in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg aufmerksam geworden ~ beinhaltet drei Themenbereiche einer Ästhetik: Beiträge zu einer allgemeinen Kunsttheorie,Studien zu literarischen Genres wie der Novelle und dem Theater sowie Versuche, die eigene Kunsttheorie an bestimmten Werken, wie etwa denen von Velazquez und Goya, zu bewähren. Ortega bezog das künstlerische Schaffen auf die Hervorbringung einer nicht realen, »virtuellen« Welt. Besonders deutlich wird dies an der poetischen Metapher als den Bausteinen solcher Virtualität: Die Metapher tilgt vom Objekt die menschliche Realität und verknüpft es mit einer neuen, bei der jedoch reale Bezüge nicht mehr zählen.^"^ Rafael Dieste (1899-1981) verfasste grundlegende Arbeiten zur Ästhetik und Literaturtheorie: zur Autorenschaft, Textrezeption und ästhetischen Erfahrung, zu den Modalitäten der literarischen Vernunft, zum Ort des Mythos im literarischen und philosophischen Diskurs, zur Theater-semiotik und zur Verbindung von Tragödie und Geschichte.^^ Vgl, A. Salice, »Chora bei Derrida und Nishida«, Aesthetics, 11, (2004), Tokyo, ^^ Über die Kyoto-Schule informiert der von R. Ohashi hrsg. Band Die Philosophie der KyotoSchule. Texte und Einführung, Freiburg/München 1990. ^^ Insbesondere Ortegas Schriften »Ensayo de estetica a manera de prölogo« [1914], in: Ortega y Gasset, Jose, Obras completas, Bd. VI, Madrid 1983, S. 247-264; und »La deshumanizaciön dei arte« [1924-1925], ebd. Bd. III. A. F. Cao, »Ortega and the Aesthetics of Metaphor«, in: N. de Maval-McNair (hrsg.), Jose Ortega y Gasset. Proceeedings of the Espectador universal, Greenwood 1983; C. Lopez, »Influencias de las ideas esteticas de J, Ortega y Gasset en las vanguardias«, Analogta Filosofica, 1, (2003), S. 29^3. ^^ Dieste, El alma y el espero. Textos e critica de arte, Vigo 1995. - Zur Phänomenologie in Spanien vgl. J. San Martin (hrsg.), Phänomenologie in Spanien (Orbis Phaenomenologicus Perspektiven N.F., Bd. 10), Würzburg 2005. Abgesehen im Fall des Fortwirkens von Husserl und Heidegger gibt es auch auf dem Gebiet der Phänomenologischen Ästhetik nur wenige Autoren, die sich mit jeweils anderen Positionen innerhalb der Phänomenologie auseinandergesetzt haben. Ein frühes Beispiel dafür ist Maximilian Becks Reaktion auf Moritz Geigers Standpunkt aus dem Jahr 1929.^'' Beck widersprach Geigers Auffassung, dass ästhetische Werte phänomenologischer Forschung prinzipiell zugänglich seien, und wies Geigers Auffassung, die Ästhetik stelle eine selbstständige Wissenschaft dar, mit der Ansicht zurück, sie sei vielmehr ein Teilgebiet der Metaphysik. Für Beck wie für Geiger ist der ästhetische Gegenstand ein Wert, doch für Beck sind Werte gerade nicht der phänomenologischen Analyse, die für ihn nur Wesensanalyse ist, zugänglich; denn Wert sei kein Wesen, keine Quidditas, vielmehr »- im Gegensatz zur Sphäre der Wesen als der Sphäre des Rationalen - das Irrationale in eigenster Person«, das »pure Daß des Seins«. In seiner späteren Ästhetik näherte sich Geiger Becks Standpunkt, indem nun Ästhetik, in philosophischer Hinsucht befragt, auf das Ganze des Seins zielt und damit auch metaphysische Relevanz gewinnt. Geiger geht mit seinem Ausschluss des Realen aus dem ästhetisch relevanten Bereich von einem ontologischen Rahmen phänomenologisch-psychologischer Befragung aus, während Beck mit seiner Identifizierung von Wirklichsein und Wert auf 73 einen metaphysischen Rahmen abzielt. Zudem will Beck den ontologischen Ort des Wertes in diesem Rahmen festmachen, während Geiger den Zugang zu ästhetischen Werten im phänomenologisch aufweisbaren Erleben verankert. Diese Diskussion der zwanziger Jahre zeigt, dass in der Phänomenologischen Ästhetik bestimmte Grundlagen von Anfang an nicht geklärt waren und dass die Unklarheiten für Konfusion sorgten. Ästhetik in phänomenologischer Hinsicht hatte ihren Ursprung in phänomenologisch-psychologischen Untersuchungen und verstand sich zugleich weithin als Wertforschung. Allmählich erwies sich jedoch für die phänomenologische Forschung generell, dass weder das Verhältnis von Subjekt und Objekt noch der Bezug auf Werte philosophisch ausgewiesen waren. Diese Entwicklung spiegelt sich in Husserls eigenem Schaffen wieder: Bedeutete für ihn wie für die Schülergeneration der Münchener und frühen Göttinger die eidetisch orientierte, phänomenologisch-psy-chologische (»rein psychologische«) Methode eine Überwindung des Psychologismus, so rang Husserl noch in den zwanziger Jahren damit, die jeweils ^^ M. Beck, »Die neue Problemlage der Ästhetik«, Zeitschrift flir Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 23 (1929), S. 305-325. die Inhibierung von Einzelakten verfolgende phänomenologische Psychologie zu einer Transzendentalphänomenologie auszuweiten, die »mit einem Schlag« das gesamte Geflecht des Weltglaubens einklammem soll. Auf die Ästhetik übertragen bedeutet dies, dass sich der Analyseschwerpunkt von der Aktkorrelation des ästhetischen Erlebnisses und seines Gegenstands (Natur oder Werk sowie Wert) auf den geschichtlichen Gesamthorizont verschob, in dem ein Werk steht und für den es einsteht und an dem Werk, Schöpfer und Betrachter partizipieren - was, in jeweils unterschiedlicher Ausprägung, auch für das spätere Werk von Scheler, Geiger, Schapp und Hildebrand gilt. Phänomenologische Forschung nach dem Ersten Weltkrieg wandte sich bei den Vertreterinnen und Vertretern der Göttinger wie der Freiburger Phänomenologie generell verstärkt ontologischen bzw. metaphysischen Perspektiven zu,^^ wobei auf dem Gebiet der Ästhetik insbesondere Vertreter der Freiburger Phänomenologie, wesentlich inspiriert durch Heidegger, hervortraten. Freiburger Phänomenologie. Martin Heidegger (1889-1976) befasste sich mit Problemen der Kunst erst ab den dreißiger Jahren,^® doch schon seine frühe Freiburger Vorlesungen beeinflussten Andere in der Erarbeitung neuer Kon-74 zepte zur Ästhetik. Der ontologische Zugang, den Heidegger selbst zum Kunstwerk bahnte, brach radikal mit Weisen, die das Erleben von Kunstwerken von subjektiven Dispositionen her und die Werke selbst folglich objektivistisch zu klären suchten. Das Kunstwerk ist, wie Heidegger in seinem Kunstwerk-Aufsatz von 1935/1936 hervorhob, vielmehr von sich her öffnend-verschließend, es eröffnet Welt im Verschließen der Erde und ist darin Zeuge einer ursprünglichen Wahrheit im Sinne der a-letheia. Fritz Kaufmann (1891-1959), schon Student bei Husserl in Göttingen, suchte in seiner Freiburger Zeit Husserls Standpunkt mit demjenigen Heideggers zu verbinden.