5 Klaus Held ZUR VORGESCHICHTE DER UNTERSCHEIDUNG VON NATUR UND KULTUR1 Soll im Zeitalter der Globalisierung eine nicht bloß oberflächliche interkul� turelle Verständigung möglich sein, bedarf es der Besinnung auf die tief ver� wurzelten, in althergebrachten Gewohnheiten spürbaren Unterschiede und Gemeinsamkeiten der großen Traditionskulturen. In solcher Besinnung liegt eine der Hauptaufgaben für das philosophische Denken am Beginn des zweiten Jahrtausends unserer Zeitrechnung. Für die Globalisierung ist die alles beherr� schende Technisierung unserer Lebensverhältnisse konstitutiv, die sich heute durch die um sich greifende Digitalisierung ins Äußerste steigert. Durch diese Entwicklung befreien wir uns mehr und mehr von den Vorgegebenheiten der Natur; sie werden fortschreitend vom Menschenwerk der Kultur ersetzt oder zumindest überlagert. In dieser Situation muss das Verhältnis von Natur und Kultur zu einem zentralen Thema der interkulturellen philosophischen Besinnung werden. Traditionell erscheint dieses Verhältnis primär als ein Gegensatz. Die An� nahme eines solchen Gegensatzes geht auf die Gegenüberstellung von phýsis und téchne im Altgriechischen zurück. Diese Gegenüberstellung hat aber erst Aristoteles gut zwei Jahrhunderte nach dem frühgriechischen Beginn von Phi� losophie und Wissenschaft bei den sogenannten „Vorsokratikern“ vorgenom� 1 Die Gedanken dieses Aufsatzes wurden ursprünglich bei einem Workshop vorgetra� gen, der am 4./5. Juli 2014 unter dem Titel „Natur in interkultureller Sicht: Tübingen, Europa und die Welt“ in Tübingen stattfand. men. Bemerkenswerterweise fehlte dieser Gegensatz ursprünglich auch im ostasiatischen Denken der Natur als shizen. Demnach gibt es in Ostasien und im Westen eine alte Übereinstimmung in der Welterfahrung, auf die sich Phi� losophen aus Ost und West im interkulturellen Gespräch gemeinsam besinnen können. Dieser Übereinstimmung soll im Folgenden genauer nachgegangen werden. Die gängige Opposition von Natur und Kultur hat einen einfachen Sinn: Man versteht dabei unter Kultur den Gesamtzusammenhang alles vom Men� schen Hervorgebrachten und hebt es ab von der Natur als dem Gesamtbere� ich dessen, was „von selbst“, d.h. nicht durch uns, entstanden ist und entsteht. Wenn eine Sache durch uns entsteht, sind wir die Ursache ihrer Entstehung – „Ursache“ im weiten Sinne des griechischen Wortes aítion oder aitía verstand� en als das, was an einer Sache schuld ist. Die durch uns Menschen verursachte Entstehung von etwas hieß auf Altgriechisch poíesis, zu deutsch „Machen“. Das durch ein Machen Zustandegekommene bezeichneten die Griechen als érgon, „Werk“. Für ein Machen brauchen wir ein Wissen; wir müssen uns in der Her� vorbringung eines geplanten érgon auskennen. Dieses Sich�Auskennen – die „Kunst“ im weiten alten Sinne dieses Wortes – hieß im Griechischen téchne. Weil das Machen nur durch die so verstandene Kunst möglich wird, ist die téchne die eigentliche Ursache bei der menschlichen Hervorbringung eines Werks. Diese Ursache steckt nicht im entstehenden Werk, sondern ist als men� schliches Wissen außerhalb davon angesiedelt. Wenn wir von dem, was von Natur existiert, sagen, es entstehe „von selbst“, meinen wir damit, dass es für sein Zustandekommen nicht der Anleitung durch ein außerhalb seiner befind� liches Wissen als Ursache bedarf, sondern seine Ursache in sich selbst hat. In diesem Sinne kann Aristoteles der Natur, phýsis, die ihre Ursache in sich selbst hat, die téchne gegenüberstellen. So steht hinter dem Gegensatz von Natur und Kultur der Gegensatz zwischen zwei Ursachen: phýsis und téchne. Nur weil phýsis und téchne gemeinsam haben, dass sie beide Ursachen sind, können sie miteinander verglichen werden. Aristoteles bedient sich dieses Vergleichs, um uns auf solche Weise die Natur philosophisch verständlich zu machen. Für die aristotelische Analyse des Ursacheseins der téchne ist eine Unterscheidung grundlegend: Wir Menschen brauchen für die Herstellung 6 PHAINOMENA XXVI/100�101 eines Werks ein vor� und bereitliegendes geeignetes Material, das wir bearbe� iten, griechisch: die hýle, den Stoff, beim Bau eines Hauses beispielsweise die Steine, die Balken usw. Den Plan für das Ziel des Machens und für die einzel� nen Schritte der Anfertigung des Werks liefert die téchne. Demnach müssen wir bei der Weise, wie die téchne Ursache ist, zwei Seiten unterscheiden: Auf der einen Seite haben wir die hýle als das, worauf die téchne für das Zustand� ebringen des érgon angewiesen ist. Weil die hýle hierfür gebraucht wird, ist sie mit schuld am Werk und gehört in diesem Sinne mit zu den Ursachen des érgon. Auf der anderen Seite stehen die Faktoren, die dank der téchne ebenfalls das Zustandekommen eines Werks