H^3lm«N«ements-Preise rü^.HieIihrli6) »» ? — 8 — 9 50 Vierteljährlich Z 5« 4 , 25 5 — ß — Für Frankatur der Mappen müssen wir unsern auswänigf,, Hrn. Abonnenten nach dem cidg, Posttarif für den crsten und zweiten Vriefkreis (1 — 10 Etunbeli) bis zu einem Gewichte von 3 Pfund 15 Cent., für den dritten BriefkreiS 30 Hem. berechnen. -^ Mappen über 3 Pfund schwer zahlen die gewöhnliche Tare. Dm Portobetrag erlauben wir uns mit der lehttn Sendung sines jeweiligen Abonnements nachzunehmen. Petersburg in V i ld e r n und Skizzen von I. G. K o h l. „Ich hab'0 ober nicht au« den Flngcrn gesogen. Zweite vermehrte und verbesserte Auflage. Zweiter Theil. Dresden und Leipzig, ln der Nrnolblschen Buchhandlung. ,346. Inhaltsverzeichnis. Seite Die Sammlungen.......1 — 38 Bibliothekswesen. —' bandkartenfabrik. >— Mongolischer Götzendienst. — Die sibirischen Mam» muths. — Alte russische Münzen. ^ Mi« neralische Reichthümer. — Gold« und Silberkarawanen. — Sibirien, das gelobte Land. — Die Berg-Ingenieure. Die Krankenhäuser.......39 — 54 Sterbe- und Geburtslisten. — Hundertjährige Greise. — Krankheiten. -^ Milbe Stiftungen der Großen. — Das Abuchow'sche und Marien-Hospital. — Die Taubstummen. Das Irrenhaus........55 — 71 Russisches Temperament. »"- Die beiben wahnB finnigen Priester. —>- Di« Kaiserbraut. — IV ' InlMsverzeichniß. Seite. Der junge Cadet. — Die finnischen, russischen und deutschen Irren. — Vorfall. Das Findelhaus.......72 — 90 Statistisches. — Entbinbungszimmer. — Em< pfangsbureau.—Tauft. — Kindergewimmel.— Erziehung, — Mahlzeit von 800 jungen Mäd, chen. — Kirchhof der Kleinen. Die Börse..........91 — 118 Tempel des Mcrcur. — Petersburger Kauf« Mannschaft. — Deutsche, Russen, Engländer. — Grdße der Handelscapitalien. — Specula» tionsweise der russischen Kaufleute. — Handels« branchcn. — Geschüftsgeflüster. — Mauth und Zblle. — Papageienmarkt. Die Theeläden........119—131 Tschin, Tschai, Schtschi. — Die Theegüttin. —. Theehandel. — Rußland und China. — Chinesische Waaren. — Chinesische Lebensbilder. Industrie .........132 — 176 Ausländische Künstlerkoloniecn. — Alte ächt-russische Fabrikate. — Die Fabriken der großen russischen Gutsbesitzer. — Fabrikdörfer. — Die kaiftrlichen Fabriken. -— Gobelins. — Spiegel« fabrik. — Glaswaaren für den Orient. — Kluger Einfall.— Papierfabrikation und Papierverbrauch. — Ebclsteinschleiferei. — Malachit- Inhaltsonzeichniß. V Seite vastn. — Etablissements des Engländers Baird. — Die größte Dampfmaschine im Norden. — Tuchappretur. — Das englische Magazin. — Mdbelmagazine. — Wein-, Porter- und Vier» teller. — Buchhändler und Literatur. Tafel und Küche.......177 — 217 Nationalküchen. — Schtschi. — Delicate Fischsuppe. — Mischmaschgerichte und Pur<>es. — Pasteten und Gebäcke. — Die beliebten Pastelas. — Russische SwectmeetS. — Kwas! Kwasl — Der Meth und das Wässerchen. — Rastoilen und Nalifken. — Diners. — Pädagogisches........218 — 258 Gouvernanten. — Erzieher. — Lehrer. — S bul, anstaltcn. — Deutsche Ansicht. — Privalinsti-tute. — Großes pädagogisches Institut. — Professoreninstitut. — Technologische Sckule. — Die jungen Edeldamen des Smolnoi-Klosters. Die Dienerschaft.......259 — 293 Die Hofeslrute. — Der Dentschuk. — Ein völlig montirtts Haus. — Der Haushofmeister. — Die Kammerdiener und Lakaien. — Die Kocke und Kutscher. — Die Kammerzofen. — Die Ammen. — Die russisch.