^® Dies verdeutlicht be- ^^ Solche Reaktionen boten sowohl die »Realontologie« von Hedwig Conrad-Martins wie Heideggers »Fundamentalontologie« (»Metaphysik des Daseins«, wie es in Heideggers Kant und das Problem der Metaphysik von 1929 heißt); zu Conrad Martins s. A. Pfeiffer, Hedwig Conrad-Martius. Eine phänomenologische Sicht auf Natur und Welt {Orbis Phaenomenologicus Studien, Bd. 5), Würzburg 2005. ^^ Vgl. seine Hölderlin-Auslegungen und seine Kunstwerk-Abhandlung von 1935/1936 (»Der Ursprung des Kunstwerkes«, in: Martin Heidegger, Holzwege [Gesamtausgabe, Bd. 51, R-W. v. Herrmann (hrsg.), Frankfurt/M. 1976, S. 1-74); auch die spätere Arbeit »Die Kunst und der Raum«, in: H. Heidegger (hrsg.) der Erfahrung des Denkens {Gesamtausgabe, Bd. 13), Frankfurt/M. 1983, S. 203-210. ~ J. J. Kockelmans, Heidegger an Art and Art Works {Phaenomenologica, Bd. 99), Dordrecht/Boston/Lancaster 1985. Kaufmanns Werk umfasst neben den Studien zur Ästhetik vor allem Arbeiten zur Geschichts- reits seine bei Husserl angefertigte Dissertation,'^" in der er eine »phänomen-gescliichtliche« Analyse des Bildbewusstseins entwickelte, die den Einfluss Heideggers zeigt. Diese Beeinflussung ist auch dort zu bemerken, wo Kaufmann unter Rückgriff auf den Heideggerschen Stimmungsbegriff die frühere Einfühlungstheorie existentialontologisch zu überwinden suchte.'^' Auch Oskar Becker (1889-1964) blieb in seinem Werk auf Heidegger insofern bezogen, als er dessen geschichtlich-hermeneutisches Konzept durch einen Überstieg des Weltbereichs in kosmische Dimensionen aufsprengte: Der geschichtlichen Welt steht ein Außergeschichtliches zur Seite, und das Kunstwerk ist in seiner »Fragilität« zwischen beiden Bereichen ausgespannt.'^^ Ähnlich überstieg Eugen Fink (1905-1975) Heideggers Ansatz mittels seiner »kosmologischen« Theorie, die ihre frühe Vorzeichnung in Finks Analyse des Bildes fand."^^ Relevant für eine Ästhetik sind des weiteren seine spätere Aufsatzsammlung Epiloge der Dichtung sowie sein Buch zur Mode."^"^ Hans-Georg Gadamer (19002001) errichtete auf den von Husserl und Heidegger gelegten Fundamenten seine phänomenologisch orientierte philosophische Hermeneutik, in deren Kontext er auch kunstphilosophische Untersuchungen vornahm.Dabei ging er wie sein Lehrer Nicolai Hartmann von der prinzipiell nicht abzuschließenden philosophie. Seine ästhetischen Studien liegen gesammelt vor in: Das Reich des Schönen. Bausteine zu einer Philosophie der Kunst, Stuttgart 1960. - F. Rudnick, »Fritz Kaufmann's Aesthetics«, in: E. F. Kaelin, C. O. Schräg (hrsg.), American Phenomenology: Origins and Developments (Analecta Husserliana, Bd. 26), Dordrecht 1989, S. 17-30; H. R. Sepp, »Bild und Sorge. Fritz Kaufmanns ,phänomen-geschichtliche' Analyse des ästhetischen Bildbewußtseins«, in: E. W. Orth (hrsg.), Die Freiburger Phänomenologie {Phänomenologische Forschungen, Bd. 30), Freiburg/München 1995, S. 235-254. ® F. Kaufmann, »Das Bildwerk als ästhetisches Phänomen« fl924], in: F. Kaufmann, Das Reich des Schönen, op. cit., S. 11-95. F. Kaufmann, »Die Bedeutung der künstlerischen Stimmung« [1929], in: Ibid., S. 96-125. Siehe Beckers Artikel: »Von der Hinfälligkeit des Schönen und der Abenteuerlichkeit des Künstlers. Eine ontologische Untersuchung im ästhetischen Phänomenbereich« von 1929 sowie »Von der Abenteuerlichkeit des Künstlers und der vorsichtigen Verwegenheit des Philosophen« von 1958; beide wiederabgedruckt in: Oskar Becker, Dasein und Dawesen. Gesammelte philosophische Aufsätze, Pfullingen 1963, S, 11-40, bzw. S. 103-126. - H. R. Sepp, »Die Ästhetik Oskar Beckers«, R. Poli, G. Scaramuzza (hrsg.), Phenomenological Aesthetics, op. cit., S, 105-116, »Vergegenwärtigung und Bild« [1929], in: Eugen Fink, Studien zur Phänomenologie 1930-1939 (Phaenomenologica, Bd. 21), Den Haag 1966, S. 1-78. Eugen Fink, Epiloge zur Dichtung, Franlcfurt/M. 1971; Mode - ein verführerisches Spiel, Basel 1969. Vgl. den Ersten Teil von Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik {Gesammelte Werke, Bd. 1), Tübingen 1986; Ästhetik und Poetik I und II {Gesammelte Werke, Bd. 8 und 9), Tübingen 1993. 75 Deutungsmöglichkeit aus, die Werke der Kunst bereithalten, legte jedoch, anders als Hartmann, das Schwergewicht auf die Kunst ,im Vollzug', darauf, wie jeweils ein Kunstwerk erlebt wird. Spätere Vertreter der Freiburger Phänomenologie wie Walter Biemel (geb. 1918) und Heinrich Rombach (1923-2004) behielten dem Ästhetischen einen breiten Raum in ihrem Schaffen vor. Biemels kunstphilosophische Studien zum Roman und zu literarischen und künstlerischen Werken sind deutlich von Heidegger inspiriert."^^ Rombachs »Bildphilosophie«, im Rahmen seines insbesondere an Husserl und an Heidegger anknüpfenden strukturphänomenologischen Standpunktes entwickelt, dient in erster Linie dazu, Werke der Kunst als Zeugnisse für Strukturphänomene zu ,lesen'. Sein Denkansatz einer »Hermetik« zieht auch Bilddokumente außereuropäischer resp. asiatischer Kulturen heran.'^'' War schon bei Heidegger der Bereich, in dem Mensch und Werk einander begegnen, vollends in den Vordergrund getreten, so wurde er von Heinrich Rombach (1923-2004) in die Richtung eines »konkreativen Ursprungs«, in den sich Mensch und Natur bzw. Mensch und Kunstwerk teilen, weiter entfaltet.''® Außerhalb der Freiburger Richtung der Phänomenologie entwickelte in Deu-■yg tschland Hermann Schmitz (geb. 1928) im Rahmen seines leibphänomeno-logisch gegründeten Systems der Philosophie einen kunstphilosophischen Ansatz, der die »Gestaltverläufe« der für eine jeweilige Kunstform relevanten Raum-, Flächen- und Liniengestalten in Korrelation zum betreffenden »eigenleiblichen Spüren« herausarbeitet."^^ Den von Schmitz eingeschlagenen Weg setzte Gernot Böhme (geb. 1937) mit einer Ästhetik des Atmosphärischen fort.^° Rolf Kühn (geb. 1944) präsentierte mit seinem Buch Ästhetische Existenz heute^^ eine leiblich fundierte Elementarästhetik auf lebensphänomenologi- W. Biemel, Philosophische Analysen zur Kunst der Gegenwart, Den Haag 1968; Zeitigung und Romanstruktur. Philosophische Analysen zum modernen Roman, Freiburg/München 1986; Schriften zur Kunst (Gesammelte Schriften, Bd. 2), 1996. H. Rombach, Leben des Geistes. Ein Buch der Bilder zur Fundamentalgeschichte der Menschheit, Freiburg/BaselAVien 1977; Welt und Gegenwelt. Umdenken über die Wirklichkeit: Die philosophische Hermetik, Basel 1983. ~ G. Stenger, »Fahrzeug. Phänomen und Bild«, in: G. Stenger, M. Röhrig (hrsg.), Philosophie der Struktur - »Fahrzeug« der Zukunft?, Freiburg/München 1995, S. 493^525. H. Rombach, Der Ursprung. Philosophie der Konkreativität von Mensch und Natur, Freiburg i. Er. 1994. - Siehe des weiteren G. Funke, »Erscheinungswelt, Zur phänomenologischen Ästhetik«, Perspektiven der Philosophie, 1 (1975), S. 207-244. ® H. Schmitz, Der Leib im Spiegel der Kunst {System der Philosophie II, 2), Bonn 1966. ™ G. Böhme, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1997, Erscheint 2006. scher Basis, welche die ästhetische Diversifizierung, wie sie sich in kultureller Ausfaltung ergibt und in ästhetischen Funktionen und Stilmerkmalen manifest wird, an das lebendige Affiziertsein des Lebensgrundes zurückbindet. Italien. Für Antonio Banfi (1886-1957), der Ende der zwanziger Jahre die Phänomenologie in Italien eingeführt hatte, bedeutete phänomenologische Forschung ein Offensein gegenüber den diversen Erfahrungsfeldem der Wirklichkeit. Er wandte sich gegen die neoidealistische Ästhetik eines Croce und Gentile und suchte die mannigfachen Bereiche, die in ästhetischer Erfahrung relevant werden, voneinander zu unterscheiden und in ihren Grenzen festzulegen. Er bezog dabei auch die Verhältnisse zu anderen kulturellen Bereichen sowie den geschichtlichen Ort, der ästhetischen Gegenständen zukommt, in Betracht, ohne dass wiederum die historische Verortung gegenüber apriorisch-ontolo-gischen Zügen ein Übergewicht erhielt.