verschulden: die Zielsetzung der Herstel� lung, der Plan für das fertige Werk und der Anstoß dafür, dass der Herstel� lungsprozess überhaupt auf den Weg kommt. Die genauere Beschreibung dieser drei Elemente des Ursacheseins – in der scholastischen Rezeption des Aristoteles als Wesensursache, Finalursache und Bewegungsursache bezeich� net – kann für die weiteren Überlegungen übergangen werden; es genügt die Feststellung, dass diese drei Weisen von Ursächlichkeit zusammengehören, weil sie auf der Seite der téchne ihren Ort haben, dem auf der Gegenseite die hýle – scholastisch gesprochen: die Materialursache – gegenüberliegt. In welchem Verhältnis stehen diese beiden Seiten der Ursächlichkeit zue� inander? Das Material, die hýle, liegt bereit dafür, gemäß den drei auf der an� deren Seite angesiedelten immateriellen Ursachen umgestaltet oder bearbe� itet zu werden; es unterliegt in diesem Sinne einer mit Einsetzen der poíesis über sie ergehenden Bestimmung; sie ist das dieser Bestimmung ausgesetzte Bestimmbare, ihr Bereitliegen ist ein der Bestimmung Unterliegen, griechisch ausgedrückt: ein hypokeîsthai. Die hýle kann deshalb mit dem Partizip Präsens dieses Verbs als das hypokeímenon, das „Unterliegende“, „Zugrundeliegende“ der poíesis bezeichnet werden. Dass die von der téchne gesteuerte Bestimmung „über“ die darunter liegende hýle ergeht – dieses Verhältnis des „von oben herab über“ drückt im Griechischen die Präposition katá aus. Ganz formal las� sen sich sowohl das Bestimmbare, die hýle als hypokeímenon, als auch die Ele� mente der darüber ergehenden Bestimmung als ein „etwas“, griechisch ti – mit dem Genitiv tinós – bezeichnen. Bei der Hervorbringung eines Werks ereignet sich demgemäß ein Geschehen mit dem Charakter „ti katá tinós“, „etwas über etwas“ – oder mit einer deutschen Formel „Bestimmung des Bestimmbaren“. 7 KLAUS HELD Der Heideggerschüler und spätere Sprachanalytiker Ernst Tugendhat hat die Struktur ti katá tinós in seinem so betitelten hervorragenden Aristoteles� buch überall im Denken des Aristoteles aufgespürt. Vor allem bestimmt diese Struktur auch die aristotelische Interpretation der Sprache, die sich primär an den Aussagesätzen orientiert. Ein einfacher beliebiger Aussagesatz sei als Beispiel gewählt, etwa „die Tanne ist groß“. Wir finden darin ein zugrunde� liegendes Bestimmbares, ein hypokeímenon, worüber die Aussage ergeht, nämlich die Tanne. Und wir haben eine Bestimmung, der dieses Bestimmbare unterliegt, nämlich das „ist groß“. Über das Vorliegende „die Tanne“ ergeht die Bestimmung des Großseins. Die Frage liegt nahe, ob diese ti katá tinós�Struktur im Aussagesatz viel� leicht das Muster abgegeben hat für die Aufdeckung der gleichen Struktur im Werk als einem Erzeugnis der poíesis oder ob möglicherweise umgekehrt die Struktur der Bestimmung des Bestimmbaren bei der Interpretation des Aus� sagesatzes an der Struktur der Herstellung des Werks abgelesen war. Für die weiteren Überlegungen dürfen wir diese schwierige Problematik übersprin� gen, weil es im Folgenden nur um die Frage gehen soll, welche Bedeutung die gleichermaßen in der Herstellung von etwas und in der Sprache auffindbare Struktur ti katá tinós, Bestimmung des Bestimmbaren, für das philosophische Verständnis der Natur hat. Aristoteles bezieht seine oben erwähnte Unterscheidung von vier Ursache� weisen nicht nur auf das Werk, das durch menschliche poíesis hervorgebracht wird, sondern auch auf die Dinge der Natur, die „von selbst“ entstehen. Auch im Von�selbst�Entstehen lassen sich die vier Ursacheweisen unterschei� den. Die Tanne etwa hat einen Bauplan, die Gestalt des Tanneseins, als ihre Wesensursache, das Reifen der Tannenzapfen ist ihre Finalursache, und die Auslösung ihres Wachstums durch die Einnistung von Tannensamen in einem günstigen Fleck Erdreich bildet ihre Bewegungsursache. Diesem Ursachebün� del gegenüber liegt das Holz als die hýle, der Stoff, das Material, woraus die Tanne besteht. Betrachten wir kritisch die drei immateriellen Ursacheweisen der Tanne, die wir mit Aristoteles in Entsprechung zur téchne auf der Gegenseite des Ma� terials „Holz“ unterscheiden, so zeigt sich sogleich, dass diese Unterscheidung im wörtlichen Sinne etwas „Künstliches“ hat; sie ist eben an der menschlichen 8 PHAINOMENA XXVI/100�101 „Kunst“, nämlich der téchne, abgelesen; wir haben bei der Herstellung eines Werks ein Bewusstsein vom Ziel und Plan unseres Herstellungsprozesses und davon, dass wir mit unserem Tun das Geschehen dieses Prozesses auslösen. Aber das Wachstum der Tanne bietet uns von sich her keinen Anhalt für die Unterscheidung dieser drei immateriellen Ursacheweisen. Wenn wir mit einer gewissen Hilflosigkeit formulieren, die Naturdinge entstünden „von