Mirko Wischke ohne VERMÄCHTNis. Zur Phänomenologie von Tradition, Gedächtnis und sprache Ist die Erfahrung von Traditionen möglich? Gehen Erinnerungen verloren, wenn 223 das Erfahrungsgedächtnis mit den Zeitzeugen erlischt? Beide Fragen scheinen bereits am Einwand zu scheitern, dass Traditionen ein Gedächtnis voraussetzen, das seinerseits ohne Erfahrbarkeit weder mit den Erinnerungen anderer verschmelzen noch Fremdes integrieren könnte. Traditionen sind Erinnerungen anderer Generationen, die uns durch den zunehmenden zeitlichen Abstand fremd werden. Im Übergang vom individuellen zum sozialen Gedächtnis werden eigene Erfahrung ebenso im Lichte der Erinnerung anderer bestätigt (oder widerlegt) wie sie andere Erfahrungen aufnehmen können. Im Übergang zum kulturellen Gedächtnis gewinnt dieser Vorgang an Komplexität, ohne jedoch die Möglichkeit der Erfahrung von Traditionen auszuschließen; insofern nämlich, als Gedächtnis und Erfahrung im Übergang vom sozialen zum kulturellen Gedächtnis sich voneinander lösen, um erneut zusammengefügt zu werden, sollen die objektvierten Inhalte des Gedächtnisses nicht in Vergessenheit geraten. Traditionen werden mittels des kulturellen Gedächtnisses nur insofern tradiert, als sie immer wieder erneut mit individuellen und sozialen Gedächtnissen verbunden und von diesen angeeignet werden,1 um nicht verloren zu gehen. 1 Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, C.H. Beck Verlag, München 2006, S. 34. Lässt sich aus diesen Überlegungen folgern, dass die Frage, ob Traditionen zu erfahren möglich ist, mit dem Verdacht der Trivialität behaftet ist? Nach dem Dargelegten drängt sich ein solcher Eindruck auf, zumal eine Phänomenologie des Gedächtnisses zu berücksichtigen hat, was Aleida Assmann beschreibt, wenn sie betont, dass das „soziale Gedächtnis eine durch Zusammenleben, sprachlichen Austausch und Diskurse hervorgebrachte Koordination individueller Gedächtnisse" ist, von der sich das kulturelle Gedächtnis dadurch unterscheidet, dass es auf einem „Fundus von Erfahrungen und Wissen" aufruht, „der von seinen lebendigen Trägern abgelöst und auf materielle Datenträger übergegangen ist".2 Was folgt daraus für die eingangs gestellten Fragen? Entfällt die Frage nach der Möglichkeit der Erfahrung von Traditionen vor dem Hintergrund der dargelegten Überlegungen zum Gedächtnis? Wenn es als erwiesen gilt, dass Traditionen erneut Erfahrungen auslösen bzw. zur Erfahrung werden, und zwar für das an Lebensrhythmen gebundene individuelle wie soziale Gedächtnis, damit das in externen Medien wie Texten, Bildern und Denkmälern ruhende kulturelle Gedächtnis Erinnerungen 0 oder besser gesagt: Wiedererinnerungen zu erzeugen vermag -, scheint die Frage nach der Möglichkeit der Erfahrung von Traditionen gleichsam offene Türen einzurennen. Denn auch wenn das soziale Gedächtnis gleich den es stützenden Menschen dem Vergehen und Vergessen ausgesetzt ist, findet das kulturelle Gedächtnis Schutz vor diesem Schicksal, und zwar in Schriftwerken, Bildern und Denkmälern. Dieser Aspekt ist jedoch alles andere als unproblematisch, wenn man die Bedenken berücksichtigt, die sich stellen, sobald das lebendige Verständnis von Texten verlorengegangen ist - ein Verständnis, das, auch wenn es lebendig ist, bereits bei Bildern und Denkmälern moderner Kunst problematisch zu werden beginnt. Dieser Aspekt soll im dritten, abschließenden Teil meiner Ausführungen zu Worte kommen. Im ersten Teil erörtere ich die Annahme von der Unübersetzbarkeit von Tradition in Erfahrung, die die Frage, ob Tradition zur Erfahrung werden kann, des Verdachts der Trivialität enthebt. Sodann ist zweitens