^^ Banfis Untersuchungen wurden vor allem von Dino Formaggio (geb. 1914) in der Analyse künstlerischen Schaffens und der Unterscheidung zwischen Kunst, Ästhetik als Wahrnehmungslehre sowie als Theorie der Kunst^^ und Luciano Anceschi (1911-1995) auf dem Gebiet einer phänomenologischen Theorie des Poetischen und der Literatur fortgeführt.^'^ Luigi Pareyson (1918-1991), der an der Universität Turin gelehrt hatte und zu dessen Schülern Umberto Eco und Gianni Vattimo zählen, bestimmte mit dem Begriff der »Formativität« das künstlerische Tun als ein gesteigertes Zusammenwirken von Hervorbringung und Findung, als ein Tun, das in seinem Vollzug zugleich das Wie seines Tuns erfindet.^^ Phänomenologische Ästhetik wurde in Italien intensiv betrieben.^^ Noch heute ist an der ^^ A. Banfi, [problemi di una estetica filosofica, L. Anceschi (hrsg.), Milano/Firenze 1961; Filosofia dell'arte, D. Formaggio (hrsg.), Roma 1962; Vita deU'arte. Scritti di estetica e di filosofia deU'arte, E. Mattioli, G. Scaramuzza (hrsg.), Reggio Emilia 1988, D. Formaggio, Fenomenologia della tecnica artistica, Milano 1953; L'idea di artisticitä, Milano 1962; Arte, Milano 1973; Problemi di estetica, Palermo 1991. L. Anceschi, Autonomia e eteronomia deU'arte, Firenze 1939; Progetto di una sistematica deU'arte, Milano 1962; Le istituzioni della poesia, Milano 1968; GU specchi della poesia, Torino 1981; II caos, il metodo. Primi lineamenti di una nuova estetica fenomenologia, Napoli 1981. ^^ L. Pareyson, Estetica: teoria della formativitä, Torino 1954; Teoria deU'arte, Milano 1965 - M. G. Weiß, »Ästhetik und Hermeneutik bei Luigi Pareyson«, in: H. Vetter, M. Fiatscher (hrsg.), Hermeneutische Phänomenologie - phänomenologische Hermeneutik {Reihe der Österreichischen Gesellschaftßr Phänomenologie, Bd. 10), Frankfurt/M. u. a. 2005, S. 156-166. Vgl. auch E. Oberti, Per una fondazione fenomenologica della conoscitivitä deU'arte, Milano 1968. -E. De Caro, »Bibliografia sull'estetica fenomenologia italiana 1900-1996«, in: E. De Caro, Note sulla fenomenologia deU'estetico, Milano 1996, S. 171-211. 77 Universita degli Studi di Milano, an der schon Banfi tätig war, eine Reihe von Phänomenologen mit Fragen der Ästhetik befasst. Slowenien. Weithin der Ästhetik verpflichtet ist die in vielfacher Hinsicht überregional bemerkenswerte Schule der slowenischen Phänomenologie.-" Bereits für ihren Pionier, den Meinong-Schüler France Veber (1890-1975), der sich mit den Positionen von Husserl und Heidegger auseinandersetzte, stand sie im Zentrum seines philosophischen Interesses. Veber untersuchte in seinem Buch zur Ästhetik^® ebenfalls das Verhältnis von ästhetischer Erfahrung und ästhetischem Objekt, bezog aber auch Reflexionen zum künstlerischen Schaffen mit ein und unterschied eine dreifache Funktion der Kunst - Kunst als Realisierung von irrealen Gestalten, als Befreiung des Menschen von Emotionen und Leidenschaften und als Brücke zu Wissenschaft und Religion. In der Nachfolge von Veber wurde Heideggers Spätphilosophie nachhaltig rezipiert. Dusan Pirjevec (1921-1977) trat mit Untersuchungen zum europäischen Roman^^ und Tine Hribar (geb. 1941) mit Studien zum Kunstwerk in seinem vornehmlich religiösen Kontext hervor; Hribar unterschied scharf zwischen ästhetischem Objekt und Kunstwerk, nur letzteres vermag die Dimension des »heiligen Spiels jg der Welt« aufzuschließen. Tschechoslowakei. Ebenfalls der Freiburger Phänomenologie, im Spannungsfeld von Husserls Spätphilosophie und Heideggers Denken und in Aufnahme von Anstößen Finks, ist das Werk von Jan Patočka verpflichtet. Seine kunstphilosophischen Arbeiten bilden jedoch nur eine Facette seines reichhaltigen Schaffens.^' Von den Jüngeren sind insbesondere Zdenik Mathauser und Anto-nm Mokrejš zu nennen. Mathauser (geb. 1920) verband in der Nachfolge von Jan Mukafovsky (1891-1975) den Prager Strukturalismus mit der Phänomenologie Husserls.^^ " Siehe hierzu den von Dean Komel herausgegebenen Band Kunst und Sein. Beiträge zur Phänomenologischen Ästhetik und Aletheioiogie {Orbis Phaenomenologicus Perspektiven N. F., Bd. 4), Würzburg 2004. F. Veber, Estetika, Ljubljana 1925, 2. Aufl. 1985. ~ A. Sodnik, »Franz Webers System der Ästhetik«, Archiv fiir systematische Philosophie und Soziologie [Berhn], 34 (1930), S. 230-266, D. Pirjevec, Evropski roman, Ljubljana 1979. ® T. Hribar, Sveta igra sveta, Ljubljana 1990. Auf deutsch liegt vor: K. Nellen, I. Srubar (hrsg.), Kunst und Zeit. Kulturphilosophische Schriften, Stuttgart 1987. - L Srubar, »Zur Stellung der Kunst in Patockas Philosophie«, ibid., S. 31^5. ^^ Z. Mathauser, Uminipoesie, Praha 1964; Mezifilosofii apoezU, Praha 1995; Estetika racionälmho zrem, Praha 1999. --1. Blecha, »Fenomenologie a estetika«, in: I. Blecha, Edmund Husserl a českd filosofie, Olomouc 2003, S. 161-171. Frankreich. Die umfassendste und fruchtbarste Entwicklung erfuhr die Phänomenologische Ästhetik in Frankreich. Pionierschriften waren hierbei die beiden von Jean-Paul Sartre (1905-1980) veröffentlichten Schriften Uimagination und L'imaginaire von 1936 und 1940,®^ die insbesondere das Verhältnis von Wahrnehmung und Imagination bzw. Gegenwärtigung und Vergegenwärtigung behandeln. Später trat Sartre vor allem mit seinem Essai über eine engagierte Literatur und Schriften zum Theater an die Öffentlichkeit.^'^ Für Maurice Merleau-Ponty (1908-1961)^^ war Kunst weit mehr als nur ein Thema neben anderen; sie bezeichnete für ihn denjenigen Bereich, in dem der leibvermittelte Kontakt mit der Wirklichkeit originär und anschaulich vorgeführt wird. Reflexionen zur Ästhetik enthält vor allem die Aufsatzsammlung L'oeil et V esprit (Paris 1961). Merleau-Pontys Analysen zur Ästhetik betreffen insbesondere das künstlerische Schaffen, wobei eine Reversibilität zwischen Künstler und Kunstwerk, das Geflecht eines Austauschs zwischen Leib und Welt, aufgewiesen wird. Der Leib wird zum Innen eines Außen, in das beides einbezogen ist. Dieses Einbezogene nannte Merleau-Ponty »Fleisch« (la chair). Das Werk von Mikel Dufrenne (1910-1995) ist für eine phänomenologische Ästhetik von grundlegender Bedeutung. Dufrenne widmete sich in seinem Hauptwerk Phenomenologie de l 'experience esthetique^^ einer Analyse ästhetischer Erfahrung und analysierte die enge Verflochtenheit von ästhetischem Objekt und Kunstwerk: Die ästhetische Erfahrung ,befreit' mit ihrer leiblichen Zuwendung die im Werk implizierte Bewegung und setzt damit die Genese des ästhetischen Objekts in Gang. Henri Maldiney (geb. 1912) trat, in Anknüpfung an Husserl und Heidegger, mit Analysen zur Dichtung und zur Malerei hervor, befragte Kunst u. a. im Kontext psychoanalytischer sowie daseinsanalytischer Problemstellungen und untersuchte das Verhältnis von Schöpfertum und Erotik.®^ Paul Ricoeur (geb. 1913) näherte sich der Ästhetik vom Thema des Nar- J.-R Sartre, L'imagination, Paris 1936; L'imaginaire. Psychologie phenomenologique de ['imagination, Paris 1940. J.