UDK 821.112.2 Brust A. 7 Verlorene Erde .06 VÖLKER UND RELIGIONEN IM ROMAN DIE VERLORENE ERDE VON ALFRED BRUST Sigita Barniskiene Zusammenfassung Der erste Roman Alfred Brusts Die verlorene Erde erschien 1926 und für diesen Roman erhielt der Autor 1929 den Kleist- Preis. Der ostpreußische Schriftsteller Brust (1891 - 1934) wählt den Handlungsraum zwischen Königsberg, Grodno und Wilna, zu beiden Seiten der deutsch-litauischen Grenze. Die handelnden Personen sind Nachkommen der Altpruzzen. Auch der jüdische Glaube und die mystisierten Gestalten von Juden spielen im Roman eine entscheidende Rolle. Brust will dem Leser den Gedanken näherbringen, dass die moralische Erneuerung mit dem Streben des Menschen zu Gott mit Hilfe einer oder einiger Religionen zusammenhängt. 1. ALFRED BRUST - EIN EXPRESSIONISTISCHER AUTOR AUS OSTPREUßEN Der Expressionismus wird als Kunstrichtung bezeichnet, die von 1910 bis 1923 anhielt, sich „gegen die Wirklichkeitsnachbildung des Naturalismus, des überzogenen Schönheitsideals des Impressionismus bzw. der Neuromantik und der Poesie des L'art pour l'art im Symbolismus abgrenzte" (Zirbs 1998: 129). Alfred Brust (geb. 1891 in Insterburg - gest. 1934 in Königsberg) wird in der deutschen Literaturgeschichte zusammen mit Paul Zech, Walther Heymann als expressionistischer Schriftsteller bezeichnet. Vor allem in seinen Dramen findet man expressionistische Züge: „Alfred Brust (...) stand in der immer wieder zum Schwärmertum tendierenden Tradition ostpreußischen Gottsuchertums. Sie ließ ihn in seinen Dichtungen Ausdrucksformen verwenden, die dem expressionistischen Drama eigentümlich sind: der Dichter wird zum Prediger, die Bühne zur Kanzel" (Motekat 1977: 359). Brust predigte in seinen Dramen Erlösung der Menschheit durch die Abkehr von der zivilisierten bürgerlichen lasterhaften Gesellschaft, durch die Hinwendung zum primitiven Leben in der Eintracht mit der Natur (Heiligung), durch die freiwillige Wahl der Armut, Kontemplation, Selbstopferung (Der Tag des Zorns, Der ewige Mensch), durch die schicksalhafte, alle Konventionen und Schranken durchbrechende Liebe (Das Spiel Christa vom Schmerz der Schönheit des Weibes, Der singende Fisch) und schließlich auch durch die Überbrückung und den Zusammenhang zwischen den Kulturen und Religionen (Die Schlacht der Heilande, Ostrom). Simone Dannenfeld, die einen Überblick über die Ideen des dramatischen Werks von Brust gemacht hat, hebt im Besonderen die Mischung von Religionen bei Brust hervor: Besonderes Gewicht erfahren die Bergpredigt und die Apokalypse des Johannes, was wiederum die chiliastische Orientierung auf ein apokalyptisches Weltende hin unterstreicht, die im Expressionismus nicht selten war. Brust verwendet liturgische Wendungen und Gesänge und stellt habitualisierte Formulierungen und Handlungsweisen unterschiedlichster christlicher Kirchen dar, zu denen u. a. die römischkatholische, die russisch-orthodoxe, aber auch kleine pietistische Glaubensgemeinschaften gehören. Einen weiteren Schwerpunkt bilden die ursprünglichen Naturreligionen Osteuropas, denen sich Brust besonders verbunden fühlte, aber auch islamische und buddhistische Motive bzw. Verbindungen zu Friedrich Nietzsches „Zarathustra,, sind angedeutet (Dannenfeld 2001: 185). Es ist zu vermuten, dass die Problematik, die das dramatische Werk Brusts geprägt hat, sich auch in seinen späteren epischen Werken niedergeschlagen hat. Der Schriftsteller hat sich selbst nicht als einen echten Expressionisten gesehen und wollte keiner literarischen Strömung zugerechnet werden. In seinem einzigen Gedichtband Ich bin (1929) findet man folgende Zeilen: Ich bin nicht der, den alle meinen. Ich bin ganz anders als wir sind. Ich scheine nirgend durchzuscheinen. Es kann mir nichts vom Auge weinen, Und dennoch wein' ich wie der Wind (Ich bin, 7). In einem Brief an Hugo von Hofmannsthal vom 26.12.1926 beklagt sich Brust darüber, dass obwohl die Uraufführung seines Dramas Tolkening in Berlin ein großer Erfolg gewesen ist, die Kritiker sein Werk weder verstehen noch richtig einschätzen konnten: Die Uraufführung vor mehr als zwei Jahren war bei mangelhaftester Darstellung ein ungewöhnlicher Berliner Publikumserfolg mit 18 Vorhängen am Schluß! Aber es geschah, daß die Berliner Presse, die mich in den Expressionistentopf geworfen hatte, und nun nicht aus noch ein wußte, mir jede dichterische Begabung absprach, den Erfolg einstimmig verschwieg und meine Person mit Ausdrücken belegte, die jeder Beschreibung spotten (Hofmannsthal-Blätter, 64). Nachdem Brust viele Dramen geschrieben hatte, die auf den Bühnen Deutschlands, Österreichs, Lettlands aufgeführt wurden, wendete er sich den Prosaarbeiten zu. Nach dem Ersten Weltkrieg, während dessen er als Zensor beim Buchprüfungsamt in OberOst in Bialystok, Kaunas und Riga tätig gewesen war, blieb er 1918 - 1919 als Delegierter im Soldatenrat in Riga, von 1919 bis 1923 lebte er in Heydekrug als freier Schriftsteller, von 1923 bis 1932 - in Cranz auf der Kurischen Nehrung. Brust hatte eine große Familie zu ernähren, was ihm immer schwerfiel, besonders nachdem er 1928 an Lungentuberkulose erkrankt war (Denkler 1971: 299). Von den Prosaarbeiten erwartete Brust einen größeren materiellen Nutzen, deswegen widmete er sich von 1923 an der epischen Gattung: bereits 1923 wurde sein Geschichtenband Himmelstraßen herausgegeben, 1926 erscheint sein erster Roman Die verlorene Erde, 