selbst“, so sprechen wir damit im Grunde nur das Verbot aus, bei ihnen die drei im� materiellen Ursacheweisen zu unterscheiden. Das hat schon Aristoteles beo� bachtet; deshalb sagt er, dass diese drei Ursacheweisen beim Naturding eigen� tlich zusammenfallen. Doch diese Beobachtung hindert ihn nicht, wenigstens an der Grundunter� scheidung zwischen dem Material auf der einen Seite und der immateriellen Ursächlichkeit auf der anderen Seite festzuhalten, was ein Beleg dafür ist, dass Tugendhat mit seiner Grundthese recht hat: Im aristotelischen Denken herr� scht durchgängig die Struktur ti katá tinós. Die Fundamentalunterscheidung zwischen Bestimmung und Bestimmbarem, die Differenz von ti und tinós in der Formel ti katá tinós soll auch für die Natur gelten. Weil es sowohl beim menschlichen Machen als auch beim Von�selbst�Entstehen in der Natur eine gemäß dieser Formel strukturierte Ursächlichkeit gibt, kann Aristoteles beides vergleichen und auf der Basis dieses Vergleichs unterscheiden. Dass wir bis heute den Unterschied zwischen Natur und Kunst bzw. Kultur machen, geht letztlich auf diese schicksalhafte Denkentscheidung des Aristoteles zurück. Durch diese Denkentscheidung ist es uns zur Selbstverständlichkeit ge� worden, die Unterscheidung von Material und Bestimmung des Materials von der menschlichen poíesis auf das Entstehen und Wachsen in der Natur zu übertragen. Warum erscheint es uns eigentlich gerechtfertigt, auch in den Naturdingen das Material und die immaterielle Ursächlichkeit zu unterschei� den? Wir finden es, ohne dass wir darüber nachdenken, deshalb fraglos selb� stverständlich, weil wir in unseren Aussagesätzen über die Dinge – auch über die Naturdinge – schon durch die Struktur solcher Sätze zwischen dem hy- pokeímenon, dem Zugrundeliegenden, und der darüber ergehenden Bestim� mung unterscheiden. In einem Aussagesatz kann vieles als das Zugrundeliegende, das unten Lieg� ende fungieren, worüber – katá – eine Bestimmung ausgesprochen wird. Gram� 9 KLAUS HELD matisch gesprochen kann vieles das „Subjekt“, das subiectum sein, das unter die Bestimmung „Geworfene“, das „Unterworfene“, also das ins Lateinische über� setzte hypokeímenon. Aber wir können mit Aristoteles danach fragen, welches das am tiefsten unten Liegende ist, also dasjenige subiectum, hypokeímenon, das als Basis bei allen höherstufigen Aussagen vorausgesetzt ist. Dieses hypokeí- menon ist ein einzelnes deiktisch gegebenes Ding, also etwa diese Tanne hier, auf die wir bei einem Waldspaziergang zeigen können und über die wir dann beispielsweise die Aussage machen können „diese Tanne ist groß“. Solche deik� tisch gegebenen Einzeldinge bezeichnet Aristoteles als erstrangige ousía, d.h. als etwas, das es in erster Linie verdient, mit dem Wörtchen „ist“ im Aussagesatz als etwas Seiendes angesprochen zu werden. Die so verstandene ousía ist die grundlegende Seins� und Aussageweise, die erste Kategorie, die Kategorie der Substanz, wie dann die Scholastik übersetzt; auch substantia, das „Darunterste� hen“, das „unten Stehende“, ist eine lateinische Spiegelung von hypokeímenon. Eine ousía, etwa diese Tanne hier, unterliegt einer Reihe von hinzutretenden kategorialen Bestimmungen; sie ist Träger solcher Bestimmungen, der Akziden� tien, wie dann die scholastische Tradition sagt, hier etwa des Akzidens aus der Kategorie der Quantität: des Großseins als Bestimmung der ousía „Tanne“. Ein Aussagesatz wie „diese Tanne ist groß“ ist so gebaut, dass es Aristoteles als zwingend erscheinen konnte, ihn hinsichtlich seiner Struktur so wie gerade skizziert zu verstehen. Aber ist es wirklich zwingend? Ein Indiz dafür, dass man daran zweifeln kann, ist schon die Tatsache, dass Platon, der Lehrer des Aristoteles, zumindest in seiner mittleren Periode einen solchen Satz anders gelesen hat. Ein deiktisch gegebenes Ding wie diese Tanne hier ist nicht etwa als Substanz Träger von Eigenschaften wie Großsein, sondern sie nimmt daran teil. Was in erster Linie verdient, „seiend“ genannt zu werden, ist nicht das aufgezeigte einzelne Ding, sondern eine von Platon als idéa oder eîdos bezeich� nete Bestimmtheit wie etwa das Großsein. Das einzelne Ding verdankt sein Sein dem Umstand, dass es zu solchen Ideen�Bestimmtheiten im Verhältnis der Teilhabe, der méthexis, steht. Mit diesem Gedanken bewegt sich Platon noch in der Nachfolge der früh� griechischen Philosophen. Die Berichte über die Lehren von Denkern wie Anaximander oder Heraklit und die von ihren Schriften erhaltenen Frag� mente lassen erkennen, dass die Welt für sie keine Ansammlung von Dingen 10 PHAINOMENA XXVI/100�101 als Substanzen mit akzidentellen Bestimmungen war, sondern ein Ganzes von Bestimmtheiten wie Wärme oder Helligkeit, zu deren