die aus der Soziologe stammende These von der Enttraditionalisierung, die die Moderne charakterisieren soll, genauer zu betrachten. I. Ist es denkbar, dass das, was sich wiederholt und deshalb erinnert wird, nicht zur Erfahrung wird? Lässt sich die Behauptung rechtfertigen, dass Tradition unübersetzbar in Erfahrung ist? Diese Fragen stehen quer zu den dargelegten kulturwis- 2 Ibid. senschaftlichen Erörterungen zum Gedächtnis. Freilich nicht ohne Grund. Ist Erfahrung in bezug aufTradition „Einverleiben und damit Neuverlebendigung", nicht jedoch „bloßes [...] Hinnehmen",3 folgt daraus, dass Tradition sich auf die Erfahrung des Wiedererwerbs gründet, um als Tradition „gegenwärtig" zu bleiben. Laut Gadamer eignet sich jedes Gedächtnis an, „was ihm begegnet, um sich in der ständigen Bereicherung des Überlieferten selber fortzubewegen".4 Ist diese Vorannahme haltbar? Die Möglichkeit des Wiedererwerbs der Tradition setzt die Erfahrbarkeit ihrer „erinnernden Aneignung" voraus.5 Wenn es aber keine entsprechende Erfahrung gibt? Was geschieht mit dem Bleibenden und Beständigen, mit dem Gadamer das Gedächtnis verbindet, wenn im Tun des Menschen der Erfahrungsverlust dominiert? Glaubt man der zeitdiagnostischen These von Giorgio Agamben, dann ist es alles andere als evident, dass „der Alltag des zeitgenössischen Menschen" überhaupt etwas enthält, was in Erfahrung übersetzbar wäre. Agamben bezweifelt dies, wenn er die erdrückende Alltäglichkeit des modernen Menschen beschreibt, dessen Vielzahl von Beschäftigungen ebenso reich an Erlebnissen wie arm an Erfahrungen ist: „Der zeitgenössische Mensch kehrt abends nach Hause zurück und ist völlig erschöpft von einem Wirrwarr von Erlebnissen [...], ohne daß auch nur eines davon zu Erfahrung geworden wäre"; weder „die an Neuigkeiten so reiche Zeitungslektüre [...], noch die Minuten am Steuer, die (der moderne Mensch) im Stau verbringt, noch die Hadesfahrt in der Untergrundbahn, noch die Demonstration, die plötzlich die Straße blockiert, [...] noch die Schlange vor den Schaltern, noch der Besuch im Schlaraffenland des Einkaufszentrums" werden zur Erfahrungen.6 An was erinnert sich der moderne Mensch am Ende seines beschäftigungsreichen Alltag? An seine Erlebnisse. Aber sind Erinnerungen allein auf Erlebnisse zentrierbar? Können wir uns allein an das erinnern, was wir auch erlebt haben? Die Frage, ob Tradition unübersetzbar in Erfahrung sind, lässt ich mit Agamben insofern beantworten, als Erlebnisse durchaus auch Erfahrung freisetzen können, die dann allerdings als erlebniszentrierte Erfahrungen zu präzisieren sind. 3 Paul Natorp, Die Weltalter des Geistes, Eugen Diederichs Verlag, Jena 1918, S. 5. 4 Hans-Georg Gadamer, „Wort und Bild — ,so wahr, so seiend'", Mohr Siebeck Verlag, Tübingen, Gesammelte Werke (im Folgenden: GW), Bd. 8, S. 373-399, hier: S. 377. 5 Gadamer, „Die Aktualität des Schönen", GW 8, S. 100 f. Zu diesem Problem: Charles Scott, „Überlieferung jenseits von Bildern und gestohlenen Erinnerungen", in: Günter Figal, Jean Grondin und Dennis J. Schmidt (Hrsg.), Hans-Georg Gadamer zum Hundertsten, Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2000, S. 1—34; Nicholas Davey, „Mnemosyne und die Frage nach dem Erinnern in Gadamers Ästhetik", in: G. Figal, J. Grondin und D. J. Schmidt (Hrsg.), Hans-Georg Gadamer zum Hundertsten, S. 35—62. 