« Figaros. Die Butterwoche.......294 — 337 Die Katscheli. — Die Gulanien. — Das brennende Theater. — Der grohe Maskenball. VI Inhaltsverzeichniß. Seite Die großen Fasten......338 — 363 Concerte. — Gesellige Stille. — Der Palmenmarkt. '— Die Ostereier. — Die drci letzten Tage der Charwoche. Das Osterfest........364 — 404 Die Osternacht. — Die Osterküsse. — Die Eis« Verkäufer. — Das Eier- und Kuchenschlagen. — Dcr Erinnerungsmontag. Die Deutschen........405 — 436 Deutsche Sloboden. — Statistisches. — Deut« sche im russischen Staatsdienste. — Deutsche Kaufleute, Künstler, Handwerker. — Deutsche " Lehrer und Gelehrte. — Deutsche Ackerbauer und Arbeiter. Die Sammlungen. „Nun ist es Zeit. die Schätze zu entfesseln, ,,Die Schlösser tress' ich mit des Herolds Ruthe, „W thut sich auf! Schaut her!" Obgleich Petersburg nicht eben von den gebildetsten Völkern Europas als Metropole verehrt wirb, und ihm daher artistische und literarischs Schatze nicht so reichlich zuströmten als vielen anderen Capitalen, so haben doch seine Kaiser und Magnaten ihr Möglichstes gethan, nicht nur das eigene Terrain der heimischen Geschichte und Natur auszubeuten, sondern auch aus anderen Landern für ästhetische Betrachtung und gelehrte Forschung interessante Gegenstände herbeizuziehen und die Stadt mit Sammlungen aller Art zu schmücken, und in der That darf man weniger über die Dürftigkeit manches Zweiges sich wundern, als man über den Reichthum, der verhält-nißmaßig in so kurzer Zeit bereits hier aufgehäuft wurde, erstaunen muß. Petersburg steht auf einem nicht viel Kohl, Petersburg. II. 1 2 Die Sammlungen. historischeren Boden als die von Europäern in Amerika gegründeten Städte, nnd doch müssen nicht nur diese sämmtlich, sondern auch manche andere alte europäisch? Hauptstädte die Segel streichen vor den Bücher-, Gemälde-, Naturalien- und Antiqmtätenschätzen, welche die Newastadt in der kurzen Zeit ihres Bestehens ansammelte. . Für viele Zweige des Wissens, für slavische Geschichte, für mongolisches Leben, für Chinesenthum, für taurische Antiquitäten, für den Kaukasus, den Ural und den fabelhaften Altai, für die Natur und Volker d^'s Nordens stehen die Petersburger Sammlungen, wie natürlich und billig, Dank den glorreichen Siegen der russischen Tlrmeeen, einzig da, und es ist zu bewundern, daß die Gelehrten des Occidents nicht häusiger hierher pilgern, um die Quellen des Orients an der Newa zu siudiren. Aber selbst von solchen Gegenständen, für deren Beziehung der We-stm bequemer ist, giebt es hier bereits merkwürdige Sammlungen, die hier im hohen Norden, so fern vom Orte ihrer Entstehung anzuschauen und zu gmicßen, ein doppeltes Vergnügen gewährt. Unter den Vüchersammlungen ist die große kaiser» liche Bibliothek die bedeutendste. Sie enthalt wahr-scheinlich — denn da noch eine Menge ihrer Schätze in Kisten verpackt liegt, so ist die Sache nicht auszumachen, — nahe an eme halbe Million Bände, die theils durch Ankaufe Peter's des Großen, Katharinens und Alexander's, theils durch Anschließung polnischer Bibliotheken, welä^e aus Warschau, Wilna u. s. w. hierher entführt wurden, zusammenkamen. D"s Gebäude der Bibliothek, ein gro. Die Sammlungen. A ßes, prächtiges Haus, stößt mit der einen Seite an die Perspective, und gern würde man, «us dem prosaischen und lärmenden Gewühle jener großen Straße sich ret> tend, sich oft den stillen Räumen dieses Musentempels