1928 die Geschichte Jutt und Jula, 1930 der Roman Festliche Ehe, 1931 Erzählungen Der Lächler von Dunnersholm, 1933 der Roman Eisbrand. Für seinen ersten Roman Die verlorene Erde erhielt Brust 1929 den Kleist-Preis. Der Roman vereint in sich viele Ideen, Motive, die aus dem dramatischen Werk Brusts zum Teil transferiert worden sind. Die ostpreußische Heimat des Schriftstellers und die Erlöserfigur prägen das ganze Romangeschehen. Der Schriftsteller selbst hat die Wirkung seines ersten Romans folgenderweise beschrieben: Und nun brachte Elster in seinem Verlag meinen ersten Roman heraus. Das Erstaunen ist groß Selbst die Antisemiten haben einen entscheidenden Stoß bekommen, den man überall durchfühlt. Ostpreußen ist erneuert, trotzdem hier noch keine 20 Exemplare verkauft sind (Hofmansthal-Blätter, 64). Die Aufgabe dieses Artikels ist, nicht nur den Ideengehalt des Romans zu charakterisieren, sondern vor allem das Thema des Zusammenlebens der Völker und der verschiedenen Religionen Ostpreußens zu erschließen. Dabei versuche ich, mich auf das Prinzip des Vergleichs der fiktiven Romanwelt mit den kulturhistorischen Quellen zu stützen. 2. DIE JÜDISCHE LINIE IM ROMAN Der Protagonist des Romans Graf Sauß Dagda, der auf Dagdakehmen bei Memel wohnt, ist seiner Herkunft nach ein Pruzze. Der Autor charakterisiert die Nachkommen der Pruzzen als besonders heftige Menschen, deren Charaktere ausgeprägt gut oder schlecht sind, deren Leben zwischen zwei Extremen schwanken: Und die Geschichte weist bedeutsamste Geister auf, die zeit ihres irdischen Wandelns kalt oder heiß waren, Himmel oder Hölle vertraten. Des lauen Durchschnitts hatten sie sich nie zu erfreuen (Die verlorene Erde, 7). Solch einer sei auch Graf Sauß Dagda gewesen: er war sauf- und rauflustig, manchmal gewalttätig, manchmal großmütig und hatte etwas Dämonisches in sich. Nach solch einer Charakteristik der Hauptfigur des Romans stellt Brust eine Gegenfigur des Juden Chaim Asisohn vor. Er ist ein Kleinhändler, ernährt eine Frau und fünf Kinder, aber er lehnt es ab, Mann oder Vater zu sein: ... und aus der Milde seines Herzens heraus und weil er gerade in dieser Ortschaft wohnen müsse, sorge er für die Nahrung und moralische Stütze der Kleinen. Und es soll rührend gewesen sein, anzusehen, wenn Chaim Asisohn mit dem schmerzlichen Gesicht seines Volkes am Freitag vor Sonnenuntergang seiner Behausung zugeeilt sei, wo ihn der gedeckte und erleuchtete Tisch erwartet habe. Er brach das Brot und sprach die guten Bitten. Er wußte in den alten Büchern Bescheid. Aber er soll doch auch das Neue Testament besessen und gekannt haben. - (Die verlorene Erde, 10). In dieser Charakteristik des jüdischen Händlers gibt es etwas Geheimnisvolles -dass er nur für die Familie sorgt, ohne Vater und Mann zu sein. Als prägnanteste Charakterzüge werden seine Milde, moralische Reinheit und Gottesfurcht, ausgedrückt in dem pflichtbewussten Feiern des Sabbaths, genannt. Im Vergleich zu Sauß Dagda ist Chaim Asisohn eine höchst moralische und harmonische Person. Der Autor macht eine Bemerkung über die Zweckmäßigkeit der Erwähnung des jüdischen Händlers, die als eine Vorausdeutung zu verstehen ist: „- und das wird erst am Ende unserer Geschichte Sinn bekommen" (Die verlorene Erde, 9). In der Tat spielt der Jude Asisohn in der Entwicklung der Fabel und im Ideengehalt des Romans eine sehr wichtige Rolle. Gleich nach der Vorstellung dieser gegensätzlichen handelnden Personen erzählt Brust eine Geschichte, die von ihrem Konflikt besonderer Art handelt, die geistige Umwandlung des Grafen beeinflusst und auf die geheimnisvollen mystischen Eigenschaften des Juden Asisohn hindeutet. Man kann das Wesen dieser Geschichte folgenderweise wiedergeben: Sauß Dagda kehrte von einer Zecherei betrunken auf seinem Ross durch den Wald nach Hause zurück und traf am Kreuz, das zum Andenken einiger von Wölfen zerrissenen Schulkinder errichtet worden war, Chaim Asisohn. Der Graf empfand eine tiefe Abneigung gegen die Juden und damals hat er aus Wut mit der Peitsche auf das Kruzifix eingehauen. Chaim Asisohn hat den Grafen zur Mäßigung ermahnt und das Kreuz des Segens über ihn geschlagen. Seit dieser Zeit schämte sich Graf Sauß Dagda und versuchte, dem Juden auszuweichen, was ihm schwer fiel, weil der Jude überall in der Gegend seine Waren herumtrug. Sauß Dagda hasste den Juden und hat sich eines Tages an ihm grausam gerächt: er hat den Juden überfallen und seinen Schädel mit einer Säure eingerieben, so dass die Kopfhaut geschält wurde. Seit diesem Tag war Chaim Asisohn verschwunden. Doch er taucht im Roman noch mehrmals unter einem anderen Namen auf und wird zum Beschützer der Familie des Grafen Dagda, der nach diesen Schandtaten eine positive geistige Umwandlung durchmacht. Ein Bauer erzählt auf dem Sterbebett dem Grafen, dass er Asisohn nach zehn Jahren im Wald getroffen habe. Er habe eine farbige karierte Perücke getragen und Folgendes ausgesagt: Mein Leben ist lang. Viel zu lang ist mein Leben. Ich sehe den Grafen und sehe sein Kind wieder (Die verlorene Erde, 14). Das klingt seltsam, weil Graf Dagda zu dieser Zeit noch keine Frau und keine Kinder hatte. An dieser Stelle lässt der Autor den Leser begreifen, dass der Jude eine mystische Gestalt ist. Henry Kuritz, der das Schaffen Brusts in seiner Magisterarbeit eingehend analysiert hat, bemerkt, dass Brust mit den Legenden des Baalschem und mit den anderen