6 Giorgio Agamben, Kindheit und Geschichte. Zerstörung der Erfahrung und Ursprung der Geschichte, Suhr-kamp Verlag, Frankfurt/M. 2001, S. 23. Was Agamben beschreibt, lässt sich dem individuellen Gedächtnis zuordnen, freilich in einer Weise, dass in der Konsequenz fraglich zu werden beginnt, ob es so etwas wie eine „Koordination individueller Gedächtnisse" gibt, wie es für das soziale Gedächtnis typisch sein soll. Das ist nicht das einzige Problem. Ist bereits das Verhältnis von individuellem und sozialem Gedächtnis problematisch, wie ist es dann um das kulturelle Gedächtnis und seinen „materiellen Datenträgern" bestellt? Bereits der junge Hegel musste schmerzlich erkennen, dass die in Rituale und Dogmen erstarrte Tradition christlichen Glaubens lediglich in Erinnerung an ihrem Begründer, nicht aber im lebendigen Glauben fortgeführt wird. Seine Kritik gilt der Anverwandlung der Erinnerungen an die herrschende Lehre infolge der Sicherung möglicher Interpretationsrahmen durch dogmatische Textexegese, die der Klerus übernimmt. Nicht nur wenn Texte außer Gebrauch kommen, werden sie zu einem Grab für den Sinn, der in ihnen bewahrt und vergegenwärtigt werden soll. Der Sinn kann auch durch Exegese fraglich werden. Hinter Hegels Assoziation von Schrift mit Totem und Erstarrtem steht nicht allein nur die Aufgabe einer Auflösung der begrifflichen Erstarrung, in die Schriftzeugnisse durch Exegese und dogmatische Interpretationen verfallen zu drohen, sondern auch das Problem der Übersetzbarkeit von Inhalten des kulturellen Gedächtnisses in Formen des individuellen und sozialen Gedächtnisses. Hegels Einsicht in die Probleme der Möglichkeit der Erfahrbarkeit von Traditionen im Horizont wechselseitiger Übertragungen des individuellen, sozialen und kulturellen Gedächtnisses lassen sich mit Hilfe von Agambens dargelegter These zu der Annahme von der Unübersetzbarkeit von Traditionen in Erfahrung verdichten: Traditionen sind unübersetzbar in Erfahrung, nicht weil Traditionen nicht mehr über genügend Autorität verfügen, um eine Erfahrung zu garantieren, sondern weil deren Übersetzbarkeit von erlebnisorientierten Erfahrungen und Erinnerungen abhängig gemacht wird. Auf die Probleme, die sich aus der Orientierung der Erinnerung an das Erlebnis ergeben, gehe ich im letzten Teil meiner Ausführungen ein. Vorerst beschränke ich mich auf einen Aspekt hinzuweisen, der aus der Abhängigkeit der Erinnerung von erlebnisorientierten Erfahrungen folgt: dass nämlich Traditionen, wenn sie sich nicht mehr vom kulturellen Gedächtnis in das soziale und individuelle Gedächtnis übersetzen lassen, nicht länger mehr Formen der Überlieferung, sondern Gegenstände historischer Forschung oder musealer Aufbewahrung sind. Diesem Schicksal sind Traditionen freilich auch dann ausgesetzt, wenn es zur einer Übersetzung der Inhalte des kulturellen Gedächtnisses in das individuelle und soziale Gedächtnis kommt. Zu diesem Schluss gelangt Lyotard mit seiner Überlegung, dass im Zeitalter der Informationstechnologien „all das, was vom überkommenen Wissen" nicht in Informationsquantitäten „übersetzt ist, vernachlässigt werden wird".7 Ungeachtet ihrer Verankerung in Texten, Bildern und Bauten entschwinden Erfahrungen früherer Generationen aus dem individuellen und sozialen Gedächtnis, weil das kulturelle Gedächtnis im Zeitalter des „Merkantilismus des Wissens" Schüben an informationstechnologischen Evaluierungen ausgesetzt ist. Positiv evaluiertes kulturelles Gedächtnis transformiert zu entsprechenden Informationen, Wissensbeständen in Form materieller Datenträger modernster Informationstechnologie; negativ evaluierte Inhalte des kulturellen Gedächtnisses entschwinden aus dem sozialen Gedächtnis, weil es keine Rückkopplung mehr zwischen beiden Gedächtnisformen gibt. Erinnerungen gehen auch dann verloren, wenn das Erfahrungsgedächtnis noch nicht mit den Zeitzeugen verloschen ist. II. Was folgt daraus für das Problem, ob