Marija Bergamo Musik als Gestalt der begrifflosen Erkenntnis »...denn die Natur hat jedem Dinge seine Sprache nach seiner Essenz und Gestaltnis gegeben; denn aus der Essenz urständet die Sprache oder der Hall.« Jakob Böhme (um 1610) Die Frage, die an unserer Konferenz zur Debatte steht, hat, wie bekannt, eine lange praktische und theoretische Geschichte und zählt zu den fundamentalen musikwissenschaftlichen Themen. Man fragt sich, ob Carl Dahlhaus wirklich Recht hat, wenn er geistvoll meint, daß möglicherweise auch Musikwissenschaft zu den Disziplinen zählt, in denen »die fundamen- talen Fragen eigentlich nie gelöst werden, sondern allmählich veraltern und von anderen, genauso unlösbaren Problemen verdrängt werden« (Dahlhaus 1974)? Oder, zählt die Idee der Musik als Sprache tatsächlich zu den Ideen »mit geschichtlich begrenzter Reichweite« (de la Motte-Haber, 1985:33), denen heute gar nicht mehr das f rüher so lebendige Interesse gebührt? Handelt es sich um eine Frage, die jede Zeit aufs neue, nur aus der Sicht der jeweils gültigen ästhetischen und theoretischen Paradigmen beantworten sollte? Oder ließe sich das Problem doch auch von der phämenologischen Seite anpacken und von den immer stärker betonten linguisüchen Ausgang- spunkten wieder dem Musikwesen näher bringen? Die Überlegung, sich wieder einmal mit diesem Thema auseinander- zusetzen, stützt sich auf folgende Argumentation: Am Ausgang eines mit der Megakultur des Modernismus gekennzeich- neten Jahrhunderts (das uns immer noch als Nachzeit und nicht Vorzeit einer möglicherweise sich schon deutlich profdierenden neuen musikalischen Perspektive bewußt ist), befindet sich Musik, eben was ihre »Sprach-lichkeit« betrifft, in einer ihr bis jetzt kaum bekannter Situation: Sie pendelt (um mit Sloterdijk zu sagen) zwischen kopernikanischer Mobilisation und ptolomäischer Entwaffnung, zwischen geschichtlichen Kulturen/bzw. Stilen und deren postmodernistischer »Inventur aus dem Jenseits« (Oraic-Tolic 1996:107). Die zu a l len Zei ten e i n i g e r m a ß e n e inhei t l iche , fü r den Kompo-nis ten se lbs tvers tändl iche, schü tzende u n d ihn s tü tzende ästhet ische und kompositionstechnische Rahmen, von einer fast normativen Kraft, gingen Filozofski vestnih, XX (2/1999 - XTVICA), pp. 277-285. 277 Marija Bergarno in Zerfall. Sie waren aber jener gemeinsame Nenner, der die individuellen Lösungen im unzähligen Zähler ermöglichte und den Sprachcharakter der Musik immer wieder - zwar in geschichtlich sehr vehrschiedenen Deutungen - fundierte. Wie kann man in einer Zeit ohne »gemeinsamen Nenner« die Sprachlichkeit der Musik erhalten? Oder braucht man sie nicht mehr? Die Ti te l f rage wäre also vor allem vom S t a n d p u n k t der Musik selbst zu beantworten. Herausfordernd ist sie aber auch angesichts der angehäuf ten , of t entgegengesetzten theoretischen Ansichten und Argumentationen, als ein musikwissenschaftliches Thema. Obwohl auch hier, so Gerhard Engel, »die Fülle der Antworten das Fehlen einer Antwort verdeckt« (Engel, 1990:272), bewirken sowohl neuere Schritte in der Grundlagenforschung wie auch aktuelle Erkenntnisse über die nichtlinearen, unvoraussehbaren »fluid- artigen Phänomene« (zu denen auch musikalische Strukturen zählen), oder heutzutage breit gefächerte und differenzierte semiotische und system- theoreüsche Fragestellungen auch in der Musikwissenschaft - in der Richtung Hoffnung und Neugierde: ließe sich mit Hilfe solcher Vorschläge auch bei diesem Problem ein Stück weiter kommen? Zwei noch immer anhaltende