-R Sartre, Qu'est-ce que la litterature?, Paris 1948; Un Theatre de situations, Paris 1973. - M. Sicard (hrsg.), Sartre et les arts, Revue Obliques, 1981. ® G. A, Johnson, M. B. Smith (hrsg.), The Merleau-Ponty Aesthetics Reader: Philosophy and Painting, Evanston 1993. ® 2 Bde., Paris 1953 ; vgl. auch die Aufsatzsammlung Esthetique et philosophie, 3 Bde., Paris 1967, 1976, 1981 sowie Lepoetique, Paris 1963, und L'oeil et Voreille, Montreal 1987. " H. Maldiney, Art et existence, Paris 1985; L'art, eclair de l'etre, Paris 1993; Ouvrir le rien, l'art nu, La Versanne 2000; Existence, Crise, Creation, 2001. - S. Meitinger (hrsg.), Henri Maldiney, une phenomenology ä l'impossible, Paris 2002. 79 80 rativen her und behandelte insbesondere die Struktur der Metapher (die »lebende Metapher«) und das Verhältnis von Zeit und Erzählung.^® Zwischen beidem vermittelt eine dreifache Mimesis: der Vorblick in den Zusammenhang der Handlungs welt, die textliche Struktur eines fiktiven Werks und die im Lesen eines Textes und mittels des Vorverständnisses der Handlungsstränge erfolgende Reorganisation. Indem Ricoeur das Verhältnis zwischen der Rezeption eines Textes und der Handlung des Lesens dialektisch dachte - ein Werk affi-ziert seinen Leser und dieser fügt es seinen ethischen Kriterien und Wertvorstellungen wies er auf die Bezüge der Poetik zu Ethik und Politik hin. Von einem lebensphänomenologischen Standpunkt aus unternahm Michel Henry (1922-2002) eine Interpretation von Kandinskys Schaffen,®^ das der Freilegung einer primären, nicht-intentionalen Affektivität gilt, die sich in ursprünglicher Selbstaffektion manifestiert. Der »Dekonstruktivismus« von Jacques Derrida (1930-2004) stellte die Grenze zwischen Disziplinien wie der Philosophie und Literaturtheorie in Frage und hatte vor allem in den USA enormen Einfluss auf die Literaturtheorie, insbesondere auf eine Gruppe von Literaturkritikern, die ™ wie Paul de Man, an der Yale University lehrten. In seinen Überlegungen zur Kunst befasste sich Derrida vor allem mit dem Problem des ,Rahmens', der scheinbar eindeutig Bereiche abzusondern vermag. Jean-Luc Marion (geb. 1946) konfrontierte das Bild mit dem Idol und legte damit sowohl die philosophischen Kontexte wie die theologisch-religiösen Bezüge beider frei7° Für Marc Richir (geb. 1943)'^ öffnet sich ästhetische Erfahrung, die als affektive und phantasiebegabte leibgegründet ist, unberechenbaren und unerschöpflichen Möglichkeiten, deren Überschwang das Sublime im Sinne Kants bezeichnet. Der Rhythmus des Subjekts, das im unermesslichen Objekt untergeht P. Ricoeur, La metaphore vive, Paris 1975; Temps et redt, 3 Bde., Paris 1983-1985. - E. F. Kaelin, »Paul Rlcoeur's Aesthetics; On How To Read Metaphor«, in: L. Hahn (hrsg.), The Philosophy of Paul Ricoeur, Chicago/La Salle 1995, S. 237-255; R. Messori, »Paul Ricoeur et les paradoxes de l'esthetique«, in: St, Orth, A. Breitling (hrsg.), Vordem Text. Hermeneutik und Phänomenologie im. Denken Paul Ricoeurs, Berlin 2002, S. 217-235. ® M. Henry, Voir l'invisible. Sur Kandinsky, Paris 1988; »La peinture abstraite et le cosmos (Kan-dinsky)«, Le Noveau Commerce, 43-74 (1989); »Alt et phenomenologle de la vie«, in: Autodonation. Entretiens et conferences, Montpellier 2002. ™ J,-L, Marion, Idole et la distance, Paris 1977; »Fragments sur l'idole et l'icöne«, Revue de Metaphysique et de Morale 84 (1979) S. 433^45. - R. Esterbauer, »Kunst zwischen Idol und Bild. Die Position von J.-L. Marion«, in: G. Larcher (hrsg.), Gott-Bild. Gebrochen durch die Moderne?, Graz/Vienna/Cologne 1997, S. 87-98; R. Steinmetz, »L'icone du visible«. Etudes phenomeno-logiques 31-32 (2000), S. 103-123. M. Richir, Phantasia, imagination, ajf'ektivite, Grenoble 2004. und bereichert wiederersteht, entspricht der Phänomenalisierung des prinzipiell nicht festgelegten Phänomens.^^ USA. In den USA war phänomenologische Forschung nur am Rande an Fragen der Ästhetik interessiert. Eine frühe Ausnahme bildete Fritz Kaufmann, der 1936 in die Staaten emigriert war. Siegfried Kracauer (1889-1966), der Vorlesungen bei Husserl gehört hatte, mit Aron Gurwitsch befreundet und wie dieser ebenfalls in die USA emigriert war, befasste sich bereits während seiner Zeit in Deutschland mit filmsoziologischen Fragen.^^ Im Werk von Alfred Schütz (1899-1959) finden sich einige Spuren zu Fragen der Ästhetik (s. u.). Maurice Natanson (1924-1996) schrieb vor allem zu einer Phänomenologie der Literatur und dem Kunstwerk als solchem. Er unterschied eine Phänomenologie, die sich in einem literarischen Werk manifestiert (und phänomenologisch offengelegt werden kann) von einer Phänomenologie, die, wie schon Ingarden dies unternahm, das literarische Werk analysiert. Eugene Francis Kaelin (geb. 1926) setzte sich, im Anschluss an Heidegger, Merleau-Ponty und Sartre, mit Fragen der Ästhetik im Rahmen eines existenzphilosophischen Ansatzes auseinander und verfasste u. a. eine Ästhetik für Kunsterzieher.''^ Der an der University of Buffalo lehrende gebürtige Koreaner Kah Kyung Cho 81 (geb. 1927), Schüler von Gadamer und Lövvith, schlug in kritischer Auseinandersetzung mit Grundgedanken Heideggers eine Brücke zur ostasiatischen Ästhetik.^® Gegenwärtig ragen phänomenologische Untersuchungen vor allem zur Film- und Medientheorie hervor (s. u.). ^^ VgL auch die folgenden Autoren: Jean-Louis Chretien, L'ejfroi du beau, Paris 1987; L'arche de la parole, Paris 1998. -E, Escoubas, Imago mundi Topologie de l'art, Paris 1986; L'espacepicturale, La Versanne 1995; L'estetique, Paris 2004; als Hrsg.in: Art et phenomenologie {La part de Vceil, Bd. 7), 1991 und Phenomenologie et estetique, La Versanne 1998;. - G. Didi-Huberman, Devant r image. Question posee awe fins d'une histoire de l'art, Paris 1990. S. Kracauer, Theory of Film: The Redemption of Physical Reality, New York 1960. ^^ M. Natanson, Literature, Philosophy, and the Social Sciences, The Hague 1962; The Erotic Bird: Phenomenology in Literatur, Princeton, N. J. 1996, " R Kaelin, An Aesthetics for Art Educators, New York 1989; vgl. auch: An Existentialist Aesthetics, Madison 1962; Art and Existence: A Phenomenological Aesthetics, Lewisburg 1970. K. K. Cho, »Die Idee der Unvollkommenheit in der taoistischen Ästhetik«, in: K. K. Cho, Bewußtsein und Natursein. Phänomenologischer West-Ost-Diwan, Freiburg/München 1987, S. 313-344. II. Bildphänomenologie und künstlerische Genres In der Entfaltung phänomenologischer Ästhetik und Kunstphilosophie erfolgte zum einen insbesondere unter Heideggers Einfluss ein Wandel der traditionellen Genreform der Ästhetik. ^^ Gewandelt hat sich damit wie erwähnt auch die Korrelationsforschung von ästhetischer Erfahrung (seitens des Autors wie des Rezipienten) und Werk, ohne dass jedoch ihr Grundgedanke - weder Erfahrung noch Werk können je völlig voneinander separiert werden - preisgegeben worden wäre. Konstanten in phänomenologischen Untersuchungen zur Ästhetik blieben femer die Befragung von Kunstgenres,dann die Frage nach dem, was ein Bild sei und, sofern in zunehmendem Maße kunstphilosophische Untersuchungen in den Vordergrund traten, die Analyse von künstlerischen Standpunkten und Kunstwerken. Bildphänomenologie. Ausführungen zum Bild und zum Bild als Kunstwerk begleiten die Phänomenologie wie ein Schatten.