Texte, Bildwerke und Denkmäler Garanten für die Dauer des kulturellen Gedächtnisses sehen, im Unterschied zum sozialen Gedächtnis, das mit den es tragenden Menschen vergeht? Unter kulturwissenschaftlichen Prämissen unterscheidet sich das kulturelle „Gedächtnis vom Familien- und Generationengedächtnis durch solche symbolische Stützen, die die Erinnerung in die Zukunft hinein befestigen, indem sie spätere Generationen auf eine gemeinsame Erinnerung verpflichten". Als Beispiele nennt Aleida Assmann Monumente und Denkmäler, Jahrestage und Riten, die die „Erinnerung transgenerationell durch materielle Zeichen oder periodische Wiederholung" befestigen und auf diese Weise späteren Generationen ermöglichen, „ohne eigenen Erfahrungsbezug in eine gemeinsame Erinnerung hineinzuwachsen".8 Ob diese Annahme stimmt, lässt sich insofern nicht frei von Zweifel beantworten, als Soziologen wie Anthony Giddens wiederholt auf ein der Moderne eigentümliches Phänomen hingewiesen haben: nämlich der Enttraditionalisierung. Habermas stimmt darin zu, dass dieser Vorgang nicht selten „Ängste vor der gewaltsamen Entwurzelung traditioneller Lebensformen" auslöst, deren Verfall eine aus „ihren kulturellen Traditionen herausgerissenen Bevölkerung im Laufe radikal beschleunigter Modernisierungsprozesse erleidet".9 Auch man nicht gewillt ist, diese Charakteristik für überzeugend zu halten, so ist die These von der 7 Jean-Francois Lyotard, Das postmoderne Wissen, Passagen Verlag, Wien 1986, S. 23. 8 Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 35. 9 Die abwehrende Reaktion auf diese Ängste bezeichnet laut Habermas eine der entscheidenden Ursachen des islamistischen Fundamentalismus. Jürgen Habermas, Philosophie in Zeiten des Terrors. Zwei Gespräche, Enttraditionalisierung nicht ohne Folgerungen für die Beantwortung der Frage, ob die Erfahrung von Traditionen möglich ist. Assmann unterstellt eine ungestörte Wechselbeziehung zwischen individuellem, sozialem Gedächtnis auf der einen und dem kulturellen Gedächtnis auf der anderen Seite. Im Horizont des Verfalls von Traditionen entfallen wesentliche Inhalte, die individuelle Gedächtnisse am kulturellen Gedächtnis im Horizont der Identitätskonstruktion wahrnehmen; der Vergangenheitsbezug erfolgt ohne einen vermittelnden Bezug zur Identität, hingegen sich beides - Vergangenheitsbezug und Identitätskonstruktion - bei einer intakten Wechselbeziehung zwischen individuellem, sozialem Gedächtnis und kulturellem Gedächtnis überschneiden. Daraus folgt, dass entgegen der kulturwissenschaftlichen Annahme von Assmann symbolische Stützen der Erinnerung, wie Texte, Monumente, Denkmäler, Jahrestage und Riten weder Garanten für die Dauer des kulturellen Gedächtnisses sind, noch spätere Generationen auf eine gemeinsame Erinnerung verpflichten. Relativiert sich in der Perspektive von Agambens These die kulturwissenschaftliche Annahme, wonach Symbole und Zeichen eine dauerhafte Stütze für das soziale Gedächtnisses darstellen, erscheint mir das kulturelle Gedächtnis aus der Sicht der soziologischen Annahme eines Vorgangs der Enttraditionalisierung nicht minder problematisch, wenn es um die Erfahrbarkeit der von seinen lebendigen Trägern abgelösten und auf materielle Datenträger übergegangenen Erfahrung geht. Denn wie mir scheint, ist es alles andere als evident, dass mit diesem Übergang „Erinnerungen über die Generationenschwelle hinweg stabilisiert werden" können,10 wenn die „entkörperten und zeitlich entfristeten Inhalte des kulturellen Gedächtnisses", wie Assmann es nennt, „immer wieder neu mit lebendigen Gedächtnissen verkoppelt und von diesen angeeignet werden" müssen, damit