entgegengesetzte Grundpositionen was Sprachfähigkeit und Sinn/Bedeutung der Musik betrifft (eine, die Musik als reines Strukturspiel ohne Bedeutung auffaßt, und andere, die in jeder Musik das Mimetische, die Gehalt- oder sogar Denotatspuren detektiert) sowie eine Fülle vermittelnden Varianten dazu machen eine »interparadigmatische« Diskussion sehr schwierig. Ästhetische und theoretische Voraussetzungen bestimmen nicht nur die Ausgangsprämissen, sondern auch die Diskussions- ergebnisse. Wie aus dem Programm ersichtlich ist, werden bei unserer Konferenz semiotische und kommunikationstheoretische (auch pragmati- sche) Standpunkte erörtert, systemtheoretische Vorschläge miteinander verglichen, historische Modelle bei den methodologischen Fragen zu Hilfe gerufen und Beispiele als Beweismateriale diskutiert. Ich glaube zwar nicht, daß wir - der Natur des Sachverhaltes wegen - zu einer Antwort auf die gestellte Frage kommen können, doch hoffe ich, daß wir - im Sinne Peter Bürgers Gedanken, es wäre in der musikwissenschaftlichen Diskussion bereits ein wesentlicher Fortschritt »wenn es zu einer Selbstverständlichkeit würde, daß j ede r Wissenschaftler die Wahl seiner. . . Problemste l lung begründet« (Bürger 1974, zit. nach Engel 1990:1) - e inen anregenden Meinungsaustausch durchführen werden. * * * 278 Musik als Gestalt der begrifflosen Erkenntnis Meinen Beitrag dazu möchte ich, in Anbetracht anderer angekündigten Blickwinkel, mi t dem Versuch leisten, das T h e m a sozusagen »am Ausgangspunkt« zu fassen, bei der kompositorichen Gestaltung, dem Phänomen des »Musiksetzens«, also beim Prozeß des »Zeigens ohne das Sagen« (wie der späte Wittgenstein das Denken im Bereich des Auditiven formulierte). Unlängst meinte Paul Crowther in seinem neuen Buch (TheLanguage of Twentieth-Century Art, New Häven 1997), daß die Antwort auf die Frage, wieso die Kunst e ine Geschichte hat , wenn sie die geschicht l ichen Bedingungen ihres Entstehens stets überbietet, in den strukturalistischen Grundlagen unseres Bewußtseins, in den sogenannten wechselseitigen Erkenntnisrelationen zu suchen sei. Am Beispiel der Unterschiede zwischen dem Bild und dem Wort erörterte er, wie sich erkenntnis- und bedeutungs- gebende Prozesse nicht von vornhinein formul ieren und auch nicht hinterher in eine andere Sprache übersetzen lassen. Symbolische Strukturen innerhalb einer Kultur seien eben von diesem System der Unterschiede abhängig. Musik als eigenartige symbolische Struktur par excellence bestätigt ihrerseits die These vollkommen. Damit ist meine Pointe schon vorweggenommen: es ist durchaus möglich, die Musik als Sprache aufzufassen (was ihr geschichtliches Dasein bezeugt und bestätigt), doch kann man sie nicht für klare und deutliche »Sprache der Gefühle« erklären, aber auch nicht für eine der Wortsprache ähnliche Struktur halten, die man weiter mit linguistischen Denkparadigmen argumentieren würde. Sie kann zwar als Zeichensystem interpretiert werden, doch sprachlich fundierte semiotische »vorgefaßten Theorien«, wie dem- nächst Kollege Gligo zeigen wird, können ihr Wesen nicht erfassen, weil ihre Essenz nicht gegenständlicher, begrifflicher und wortsprachlicher Natur ist. Die angsterregende Szientifikation des Denkens läßt uns heute oft vergessen, daß die rationale Erkenntnis die Ganzheit der Welt nicht umfaßt. Besonders deutlich wird das, wenn es um das Phänomen Musik geht, das sich nur durch die Einheitlichkeit der wissenschaftlichen und künstlerischen Erkenntnis e inigermaßen »fassen/fangen« läßt. Die Musik wird - um Eggebrechts Formel zu gebrauchen - ebenbürtig durch mathematisierte Emotion und emotionalisiertes Ratio konstituiert. Interaktion zwischen der anscheinenden »Unordnung« einer Konstituante, und der »Ordnung« der anderen, steht nicht im Zeichen des Gegensatzes, sondern der Ergänzung. Unordnung ist nur als Unvordeterminiertheit und Unlinearität zu verstehen, O r d n u n g dagegen n u r als Systemheit , als eine b e s o n d e r e Art de r Organisation, die den musikalischen Sinn erschafft. In den musikalischen Strukturen werden, ähnlich wie im Wesen und Struktur des Lebens, Ordnung 279 Marija Bergarno und Ordnung gekoppelt. Eine musikalische Idee oder Emotion wird in der abendländischen Musik nur als rationalisierte Struktur realisiert: durch stark entwickelte Theorie und Notation, komplexe komposit ionstechnische Verfahren, nicht zuletzt auch durch ihre Geschichtlichkeit. Der ganze Apparat ist ein Teil des Musikwesens. Durch ihn wird das (unbegriff l iche und begriffliche) Auditive erfaßt und umfaßt, mit dem Irrationellen verflochten, das sich in verschiedenen In tens i tä ten u n d Gestal ten sowohl in das musikalische Bewußtsein wie auch in das Denken über Musik Eintri t t verschafft. Diese spezifische Oberhand des Rationalen über den musikali- schen Bereich, welcher sonst dem Sinnlichen und Emotionellen verschrieben ist, verwirklicht sich aber jedesmal in einem individuellen schöpferischen Bewußtsein. Hier wird das Irrational-Subjektive rational objektiviert und damit auch der wissenschaftliche Zutritt zu einem Teil des Systems Musik ermöglicht. Viel leichter ist aber diese gekoppelte musikalische »Ordnung« und »Ordnung« im dynamischen System Musik als sinnvolles ästhetisches Phänomen zu erleben, als sie in beiden Dimensionen rational zu fassen und durch begriffl iches Ins t rumentar ium zu anal is ieren. Ins Sprachl iche übersetzen läßt sich diese musikalische Sprache nicht. Der musikalische Sinn überragt - trotz allen andersartigen Argumentat ionen - die Ebene der rationalen Faßbarkeit und ist darum mit einseitigen methodologischen theoretischen Konstrukten nicht faßbar. Die Fülle der wissenschaftlichen Modelle stellt darum nur einen (zwar notwendigen) Humus für die individuelle phänomenologische »Neugier« dar; eine solche, die mehr erlaubt als sie sich zu eigen macht. Sie kann die erf inder ische Potenz stimulieren, wenn man das Künstlerische j e d e r einzelnen Musiksetzung in dem subjektiven Fort- und Abrücken von den normativ gel tenden Muster, Normen , Symbolen e iner »verstehbaren musikalischen Sprache« aufspüren möchte. Es geht j a jedesmal um eine andersartige Interaktion zwischen der scheinbaren Systemdeterminiertheit und freien kompositorischen Wahl des nächsten Schrittes im System. Diese Eigenart der Musik ist der Hauptgrund ihrer spezifischen Sprachlichkeit, die das Komponieren in unserem informat ischen Zeitalter so schwer formalisierbar macht. Die Sprache der Musik sollte die Sachen »sichtbar« und »verständ-lich« machen, die ihren Ursprung jenseits des begrifflichen Verständnis haben. Das Denken in Begriffen unterscheidet sich grundsätzlich von dem musikalischen Denken dadurch, daß sich bei letzterem seine polare Formen, nämlich analytische Diskursivität und auf das augenblicklich erkannte Ganze ausgerichtete Intuition, verflechten und in einem »offenem Spiel« zwischen bewußtem und unbewußtem Handeln in Gleichgewicht gehalten werden. Geschichtlich vorgeformte kompositionstechnische Mittel 280 Musik als Gestalt der begrifflosen Erkenntnis (vom Material und Vokabular an bis hin zu den komplexesten Satz- und Se tz rege ln ) , diese u n u m g ä n g l i c h e Bedingung e ine r musikal ischer »Sprache«, setzt sich zusammen aus einer Fülle ihrer »gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen wirksamen Teilsprachen.