zu» wenden, wenn nicht die angstlichen und wenig großherzigen Grundsätze bei Verabfolgung der Bücher und der Mangel an einer vollständigen Aufstellung und guten Ordnung, sowie daher auch der eines guten Katalogs, den Gebrauch so sehr erschwerten. Die große Vesorgniß we« gen möglichen und allerdings auch oft stattfindenden Diebstahls hat zu jener Aengstlichkeit, so wie das schnelle Anwachsen der Bibliothek zu dieser Unordnung Anlaß gegeben. Schon daß man einen ganzen Cordon von Polizei-soldaten, den hiesigen Vibliotheksdienern, zu passiren hat, welche die Eintretenden ihrer Mäntel, Ueberröcke, Stöcke, Galoschen u. s. w. berauben und die Hinausgehenden nach scharfer Visitation wieder damit bekleiden, ist Manchem so ärgerlich, daß er nicht wieder kommt. Der Verkehr mit den Bibliotheken ist so zarter Natur wie der Verkehr, Handel und Wandel jeder anderen Art; solche scheinbar unwesentliche Genen hemmen ihn oft eben so bedew tend, wie die Zölle und andere Unbequemlichkeiten den Handel. Bei dem ersten Besuche kann man nichts thun, als sich in Begleitung eines Unteroffiziers, der Einem kindliche und einfältige Wunderdinge von den literarischen Schätzen erzählt, die verschiedenen Säle und die Einbände der Bücher ansehen. Ein Buch zum Lesen in der Bibliothek selbst kann man durchaus nicht sogleich bekommen. Man muß dieses Buch erst in ein großes Register ein- 1' 4 Die Sammlungen. schreiben, und kann cs, wenn es nämlich vorhanden, nicht ausgeliehen und auch zu finden ist, erst am folgenden Bibliothekstage erhalten. Aber auch an solchen zum Lesen bestimmten Tagen klopft man oft genug vergebens an, weil sie eins der zahllosen Feste der russischen Kirche ausfallen ließ. Der Vorsichtsmaßregeln bei'm Verabfolgen eines Buchs zum Nachhausenehmen sind noch mehr, und somit wird denn das Resultat erlangt, daß die so stark verantwortlichen Bibliothekare ziemlich ruhig schlafen und am Ende des Jahres ihren Oberen nachweisen können, daß kein Buch gestohlen und abhanden gekommen ist, gleichsam als wenn Bibliotheken nur Aufbewahrungsansialten für Bücher waren und nicht vielmehr den Zweck hatten, sie so viel als möglich unter die Leute zu bringen. Apollo, ohne Zweifel ein geistreicher Mann, würde sicherlich jede Bibliothek als unnütz cassiren, die bei jährlicher Rechnungsablage ihm nicht nachweisen könnte, daß ihr einige hundert Bücher abhanden gekommen oder abgängig geworden waren. Vor Veruntreuung sich völlig zu schützen, ist nicht möglich, und da sollte man sich lieber von den Unredlichen einige Bücher stehlen lassen, um den redlichen Musenfreunden zu dienen, die gewiß die Mehrzahl ausmachen; aber so verfahrt man wie der Geizhals, der aus Angst vor Noth das Geld im Sacke Zusammenhalt und dabei wirklich Noth leidet. Zudem behauptet das Publi-cum, daß nicht einmal der nächste Zweck erreicht werde, nämlich das Zusammenhalten der Bücher. Nur die kleinen Schlupflöcher werden verstopft, es soll aber eine Menge großer geheimer Oeffnungen geben, durch welche Die Sammlungen. 