Erscheinen es gehört, mit der Zeit in ihr Gegenteil überzugehen.2 In der so verstandenen Welt ist das einzelne Ding jeweils ein Ort, an dem sich eine Reihe von solchen zuständli� chen Bestimmtheiten versammelt.3 Noch für Platons sogenannte Ideenlehre bildet diese Weltauffassung den Hintergrund, und erst Aristoteles vollzieht den radikalen Bruch mit dieser Tradition. Die sogenannten Vorsokratiker sind bei Licht betrachtet Voraristoteliker. Man könnte einwenden, dass Aristoteles mit der Ding�Auffassung seiner Vorgänger brach, weil diese Auffassung sich sachlich nicht halten ließ. Ist es ernsthaft denkbar, dass die Dinge uns Menschen nicht als substantielle Akzidenzenträger, sondern vielmehr als Orte erscheinen, an denen sich zuständliche Bestimmtheiten versammeln? Es ist in der Tat denkbar, weil die ti katá tinós�Struktur, die sich am Aussagesatz beobachten lässt, zwar diese Art von Sätzen in indoeuropäischen Sprachen wie dem Altgriechischen des Aris� toteles charakterisiert, aber nicht in allen Sprachen für die Aussagesätze gelten muss. Ein kurzer Blick in die japanische Sprache liefert uns dafür einen Beleg, dem nach dem Eindruck des Verfassers philosophisch bisher noch zu wenig Beachtung geschenkt wurde. Stellen wir uns die markante Darstellung eines Himmels mit einer weißen Wolke auf einem klassischen japanischen Holzschnitt vor und formulieren eine einfache Aussage über das, was wir da sehen: „die Wolke am Himmel ist weiß“. Auf Japanisch würde dieser Satz lauten: Sora no kumo wa shiroi desu oder auch nur sora no kumo wa shiroi. „Sora no kumo“ ist „die Wolke am Himmel“, wörtlich: „vom Himmel, sora, die Wolke, kumo“. „Shiroi“ bedeutet „weiß“, und das „desu“ am Ende des Satzes entspricht unserem „ist“; es hat aber eigentlich eine andere, schwächere Funktion als unsere indoeuropäische Copula „ist“ und kann deshalb auch wegfallen. In der Zusammenstellung zu einem Satz klingt die Wörterreihe „sora no kumo wa shiroi desu“ bei ober� 2 Näheres hierzu beim Vf.: Phänomenologie der natürlichen Lebenswelt, Peter Lang, Frankfurt a.M./Berlin/Bern 2012 („New Studies in Phenomenology – Neue Studien zur Phänomenologie“ Bd. 9). 3 Vgl. v. Vf. „Vom Ansichsein der Dinge“, in: Kraft der Dinge: Phänomenologische Skiz- zen, hg. v. I. Därmann, Wilhelm Fink, München 2014. 11 KLAUS HELD flächlichem Hinhören so, als sei der japanische Satz so gebaut wie unser der indoeuropäischen Sprachfamilie angehöriger deutscher Satz „die Wolke am Himmel ist weiß“. Aber schon der westliche Anfänger im Japanischkurs lernt, dass das nur so scheint; denn auf die Wortgruppe „sora no kumo“, „Wolke am Himmel“, folgt die Silbe „wa“, die soviel bedeutet wie „betreffend“. Die Wolke am Himmel ist ein Betreff, englisch ausgedrückt: ein concern der Aussage, und das heißt: das Wort „die Wolke“ fungiert nicht als hypokeí- menon, lateinisch: substratum oder subiectum des Satzes. Was der Aussagesatz sagt, wird nicht adäquat wiedergegeben, wenn wir ihn gemäß der Substanz� Akzidens�Struktur mit „die Wolke am Himmel ist weiß“ übersetzen. Mit dies� er Übersetzung tun wir so, als drücke der japanische Satz aus, dass die Wolke als Subjekt, als hypokeímenon der Bestimmung des Weißseins unterliegt. Doch bei genauer Wiedergabe ist das, was hier auf Japanisch gesagt wird, etwas an� deres, das wir so umschreiben können: „die Wolke am Himmel betreffend fin� det Weiß statt“. Das Tragende in diesem Satz ist nicht die Wolke am Himmel als substantielles tinós in der indoeuropäischen Aussagestruktur „ti katá tinós“, sondern das Stattfinden einer zuständlichen Bestimmtheit, in diesem Falle der Farbe Weiß. Demgemäß ist die Wolke kein substantieller Träger von zuständlichen Bestimmtheiten, sondern ein Ort für ihr Erscheinen. Wir stoßen hier augen� scheinlich auf eine Parallele zum voraristotelischen griechischen Denken. Aber man könnte das Bedenken haben, dass wir mit diesem Brückenschlag zwischen frühgriechischer und japanischer Weltauffassung die Bedeutung der harmlosen kleinen Silbe wa im japanischen Aussagesatz überschätzen. Dem Verfasser sind durchaus japanische Kollegen begegnet, die es für erlaubt oder sogar geboten hielten, eine solche japanische Aussage trotz des wa nach dem Muster der indoeuropäischen Sprachstruktur „ti katá tinós“ zu lesen. Dazu neigten vor allem diejenigen, die an der programmatischen Vorstellung der Aufklärung festhielten, dass alle Sprachen dieser Welt eine universelle Gram� matik gemeinsam haben, die es aufzudecken gelte. Aber eigentlich sollte uns schon ein unbefangener Umgang mit der Rolle der Silbe wa, zu der es im Japa� nischen sogar noch Varianten gibt, veranlassen, diese Leitvorstellung aufzuge� ben. Es sei aber ein weiterer Beleg angeführt, der uns mit Blick auf die japanis� che