« (Mechtler 1984:448). Kriterien fü r die Wahl aus den Wörterbüchern dieser verschiedenen Sprachen basieren keineswegs nur auf eindeutigen grammatikalisch- syntaktischen Gesetzen und sind nur teilweise bewußt; sie können sich aus dem unbewußten oder zum Teil bewußten Wechselspiel der Teilebenen ergeben. Hermann Broch grenzt diese künstlerische Erkenntnis gegenüber der wissenschaftlichen als »poetische« ab, und bezeichnet sie als »ahnende /%/ Symbol der geahnten Totalität« (des Logos). Es ist signifikant, daß die Selbstempfindung der Komponisten, der Tonsetzer, einer solchen Auffassung der Sprache Musik schon immer nahe war. Arnold Schönberg hat die Idee des Sprachcharakters der Musik geradezu emphatisch vertreten, und Anton Webern, der mit seinem Werk und Wort, mit seinem autonomen, strukturalistisch betonten musikalischen Denken die Bahnen einer Position gegen musikalischen Ausdruck, Aussage, Inhalt und Intuition eröffnet hat, meinte in seinem Vortrag im Jahr 1932/ 33: »Was ist denn die Musik?... Die Musik ist Sprache. Ein Mensch will in dieser Sprache Gedanken ausdrücken; aber nicht Gedanken, die sich in Begriffe umsetzen lassen, sondern musikalische Gedanken...« »Es will jemand in Tönen etwas mitteilen, was anders nicht zu sagen ist. Die Musik ist in diesem Sinne eine Sprache.« (Webern, 1960: 46,17) Es geht also nicht um die Begriffe, und in Begriffe gefaßte Gedanken, sondern um »musikalische Gedanken«, die sich im auditiven Medium der Töne formen. In diesem Medium muß der sinnliche Stoff zum »Objekt solchen Denkens erhoben sein, um 'geistfähig' (Hanslick), d.h. der künstlerisch-musikalischen Form dieses Denkens... verfügbar zu werden.« (Eggebrecht, 1961:74) Aber bei verschiedenen methodologischen Versuchen, Begriffen wie musikalische Idee, Intention, Aussage, Ausdruck das Metaphorische zu nehmen und es mit dem Satztechnischen und Logisch-Syntaktischen zu ersetzen, das Begrifflose ins Begriffliche zu »übersetzen«, zeigen sich die unüberwindliche Grenzen (sprachliche, nicht musikalische!), die die bereits erwähnten Unterschiede in erkenntnis- und bedeutungsgebenden Prozeßen zur Sicht t ragen. Diese veranlaßten Th.W.Adorno zu der bekannten Feststellung: »Musik ist sprachähnlich, aber Musik ist nicht Sprache« (unter Sprache ist selbstverständlich Wortsprache gemeint). Diese Feststellung postierte er am Anfang seines Fragment über Musik und Sprache (Adorno, 1978: 251-256). Aus seiner Ästhetischen Theorie stammt übrigens das Titeldiktum meines Beitrags. Seine Anhaltspunkte sind damit enthüllt. 281 Marija Bergarno (Verständlich, daß in meinem Alter, trotz wachem und offenem Ohr für neue Erkenntnisse, ein Paradigmawechsel nicht zu erwarten ist. Aber das lange Leben mit und durch die Musik bewirkt die ständige Uberprüfung musikwissenschaftlichen methodologischen Vorschläge an der Musik selbst, und sie fasziniert und bezaubert mich in ihrem Reichtum an verschiedenen Setzungen noch immer tiefer und stärker als noch so vollständig ausge- arbeitete wisssenschaftliche »vorgefaßte Theorien«.) Die Antworten Adornos auf die fundamentalen Fragen sind immer dialektisch. In seiner Interpretation verschränken sich in der Musik die mimetische und kognitive Erkenntnis. Sui generis Erkenntnischarakter der Musik begründeter durch mimetische, begrifflose, »stumme Erfahrung, die sich durch Stimmigkeit der musikalischen Zusammenhänge zwar zum Begriff bes t immen ließe, aber als ein einmaliges Vorgang doch eben se ine Ungegenständlichkeitherrvorhebt.