^'' Von Anbeginn an sind sie in phänomenologischer Analyse präsent, ohne doch zumeist im Mittelpunkt des phänomenologischen Interesses zu stehen. Sie sind damit selbst ein Abbild des 82 Grundproblems europäischer Philosophie seit Piaton: wie sich Strukturen von Welt und Kosmos ,phänomenalisieren' und darin zu Themen philosophischer Befragung werden können, und problematisieren damit indirekt den philo-sophisch-phänomenologischen Zugriff selbst. Darüber hinaus sind bildphäno- '''' Dieser Wandel lässt sich auch dort ablesen, wo Heidegger die überlieferte Gliederung der Philosophie in Sachregionen in Frage stellte: »/.../ Namen wie ,Logik', ,Ethik', ,Physik' kommen erst auf, sobald das ursprüngliche Denken zu Ende geht« (»Brief über den ,Humanismus'«, in: Wegmarken {Gesamtausgabe, Bd. 9], F.-W. von Henxnann (hrsg.), Frankfurt/M. 1976, S. 316). Im folgenden beschränken wir uns auf die Genres der Literatur, Bildenden Kunst, des Films und der Musik. - Zur Architektur: Beck, Wesen und Wert, op. cit., VIII. Kap., § 2a; R. Ingarden, »O dziele architektury«, in: R. Ingarden, Studia z estetyki, Bd. 2, Warszawa 1958; D, von Hildebrand, Ästhetik, 2. Band: Über das Wesen des Kunstwerkes undder Künste, a.a.O., S. 53-134; D. Pirjevec, »Architektur als Kunst« [slow.], Arhitektov bilten, 30/31 (1976), S. 3-5; Chr. Norberg-Schulz, Genius Loci: Towards a Phenomenology of Architecture, New York 1985. - Theater: W. Conrad, »Bühnenkunst und Drama«, op. cit.; B. O. States, Great Reckonings in Little Rooms: On the Phenomenology of Theater, Berkeley 1985; St. B. Garner, Bodied Space: Phenomenology and Performance in Contemporary Drama, Ithaca/London 1994; A. Rayner, To Act, to Do, to Perform: Drama and the Phenomenology of Action, An Arbor 1994. - Tanz: Beck, Wesen und Wert, op. cit., VIII. Kap., § 1; M. Sheets-Johnstone, The Phenomenology of Dance, Madison 1966. Eine Basisanthologie zur Bildfheorie stellt das 1994 von Gottfried Boehm herausgegebene Werk Was ist ein Bild? (München 1995) dai" vgl, auch G. Böhme, Theorie des Bildes, München 1999; L. Wiesing, Phänomene im Bild, München 2000. menologische Studien nicht nur grundlegend für Analysen zur Kunst und zu Kunstwerken, sondern auch zu einer Ästhetik, die das Verhältnis von Wahrnehmung und Imagination befragt.®" Husserl legte mit seinen Analysen zum Bildbewusstsein auch den Grund für eine phänomenologische Bildtheorie.®' Für Heidegger war das Bild als »Weltbild« zunächst eine seinsgeschichtliche Verfallsform metaphysischer Welthaltung, und erst im Spätdenken finden sich Spuren dafür, das Bild positiv vom »Ereignis«-Denken her zu bestimmen. Auf den Spuren von Husserls Bildanalyse, und zum Teil von Heidegger beeinflusst, fertigten, wie bereits erwähnt, Kaufmann und Fink ihre bildphänomenolo-gischen Studien an. Der schon in den Anfängen phänomenologisch-ästheti-scher Forschung im Wie seines Erlebtwerdens betrachtete ästhetische Gegenstand wurde hierbei gleichsam aufgespalten und in seinem Schichtenbau analysiert. Sofern die bewusstseinsmäßige Konstitution dieser Schichten im Vordergrund stand, wurden sie im Rahmen einer konstitutiven bzw. transzendentalen Phänomenologie wie bei Husserl und Fink, einer geschichtlich und existentiell orientierten wie bei Kaufmann oder einer phänomenologischen Psychologie wie in L'imaginaire von Sartre aufgewiesen.®^ Ingarden bezog die Schichtenanalyse auf das literarische Werk, später aber auch auf Werke der Bildenden Kunst. Das Spätwerk von Schapp enthält im Rahmen seiner Her- 83 meneutik der »Geschichten« Rudimente einer bemerkenswerten Analyse des Bildes,®^ Von der München-Göttinger Phänomenologin Hedwig Conrad-Mar-tius (1988-1966) stammt der Artikel »Die Irrealität des Kunstwerks«,®'^ von Hans Jonas (1903-1993) »Homo Pictor: Von der Freiheit des Bildens«.®^ Von Hildebrands Ästhetik enthält Ausführungen zu einer Bildtheorie, ebenso Ga-damers Hermeneutik. Bildphilosophisch relevant sind des weiteren Henrys von einem lebensphänomenologischen Standpunkt aus unternommene Interpretation von Kandinskys Schaffen, Marions Konfrontation des Bild als Eikon mit H. R, Sepp, Phänomen Bild. Phänomenologie der Epoche I {Orbis Phaenomenologicus), Würzburg [erscheint 2007]. E. Husserl, Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung, op. cit. Th. R. Flynn, »The Role of the Image in Saitre's Aesthetics«, Journal of Aesthetics and Art Criticism, 33 (1974/1975), S. 431-442; H. R. Sepp, »Crisis imaginis. Sartre zur Lösung des Bildes vom Ding im Kunstwerk«, in; M. Diaconu (hrsg.), Kunst und Wahrheit. Festschrift für Walter Biemel zu seinem 85. Geburtstag, Bucuresti 2003, S. 249-268. W. Schapp, In Geschichten verstrickt, op. cit., S. 76-80, 96-99; Philosophie der Geschichten, op. CiL, S. 117 f., 126-131. Der 1938 entstandene Artikel wurde wiederabgedruckt in: Hedwig Conrad-Martius, Schriften zur Philosophie, Bd. III, E. Ave-Lallemant (hrsg.), München 1965, S. 249-260. In; G. Boehm (hrsg.), Was ist ein Bild?, op. cit., S. 105^124. dem Idol und Rombachs »Bildphilosophie«. Um das Bild in seinem außergewöhnlichen Status zu fassen, konfrontiert Jean-Luc Nancy (geb. 1940) es unter dem Leitbegriff des »Distinkten« mit Grenzphänomenen menschlicher Existenz wie der Gewalt und dem Heiligen.®^ Lambert Wiesing (geb. 1963) unternahm den verdienstvollen Versuch, die phänomenologische Bildtheorie in Abgrenzung gegen die Bildsemiotik zu profilieren.®^ Literaturtheorie. Wie die Arbeiten von Waldemar Conrad, Spet, Ingarden,®® Sartre, Dufrenne, Ricoeur bis hin zu Anceschi, Pirjevec und Natanson belegen, rückte früh schon die Gattung des Literarischen in den Vordergrund phänomenologischen Interesses.®® Bereits der Husserl-Schüler und spätere Dichtungstheoretiker und Schriftsteller Johannes Pfeiffer (1902-1970) unternahm 1931 mit seiner Dissertation eine phänomenologische Analyse des lyrischen Gedichts.^" Auf die phänomenologische Beschäftigung mit Literatur wirkten linguistische Bewegungen ein, die ihrerseits bedeutsame Anregungen der Phänomenologie entnommen hatten; Zuerst waren es die Strömungen des russischen Formalismus und frühen Strukturalismus, die von der Phänomenologie Husserls, in Moskau vermittelt durch Spet, inspiriert wurden. Ihre Fortsetzung 84 nahmen diese Richtungen im Strukturalismus der Prager Schule, die unter der Führung von Roman Jakobson''^ (1896-1982) und Mukarovsky sich von neuem der Phänomenologie annäherte.''^ Phänomenologische Impulse beeinflussten die Literaturwissenschaft (Emil Staiger und Käte Hamburger) und J.