Erzählungen der Chassiden von Martin Buber (1878-1965) bekannt gewesen ist und sie in seinen Werken mit der Genehmigung des Autors gebraucht hat (Kuritz 1998: 15). Der Chassidismus ist die Lehre einer ostjüdischen Sekte, die gegen die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts entstand. Der Stifter dieser Sekte ist der Rabbi Israel ben Elieser, der Baalschem, Meister des Gottesnamens, genannt wurde und etwa 1700 - 1760 in Podolien und Wolhynien gelebt hat (Buber 1955: 7). Er wurde von seinen Schülern für den Heiligen gehalten, für den Messias, der die Welt erlösen wird. Baalschem hat eine große Kluft zwischen Gott und Welt gesehen und strebte in seiner Lehre danach, die Sphäre des Heiligen zu erweitern, damit die ganze Welt geheiligt wird. Das Böse existiere nicht, weil es kraftlos ist, die menschlichen Sünden sind Ausdruck des Guten, denn auch in den Sünden des Menschen äußert sich die Schechina - die Gottespräsenz. Jeder Gedanke, jedes Wort und jede Tat können heilig werden, wenn sie durch die Kawwana - die gute Intention - geheiligt werden (Sodeika 1998: 55). Über die Kawwana wird Folgendes ausgesagt: Und dies ist der Sinn und die Bestimmung der Kawwana: daß es dem Menschen gegeben ist, die Gefallenen zu heben und die Gefangenen zu befreien. Nicht bloß warten, nicht bloß ausschauen: wirken kann der Mensch an der Erlösung der Welt. Das eben ist Kawwana: das Mysterium der Seele, die darauf gerichtet ist, die Welt zu erlösen (Buber 1955: 49). Die Idee der Erlösung der sündhaften und bösen, deswegen auch der verlorenen Erde, hat Brust aus dem Chassidismus in seinen Roman transponiert. Nach diesem Prinzip der Heiligung und der Erlösung handeln hier alle Figuren, vor allem aber der mystische Jude Chaim Asisohn. Er segnet seinen Peiniger - den Grafen Dagda gleich nach seiner Schandtat, und infolgedessen erfährt der Letztere einen inneren Wandel, studiert Hebräisch, den Talmud und andere Bücher, so dass er am Ende des Romans zum jüdischen Glauben übergetreten ist, an einem jüdischen Fest in Wilna teilnimmt und tödlich verletzt auf den Armen von Asius (so wird jetzt Chaim Asisohn genannt) stirbt. Über den Asius wird der Gedanke geäußert, dass er möglicherweise die Verkörperung der Seele von Baalschem, des wundertätigen Zaddiks, ist: Wer war Asius? Wer konnte es sagen? Wer konnte es wissen? Die einen rieten, es sei Elija, die andern meinten, es sei der Baalschemtow, dessen Seele von Zeit zu Zeit menschliche Gestalt annehme und sich auf den vorbereitenden Spuren des endlichen messias bewege, seine unbewußten Schritte zu schützen und zu lenken (Die verlorene Erde, 307). Der Jude Asius, oder Asser, beeinflusst im großen Maße auch das Leben des Sohns von Sauß Dagda Elnis. Elnis bedeutet auf Litauisch der Hirsch, und dieser Name hat wahrscheinlich einen symbolischen Sinn - Elnis ist der Nachkomme der Pruzzen und fühlt in sich eine besondere Bestimmung Gottes, König oder Erlöser der Menschheit zu sein. Über das Verhältnis von Brust zu dem altpreußischen heidnischen Glauben hat der Literaturwissenschaftler Josef Nadler die Meinung geäußert, dass der Schriftsteller an die Wiedergeburt der altpruzzischen Macht geglaubt habe, sich selbst einen Heiden genannt und die Naturreligion gepredigt habe. Im Hirsch soll er die Spuren der alten Heimat gesehen haben (Sesplaukis - Tyruolis 1995: 183). Elnis ist der gute und edle Sohn von Sauß Dagda und seiner dämonischen Frau Hussa, der zweite Sohn Pupill ist grausam, böse und hasst vom Grunde seines Herzens seinen Bruder, weil beide auf eigene Weise Birute, die Tochter des Gutsverwalters Schomp, lieben. Pupill wird eifersüchtig, als er das Spiegelchen von Birute an der Kette um den Hals seines Bruders bemerkt und den Pfeil aus dem Bogen auf seinen Bruder schießt. Der Pfeil trifft auf die Oberlippe von Elnis, der mit dem blutenden Munde die Geschichte von Kain und Abel erzählt und dann den Bösewicht Pupill verflucht. Später ermordet er Pupill, als dieser dabei ist, Birute zu vergewaltigen. Da der Sarg des scheinbar verstorbenen Grafen sich leer erweist, legt man Pupill dorthin. Lorenz Jäger schätzt die Geschehnisse im Roman Brusts folgenderweise ein: Die Lektüre ist in hohem Maße spannend: Brust hat hier alle Register der Schauerromantik gezogen und mit grellen Effekten nicht gegeizt; ein Scheintoter und ein leerer Sarg, Eulenruf auf einem nächtlichen Friedhof, ein vergifteter Dolch, eine Flucht aus dem Kloster und ein südamerikanischer Sklavenhalter geben das bewegte Beiwerk ab (Jäger 1991/1992: 55-56 ). Birute flieht von Zuhause, und Elnis tritt eine Pilgerreise nach Osten an, um Birute zu suchen. Unterwegs nach Wilna treffen die Wanderer (mit Elnis wandert auch der deutsche Gärtner Kunde und Birutes Mutter Malvine) den Juden Asser, der aus Tiflis nach Wilna zu Fuß geht. Asser scheint alles von Elnis zu wissen, er weiß auch im Voraus, was mit ihm in einem Bauernhaus geschieht, und zwar dass der Wirt ihn hinauswerfen wird. Nachdem dies geschehen ist und der polnisch schreiende Bauer ins Gesicht Assers gespieen hat, umarmt Elnis den beleidigten Juden und küsst ihn auf den Mund. Asser schlägt Elnis vor, dem Bauern zu fluchen, und da Elnis solches Verhalten nicht christlich findet, belehrt Asser den Jüngling mit folgender jüdischer Weisheit: Wenn du deinen Feind lieben kannst, dann laß es dabei bewenden. Aber tue es nicht! Liebe ihn nicht! Denn du wirst feurige Kohlen auf sein