5 die Bücher trotz aller Vorsichtsmaßregeln gegen das lesende Publicum auf anderen Wegen zu einzelnen Speculanten hinausgehen. Es ereignet sich zuweilen, baß man wochenlang nach einem Buche vergebens lauft. Das cine Mal hat man die Eintragung deS Buches übersehen, und man muß es noch ein Mal einschreiben, dann heißt es, man habe es nicht finden können oder der Bibliothekar für die Abtheilung, zu welcher das Buch gehöre, sei nicht zur Hand gewesen. Zuweilen ist man selbst an cincm Vibliotheks-tage zu kommen verhindert, und dann hat man seine Ansprüche an das gewünschte Buch verloren, da cs mittlerweile wieder vom Tische verschwand, und muß sich an einem vierten oder fünften Tage hinbegeben, um es wieder einzutragen, und gelangt endlich an einem sechsten oder siebenten dazu, es lesen zu können. Die Säle der Bibliothek sind übrigens ganz prachtvoll, licht, hoch, 50 Ellen breit und 100 Ellen lang, der Boden ist parquettirt und immer blank gescheuert, die Tische sind reinlich und ohne einen einzigen Tintenklecks, weil die Tinte in den Glasern im Winter festfriert und im Sommer vertrocknet, die Wendeltreppen zu der oberen Galerie sind «legant und hübsch, die Leitern für die höhe» ren Büchergestelle zweckmäßig und ingeniös eingerichtet. „Celte salle est süperbe, inagnisique!u fngte ein $xem* ber, ben bn S3ib(totliefac l)ctitmfüf>rtc. „Oui," sagte bte* fee, „eile est dix piedü plus haulc et duuze pieds plus large, que la plus grande ^aWc de la bibliolheque de Vienne, et ä Paris on a" - id) sonnte bag @nbe bief«6 6 Die Sammlungen. interessanten literarischen Gespräches nicht hören, da die Sprechenden um die Ecke bogen. Doch sind in diesem Style viele hier geführte Ccnuersationen; man kommt, lobt die Grösie der Zimmer, die äußere Ordnung der Bücherreihen, läßt die Füße auf dem glatten Parquette hinrutfchen, beschaut sich die Einbande, die eigenhändigen Briefe der französischen Könige in rothem Saffian mit Gold, die hübschen seidenen und silberdllrchwirkten Umschläge der persischen und türkischen Manuscripts beäugelt die wunderlichen Züge der mit Runen bemalten alterthümlichen Papierrollen, sieht sich den in einem apparten Kästchen aufbewahrten Pantoffel Pius' Vll. und das auf unglaublich kleinen Naum geschriebene russische Alphabet an und empfiehlt sich, nachdem man noch die Ueberschriften: „lli-lilioUloell Aulusvilm«,^ „ Libliulllec» vombronüciunu" u. s. w. gelesen hat. Was die letzteren polnischen Namen betrifft, so sind die literarischen Schatze der Vüchersammllmgen der Zalusti, der Dombrowski u. s. w. noch keinesweges mit der ganzen Sammlung verschmolzen, sondern bestehen gesondert in eigenen Zimmern für sich, und dieß allein schon zeigt hinlänglich, wie weit die Bibliothek noch dauon entfernt ist, ein einziges wohlorganisirtes, leicht zu überschauendes und gut gegliedertes Ganze zu bilden. Von dem Transporte und der Verpackung dieser polnischen Bibliotheken erzählt man sich in Petersburg Sachen, welche an die Verpackung der griechischen Statuen durch den Römer Mummius erinnern, z. V. daß die Soldaten, welche mit dcr Em-ballirung beauftragt waren, wcnn sie ein Vuch für einen Di« Sammlungen. 7 Kasten zu dick fanden, dasselbe mit ihren Säbeln in mehre Stücke hieben und das eine Stück dieser, das andere jener Kiste beifügten. Es sollen in den Vorrathszimmern der Bibliothek noch sehr viele Bücher in den Kisten wohlverpackt und sicher (?) — aufgestapelt liegen. Nicht nur polnische Trophäen, sondern auch armenische, perfische und türkische, tief aus dem Orient auf den Spitzen russischer Vayonnete herbeigetragene Schriften schmücken diese Bibliothek. Es ist ein eigener Saal blos den orientalischen Schriften gewidmet; man sieht sie hier in Schranken aufgestellt, welche von den