-L. Nancy, Au fond des images, Paris 2003. L. Wiesing, Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt/M. 2005. Vgl. auch R. Ingarden, Szkice zfilosofii literatury, Lodz 1947; Gegenstand und Aufgaben der Literaturwissenschaft: Aufsätze und Diskussionsbeiträge [1937-1964], R. Figuth (hrsg.), Tübingen 1976. Vgl. auch M. Beck, Wesen und Wert, op. cit., Kap. V, § 2; D. von Hildebrand, Ästhetik, 2. Band: Über das Wesen des Kunstwerkes und der Künste, op. cit., S. 235--312; E. F. Kaelin, Texts on Texts and Textuality. A Phenomenology of Literary Art, E. J. Burns (hrsg.), Amsterdam/Atlanta 1999. /III' sozialen Funktion von Literatur: A. Schütz, Sociological Aspects of Literature, L. Embree (hrsg.), Dordrecht 1996; M. Natanson, Literature, Philosophy, and the Social Sciences, op. cit. J. Pfeiffer, Das lyrische Gedicht als ästhetisches Gebilde. Ein phänomenologischer Versuch, Halle 1931. E. Holenstein, Roman Jakobsons phänomenologischer Strukturalismus, Frankfurt/M. 1975. K. Chvatfk, »Jan Mukarovsky, Roman Jakobson und der Prager linguistische Kreis«, in: K. Chvatik, Mensch und Struktur. Kapitel aus der neostrukturalen Ästhetik und Poetik, Frankfurt/M. 1987, S. 171—196; Z. Mathauser, »The Phenomenological Inspiration behind Czech Structuralism«, in: P. Vandevelde, Phenomenology and Literature {Orbis Phaenomenologicus Perspektiven), Würzburg [erscheint 2006]. fanden in den USA Ausdruck in literaturtheoretischen Forschungen wie denjenigen von Rene Wellek (1903-1995) und Austin Warren (1899-1986),^^ während in Europa vor allem die Literaturkritik der Genfer Schule^"* sowie die Rezeptionsästhetik der Konstanzer Schule von Wolfgang Iser (geb. 1926) und Hans Robert Jauß''^ (1921-1997) der phänomenologischen Forschung nahestanden. Die Rückwirkungen des Strukturalismus auf die Phänomenologie reichten von Fragen nach dem Verhältnis der Phänomenologie zur Literaturwissenschaft sowie nach der Funktion, die sie für diese erfüllen kann,®® bis hin zu Überlegungen nach dem literarischen Status des philosophischen Texts selbst^'^ bzw. nach dem, was überhaupt ,Text',,Schrift',,Schreiben' und ,Lesen' philosophisch besagen.^® Derridas »Dekonstruktivismus« wurde erstmals in der Geschichte des phänomenologischen Denkens von der literaturwissenschaftlichen Praxis auf breiter Front aufgegriffen. Erfahren Ricoeurs Studie über die Metapher sowie sein Untersuchungen zu Zeit und Erzählung noch breitere Beachtung, so gilt dies schon weit weniger für die Arbeiten von Richir zur Sprachphänomenologie und Sinnbildung,^^ und kaum für andere Autoren wie den polnischen Phänomenologen Josef Tischner (1931-2000), der den Sinn des Dramas im Kontext einer eigenständigen Intersubjektivitätstheorie ent- faltete.'oo 85 ® A. Warren, R. Wellek: Theory of Literature, New York 1949. J. Rousset, Forme et signification, Paiis 1962; J. Starobinski, L'oeil vivant, Paris 1961; La relation critique, Paris 1970. Vgl. auch die Arbeiten von S. N. Lawall, Critica of Consciousness, Cambridge, Mass. 1968 sowie von R. R. Magliola, Phenomenology and Literature, West Lafayette 1977. Vgl. R. Warning (hrsg.), Rezeptionsästhetik, München 1975. Z. Konstantinovic, Phänomenologie und Literaturwissenschaft, Skizzen zu einer wissenschaftstheoretischen Begründung, München 1973 (konfrontiert phänomenologische Standpunkte mit Literaturtheorien des Russischen Formalismus, der Existenzphilosophie, des Strukturalismus und des Marxismus); R. R. Magliola, Phenomenology and Literature: An Introduction, West Lafayette 1977. Sartres Frage »Qu'est-ce que la litterature?« griff der von E. W. Orth hg. Band auf: Was ist Literatur? {Phänomenologische Forschungen, Bd. 11), Freiburg/München 1981; E, Lobsien: Das literarische Feld. Phänomenologie der Literaturwissenschaft (Übergänge, Bd. 20), München 1988. E. W. Orth (hrsg.), Zur Phänomenologie des philosophischen Textes {Phänomenologische Forschungen, Bd. 12), Freiburg/München 1982. '' Stellvertretend für die Fülle an Literatur zu diesen Themen sei auf den von H.-D. Gondek und B. Waldenfels hg. Band verwiesen: Einsätze des Denkens. Zur Philosophie von Jacques Derrida, Frankfurt/M. 1997. ® M. Richir, Meditations phenomenologiques. Phenomenologie et Phänomenologie du langage, Grenoble 1992. J. Tischner, Das menschliche Drama. Phänomenologische Studien zur Philosophie des Dramas {Übergänge, Bd. 21), übs. von St. Dzida, München 1989. Behauptete sich in den phänomenologischen Untersuchungen des Kunstwerks einerseits eine Schichtenanalyse des Werks als solchen, die im Übergang von transzendentalkonstitutiven zu ontologischen Analysen zunehmend verfeinert wurde, so verlagerte sich andererseits vor allem durch Heideggers De-facto-Auflösung der traditionellen Disziplin der Ästhetik und der Entdeckung der Geschichtlichkeit das phänomenologische Interesse auf eine Deutung bestimmter Werke als konkrete Zeugnisse ihrer Epoche. Spielt das Kunstwerk in Heideggers Frühwerk kaum eine erkennbare Rolle - erinnert sei an seine ,fun-damentalontologische' Interpretation einer Passage aus Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge in der Vorlesung »Grundprobleme der Phänomenologie« von 1927 so entdeckte er im Zusammenhang mit seinem Kunstwerk-Aufsatz und dem Aufweis einer »Nachbarschaft von Dichten und Denken« Mitte der dreißiger Jahre Hölderlin für die phänomenologisch-herme-neutische Analyse und lieferte damit die ersten ausführlichen Stücke einer phänomenologischen Interpretation literarischer Werke.Zudem schärfte er den Blick für die Geschichtlichkeit der Kunst, ja entwickelte Geschichtlichkeit selbst als »Wahrheit des Seyns« von der Kunst her. Wandte sich Heidegger später auch Werken von Trakl und George so stellte Patocka in seinen 86 Untersuchungen vor allem zu Sophokles' Antigone und dem Goetheschen Faust und zu Vertretern der tschechischen Literatur Bausteine für eine Ideengeschichte Europas bereit.Hierbei ging es weniger um Werkanalyse als um den Aufweis von geistesgeschichtlichen Strukturen, für die das betreffende Werk einen Indikator darstellt. Arbeiten von Kaufmann, Karl Löwith (1897-1973) und dem italienischen Phänomenologen Enzo Paci (1911-1976) widmen sich schließlich noch entschiedener einer Skizze der Welt- und Lebenshaltung ausgewählter Autoren; Kaufmann und Paci verfassten Studien zu Thomas Mann, M. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie (Gesamtausgabe, Bd. 24), K-W. von Heirrnann (hrsg.), Frankfurt/M. 1975, S. 244-247. M. Heidegger, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein« [1934/1935] (Gesamtausgabe, Bd. 39), S. Ziegler (hrsg.), Frankfurt/M. 1980; Hölderlins Hymne »Andenken« [1941/1942] (Gesamtausgabe, Bd. 52), C, Ochwadt (hrsg.), Frankfurt/M. 1982; Hölderlins Hymne »Der Ister« [1942] (Gesamtausgabe, Bd. 53), W. Biemel (hrsg.), Frankfurt/M. 1984; Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (Gesamtausgabe, Bd. 4), F.-W. von Herrmann (hrsg), Frankfurt/M. 1981 [1. Aufl. 1944]; Zu Hölderlin. Griechenlandreisen (Gesamtausgabe, Bd. 75), C. Ochwadt (hrsg.), Frankfurt/ M. 2000. M. Heidegger, Unterwegs zur Sprache (Gesamtausgabe, Bd. 12), F.-W. von Herrmann (hrsg.), Frankfurt/M. 1985 [1. Aufl. 1959], S 7-78, 149-204. J. Patočka, Kunst und Zeit, op. cit,; Ketzerische Essais zur Philosophie der Geschichte, K. Nellen, J. Nimec (hrsg.), Stuttgart 1988. und Löwith befasste sich in der Spätphase seines Denkens mit Paul Valery.'°^ Ähnlich gelagert sind auch Sartres Arbeiten zu Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts. Seine dreibändige Flaubert-Studie folgt im Rahmen einer »existentiellen Psychoanalyse« in sozialkritischer Absicht der Spur der historisch-gesellschaftlichen Bedingtheiten, der Autor und Werk unterstehen und die sie zugleich entlarven,Merleau-Ponty nahm immer wieder vereinzelt Bezug auf Autoren, um in Facetten ihrer Werke Zeugnisse für seine leibphänomenolo-gischen Analysen zu gewinnen; im Mittelpunkt seines Interesse steht Proust. Maldiney schrieb über Francis Ponge, Richir über Melville.'"