Lebenswelt abermals zeigen kann, dass eine Auffassung der Dinge möglich 12 PHAINOMENA XXVI/100�101 ist, die sich nicht an der Struktur ti katá tinós orientiert und uns dadurch er� möglicht, in ein Naturverständnis zurückzufragen, das noch nicht durch die Unterscheidung von Natur und Kultur oder Kunst bestimmt ist. Wie oben gesagt,, gehört zur Interpretation der Dinge gemäß der ti katá tinós�Struktur die Unterscheidung von zwei Seiten des menschlichen Her� vorbringens von etwas: auf der einen Seite das Material, die hýle als das Bestimmbare, das den Bestimmungen unterliegt, auf der anderen Seite, der Seite der téchne, die Bestimmungen, die über das Bestimmbare ergehen. Die letzten Überlegungen sollten der Beantwortung der Frage dienen, ob wir dem Naturding gerecht werden, wenn wir auf sein Sein die am Herstellen eines Werks abgelesene ti katá tinós�Struktur übertragen; es zeigte sich, dass wir damit die Geltung der Struktur des indoeuropäischen Aussagesatzes, an der sich Aristoteles in seiner Kategorienschrift orientiert hatte, zu Unrecht uni� versalisieren. Wir können aber eine noch radikalere Frage stellen, die sich rein auf das Herstellen eines Werks bezieht. Bisher wurde davon ausgegangen, dass dieses menschliche Tun die Struktur der Bestimmung des Bestimmbaren ha� ben muss. Aber ist das eigentlich so sonnenklar? Um in dieser Frage weiterzukommen, können wir davon ausgehen, dass es sich bei der Herstellung von etwas um eine Art von Arbeit handelt. Wenn wir Dinge zu Herstellungszwecken „bearbeiten“, wie wir charakteristischer� weise sagen, erscheint uns das als ein Tun, mit dem wir genau die kategori� ale Struktur „Bestimmung des Bestimmbaren“ in die Praxis des Alltags um� setzen; denn etwas bearbeiten heißt: dieses Etwas als vor� und bereitliegendes Bestimmbares unserem Bestimmen unterziehen. Wir stellen etwas mit Hilfe unserer téchne her, indem wir von uns aus an den Eigenschaften von Din� gen eine qualitative Veränderung herbeiführen, griechisch gesprochen: eine metabolé, einen Eigenschaftswechsel, d.h. eine Veränderung der Dinge im Bereich der Akzidenskategorie der Qualität, der Beschaffenheit. Eine solche Veränderung eines Dings ist deshalb möglich, weil dabei etwas Beharrendes als das Tragende der wechselnden Eigenschaften bestehen bleibt, nämlich die ousía, die Substanz als hypokeímenon, als das bleibend Zugrundeliegende der akzidentellen Eigenschaften. Auf diese Weise verstehen wir die Arbeit der poíesis als ein Tun, das der Struktur „Bestimmung des Bestimmbaren“ entspricht. Das herstellende Bear� 13 KLAUS HELD beiten bezieht sich auf eine ousía als das Bestimmbare, an dessen zeitweili� gen eigenschaftlichen Bestimmungen wir uns zu schaffen machen, indem wir bereits vorliegendes Seiendes als Material benutzen. Dieses Verständnis der Arbeit gemäß der Struktur „Bestimmung des Bestimmbaren“ hat nun aber eine für die europäische Tradition gravierende Folge. Die Arbeit muss dann mit begrifflichen Mitteln beschrieben werden, die sich aus den von Aristo� teles ans Licht gehobenen kategorialen Unterscheidungen ergeben, und eine dieser Grundunterscheidungen ist die von Tun und Leiden. Das ist die Un� terscheidung, die wir aus der Grammatik unserer indoeuropäischen Sprachen als den Unterschied von Aktiv und Passiv beim Verb kennen. Das Passiv ist die Leideform, d.h. die Form, die zeigt, dass dasjenige, worüber die Aussage gemacht wird, etwas erleidet. Leiden ist hier also im Sinne solchen Erleidens zu verstehen, d.h. des Überkommenwerdens von etwas, was dem Gegenstand der Aussage, dem Satzsubjekt widerfährt. Der grammatische Unterschied von Aktiv und Passiv konnte nur entdeckt werden, weil Aristoteles Tun und Leiden schon als zwei Kategorien des Akzidens eingeführt hatte. Er musste sie – im Unterschied zur späteren Auffassung von Kant – zu den Kategorien zählen, weil sie zu den Grundweisen des Seins gehören, die im indoeuropäischen Aus� sagesatz, an dem sich Aristoteles orientiert, zur Sprache gebracht werden. Die Kategorie des Leidens kann man nur im Zusammenhang mit der des Tuns verstehen; Tun und Leiden sind so komplementär wie Berg und Tal. Ent� sprechend dieser Komplementarität gibt es bei der Art von Geschehen, die Aristoteles als metabolé, als Eigenschaftsveränderung, bezeichnet, jedesmal ein Tuendes und ein Leidendes. Wenn ein Stein sich erwärmt, also an ihm die metabolé von Kälte in Wärme stattfindet, muss es ein Tuendes geben, beispiels� weise die Sonne, die den Stein erwärmt. Welches von den beiden beteiligten Seienden – in diesem Beispiel Stein und Sonne – das Leidende ist, kann man daran erkennen, dass es dasjenige ist, was sich durch die metabolé verändert. Am Tuenden, sofern es Tuendes ist, kann man die Veränderung nicht