Tischlern mit allerlei Siegeszeichen und passenden Emblemen geschmückt sind, z. V. mit griechisch-russischen Kreuzen, die auf mohammedanische Halbmonde gestellt sind u. s. w. Die Aufschriften der Schranke zeigen „Manuscript« von Aderbitschan, von Erzerum, von Vajazet, von Erivan, im Feldzuge von 1329 erobert." Dieses clepuljilum munu-«oi-ipiarum enthält auch eine merkwürdige Sammlung von eigenhändigen Briefen französischer Könige, 70 bis 80 große dicke Bände, darunter allein 6 Bande mit Briefen von Heinrich IV., andere von Heinrich III., viele Handschriften von Philipp II., von Katharina von Medicis, eben so von vielen dänischen Königen, von deutschen Kaisern und Reichsfürsten, mit denen die Bibliothek zur Zeit Katharinens II. bereichert wurde. Daß aber trotz aller dieser Hemmnisse und Unbequemlichkeiten die Bibliothek doch noch von manchem steißigen Schatzgräber besucht wird, versteht sich von selbst, und man sieht nicht nur einzelne Deutsche, Russen und 8 Die Sammlungen. Franzosen, sondern auch sogar gelehrte Perser und Bucharen hier erscheinen, die sich mit der Ausbeutung dieser literarischen Schatze beschäftigen. Aber bei liberaleren Institutionen würde das Leben und Honigsammeln auf ihr ein ganz anderes sein; es kann, so wie es jetzt ist, nur unbedeutend erscheinen im Vergleich zu den 500,000 Banden, die hier aufgestapelt sind, und zu den 500,000 Ne-sidenzstädtern, die sie umwohnen, und im Vergleich zu dem Landerkreise von 100 Meilen im Radius nach Osten, Süden und Norden, innerhalb dessen sie die vornehmste ist. Wenn man den russischen statistischen Angaben Glauben schenken darf, so werden jährlich 400,000 Bande aus dem Auslande in Nußland eingeführt, und eben so viele gehen aus den inländischen Pressen hervor. Diese 800,000 Bände zerstreuen sich nun freilich über den ganzen ungeheueren Umfang des Neichs hin bis nach China und Amerika, aber verhältnißmäßig häuft sich doch entschieden die größte Quantität davon in Petersburg an. Man kann daraus abnehmen, wie manche Million von Büchern bereits in den Bibliotheken der Stadt aufgehäuft ist. Alle öffentlichen Anstalten, die Akademieen, die Universität, die Generalität, die Admiralität, die Hospitäler, die Schulen, die Cadettencorps u. s. w., haben auch in der That bereits ihre nicht unbedeutenden Bibliotheken, und wenn alle diese Bibliotheken mit eben solchem Eifer und eben solcher Liberalität geöffnet und benutzt würden, als sie ohne ängstliche Kostenberechnung angeschafft werden, so wäre hier nicht schlecht für die Gelehrten gesorgt. Nach der großen kaiserlichen Bibliothek ist die wich- Die Sammlungen. 9 tigste die des General stab es. Dieselbe ist nustempels nur geöffnet zur Zeit eines Krieges; da Rußland aber fast immcr Krieg hat, so stehen die Ia-nusthürcn des einen oder anderen Schrankes immer offen. Zu den interessantesten Abtheilungen der Generalstabs-bibliothek gehören die Archive, das sogenannte,,große Archiv" und das „geheime Archiv." Das „große Archiv" ist ein mächtiger Saal, der auf eine merkwürdige Weife gegen Feuersgefahr geschützt ist. Die Mauern nämlich, die ihn umschließen, sind ungemein dick, die Thüren von Eisen, und die Lichtöffnungen, die sich oben befinden, mit eisernen Gittern bedeckt, so daß rund umher Alles abbrennen kann, ohne daß das Innere leide; auch alle Fächer, in denen die Schriften stehen, sind von Eisen. Ein eiserner Schneckengang