^ Gadamer äußerte sich zu Hölderlin, Goethe, George, Rilke, Kafka u. a.^'^® Demgegenüber geht Walter Biemel (geb. 1918) vom Werk selbst aus und befragt in enger Anlehnung an Heidegger Texte wie z. B. die Erzählung Der Bau von Franz Kafka auf ihre metaphysischen Implikationen.'® Einzelne Werke kamen in der phänomenologischen Analyse zu besonderen Ehren. Cervantes' Don Quijote wurde nacheinander Gegenstand bei Ortega y Gasset, Alfred Schütz (1901-1960) und Pirjevec.'^° Mit Ausnahme vor allem von Heidegger blieb die phänomenologische Werkdeutung zumeist jedoch eine Randerscheinung in dem Sinn, dass sie im Gesamtschaffen ihrer Verfasser nur eine sekundäre Rolle spielte oder aus der Feder von Autoren stammte, die nicht im Mittelpunkt der Rezeption gy phänomenologischen Denkens stehen. Dabei verflossen die Grenzen zwischen einer genuinen Werkinterpretation und der Formulierung philosophischer Gedanken, für die das jeweils behandelte Werk eine Hebammenfunktion oder eine Zeugenschaft darstellt.^'^ F. Kaufmann, »Universale Repräsentation bei Thomas Mann« [1957], in: F. Kaufmann, Das Reich des Schönen, op. cit., S. 312-322; E. Paci, Funzione delle scienze e significato delV uomo, 3 Bde., Milano 1965/1966; Bd. 2: Kierkegaard e Thomas Mann-, K. Löwith, »Paul Valery. Grundzüge seines philosophischen Denkens« [1971], in: K. Löwith, Gott, Mensch undWelt-G. B. Vico-Paul Valery {Sämtliche Schriflen, Bd. 9), Stuttgart 1986, S. 229-400. J.-P. Sartre, L'idiot de lafamille. Gustav Flaubert de 1821 ä 1857, 3 Bde., Paris 1971-1972; femer; Baudelaire, Paris 1947; Saint Genet, comedien et martyr, Paris 1952. H. Maldiney, Le legs des choses dans l'oeuvre de Francis Ponge, 1974; Le vouloir dire de Francis Ponge, 1993, M. Richir, Melville ou les assises du monde. Suivi d'un choix de textes de Melville, Paris 1996. H.-G. Gadamer, Ästhetik und Poetik IL Hermeneutik im Vollzug, op. cit. W. Biemel, Philosophische Analysen zur Kunst der Gegenwart, op. cit, Ortega y Gasset, Meditaciones del Quijote, Madrid 1914; Schütz, »Don Quixote and the Problem of Reality«, in: Schütz, Collected Papers II: Studies in Social Theory, A. Brodersen (hrsg.), The Hague 1964, S, 135-158; Pirjevec, »Die Frage nach der Dichtung im Beginn der Neuzeit«, in: Sein und Geschichtlichkeit. Karl-Heinz Volkmann-Schluck zum 60. Geburtstag, Frankfurt/M. 1974, S. 163-174. H. R. Sepp, J. Trinks (hrsg.), Literatur als Phänomenalisierung. Phänomenologische Deutungen literarischer Werke, Wien 2003. as Theorie der Bildenden Künste. Auch mit der Erfassung einzelner Genres der Bildenden Kunst befassten sich phänomenologische Autoren von der Frühzeit der Phänomenologie an. Bereits Waldemar Conrad behandelte 1909 im dritten Teil seiner Arbeit »Der ästhetische Gegenstand« die »darstellende« und die »nicht-darstellende Raumkunst«."^ Maximilian Beck machte die Bildenden Künste im ersten Paragraphen des fünften Kapitels seines Buchs Wesen und Wert zum Thema.Ingarden und von Hildebrand analysierten den ontolo-gischen Status der Malerei."'^ Derrida spielte im Titel seines Buches La verite en peinture (Paris 1978) auf Cezanne an und bezog die Wahrheit in der Malerei auf die diversen Spuren, die diese in ein Verhältnis zum ,Peripheren' des Bildes wie dem Rahmen, der Signatur, den Mechanismen von Ausstellung und Kunstmarkt bringen."^ Phänomenologische Autoren haben sich auch zu Künstlern und Werkrichtungen zu Wort gemeldet. Merleau-Ponty kam seit seinem frühen Artikel »Le doute de Cezanne« von 1945"^ immer wieder auf Cezanne zurück. In L'oeil et V esprit behandelt er eine große Anzahl von Kunstwerken, wobei Auguste Rodin und Klee im Mittelpunkt stehen. Weniger bekannt ist, dass sich auch Kaufmann zu diesem Pionier der Moderne äußerte und einen Artikel zu Michelangelo verfasste.^^^ Sartre schrieb über Tintoretto, Wols, Masson, Giacometti, Lapoujade,"® Maldiney außer über Cezanne und Giacometti auch über Uccello und Tal Coat,"^ Henry wie erwähnt über Kandinsky, und Richir behandelte das Werk seines belgischen Landsmanns Mauricc Wyckaert. Bei Ingarden finden sich wiederholt Verweise auf den mit ihm befreundeten Krakauer Künstler W. Conrad, »Der ästhetische Gegenstand«, III. Teil, Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 3 (1909), S. 400-455. M. Beck, Wesen und Wert, op. cit. R. Ingarden, »O budowie obrazu«, in: R, Ingarden, Studia z estetyki, Bd. 2, Warszawa 1958; D. von Hildebrand, Ästhetik, 2. Band: Über das Wesen des Kunstwerkes und der Künste, op. cit., S. 187-231. Vgl. auch B. Waldenfels, »Das Rätsel der Sichtbarkeit. Kunstphänonaenologische Betrachtungen im Hinblick auf den Status der modernen Malerei«, in: B. Waldenfels, Der Stachel des Fremden, Frankfurt/M. 1990, S. 204^224. Vgl. vor allem den frühen Aufsatz »Le doute de Cezanne« von 1945 (später aufgenommen in Sens et non-sens [1948]). F. Kaufmann, »Cezanne«, in: F. Kaufmann, Das Reich des Schönen, op. dt., S. 260-277; »Michelangelo«, ibid., S. 211-219, In: Situations, IV, Paris 1964. M, Diaconu legte im Anhang ihres Buches Blickumkehr. Mit Martin Heidegger zu einer relationalen Ästhetik {Reihe der Österreichischen Gesellschaft für Phänomenologie, Bd. 4, Frankfurt/ M. u. a., 2000) Analysen zu Cezanne und Chillida vor. Waclaw Taranczewski. Nel Rodriguez Rial, spezialisiert auf phänomenologische Ästhetik, legte einen Artikel zu Goya vor,^^'^ Alexei Kurbanovsky zu Malevitch.^^' Was einzelne Kunstströmungen betrifft, so hat vor allem der Kubismus immer wieder das Interesse seitens der Phänomenologie hervorgerufen. Andrea Pinotti hat diese Reflexionen gesammelt und 1998 in einem eigenen Band herausgegeben.'^^ Mehr als im Fall des literarischen Werks führt die phänomenologische Interpretation von Bildwerken ein Randdasein im Bereich phänomenologischer Forschung. Nur vereinzelt stößt man auf Versuche, ein Werk oder eine Werkfolge, sei es Zeichnung, Malerei, Skulptur, Ready-made oder Filmwerk, zum Gegenstand einer phänomenologischen Analyse zu machen. Allbekannt sind Heideggers Reflexionen über Van Goghs Bauemschuhe}^^ Walter Biemel legte, wie schon Foucault vor ihm, eine Interpretation von Velazquez' Las Meninas yorP'^ Heinrich Rombach widmete in einem seiner letzten Werke dem Kleinen Morgen von Philipp Otto Runge eine eingehende Interpretation.'^^ Tine Hribar schrieb über den Bilderzyklus »Einsamkeiten« seines Landsmanns Janez Ber-nik,'^^ Cesar Moreno Märquez (geb. 1961) über ein Bild von Paul Klee.'^^ Häufiger sind in phänomenologischen Texten kurze Verweise auf einzelne Werke anzutreffen, die zumeist dem Zweck dienen, sie als Beispielmaterial heranzuziehen. Schon Husserl machte insbesondere in seinen Untersuchungen zum Bildbewusstsein ausgiebig Gebrauch von Werken der Bildenden Kunst, allem voran der Himmlischen und Irdischen Liebe von Tizian, so dass Detlef Thiel Husserls ,Gemäldegalerie' zusammenstellen konnte.'