Haupt legen. Und das Feuer wird seinen Leib vernichten! Du sollst deine Feinde lieben können! Aber du sollst ihnen immer ein bißchen böse sein, damit es ihnen nicht zu schlecht ergeht und du nicht schuldig wirst an ihrem Verderben (Die verlorene Erde, 302-303). Asser wird zum seelischen Berater und Beschützer von Elnis. Sie führen Gespräche, die sehr an chassidische Lehre und Legenden erinnern, wie z. B. folgende Aussage Assers über die Notwendigkeit des Wanderns: Der Jude nickte. „Die Gerechten müssen unstet und flüchtig sein, sagte Rabbi Nachman von Bratzlaw, weil es vertriebene Seelen gibt, die nur dadurch emporsteigen können,,. Er wandte sich Kunde und Frau Malvine zu und fuhr fort: „Wenn ein Gerechter sich wehrt und nicht wandern will, wird er unstet und flüchtig in seinem Hause (Die verlorene Erde, 308). Über die Unstetigkeit und Flüchtigkeit der Abgeschiedenen ist auch die Rede in der chassidischen Lehre über die Hitlahawut - die Inbrunst der Ekstase: Doch gibt es tiefer Abgeschiedene, deren Hitlahawut in alledem noch nicht erfüllt ist. Die werden „unstet und flüchtig,,. Sie gehen in die „Verbannung,,, um „das Exil der Schechina zu tragen,. Es ist eine Urvorstellung der Kabbala, daß die Schechina, die „einwohnende, Gegenwart Gottes, verbannt durch die Unendlichkeit irrt, von ihrem „Herrn„ getrennt, und daß sie erst in der Stunde der Erlösung sich mit ihm wieder vereinigen wird. So wandern diese Ekstatiker über die Erde, in den stummen Fernen des Gottes-Exils weilend, Genossen des heiligen Allgeschehens. Der dergestalt Abgelöste ist Gottes Freund, „wie ein Fremdling eines andern Fremdlings Freund ist, ihrer Fremdheit auf Erden wegen.„ Ihm widerfahren Augenblicke, in denen er die Schechina im Menschenbild schaut, von Angesicht zu Angesicht, wie jener Zaddik sie im Heiligen Lande sah,„ in der Gestalt einer Frau, die über den Gemahl ihrer Jugend weint und klagt (Buber 1955: 27). Man kann annehmen, dass Elnis in Birute seine Schechina sieht und nach ihr mit größter Inbrunst strebt, wenn auch auf dem Wege zu ihr viele Hindernisse erscheinen: Birute wird von Siphor, dem Sohn des tatarischen Fürsten Tartarki, zur Frau begehrt und verfolgt, so dass sie genötigt ist, ihn zu erdolchen. Sie findet Zuflucht in der katholischen Kirche, aber sie ist gelähmt und sinkt in eine Trance. So finden sie Elnis, Kunde und ihre Mutter Malvine in Wilna, wo sie auf dem Platze vor der Menge mit ihren Krücken wie mit einem Geigenbogen spielt. Die Segnung Assers lässt Birute erwachen, sie kann wieder laufen, sie schleudert ihre Krücken weg und die eine trifft tödlich Kunde, der auch Rivale von Elnis bei der Werbung um Birute gewesen ist. Auf dem Wege zur Vereinigung mit Birute hat noch ein ernstes Hindernis gestanden -die fünfzehnjährige Tochter eines Rabbis, Chassida, die Elnis liebgewonnen hatte, was aus seinem langen Brief an sie ersichtlich ist. Der Brief stellt ein empfindsames, zartes Liebesbekenntnis und einen Abschiedsbrief gleichzeitig dar, denn er endet mit den Worten: „Leb wohl denn, Chassida! Ich wandere!"(Die verlorene Erde, 360). Der Jude Asser regelt auch diese Herzensangelegenheit - er warnt Elnis vor einem eventuellen falschen Schritt : Welches Schicksal willst du bedrängen? Willst du eingehen zu Chassida? Erröte nicht! Aber sie ist nicht von deiner Rasse. Erinnere dich ihrer oftmals und bleibe bei deinem Volk ... (Die verlorene Erde, 337). Der Jude Asser hat einen so großen Einfluss auf die geistige Entwicklung von Elnis, dass der Jüngling an diesen Tagen in Wilna sein ganzes Leben durchdenkt, seine Sünde als Brudermörder, seine Liebe zu Birute, seine höhere Bestimmung, geheimer König zu sein, sich klar vorstellt und sich sein Verhältnis zur jüdischen und zur katholischen Religion vergegenwärtigt. „In seinem Leben strömten alle Religionen durcheinander" - bemerkt der Autor über Elnis (Die verlorene Erde, 321). Am Ende des Romans empfangen Elnis und Birute den Segen von dem Juden Asser, der die Hände der jungen Leute ineinander legt und folgende Worte ausspricht: Die Erde ist verloren! Aber der Herr der Welt sammelt die, so ihn erkennen! Lebt, blüht, wachst, gedeiht zur Ernte! Was kümmert's uns, wohin wir sausen!! (Die verlorene Erde, 373). Nicht nur die mystische Figur des Asius oder Asser spielt im Roman bei der Schilderung des jüdischen Lebens eine wichtige Rolle. Eine viel realere Person ist der Pflegesohn von Asius - Ossip Asisohn, der sich Oskar nennt. Zuerst erscheint er als Student der Medizin, von ihm wird gesagt, dass er Liebling der Professoren war, Blut und Leichen sehen konnte, „obschon er sich für innere und seelische Leiden lebhafter interessierte" (Die verlorene Erde, 104). Ein zweites Mal taucht Asisohn schon als Professor im Schloss des Grafen auf, als der sich auf dem vermeintlichen Sterbelager befindet. Er lenkt selbst das Auto, kümmert sich um den Grafen, ist sehr aktiv und betulich: er war ein ungewöhnlich motorischer Vertreter seiner Rasse (Die verlorene Erde, 200). Auf den jüdischen Glauben achtet Ossip Asisohn nicht sehr viel, da er nach dem angeblichen Tod des Grafen um die Hand der Dienerin des Grafen Grita wirbt, Geheimrat zu werden und sich taufen zu lassen verspricht (Die verlorene Erde, 213). Dass es solche „modernen,, Juden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab, zeugen Forschungen der Historiker. Verena Dohrn behauptet über die jüdischen Ärzte in Litauen Folgendes: Die ersten modernen Juden in Wilna und Kowno - wie im gesamten Zarenreich - waren Ärzte und Kaufleute. Seit Beginn der zarischen Ära im osteuropäischen Judentum wurden jüdische Ärzte offiziell anerkannt bzw. in den Staatsdienst übernommen. (...) In Wilna war (1908) knapp die Hälfte der gesamten Ärzteschaft (45 von 102) und fast alle Zahnärzte (49 von 57) Juden. Es waren Ärzte, die die Abkehr vom traditionellen Judentum vorlebten (Dohrn 2004: 98-99). Im Roman Die verlorene Erde werden auch Karaiten, eine türkische Gemeinschaft, die den Talmud verwarf und nur das Alte Testament gelten ließ, in Trakai, in der Nähe von Wilna erwähnt. Die Pilger - Elnis, Malvine, Kunde und der Jude Asser - werden von den Karaiten an der Wasserburg vorbei im Boot gefahren: Sie fuhren an einer Insel vorbei, darauf eine verlorene Burg stand. Und es war, als ob die Manen der Helden, die hier einst gelebt und gestritten, hart auf der Grenze zum Diesseits um ein zerstürztes Reich trauernd sich bewegten. Zuweilen wurde ihre Nähe so lastend, daß die Bootsinsassen schweratmend, tiefgebeugt, stumm auf den schmalen Bänken saßen (Die verlorene Erde, 307). In den historischen Werken zur Geschichte Litauens findet man eine Erklärung, warum die Karaiten von dem Großfürsten Vytautas nach Litauen gebracht wurden -als Soldaten haben sie die Burgen des Fürsten bewachen sollen. Andere Gemeinschaftsmitglieder haben Handel, Gemüseanbau, Handwerk (besonders Spinnen) getrieben. Sie hatten das Recht, ihren Glauben frei zu bekennen (Gudavicius: 1999, 366). Eine zahlreiche türkische Gemeinschaft in Litauen bildeten die Tataren, die auch im 14. Jahrhundert nach Litauen gekommen sind, als die Grenzen Litauens in Richtung Russland erweitert wurden, wo die Tataren herrschten (ebenda, 364). Eine tatarische Familie des Fürsten Jussup Tartarki wird im Roman von Brust auch sehr einprägsam dargestellt. Birute findet in dieser Familie Zuflucht und wird als Erzieherin der Fürstenkinder angestellt. Der reiche Khan hat ein Gut, das „einige Tage südlich von Wilna lag„ (Die verlorene Erde, 241), und eine faule, fette Frau, die „alljährlich ein Fürstenkind in die Wiege legte„ (ebenda, 243). Die islamische Religion spielt für den Fürsten eine große Rolle: er hat eine Moschee, wo er beten kann, ihn besucht auch manchmal der Molla aus Wilna. Jussup Tartarki trinkt Kaffee, raucht eine Wasserpfeife und blickt durch das Fenster, das in Richtung nach Mekka liegt. Eine geheimnisvolle spannende Szene, in der der zu Besuch weilende türkische Derwisch einen Talisman für den Fürstensohn Siphor aus dem Metall zu gießen versucht, gibt Anlass, folgende Worte über den Islam ind den Mund des Derwisches zu legen: Allah erschuf alle Dinge und beschützt sie. Die Schlüssel von Himmel und Erden sind in seiner Hand, und alle, so an Allahs Zeichen Zweifel hegen - sind auf der verlorenen Erde! (Die verlorene Erde, 267). Das Leitmotiv der verlorenen Erde wiederholt sich im Roman mehrmals. Warum gerade die litauische Erde an der Memel als verloren für Brust galt, erklärt er in einer Passage über die Religionen, die in Litauen vertreten sind. Das Verlorensein bedeutet für den Autor nicht die Ausweglosigkeit, sondern eine Hoffnung: die verlorene gequälte Erde erzeugt die Hoffnung auf das Kommen des Erlösers, des Messias, des Gesalbten Gottes, wovon das folgende Zitat zeugt: Dies war das Land, in dem der Messias erwartet wurde! Denn nirgend auf Erden brachen die Wogen der religiösen Verschiedenheiten so stark und deutlich wie hier aneinander. Nirgend auf Erden wurde in den einzelnen Bekenntnissen so heftig geglaubt und gebetet wie hier! Und all diese Bitten fielen in den Boden des Landes, flossen ins Wasser, das sie zum Niemen, zur Memel hinabtrug, sie heiligend mit dem unaussprechbaren Geheimnis kommender Zeiten. Es war das Land, das mit gläubigsten Bitten ekstatischer Konfessionen gedüngte Land, das Elnis nächtens, wenn er so dicht am Busen der Erde ruhte, tief und schmerzlich aufseufzen hörte. Es erschauerte vor der Möglichkeit einer Ankunft eines gesalbten Königs auf diesen Fluren (Die verlorene Erde, 240). Brust zählt fünf Konfessionen auf, die zum Teil auch mit den Nationalitäten, die in Wilna Anfang des 20. Jahrhunderts vertreten waren, im Zusammenhang stehen. Judaismus, Katholiken, Mohamedaner, russische Orthodoxe, lutherische Protestanten. Dass es zwischen den Nationalitäten und verschiedenen Konfessionen manchmal heftige Auseinandersetzungen und Beleidigungen gab, bezeugt das Beispiel mit Sauß Dagda. Man erfährt beim Lesen, dass er nicht nur den Juden Asisohn mißhandelt, sondern auch den tatarischen Fürsten gepeitscht und „Tatarenschwein„ genannt hat (Die verlorene Erde, 253). Wir haben das jüdische Leben und die handelnden Figuren der Juden im Roman analysiert, den Einfluss des Chassidismus auf den Ideengehalt des Werks gezeigt, auch manche historische Tatsachen mit den Schilderungen im Roman verglichen. Karaiten und Tataren werden in einigen Episoden des breit angelegten Romangeschehens ebenfalls dargestellt. Unterschiedliche Nationalitäten leben auf der verlorenen Erde und warten auf den Erlöser, der möglicherweise der Pruzze Elnis sein wird. 3. BALTEN UND DEUTSCHE IM ROMAN Wir haben schon erwähnt, dass die meisten Protagonisten des Romans ihre altpruzzische Herkunft aufweisen können. Wenn z. B. Birute auch einen litauischen Namen trägt, gilt sie für den tatarischen Fürsten als