« (Zenck 1977:115) »Musik zielt auf eine in tent ions lose Sprache (. . .) . Musik o h n e alles Me inen , de r b loße phänomenale Zusammenhang der Klänge, glieche akustisch dem Kaleido- skop. Als absolutes Meinen dagegen hörte sie auf, Musik zu sein, und ginge falsch in Sprache über.« (Adorno 1978: 252) Auf dem Weg der Bestimmung musikalischer Eigengesetzlichkeit und gleichzeitig ihrer Sprachähnlichkeit stellt sich bei Adorno, wie später bei Dahlhaus, Eggebrecht und Faltin, als wichtigste die Frage einer Transforma- tion der gegenständlichen in die ästhetische Erkenntnis und die Frage der Bedeutung ästhetischer Phänomene. Zur Lösung der ersten Frage kann auch die Musik die kategoriale Formung zur Hilfe rufen, sich auf die Logik, Kausalität und das Formgesetzte stützen, wobei die spezifischen Def in i t ionen dieser Kategorien n ich t unbedeu t ende Schwierigkeiten bere i ten . Aus der wissenschaft l ichen Begründbarkeit müßte man sie auf die Erlebnisebene und das Ästhetische »transponieren«. Doch alle erwähnten Autoren begründen die Inhaltiichkeit der Musik nicht nur am aus dem Sprachgestus gelösten Ausdruck, sondern auch am Bedeutungsbereich der ästhetischen Teilmomente, die durch ihre kategoriale Formung zur Bestimmtheit gelangen. Sie werden, wie Adorno sagt, in eine »zweite Gegenständlichkeit« transportiert. Einfacher ausge- drückt: der äußere Impuls (welcher Natur er auch sein mag) muß erst in die Gestalt einer musikalischen Idee, eines sinnvollen Gedanken oder einer Vorstellung transformiert werden, um ästhetisch wirksam zu sein. Anders als in der diskursiven Sprache, wird das musikalische Zeichen (ich verwende hier Faltins Terminologie), in dem sich die ästhetische Bedeutung kon- stituiert, ein Vorgang, in dem die expressiv-gestischen und syntaktisch- formalen Elemente verflochten sind und in dem die allgemeinen Impulse, 282 Musik als Gestalt der begrifflosen Erkenntnis die äs thet ischen Ideen und deren materielle Form zu einer Einhei t verschmelzen. Einmal konstituiert, ist diese Bedeutung unwiederholbar, da sie eine ästhetische Qualität darstellt. Wenn man den Ausdruckscharakter der Musik nicht zu verneinen bereit ist (was in der postavantgarden Zeit endlich auch selbstverständlich sein sollte) stellt sich die Frage, was drückt die Musik aus? Auch wenn Peter Faltin mit Recht den Denotats-Fetischismus als dem musikalischen Wesen f remd betrachtet und semantische Fundierung für die Musik für ausgeschlossen hält (Faltin 1985: 99 und 72), tasten viele seit Nietzsches Bestimmung des musikalischen Ausdrucks als »internalisierte Nachahmung der Sprach- bewegung« (zit. nach Zenck 1977:157) nach diesem »was« des Ausdrucks. Adorno übe rn immt zuerst die Schönbergsche Idee des musikalischen Gedanken als Ausdrucksbestimmung, aber rückt dann diese »Bedingung aller Wahrheit« in den Bereich der Objekt-Subjekt Beziehung und meint, daß aus dem musikalischen Ausdruck eigentlich »das rätselhafte Etwas« spricht, was nicht objekthaft und auch keine Spiegelung der subjektiven Innerlichkeit ist, sondern selbst den Sprachcharakter der Kunst ausmacht und sich aus der Beziehung zwischen den Hervorbringenden und Empfangenden als Subjekt konstituiert (Adorno: 1970:249). Faltin versucht dieses »Etwas«, das Musik angebl ich vermitt le , aus der »Sprache der Gefühle« gänzlich