bemerk� en. Bei unserem Beispiel findet die Erwärmung, um die es geht, nicht an der Sonne, sondern am Stein statt. Er ist also das Erleidende. Das Erleiden muss nicht bedeuten, dass das Erleidende leidet, d.h. Schmerz oder Not erfährt. Der Stein ist nicht lebendig und leidet nicht, wenn ihm das Warmwerden widerfährt. Sobald aber dasjenige Seiende, das von einem 14 PHAINOMENA XXVI/100�101 Widerfahrnis betroffen ist, ein Lebewesen ist, kann sich das ändern. Deshalb ist es kein Zufall, dass im Deutschen ebenso wie in anderen indoeuropäischen Sprachen, etwa dem Altgriechischen, das Wort „erleiden“, mit dem zunächst nur das Passivische des Widerfahrnisses gemeint ist, auch das als notvoll und schmerzhaft erfahrene „Leiden“ bezeichnen kann. Dies wiederum ist von Be� deutung für die Arbeit des Bearbeitens von etwas. Bearbeiten heißt: etwas tun, nämlich am Gegenstand der Bearbeitung eine metabolé herbeiführen. Das, was durch die Bearbeitung verändert wird, das Ding, unterliegt als Träger der Eigenschaften, die sich durch die Bearbei� tung ändern, der Bearbeitung und ist so von Hause aus das Erleidende; das Tuende ist der Mensch. Nun muss der Mensch bei der Bearbeitung aber Mühe aufwenden, und diese Mühe entsteht dadurch, dass sein Tun durch Wider� stände in dem, was er bearbeitet, behindert wird. Durch die Mühe, die für die Überwindung der Widerstände aufgewendet werden muss, kehrt sich das Verhältnis zwischen Tun und Leiden beim Bearbeitungsprozess um. Die Be� hinderung geht vom Bearbeiteten aus, und das bedeutet: sie ist ein Tun von� seiten des Bearbeiteten, des Dings. Da zum Tun ein korrespondierendes Erlei� den gehört, wird durch die Behinderung derjenige, dem sie widerfährt, zum Erleidenden, also der arbeitende Mensch. Als Lebewesen spürt der Mensch, dass ihm durch den Widerstand der Dinge ein Erleiden widerfährt. So wird das passivische Erleiden für ihn zum schmerzhaft empfundenen Leiden, und die kategorial interpretierte Arbeit erscheint als Leiden. Dass das Mühevolle der Arbeit im Horizont der Struktur ti katá tinós als Lei� den aufgefasst wird, hat sich auch im europäischen Vokabular niedergeschla� gen. Das deutsche Wort Arbeit bedeutet von seiner sprachlichen Herkunft her soviel wie Not und Beschwernis. Das gleiche gilt für die Entsprechungen in an� deren europäischen Sprachen, etwa das lateinische labor, worauf das englische labour zurückgeht, oder das französische Wort travail, das ursprünglich mit der spätlateinischen Bezeichnung für ein Folterinstrument zusammenhängt. Charakteristischerweise gehört im biblischen Mythos zur Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies die Bestrafung mit der Arbeit. Das schöne und gute Leben bestand für das alte Europa im Freisein von Arbeit, im „süßen Nichtstun“, dolce farniente, – in Süditalien, woher dieser Ausdruck stammt, bis ins vergangene Jahrhundert, vielleicht sogar bis in unsere Zeit hinein. Man 15 KLAUS HELD darf sagen: Die Mühe der Arbeit wird in der vorherrschenden Tradition un� serer Kultur fast ausschließlich mit Schmerz und Leid verbunden. Es wäre ein eigene Aufgabe, zu klären, wie es vor dem geschichtlichen Hintergrund dieser negativen Bewertung möglich wurde, dass in unserer modernen Gesellschaft der Kampf für die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit eine geradezu beherr� schende Rolle spielt. Die notvolle Mühe der Arbeit begegnete dem europäischen Menschen in der alltäglichen lebensweltlichen Erfahrung in zwei Grundsituationen. Die er� ste Situation ergibt sich daraus, dass wir durch die Notwendigkeit, unser Le� ben zu erhalten, vor bestimmte regelmäßig wiederkehrende Aufgaben gestellt werden. Wir müssen beispielsweise jeden Tag für unsere Nahrung sorgen. Das bedingt, dass wir bestimmte periodisch sich wiederholende Tätigkeiten ver� richten müssen, etwa das Bestellen und Abernten der Felder, auf denen unsere Grundnahrungsmittel oder die Rohstoffe dafür wachsen. Das Urbeispiel für den hier erforderlichen Typ von Arbeit ist die Tätigkeit des Bauern. Der andere Typ von Arbeit ergibt sich aus einer zweiten Grundsituation. Das ist die Notwendigkeit, vorgegebenes Seiende zu Dingen umzugestalten, die uns auf irgendeine Weise für die Lebenserhaltung dienlich sind, Kleider, Behausungen, Essgefäße, Werkzeuge usw. Menschheitsgeschichtliche Ur� beispiele hierfür sind die Tätigkeiten des Webers, des Maurers, des Schmieds, des Töpfers usw., also die handwerklichen Tätigkeiten, bei denen ein érgon, ein Werk hergestellt wird. Der Typ von Arbeit, um den es hier geht, ist die Mühe des Bearbeitens, die erforderlich ist, wenn eine poíesis, die Herstellung eines érgon, stattfinden soll. Der Unterschied zwischen den beiden Typen von Arbeit4 besteht darin, dass man bei dem zweiten Typ ein Ende der Mühe absehen kann. Nach der Vollen� dung des Werks hört der Bearbeitungsprozess auf. Beim ersten Typ von Arbeit hat die Mühe prinzipiell niemals ein Ende. Man kann zwar auch den bestellten Acker als ein Werk bezeichnen. Aber sein Untergang ist gleichsam schon in der Bearbeitung programmiert. Der Acker wird dafür bestellt, dass er Frucht 4 Den Horizont für solche Unterscheidungen hat Hannah Arendt mit ihrer bahnbre� chenden Untersuchung Vita activa oder Vom tätigen Leben, Piper, München, Zürich 2002 (englisch: The human condition, Chicago 1998) eröffnet. 