die in den Träger des kulturellen Gedächtnisses repräsentierte „entkörperte" Erfahrung „von anderen wahrgenommen und angeeignet werden kann, die diese Erfahrung nicht selbst gemacht haben".11 Ist die zeitliche Reichweite der objektivierten Träger des kulturellen Gedächtnisses nicht wie beim individuellen und sozialen Gedächtnis auf die menschliche Lebensspanne der Träger beschränkt, mögen die Inhalte des kulturellen Gedächtnisses „zeitlich entfristet" sein, keineswegs jedoch sind sie deshalb auch immunisiert gegen Erinnerungsverlust.12 Die Möglichkeit des Verlustes ist in der Enttraditionalisierung begründet, wenn man geführt, eingeleitet und kommentiert von Giovanna Borradori, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004, S. 57. 10 Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 34. 11 Ibid., S. 34. 12 Ibid., S. 34. darunter nicht vordergründig den Verfall von traditionellen Lebensformen versteht, sondern den Verlust von Sprache,13 der sich in unterschiedlichen Formen manifestieren kann: als Verarmung von Bedeutungen, den in Folge des Sprachwandels in Vergessenheit geratenen Redewendungen und nicht mehr gebrauchten Wörtern oder das Aussterben von Sprachen. Das soziale Gedächtnis ist bedingt durch Sprache; man wächst nicht schlechthin in eine soziale Gemeinschaft hinein, sondern auf dem Weg des Erlernens ihrer Sprache: „In dem Maße, wie wir sprechen lernen", so Assmann, „lernen wir auch die Interaktionsformen bzw. den Sprechakt des ,memory talk' oder ,con-versational remenbring'; es sind ganz wesentlich diese Bezüge und Bindungen, die [ ] die Voraussetzungen dafür sind, dass wir überhaupt ein Gedächtnis aufbauen können".i4 Auf dieser Ebene scheint der kulturwissenschaftliche mit dem hermeneutischen Diskurs zusammenzufallen, nicht jedoch im Hinblick auf das Verhältnis der materiellen Datenträger des kulturellen Gedächtnisses zum individuellen und sozialen Gedächtnis. Ist das soziale Gedächtnis bedingt durch Sprache, folgt daraus, dass der Wandel der Sprache den Zugang zu den objektivierten Trägern des sozialen Gedächtnisses erschwert, wenn nicht gar blockiert, was im Falle des Verlustes der Sprache evident ist. Auf diese Weise werden objektivierte Datenträger des sozialen Gedächtnisses zu deutungsbedürftigen Erinnerungsresten, wie bei Dilthey zu erfahren ist. III. Die Assoziation von Schrift mit Totem und Erstarrtem, die Hegel gebraucht und die in der philologisch-hermeneutischen Tradition bei August Boeckh und Friedrich Schleiermacher die Form einer unhintergehbaren Prämisse annimmt, ergänzt Wilhelm Dilthey um die Assoziation von Schrift mit Rest und Überbleibsel. Unter den Prämissen von Hegels Historismus durchdenkt Dilthey das hermeneutische Erbe dergestalt, dass der Bruchteil und der Rest für das Gedächtnis bestimmend wird, während es zuvor die Einschreibung und die fragile Bewahrung gewesen ist; Texte werden als Spuren bzw. als Reste des Gedächtnis- 13 Das dokumentiert die Geschichte des Verbots der Sprachen von Minderheiten in Nationalstaaten. So schreibt mit Blick auf das Baskenland Atxaga: Die „Wahrheit war, dass bereits damals — 1963, 1964 — die Menschen aus Iruain, Bewohner einer früheren Welt, das Gedächtnis verloren. Die Namen, die sie für die verschiedenen Apfelsorten hatten oder [...] oder die verschiedenen Schmetterlingsarten [...] gingen verloren, wie Schneeflocken fielen sie und schmolzen, sobald sie den Boden der Gegenwart berührten. Und wenn es nicht die Namen selbst waren, die verlorengingen, dann ihre verschiedenen Bedeutungen, ihre Nuancen, die sich im Laufe von Jahrhunderte ausgebildet hatten. Im schlimmsten Fall wird die Sprache selber ausgelöscht." Bernado Atxaga, Der Sohn des Akkordeonspielers, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2006, S. 82. 