deutsche Erzieherin. Andererseits ist der Großvater ihrer Mutter Malvine wahrscheinlich ein Pruzze gewesen. Auf diese Weise ist es manchmal schwer, die Nationalität des Protagonisten genau zu bestimmen. Balten und Deutsche betrachten wir als die zweite Hälfte „der Bevölkerung,, des Romans. Wenn für das Judentum die chassidische Lehre charakteristisch ist, werden Balten und Deutsche durch die Reste des heidnischen Glaubens, der ihre Schicksale prägte, gekennzeichnet. So erfährt Michael Schomp, der Verwalter des Gutes von Sauß Dagda, dass seine Mutter eine Ragana, d. h. Zauberin oder Hexe gewesen sein soll. Ragana ist ein litauisches Wort, das auch heute gebraucht wird. Die Etymologie des Wortes wird entweder durch das Verb regeti (sehen), daher Hellseherin oder durch das Substantiv ragas (Horn), daher ein Wesen, das mit dem „gehörnten,, d. h. abnehmendem oder zunehmendem Mond verbunden ist, erklärt (Dunduliene 1990: 140). Michael Schomp hat ein Hinkebein, weil er von seiner Mutter gleich nach der Geburt auf der Schwelle des Schweinestalls verlassen wurde und die Ratten ihm die Zehen des rechten Füßchens abgefressen haben. Sein Vater, der Großknecht, war kurz nach seiner Hochzeit ertrunken, die Mutter aber wurde im Erlenbruch vom Stier zerstampft aufgefunden, so dass Michael als Waisenkind auf dem Gut aufgewachsen und Verwalter des Guts geworden ist. Über seine Mutter wusste Schomp wenig, weil die Leute es vermieden, ihm das zu erzählen, woran sie glaubten: dass eine Ragana in seiner Mutter verkörpert gewesen ist. Davon erzählt ihm Sauß Dagda und beide erleben auf der Erlenweide eine schauerliche Erscheinung eines geheimnisvollen riesigen Vogels, der als die Seele der Ragana, d. h. seiner zerstampften Mutter, von Michael Schomp gedeutet wird: Da vorn aus dem Erlenbusch trat eine Gestalt hervor, anzusehen wie ein Vogel in übermenschlicher Größe. Und der Vogel bestand aus einer großen Flamme, die in einem schmerzlichen Rot glühte, verzehrend glühte, aber nur glühte und durchaus nicht leuchtete. Und es geschah, daß dieser Vogel hüpfte, hüpfte und die glühenden Flügel breitete. Und ein pfeifendes, sehr rasches Wittwittwittwittwitt erfüllte den ganzen Raum unter den blassen Sternen; so wie wenn unzählige Vögel auffliegen, klang es, nur mußten dann ihre Schwingen aus dünnen Weidenruten statt aus Federn sein. Das verzehrende Glühen aber entfaltete sich und schien eins zu werden mit dem roten Frühlicht, das aus Norden violette Strahlen über den Himmel warf (Die verlorene Erde, 26). Über die Verwandtschaft der Ragana mit dem mythischen Urvogel schreibt auch die litauische Archäologin und Ethnologin Marija Gimbutiene. Sie bemerkt, dass die Nähe dieser mythischen Figuren sich in der Fähigkeit, zu fliegen wie ein Vogel oder durch die Luft auf einem Stock oder auf einem Baumstumpf (als Symbol der toten Natur) zu sausen, sich äußert (Gimbutiene 2002: 55). Der Ragana ist auch eine andere handelnde Person - Hussa von Engelstein -ähnlich, obwohl sie vom Schriftsteller mit diesem Namen nicht genannt wird. Das ist eine dämonische Frau, die sehr viel Übel anstiftet: nach dem Tode ihres Vaters Baron von Engelstein kommt sie von der Ostseeküste, aus dem Samland zu dem Grafen Sauß Dagda, wird seine Ehefrau, und dann beginnen seltsame Ereignisse: Frau Hussa hänselt den Verwalter Schomp und fasst Hass gegen ihn, später merkt sie, dass die Pfeiler im Schweinestall einzustürzen drohen und sagt das niemandem, so dass der Schweinestall zusammenstürzt und dreißig Schweine tötet. Hussa hasst nicht nur Schomp, sondern auch seine Frau Malvine. Sie beobachtet mit ihrem blauen und braunen Auge die in der Memel badende Malvine, stößt einen gellenden Schrei aus, so dass Malvine ihr Kind im Schoße hüpfen spürt und ungemein erschrickt. Malvine wird durch Hexerei und Verzauberung Hussas krank: Hussa quält sie, indem sie ein Bild Malvines auf einen Schusterleisten, vom Schäfer Jusseit geerbt, anheftet und es mit den Nadeln durchsticht. Infolgedessen bekommt Malvine einen eiternden Ausschlag auf dem Gesicht und heftige Schmerzen. Und nur Graf Dagda rettet sie vor Verlust des Augenlichts, weil er den Schusterleisten im Zimmer Hussas findet und ihn mit dem angebundenen Stein ins Memelwasser wirft. Diese Begebenheit erinnert an den Wudu - aus Westafrika stammenden magisch-religiösen Geheimkult. Aber das ist noch nicht die letzte böse Zauberei Hussas. Sie steckt das Verwalterhaus in Brand und tanzt dabei nackt in ihrem Zimmer hinter geöffneten Fenstern. Und wieder ist es Graf Sauß Dagda, der alles wieder gutmacht - er reitet das Feuer aus. Über diese Fähigkeit der Grafen Dagda wird Folgendes berichtet: Denn die Grafen Dagda hatten seit je die Feuersbrünste der ganzen Umgebung zu Wasser geritten. Sein Großvater noch war es gewesen, der das Zigeunerdorf gerettet hatte, weshalb seine Besitzung zu allen Zeiten von diesen Nomaden unbehelligt geblieben war. Sein Vater hatte niemals Gelegenheit, diese vererbte Gabe zu erproben. Und nun er? Es war doch kein Märchen, konnte kein Märchen sein; denn in der Chronik stand es geschrieben, daß die Grafen Dagda das Feuer ausreiten konnten. Und den Kindern wurde das in der Provinz auf der Schulbank beigebracht (Die verlorene Erde, 112). Henry Kuritz verweist in seiner Magisterarbeit auf die ostpreußische Sage Die Feuersbrunst von Labiau als eine mögliche Vorlage für Brusts Beschreibung des Feuerausreitens im Roman Die