16 PHAINOMENA XXVI/100�101 s l tersc ei ge hat Hannah Arendt mit ihrer bahnbrec tragen kann. Aber eben dieses Fruchttragen bedingt, dass der Acker im näch� sten Jahr neu bestellt werden muss. Die Arbeit ist bei diesen, dem Grundtyp nach bäuerlichen Verrichtungen in einen Kreislauf immer wiederkehrender Notwendigkeiten eingespannt. Diese periodisch sich wiederholende Arbeit ist der Typ von Tätigkeit, den die alten Griechen als die eigentlich sklavische an� gesehen haben, weil das Leiden an ihrer Unbeendbarkeit eigentlich nur den Sklaven zugemutet werden kann. Die handwerkliche Arbeit, die das Herstel� len eines Werks begleitet, kann in die Freude am fertigen Werk einmünden. Deshalb haben die Griechen diese Arbeit ein wenig höher eingeschätzt, aber auch der Handwerker ist doch dem „Tagewerk“ ausgeliefert, das sich immer und immer wiederholt. Das eigentlich Qualvolle an aller Arbeit ist für die Eu� ropäer der Tradition die Fesselung an die Notwendigkeit dessen, was immer wiederkehrt. Diese Notwendigkeit verhindert oder behindert die Freiheit, in der der Mensch seine Würde erblicken kann. Von daher hatte für die Griechen alle Arbeit etwas Verächtliches, dem der freie Mann so weit wie möglich zu entgehen suchte. Die große Ausnahme in der Einschätzung der Arbeit bei den griechis� chen Klassikern war Hesiod, neben Homer der Urdichter Europas, mit seinem Lehrgedicht „Werke und Tage“, Érga kai hemérai. Hesiod befasst sich hier in einer für die griechische Kultur ungewöhnlichen Ausführlichkeit mit der Landarbeit, also gerade der Art von Arbeit, die am stärksten durch die Notwendigkeit ihrer unaufhörlichen Wiederholung gekennzeichnet ist, und mahnt die Menschen, den Verpflichtungen dieser Arbeit mit Regelmäßigkeit und Treue nachzukommen. Die Perspektive, dass die Freiheit darin bestehen könnte, sich von solcher Arbeit zu befreien, liegt Hesiod noch fern. Etwas von seiner Einschätzung der Arbeit ist ein halbes Jahrtausend später noch einmal lebendig geworden im Gedicht des römischen Dichters Vergil über den Land� bau, den Georgica. Hesiod hat sein Lehrgedicht vermutlich an der Wende vom 7. zum 6. vorchristlichen Jahrhunderts verfasst, also etwa ein Jahrhundert, bevor mit Thales und Anaximander in Milet das frühgriechische Denken begann. Wie war es möglich, dass Hesiod so anders als die spätere Zeit über die Arbeit den� ken konnte? Wir dürfen vielleicht vermuten: Er konnte es, weil sich zu seiner Zeit schon der Geist der erwachenden frühgriechischen Philosophie vorbere� 17 KLAUS HELD itete, in deren voraristotelischer Dingauffassung die Gegenüberstellung von phýsis und téchne noch fehlt. In der Tat ist die phýsis das beherrschende The� ma der sogenannten „Vorsokratiker“, weshalb Aristoteles sie als physikoí oder physiológoi, als Physisdenker, bezeichnet; aber nirgendwo findet sich in den Fragmenten ihrer Schriften eine Konfrontation der phýsis mit der téchne.5 Das deutet darauf hin, dass der Sinn des menschlichen Lebens möglicherweise ger� ade darin erblickt wird, sich mit allen Tätigkeiten – auch mit der „sklavischen“ Arbeit – in das Grundgeschehen der phýsis einzufügen, nämlich das Erschein� en von zuständlichen Bestimmtheiten im Ding als seinem Ort. Hesiod und die frühgriechischen Denker eröffnen uns den Ausblick in eine denkbare Deutung des Bearbeitens von etwas, in der die Mühe der Arbeit und sogar der sogenannten sklavischen Arbeit nicht als ein Leiden erfahren wird. Wenn die Dinge Orte für das Erscheinen zuständlicher Bestimmtheiten sind, dann lässt sich das Bearbeiten der Dinge als ein Geschehen verstehen, wo� durch der Mensch das Geschehen dieses Erscheinens mitvollzieht. Und wenn die Bearbeitung der Dinge sich in diesem Sinne versteht, dann ist sie nicht von dem Bewusstsein begleitet, das Ursachesein des Menschen bei der Herstel� lung von etwas sei eine andere Art von Ursachesein neben der Selbstursächli� chkeit der Natur. Das bearbeitende Tun des Menschen behält gleichsam etwas Selbstloses. Die poíesis stellt sich nicht dem natürlichen Entstehen von etwas gegenüber, sie macht dem Von�Selbst�Entstehen keine Konkurrenz, wie es un� vermeidlich ist, wenn die téchne als eine andere