14 Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 206. 230 ses gedeutet. An die Stelle der Autorität tradierter Texte, die in der philologisch-hermeneutischen Tradition nie unproblematisch gewesen ist, rücken die Bruchteile, die Lücke und das Vergessen; Texte werden zu Spuren (unwillkürlichen Erinnerungen) und Resten (willentlich produzierte, jedoch fragmentarisierte Erinnerungen) des Gedächtnisses.15 An die Stelle der Autorität tradierter Texte treten die Bruchteile, die in Texten enthaltenen „Reste menschlichen Daseins", wie Dilthey es nennt.16 Welche Folgerung ist aus der Assoziation der Schrift mit Totem und Rest im Hinblick auf die Schrift zu ziehen, die als das bedeutendste Medium gilt, über das das kulturelle Gedächtnis wesentlich konstituiert ist? Verliert die Schrift ihre Bedeutung für das Gedächtnis? Oder muss die Frage lauten: Was folgt für das Gedächtnis aus dem fragil werdenden Speichermedium der Schrift? Die vorläufige Antwort lautet: Eine Relativierung der Vorstellung, dass die Schrift ein Speicher bzw. eine personenungebundene Objektivierung des Wissens ist. Da Erinnerungen wiederholt werden müssen, auch in neuen Kontexten, die aus der Wiederholung resultieren, vermögen die ursprünglichen Absichten der schriftlichen Benennung in der Wiederholung neuartige Kontexte auf sich zu ziehen, die das Erinnern als Wiedererkenntnis zum Andersverstehen werden lässt. Es ist somit nicht allein der Wandel der Sprache, so ist mit Gadamer zu ergänzen, der einen Verlust der früheren Verständlichkeit und der daraus resultierenden Auslegungsbedürftigkeit von Texten nach sich zieht, sondern auch der Bezug auf neue(re) Kontexte im Vollzug der Erinnerung. Als ein Bruch mit früheren Kontexten ist die andersverstehende Wiedererinnerung an frühere Erfahrungen ebenso eine Abkehr und Vergessen wie eine Rückkehr und eine Aneignung. Das Vergessen, an das Gadamer denkt, ist freilich nicht das von Dilthey: Vergessen ist nicht das Ausbleiben der Erinnerung und der daraus folgende Verlust; vielmehr ist Vergessen bedingt durch das Dazwischentreten anderer Erinnerungen, die sich um die ursprüngliche Erinnerung gleichsam wie eine sprachliche Kruste legen, so dass Nuancen, Bedeutungen hinzutreten, die die einstige Erfahrung ursprünglich nicht zur Sprache brachte. Was Wiedererkenntnis in der Charakteristik Gadamers auszeichnet, umfasst jedoch mehr, als nur den Aspekt des Hinzutretens neuartiger Bedeutungen: Anam- 15 Vgl. Mirko Wischke, „Das Erlebnis und seine vertiefende Erkenntnis. Zum Horizontbegriff bei Dilthey", in: R. Elm (Hg.), Horizonte des Horizontbegriffs. Hermeneutische, phänomenologische und interkulturelle Studien, Academia Verlag, Sankt Augustin 2004, S. 119—136. 16 Wilhelm Dilthey, „Die Entstehung der Hermeneutik", B. G. Teubner Verlagsgesellschaft und Vanden-hoeck & Ruprecht Verlag, StuttgarrGöttingen 1990, Gesammelte Schriften (im Folgenden: GS), Bd. V, S. 319. nesis ist weniger die Wiederaneignung von etwas Verlorengegangenem als vielmehr das Aufdämmern von etwas anderem; nicht die Wiederkehr eines Selbigen, sondern die „Hervorholung" und Verschiedenheit sind typisch für die Wiederholung ursprünglicher Erinnerungen.17 Was „Wiedererkenntnis ihrem tiefsten Wesen nach ist", wird laut Gadamer verkannt, „wenn man nur darauf sieht, daß da etwas, was man schon kennt, von neuem erkannt wird, d. h. daß das Bekannte wiedererkannt wird". Das Wiedererkennen ist mehr als das erneute Erkennen des Bekannten, insofern in der Wiedererkenntnis „das, was