verlorene Erde (Kuritz 1998: 35). Aber wir haben festgestellt, dass es auch eine litauische Sage gibt, die die gleiche Eigenschaft beschreibt. Diese Sage heißt Das abgeführte Feuer (Nuvesta ugnis) und berichtet von dem Gutsverwalter in Vilkyskiai, im Bezirk Tilsit, der dreimal um das entstandene Feuer geritten, über den Fluss gesprengt ist und das Feuer mit sich gezogen hat. So habe er das Wohnhaus vor Feuersbrunst gerettet (Laumiu dovanos 1979: 280). Nicht nur baltische Sagen und Bräuche haben Brust als Vorlagen gedient, sondern auch reale Personen, wie z. B. der litauische Theosoph und Schriftsteller Wilhelm Storost -Vydunas, der Lehrer von Brust in Tilsit, der im Roman unter dem Namen Perkuhn (so heißt der litauische Donnergott) auftaucht. Diese Tatsache bestätigt auch Henry Kuritz, indem er sich auf die persönlichen Briefe Brusts an Kemp stützt (Kuritz 1998: 37). Sowohl Vydunas als auch Brust strebten nach der inneren Vergeistigung und Erneuerung des Menschen, aber ihre Lebensauffassungen waren unterschiedlich. Auch im Roman Die verlorene Erde kommt Elnis als Schüler in eine Stadt zu Herrn Perkuhn, von seinem Vater Sauß Dagda geschickt. Vieles erscheint ihm im Hause des Ehepaars Perkuhn fremd und merkwürdig: Herr Perkuhn mit langem, bis auf die Schultern niederfallendem Haar, strenge vegetarische Essgewohnheiten, hartes Lager mit einem starren Kissen, der Dauerlauf mit dem Lehrer durch die Stadt, der am Hause Fräulein Perles endete. Dort plauderte Herr Perkuhn mit dem Fräulein über erhabene Dinge in verschiedenen Sprachen, was Elnis erstaunte. Aber noch mehr musste er staunen, als er hörte, "daß eines Tages Herr Perkuhn seiner Frau erklärte, er würde jetzt nur noch Unterhosen und Strümpfe tragen, die Fräulein Perle sechsunddreißig Stunden an ihrem bloßen Leibe gehabt hätte" (Die verlorene Erde, 145). Der anschließende Kommentar des Autors klingt ironisch: Elnis war in dieser Folgezeit nicht imstande die Gefühle des seltsamen Heiligen nachzuempfinden. Dessen Gesicht war selig versonnen, und seine Augen schwärmten übermäßig umher und sahen die Dinge nicht, darauf sie fielen (ebenda). Diese Geschichte mit Herrn Perkuhn endet tragikomisch: nach dem Begräbnis seiner Ehefrau schlagen ihn die Menschen auf dem Friedhof mit Stöcken, die Fenster des Fräuleins Perle werden eingeschmissen, Herr Perkuhn wird wahnsinnig, deswegen muss Elnis ihn verlassen und wegziehen. Der Autor verspottet Herrn Perkuhn nicht, sein Spott gilt eher dem lutherischen Oberpriester, der am Grabe der Frau Perkuhn mit einer dröhnenden Stimme eine belehrende Rede an Herrn Perkuhn hält, in der er den „tiefsinnigen„ Gedanken äußert: (...) wür wollen auch nicht, solange wir ürdisch sind, hinaufklettern, wo wür nichts zu suchen haben (denn sonst wären wür ja dort) - wür wollen ein wahrhaftiges Leben führen und uns der Gnade freuen, wenn sie uns zuteil wird (Die verlorene Erde, 155). Wenn Elnis auch zu einem ähnlichen Schluss kommt - „Es wäre besser gewesen für Herrn Perkuhn auf dieser erdenen Ebene fertig zu werden. Die anderen Ebenen kommen rechtzeitig von selber nach" (Die verlorene Erde, 158), aber er ist gleichzeitig davon überzeugt, dass das Weltbild seines Lehrers unendlich und gewaltig ist: „Der Lehrer hatte die Umrisse eines gewaltigen Weltbildes in seine Seele gesenkt" (Die verlorene Erde, 157). Das Bild von Perkuhn ist eines der pruzzisch-litauischen Gestalten im Roman. Die Bedeutung des Namens Perkuhn ist auch bemerkenswert - „der Donner„ oder „der Donnergott,, der Litauer. Litauische Figuren und Namen erscheinen episodenhaft im ganzen Roman, wie z. B. der betrunkene Holzfäller Rimkus, den Graf Sauß Dagda vor dem Erfrieren im Wald rettet und damit seine geistige Umwandlung zum Guten beweist. Die Familie von Rimkus wird mit folgenden Worten charakterisiert: Seine Frau ging mit dem zwölften Kinde schwanger. Und alle Kinder lebten. Da gab es keine bürgerlichen Ehevergnügen mit Mutterzäpfchen und Abwehrspritze und sanftem Löffel. Die Kinder und Sorgen kamen von Gott. Er gab das Brot, wenn's auch schmal war und trocken und hin und wieder gab er auch einen Schnaps dazu - wenn es kalt oder nicht mehr auszuhalten war. Nein! Dieser Mann war kein Säufer! Dieser Mann nicht! Er selber, der Graf Sauß Dagda, er war ein ganzer und großer Säufer gewesen. Aber das war nun vorbei. Und er hatte diesem Menschen und Erdenbruder im Alltag zu helfen mit seiner sonntäglichen Einsicht und Kraft (Die verlorene Erde, 32). Litauische Flößer werden einige Male im Roman erwähnt, auch die Tatsache wird hervorgehoben, dass sie Musikinstrumente bei sich führen und litauische Volkstänze mögen. (vgl. Die verlorene Erde, 283). Ein uralter preußischer Litauer - der Ururgroßvater von Malvine wird mit einigen Strichen dargestellt: er ist 120 Jahre alt, wohnt bei Swenzjany hinter Wilna in einer großen Familie, die aus siebenunddreißig Menschen besteht, und kritisiert die Jüngeren, dass sie nicht einmal litauisch zu reden verstehen (Die verlorene Erde, 36). Er prahlt damit, noch pruzzisch zu können und in Paris, Wien und Moskau gewesen zu sein. Technische Mittel gefallen ihm gar nicht, er sieht im technischen Fortschritt eine Gefahr: „Fremd untereinander macht die Menschen der Bahnzug und die Mobile ..." (Die verlorene Erde, 36). Die Idee der Kritik an der Zivilisation und den sich entwickelnden entfremdenden Wirtschaftsbeziehungen in der westlichen Gesellschaft wird auch in Brusts Dramen ausgedrückt, wie z. B. im Stück Heiligung: Ein Zeitwendespiel (1920). Hier wird Litauen als unzivilisiertes, entlegenes Land dargestellt, in dem aber eine andere, eine neue, naturnahe und richtigere Lebensweise zu verwirklichen ist. Der Zeitwendemensch Szameit, ein Litauer, von den deutschen Städten in die Heimat zurückgekehrt, versucht, ein inniges, erdennahes Leben zu leben. Sein Grundsatz lautet: „es ist nur nötig, daß irgendwo irgendjemand neu lebt! Wenn es das Richtige ist, geht es von selbst über die Erde" (Dramen, 26). 