Art von Ursächlichkeit von der Selbstursächlichkeit der phýsis unterschieden wird. Und die Kategorien Tun und Leiden passen nicht mehr, weil das Bearbeiten nicht als eine Bestim� mung von Bestimmbarem aufgefasst wird. Dafür, dass es eine solche Auffas� sung von der Arbeit auch heute noch geben kann, kann nun wiederum Japan einen Beleg liefern. Nach dem Eindruck des Verfassers deutet alles, was man in zuverlässigen Quellen über das Verhältnis zur Arbeit bei den Menschen in Ostasien oder jedenfalls in Japan lesen kann, darauf hin, dass die Arbeit dort zumindest ur� 5 Für die hier vorausgesetzte Interpretation des frühgriechischen Denkens vgl. v. Vf.: Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft. Eine phänome- nologische Besinnung, De Gruyter, Berlin 1980. 18 PHAINOMENA XXVI/100�101 sprünglich anders erfahren und aufgefasst wurde und vielleicht noch wird. Der im Westen übliche Hinweis auf die sogenannte andere „Arbeitsmoral“ in Ostasien liefert dafür aber nur eine nichtssagende Erklärung. Einen wirklich aufschlussreichen Hintergrund bildet vielmehr abermals die japanische Sprache. Weil ihre Aussagesätze nicht nach der ti-katá-tinós�Struktur gebaut sind, gibt es auch den Unterschied von Aktiv und Passiv nicht. Die Sprache macht den Menschen in dem von ihr geprägten Kulturraum von vornherein nicht das Angebot einer Interpretationsmöglichkeit, dergemäß das Mühevolle der Bearbeitung gemäß dem kategorialen Wechselspiel von Tun und Leiden als Leiden erscheint. Natürlich kann das nicht bedeuten, dass die Arbeit nicht auch in Ostasien mühevoll wäre; etwas zu bearbeiten ist auf der ganzen Welt mühsam. Entscheidend ist, wie diese Mühsal aufgefasst wird, d.h. welches der Sinnhorizont ist, in den sie alltäglich, vor aller philosophischen Reflexion hi� neingestellt wird. Den Eindruck eines anderen Grundverhältnisses zur Arbeit des Bearbe� itens hat der Verfasser bei seinen Japan�Aufenthalten vor allem in den berüh� mten Gärten des Landes gewonnen. Um diese oft bezaubernd schönen An� lagen zu verstehen, muss man sich als erstes vor Augen halten, dass das in den Sommermonaten sehr intensiv feucht�heiße Monsun� bzw. Taifunklima in Süd� und Ostasien das Wachstum der Pflanzen in diesen Gegenden unver� gleichlich stärker fördert als in unserem Klima. Beim Besuch in einem japa� nischen Garten kann man fast immer Menschen beobachten, die mit seiner hingebungsvoll genauen Pflege beschäftigt sind. Jedes Detail, vom kleinsten Fleck Moos angefangen, ist in einem extremen Maße das Resultat eines ewigen Kampfes gegen das im Taifunklima unablässig im Garten wiederkehrende Un� kraut.6 Das bedeutet, dass dieser Kampf eine unendlich sich wiederholende Mühe ist, also unzweifelhaft gerade dem Typ von Arbeit angehört, welcher der europäischen Tradition als extrem leidvoll und damit sklavisch erschien. So steckt in der außerordentlichen Gepflegtheit dieser Gärten eine Arbeit, die aus europäischer Sicht in besonderem Maße als ein Leiden erscheinen muss. 6 Dass diese Beobachtung philosophische Bedeutung hat, wurde entdeckt von Tetsurō Watsuji: Fūdo – Wind und Erde. Der Zusammenhang zwischen Klima und Kultur, übers. v. D. Fischer�Barnicol u. O. Ryogi, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darm� stadt 1992. 19 KLAUS HELD Umso erstaunlicher ist es für den westlichen Besucher, dass im Erscheinungsbild dieser Gärten nichts von der darin investierten menschlichen Mühsal spürbar wird. Im Gegenteil: die Gärten sehen so aus, als verdankte sich ihre ganze Gestalt dem mühelosen Von�selbst�Erscheinen – japanisch shizen – der Natur. Genau auf diesen Eindruck wird in den Gärten mit nie erlahmender Sorgfalt hingear� beitet, und das zeigt, dass die Mühe der Arbeit nicht in Erscheinung treten soll, weil sie sich gerade in ihrer endlosen Wiederholung einfügt in das Erscheinen von zuständlichen Bestimmtheiten in den Dingen – hier den Pflanzen� und Stein�Arrangements – als ihren Orten. Weil die Arrangements in diesem Horizont als Zeichen der Mühelosigkeit der Natur erfahren werden, kann jede gelungene Komposition von Pflanzen und Steinen in den Gärten das Entzücken der japanischen Besucher hervor� rufen. Aber das Entzücken beruht nicht auf der imaginären Vorstellung, die menschliche téchne und poíesis hätte an der Gestaltwerdung der Arrangements keinen Anteil; das wäre eine europäische, aus dem Geiste des aristotelischen Naturbegriffs, d.h. der Gegenüberstellung zur Kunst gedachte Gedankenkon� struktion. Die extreme Künstlichkeit der japanischen Gärten ist kein Gegen� satz zu ihrer Natürlichkeit, weil die Mühe der Bearbeitung nicht im Horizont der Struktur ti katá tinós erfahren wird, die den kategorialen Unterschied von Tun und Leiden impliziert. 20 PHAINOMENA XXVI/100�101