wir kennen, gleichsam wie durch eine Erleuchtung aus aller Zufälligkeit und Variabilität der Umstände, die es bedingen", heraustritt;18 in der Erinnerung enthüllen sich die Dinge, nicht jedoch so, wie sie bereits erkannt worden sind. Diese Verbindung von Vergessen und neuer Aneignung erlaubt es Gadamer, die memoria nicht mehr als rein reproduktive, wie bei Dilthey, sondern schöpferische Fähigkeit zu verstehen, und zwar in Form der „Anverwandlung der Überlieferung", die Gadamer als die Grundcharakteristik des Gedächtnisses bezeichnet.19 Da der Sinn des in Schriftwerken Mitgeteilten allein in der „Sprachwelt" der Gegenwart verstanden werden kann, nicht aber der Vergangenheit, muss dieser Sinn auf „neue Weise zur Geltung kommen".20 Diesen Vorgang vergleicht Ga-damer mit einer „Übersetzung", um deutlich zu machen, dass Wiedererkennen primär nicht rekonstruierend verfährt, sondern insofern schöpferisch ist, als im Verstehen „etwas Totes" aus der Vergangenheit in die Gegenwart hinübergesetzt wird, um auf neuartige Weise hervorzutreten bzw. zum Vorschein zu kommen.21 Auf diese Weise wird die Überlieferung „anverwandelt", kommt es zur „Erfahrung steigender Vertrautheit" beim Wiederkennen.22 Die in der philologischen und hermeneutischen Tradition aufkommenden Zweifel an der Rechtmäßigkeit abweichender Auslegungen und dem Unbehagen gegenüber dem Problem der Mehrdeutigkeit löst Gadamer insofern auf, als er im Rekurs auf die Sprache im Erinnern und Wiedererkennen das Moment des Vergessens einzuschließen vermag. In der Perspektive des Vergessens erscheint das, was Hegel bzw. Dilthey als tot, d. h. leblos und stumm bezeichnen, als ein dem Gedächtnis Entfallenes, mehr noch aber der Erinnerung nicht mehr Gegenwärtiges, das der (anders)verstehenden Wiedererinnerung harrt. Dass vergessene Er- 231 17 Gadamer, Wahrheit und Methode, GW 1, S. 120. Vgl. Davey, Mnemosyne und die Frage nach dem Erinnern in Gadamers Ästhetik, S. 45. 18 Gadamer, Wahrheit und Methode, GW 1, S. 119. 19 Gadamer, Wahrheit und Methode, GW 1, S. 286 f. 20 Gadamer, Wahrheit und Methode, GW 1, S. 388. 21 Gadamer, „Wie weit schreibt die Sprache das Denken vor?", GW 2, S. 199-206, hier: S. 201. 22 Gadamer, „Kunst und Nachahmung", GW 8, S. 25-36, hier: S. 32. innerungen wieder in Gedächtnis zurückrufbar sind, und zwar in einer Weise, dass in der Erinnerung Ereignisse und Sachverhalte sich nicht so enthüllen, wie sie bereits erkannt worden waren, geschieht nicht kraft erlebnisfundierter Erinnerungen, sondern auf der Grundlage der „Virtualität des Wortes" als Garanten der Wiederbelebbarkeit der in der Schrift kodierten Mitteilungen:23 „Ein jedes Wort läßt das Ganze der Sprache, der es angehört, antönen und das Ganze der Weltansicht, die ihm zugrundeliegt, erscheinen. [ ... ] Reden (bringt) ein Ganzes von Sinn (ins Spiel), ohne es ganz sagen zu können."24 - Was folgt daraus für die Ausgangsfragen? IV. 232 Ist es möglich, Traditionen zu erfahren? Haben wir eine Antwort auf diese Frage erhalten? Entgegen der kulturwissenschaftlichen Zuversicht, ist diese Frage - wie meinen Darlegungen zu entnehmen ist - alles andere als trivial. Traditionen sind ohne Vermächtnis, sie sind lediglich das poröse Gesamt von Erinnerungen. Lässt sich mit Hilfe der Ausführungen Agambens und Lyotards nachweisen, dass die Rückkopplung des individuellen und sozialen Gedächtnisses an der kulturelle Gedächtnis keineswegs störunempfindlich ist, wie der kulturwissenschaftliche Diskurs idealtypisch anzunehmen scheint, vertiefen die zeitdiagnostischen Überlegungen von Giddens und Habermas den Verdacht, dass die von lebendigen Trägern auf materiellen Datenträgern