^® N. Rodriguez Rial, »Goya e a destruccion da razon«, Reflexionesfilosöficas. Revista defilosofla, 2 (1.992/1993), S. 13-21; vgL auch N. Rodriguez Rial, Curso de estetica fenomenolögica, 3 Bde., Santiago de Compostela 2000. A. Kurbanovsky, »Malevich's Mystic Signs«, in: Sacred Stories: Religion and Spirituality in Modem Russia, Bloomington/USA [im Erscheinen]. A. Pinotti (hrsg.), Pittura e idea. Ricerche fenomenologiche sul cubismo, Firenze 1998. ^^^ M Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerks«, op. cit., S. 18-22. M. Foucault, Les mots et les choses. Une archeologie des sciences humaines, Paris 1974, Kap. 1. - W. Biemel, »Philosophie und Kunst«, Aachener Kunstblätter, 48 (1978/1979), S. 219-228. H. Rombach, Der Ursprung, op. ciL, S. 74 f. In: N. Grafenauer (hrsg.), Janez Bemik. Einsamkeiten, Ljubljana 2002, S. 39-59. M. Moreno, »Ascension (fragmento sobre Aufstieg - Paul Klee, 1925)«, Er. Revista de Pilo-Sofia, 20 (1996). 128 Thiel, »Der Phänomenologe in der Galerie. Husserl und die Malerei«, Phänomenologische Forschungen N. F., 2 (1997), S. 6H03; H. R. Sepp, J. Trinks (hrsg.), Phänomenalität der Kunst, Wien 2006. @© Film und Medien. Eine der ersten Untersuchungen eines Phänomenologen zu Kino und Film stellt Sartres Skizze »L'art cinematographique« aus dem Jahr 1931 dar; man mag sich fragen, was darin ,phänomenologisch' sei, gewiss jedoch ist, dass bereits in dieser frühen Schrift zentrale Elemente von Sartres Denken begegnen, wie die Betonung einer »unmenschlichen Notwendigkeit«, die erscheint, wenn die »banale Dauer unsres Lebens /.../ ihren Schleier fallengelassen« haO^^ Merleau-Ponty publizierte 1947 den Artikel »Le cinema et la nouvelle psychologic«.1958 folgte Ingarden mit einem Kapitel zum Film im zweiten Band seiner Studien zur Ästhetik/^^ Der Phänomenologie mehr oder weniger nahe stehen einige Autoren der klassischen Filmtheorie wie Kra-cauer, Rudolf Amheim (geb. 1904), Bela Balasz (1884-1949) und Andre Bazin (1918-1958).'^^ Von neueren französischen Arbeiten ist vor allem das zweibändige Werk Cinema von Gilles Deleuze (1925--1995) zu nennen. Besonders in den USA hat die phänomenologisch inspirierte Filmtheorie eine Reihe von wichtigen Arbeiten hervorgebracht, wie insbesondere die Werke von Allan Casebier und Vivian Sobchack bezeugen.In diesem Zusammenhang sind auch neuere Forschungen zu den Massenmedien zu erwähnen. Seit 1999 besteht in San Diego, Kalifornien eine Society for Phenomenology and Media, die eine eigene Zeitschrift herausgibt. ^^^ J.-P. Sartre, »L'art cinematographique«, in: Distribution solennelle desprix, Le Havre 193L Wieder aufgenommen in Sens et non-sens (1948). R. Ingai'den, »Kilka uwag o sztuce filmowej«, in: R. Ingarden, Studia z estetyki, Bd. 2, op, dt. H. R. Sepp, »Ingardens Ontologie des filmischen Kunstwerks im Kontext klassischer Filmtheorien«, in; Adam Wegrzecki (hrsg.), Roman Ingarden. Afilozofia naszego czasu, Krakow 1995, S. 229-244; auf das Filmschaffen Sloweniens bezieht sich D. Piijevec, »Krise. Über die Krise des Films in Slowenien« [slow.], Ekran 11 (1973), S, 261-267. G. Deleuze, Cinema 1. L'image-mouvement, Paris 1983, Cinema 2. L'image-temps, Paris 1985. A. Casebier, Film and Phenomenology: Toward a Realist Theory of Cinematic Representation, Cambridge 1991; V. Sobchack, The Address of the Eye: A Phenomenology of Film Experience, Princeton 1992. Weitere Hinweise im Artikel von Sobchack über »Film« in: Encyclopedia of Phenomenology (Contributions to Phenomenology, vol. 18), Lester Embree et al. (hrsg.), Dordrecht/ Boston/London 1997, S. 226-232. Die Zeitschrift Glimpse. Phenomenology and Media enthält auch Artikel zu einer phänomenologischen Fihntheorie. - Vgl. auch C. Moreno, »La hechura del mundo. Espacio massmediätico y marginalidad de lo cotidiano«, Er. Revista de Filosofla, 15 (1992), S. 82-113; »Break/Freak: Fenomeno (Notas para una geneidetica: Eidos y monstrum)«, Daimon. Revista de Filosofia, 32 (2004), S. 55-75. - V. Flusser, Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen 1983; Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien, Mannheim 1993; L Därmann, Tod und Bild, Eine phänomenologische Mediengeschichte, München 1998. Musik. Entgegen landläufigen Vorstellungen war und ist phänomenologische Forschung keinesfalls okular zentriert. Dies lässt sich insbesondere damit belegen, dass Musik und Musikwerke von Anfang an im Zentrum phänomenologischer Untersuchungen zur Ästhetik standen. Bereits W. Conrad widmete dem »musikalischen Gegenstand« ein Kapitel in seiner Abhandlung zum ästhetischen Gegenstand;'^® er unterscheidet das akustische Objekt, wie es in natürlicher Einstellung erfahren wird, von seinem intentionalen Gegenstand. Losev verfasste zu Beginn der zwanziger Jahre eine musikästhetische Abhandlung.'^'' Später befassten sich insbesondere Geiger,'^® Ingarden^^® und Schütz^'^" mit dem Phänomen des Musikalischen. Geiger wies darauf hin, dass auch Musikwerke nur in »Außenkonzentration«, d. i. nicht in einer Haltung, in der der Hörende auf sich selbst bezogenen ist, adäquat erfahren werden können. Ingarden unterscheidet in seiner umfassenden Analyse das musikalische Werk, das für ihn wie jeder Kunstgegenstand »rein intentional« ist, zum einen von den subjektiven Erlebnissen, die sein Entstehen und Vernehmen begleiten mögen, zum zweiten von seiner Partitur, in der es textlich festgehalten wird, und zum dritten von seinen Aufführungen, in denen es sich konkretisiert. Schütz hingegen betrachtete das Musikwerk in seinem vielfältigen Bedeutungs- und Sozialkon- W. Conrad, »Der ästhetische Gegenstand«, op. cit., 1908, S. 80-118. A. Losev, »Die Phänomenologie der absoluten oder reinen Musik«, in: A, Losev, Musik als Gegenstand der Logik (Nachdruck: Iz rannich proizvedeni], Moskau 1990). - A. 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In jüngerer Zeit publizierte Giovanni Piana (geb. 1940) eine umfangreiche Abhandlung, in der er sich an Husserls Zeittheorie anlehnt.'"*' Auch von Musikinterpreten wie Emest Ansermet (1883-1969) stammen musikästhetische Abhandlungen auf phänomenologischer Grundlage."'^ G. Piana, Filosofia della musica, Milano 1991. - Siehe auch: M. Beck, Wesen und Wert, op. cit., Kap. VII; D. von Hildebrand, Ä^f/zeriA:, Bd. 2, op. cit., S. 315^57; Th. Clifton, Music as Heard, A Study in Applied Phenomenology, New Haven 1983; D. Lewin, »Music Theory: Phenomenology and Modes of Perception«, Music Perception, III (1986), S. 327-392; B, Schleiser, Musik und Dasein. Eine existentialanalytische Interpretation der Musik, Frankfnrt/M, u, a, 1998; B. E. Benson, The Improvisation of Musical Dialogue. A Phenomenology of Music, Cambridge 2003. - Ferner: R. Miraglia (hrsg.), The American Phenomenology of Music, Axiomathes, VI/2 (1995); G. Pöltner, »Sprache der Musik«, in: G. Pöltner (hrsg.), Phänomenologie der Kunst {Reihe der Österreichischen Gesellschafi für Phänomenologie, Bd. 5), Frankfurt/M. u. a. 2000, S. 153-169; A. Mazzoni, La musica nelVestetica fenomenologica, Milano 2(X)4. - Zu Husserl: F. J. Smith, »Musical Sound, a Model for Husserlian Time-Consciousness«, in: The Experiencing of Musical Sound, New York 1979, S. 91-118; G. Schuhmacher, »Edmund Husserls Problemstellung zur Wahrnehmung musikalischer Sinneinheiten«, in: H. Kühn, P. Kitsche (hrsg.), Bericht über den Internationalen Musikwissenschaftlichen Kongreß Berlin 1974, Kassel 1980, S. 491-494. E. Ansermet, Les fondements de la musique dans la conscience humaine, Neuchatel 1961.