herauszulösen und in die ästhetische Idee umzufunktionieren, die seiner Meinung nach in der Musik als Sprache vermittelt wird. Kein Objekt, keine diskursive Bedeutung, aber doch ein Sinn, der nur der Musik eigen ist und sich in ihrem spezifischen Code artikuliert, wird als Aussage musikalisch formul ier ter , geordne te r und sinnvoll entwickelter Gedanken hervor- gebracht und geht aus der ästhetisch- appellativen Funktion der Zeichen (und nicht aus diskursiv-kommunikativen wie bei der Wortsprache) hervor. Als Vermittlungsenergie ist also Musik der Wortsprache nicht analog. Es handelt sich um zwei verschiedene, Karbusicky würde sagen, »Strukturreihen« (Karbusicky 1989:15), nach Faltin (1985:37) um zwei Codes. Sie zeigen zwar Paralitäten auf und stehen in einer komplementärer Beziehung, doch vermitteln nicht das Gleiche und unterscheiden sich bedeutend besonders auf den Ebenen der konstitutiven Funktion und Syntax, wie Karbusicky systematisch elaborierte (Karbusicky 1989:17). Darum will Adorno die Musik sogar nicht als ein »System aus Zeichen« sehen (Adorno 1987:259), obwohl er sie für »wahre« und »beredeste aller Sprachen« hält. Ihr »immer verhüllter« Gehalt, ihr »Fluch des Mehr- deutigen« machen ihre Intentionen, sagt er, zu musikalischen Strukturen, die auf Interpretation verwiesen sind. Faltin aber rettet seine These von der spezifischen Bedeutung musikalischer Zeichen dadurch, daß man sie an die 283 Marija Bergarno Prozeße der Bedeutungskonstitution bindet , für welche besonders die syntaktische Dimension (In-Beziehung-Setzen von Elementen) von größter Wichtigkeit ist. Kurz resümierend könnte man die wichtigsten Unterschiede zwischen Musik und Wortsprache folgendermassen zusammenfassen: - Sprache vermittelt Begriffe, die Musikjedoch »musikalische Gedanken« in denen ja so vieles sedimentiert und in einer inneren Interakt ion wirkend ist. - Statt der diskursiven erfüllt sie vorrangig die ästhetische Funktion. - Bedeutungen werden durch Syntax generiert. In der Sprache ist diese semantisch fundiert, Musik aber bildet im Bereich der reinen Syntax »Symbolketten« (Engel 1990:249) und interpretiert sie musikalisch. Diese Syntax ist durch das Phänomen der schwer definierbaren »musikalischen Logik« und »Innendynamik« (Dahlhaus 1975) fundiert. Als ästhetische Vermittlungsform ist also die Musik zwar eine Art Sprache und der Sprache ähnlich, aber gewiß eine eigenartige Sprachmodalität. Schon Kant wußte, daß die Vorstellungskraft eines genialen Künstlers keine Sprache vollkommen erreichen und verständlich machen kann. Damit hat er zwischen der künstlerischen Vorstellung und der Begriffssprache eine klare ästhetische (statt kognitive) Hierarchie eingeführt . Was in einem auditiven Bereich der Phantasie gebärt und entfaltet wurde, kann nur im gleichen Bereich des Bewußtseins zu Ende gebracht werden, keinesfalls in dem diskursiven Sprachbereich. Literatur Adorno, Th.W., 1970: Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt am Main. Adorno, Th.W., 1978: Fragment über Musik und Sprache, Gesammelte Schriften, Bd. 16, Frankfurt am Main, 251-256. Cooke, Derrek, 1959: The Language ofMusic, Oxford. Crowther, Paul, 1997: The Language of Twentieth-Century Art, New Häven. Dahlhaus, Carl, 1967: Musikästhetik, Köln. Dahlhaus, Carl, 1972: Uber Sinn und Sinnlosigkeit in der Musik, in : Musik der sechziger Jahre, Mainz. Dahlhaus , Carl, 1973: Das 'Verstehen' von Musik und die Sprache der musikalischen Analyse, in: Musik und Verstehen (Hg. 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