übergegangenen Erinnerungen unübersetzbar in Erfahrung sind, wenn deren Übersetzbarkeit von erlebnisorientierten Erinnerungen abhängig gemacht wird. Gadamer teilt den Zweifel an der Vorstellung, dass objektivierte Formen des Gedächtnisses gleichsam als ein fester Bestand von Erinnerungen anzusehen sind, ohne die Überlegung zu teilen, dass solche objektivierte Formen unübersetzbar in Erfahrung wären. Gadamers Erfahrungsbegriff liegt keine emphatische Vorstellung von Erfahrung zugrunde. Was Erfahrung auszeichnet, kommt für ihn in der Feststellung zum Ausdruck, dass es so ist: Der Befund „so ist es" kennzeichnet eine Wahrnehmung von etwas, was zuvor nicht auf diese Weise wahrgenommen wurde, und genau das ist charakteristisch für das, was laut Gadamer Erfahrung auszeichnet. Die neuartige Weise, wie sich Dinge und Sachverhalte präsentieren (können), ist kennzeichnend für die Erfahrung, die der Umgang mit Zeugnissen der Vergangenheit freisetzen kann. Die Betonung liegt weniger auf das Neue schlechthin, sondern 23 Gadamer, „Destruktion und Dekonstruktion", GW 2, S. 361-372, hier: S. 370. 24 Gadamer, Wahrheit und Methode, GW 1, S. 462. auf das überraschend Andersartige, in der sich uns objektivierte Formen des Gedächtnisses neuartig zu enthüllen vermögen. Die Fixierung menschlicher Erfahrungen insbesondere in jenen Formen des kulturellen Gedächtnisses, die wir als Schriftwerke zu bezeichnen gewohnt sind, ist keineswegs beständig, und zwar deshalb, weil zum einen durch den Sprachwandel jene Erfahrungen anfällig für das Vergessen werden können; und zum anderen, weil die Kontexte, in denen die stummen Datenträger des kulturellen Gedächtnisses wieder zur lebendigen Erinnerung werden, andere als die sind, in denen sie einst errichtet (und interpretiert) wurden. Was gegen die wiedererkennende Erinnerung zu sprechen scheint, begründet jedoch deren Möglichkeit: Da Erinnerungen wiederholt werden müssen, auch in neuen Kontexten, die aus der Wiederholung resultieren, vermögen die ursprünglichen Absichten der Errichtung von Denkmälern und schriftlichen Benennungen in der Wiederholung neuartige Kontexte auf sich zu ziehen, die das Erinnern als Wiedererkenntnis zum Andersverstehen werden lässt. Es ist nicht allein der Wandel der Sprache, der einen Verlust der früheren Verständlichkeit und der daraus resultierenden Auslegungsbedürftigkeit von Texten, Monumenten, Bildern und Jahrestagen nach sich zieht, sondern auch der Bezug auf neue(re) Kontexte im Vollzug der Erinnerung. Als ein Bruch mit früheren Kontexten ist die andersverstehende (Wieder)Erinnerung an frühere Erfahrungen ebenso eine Abkehr und Vergessen wie eine Rückkehr und eine Aneignung, nicht jedoch im Horizont von Erlebnissen qua Erfahrungsgedächtnis, sondern der Sprache.25 Denn nicht nur das Erfahrungsgedächtnis geht unweigerlich mit den immer weniger werdenden Zeitzeugen verloren, sondern auch das auf Erlebnisse zentrierte Erinnern. 233 25 Hierzu vgl. Mirko Wischke, „Platon und der Historismus. Ein neukantianisches Interpretationsmotiv bei Hans-Georg Gadamer", Méthexis. Revista Internacional de Filosofia Antigua XV (2003), S. 125—143; „Hans-Georg Gadamer und die Phänomenologie der Traditionsaneignung", in: Helmut Vetter & Matthias Flatscher (Hg.), Hermeneutische Phänomenologie — phänomenologische Hermeneutik. Reihe der Österreichischen Gesellschaft für Phänomenologie Bd. 10., P. Lang Verlag, Frankfurt/M. 2005, S. 210-221; „Sprache und Wahrheit. Zum Verhältnis von Rhetorik und Philosophie bei Hans-Georg Gadamer", spanische Übersetzung in: Hans-Georg Gadamer: „El Logos de la era Hermeneutica", Revista Endoxa 20 (2005), S. 357-378.