4. ABSCHLUSSBEMERKUNGEN Dass das Gefühl im Leben des Menschen und in der Kunst ausschlaggebend ist, ist eine der wichtigsten Thesen des Expressionismus. Aber nach der Meinung von Paul Fechter ist der deutsche literarische Expressionismus schwer zu definieren, weil er, im Unterschied zu dem malerischen Expressionismus, wenige Namen von Autoren hinterlassen hat. Unter den von P. Fechter erwähnten expressionistischen Schriftstellern - Reinhold Sorge, August Stramm, Carl Hauptmann, Carl Sternheim, Georg Kaiser -findet man den Namen von Alfred Brust nicht (Fechter 1932: 795 - 798). Die erwähnten Expressionisten zeichneten sich dadurch aus, dass sie, nach der Meinung Fechters, nicht den Mut hatten, mit den literarischen Traditionen zu brechen: (...) sie behielten Formen und Begriffe und alle Kunstreize der Früheren bei, steigerten sie sogar noch und blieben so der Bildung untertan statt dem Leben. Sie schrien nach dem Schrei - in sauberen Versen; sie proklamierten das Chaos in reinlich dünnen Dramen. Sie schwitzten vor Angst um das Gefühl - und hatten nur Worte: die Literatur siegte auf der ganzen Linie (Fechter 1932: 795). Ein anderes Bild bieten Dramen und Prosawerke von Brust - er achtet wenig auf die Literaturtraditionen und ausgefeilte Form, das Wesentliche ist für ihn, seine Lebensaufassung (die antibürgerlich und innovativ ist und auf dem Gefühl basiert) in seinen literarischen Werken wiederzugeben. Vor diesem Hintergrund versteht man klarer auch das Streben von Brust, im Roman Die verlorene Erde unterschiedliche Nationalitäten - Pruzzen, Litauer, Deutsche, Tataren und Juden - im litauischen Lebensraum zusammenzuführen und in den handelnden Figuren unterschiedliche Lebensweisen zu schildern. Das baltisch-pruzzische Element durchdringt den Roman nicht aus ethnologischen oder politischen Gründen, es geht Brust darum, vor allem in den Figuren von Sauß Dagda und Elnis die Möglichkeit des neuen unkonventionellen Innenlebens zu zeigen. Die chassidische Lehre der Juden ist in diesem Zusammenhang auch sehr wichtig -die religiöse Konzentration auf die Menschenseele und Moral ist ein Gegensatz zum Bösen, Grausamen, Satanischen, das im Menschen lebt und gedeiht (vgl. die Gestalten der Mutter von Schomp, von Hussa, Pupill und anderen). Da wir versucht haben, die Quellen der brustschen Ideen zu verfolgen, können wir nicht umhin, auch die Schriften von Vydunas zu erwähnen. Wenn Brust auch in dem Bild von Herrn Perkuhn seinen Lehrer kritisiert, hat er manche Gedanken von ihm erstaunlich präzise übernommen. Das betrifft unseres Erachtens die Charakteristiken der Nationalitäten. Im Buch Sieben hundert Jahre deutsch-litauischer Beziehungen beschreibt Vydunas den nationalen deutschen Charakter als von „Wunsch- und Begehrungsleben" sehr stark geprägt (Vydunas 1982: 105), indem der Litauer sich mehr auf die „Innenzustände, die Innerlichkeit" konzentriere (ebenda, 108). Den Juden wird von Vydunas die Rolle der Religion-und Kulturträger zugesprochen: So erhält die abendländische Kultur besonders in Deutschland fortgesetzt neue Anregungen aus dem Judentum. Diese werden auch mehr oder weniger bewußt angenommen (ebenda, 111). Diese Zeilen erinnern sehr an die Gedanken Sauß Dagdas im Roman Die verlorene Erde: Was ist denn ein Deutscher? Es gibt Sachsen und Bajuwaren, Friesen, Wenden, Pommern und gotische Reste, Franken und Tschechen und Polen, Litauer, Holländer, Zigeuner, Juden und Pruzzen. Die Russen nicht zu vergessen. Sie alle kommen in Deutschland vor, einzeln und in großer Gemeinschaft! Sie nennen sich alle Deutsche und bilden zusammen die deutsche Schicksalsgemeinschaft. Und ein jedes Blut kommt in dieser Gemeinschaft zu einer besonderen Geltung. Auch ich als Pruzze bekenne mich heißen Herzens zu dieser Gemeinschaft. Wir Deutschen treten das Erbe des Judentums an, das sich seiner Erfüllung entgegenneigt. Wir haben die Sendung uns über die Erde zu zerstreuen. Und die deutsche Diaspora wird das Heil der Menschheit sein! (Die verlorene Erde, 79). Man kann schlussfolgern, dass die Überlegungen von Vydunas über nationale Charaktere durch Brust viel breiter und vielseitiger entwickelt wurden und in den vielen handelnden Personen des Romans ihre Veranschaulichung gefunden haben. Das schriftstellerische Talent von Brust hat aus den Ideen gewaltige Menschenschicksale geprägt, die die Leser noch lange beschäftigen und emotionell sowie intellektuell bewegen werden. Universität Vilnius, Lithuania QUELLEN Brust, Alfred. Die verlorene Erde. Berlin, 1926. Brust, Alfred. Dramen. Hrsg. von Horst Denkler. München, 1971. Brust, Alfred. Ich bin. Berlin, 1929. Brust, Alfred. Briefe an Hugo und Gertrud von Hofmannsthal. Hofmannsthal-Blätter H.41/42 (1991/ 92), S.61-72. BIBLIOGRAPHIE Buber, Martin. Die Legende des Baalschem. Zürich, 1955. Dannenfeld, Simone. 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