führt rund an den Wänden des Saales herum, sich fünf- oder sechsfach spiralförmig um seinen Mitt.el-punct windend und allmälig von der unteren kreisförmigen Arena zu dem Plafond aufsteigend. Es enthält dieses Archiv die ganze Geschichte der russischen Armee seit den letzten 40 Jahren bis in's geringste Detail, so daß die Geburt, das Leben, die Carriere, der Tod nicht nur jedes Oft 12 Di< Sammlungen. fiziers, sondern auch jedes einzelnen Soldaten darin verzeichnet ist. Die Schriften sind nach Jahrgängen, Armeecorps, Regimentern u. s. w. abgetheilt. So wie hier die Geschichte der Armee, so ist die Geschichte der Menschheit nur noch im Himmel niedergeschrieben, wo auch von dem Aufknospen, der Entfaltung und dem Verwelken jedes einzelnen Blattes des großen Baumes Rechenschaft gegeben werden kann. Das „geheime Archiv" mit lauter verriegelten und verschlossenen Schranken ist ein kleines Kabinet, wo dcm Fremden nur die Ueberschriften der Bücher gegönnt werden. Es sind die raren Berichte der russischen Feldmar-schalle an den Kriegsminister und Kaiser aus allen Kriegen, die Rußland seit Peter dem Großen führte. Einem Historiler wassert der Mund dabei, wenn er liest: „Krieg am kaspischen Meere gegm Persien im Jahre 1701 — 1793." — „Rapporte Vermolow's übcr die Kriege im Kaukasus und in Armenien." — „Geheime Rapporte des Feldmarschalls Soltikow und des Gencralfeldmarschalls Diebitsch über den türkischen und polnischen Krieg." — „Briefe Potemkin's an Katharina die Große." — Welche Raritäten! welche Delicatessen! Nur einige Eingeweihte, Schweigsame und Vertraute arbeiten in diesem Kabinett. Man glaubt, unter der Oberfläche des Schauplatzes der Begebenheiten zu sein, in dem Schlupfwinkel der Gnomen, die mit dem Ursprünge der Quellen der Geschichtsforschung beschäftigt sind. Nur selten knarren die Thüren dieser Schranke um ihre Angeln, wenn es im Kriegs-ministerium nöthig gchmden wird, einmal ein altes Bach Die Sammlungen. 13 nachzuschlagen, um die ehemals bei irgend einem Vorgange gefaßten Beschlüsse nachzusehen. Der Generalstab enthalt übrigens nicht nur das größte Depot von Karten und Planen, sondern auch die größte russische Kartenfabrik selbst, und man hat hier Gelegenheit genug, zu sehen, wie erstaunlich thätig Rußland in Erkennung seiner selbst ist. In einer langen Suite von Zimmern sind fortwahrend viele hundert Offiziere , Ingenieure und Maler mit der Anfertigung von Karten verschiedener Theile des großen Reiches beschäftigt. Vollkommen trigonometrisch bestimmt ist allerdings erst der kleinste Theil des Landes. Die genaue Triangulirung geht ungefähr von Lappland aus bis zum Parallelkreise von Moskau und von Deutschland bis zum Meridian von Kostroma. Alle anderen Provinzen außerhalb dieser Linien sind nur mit Hilfe weniger astronomischer Bestimmungen aufgenommen. Die letzten Karten, welche aus dem Generalstabe hervorgegangen sind, übertreffen an Genauigkeit schon bedeutend die ersten Leistungen, und die, an denen jetzt gearbeitet wird, werden wieber das Vorige übertreffen. Allmonatlich geht aus dieser Anstalt auch eine sehr interessante Karte über die Stellungen und Cantonnir-ungen der verschiedenen Abtheilungen der russischen Armee hervor, die jedesmal dem Kaiser vorgelegt wird. Es sind alle verschiedenen Armeecorps darauf mit verschiedenen Farben bezeichnet, so daß die ganze militärische Lage des Reichs deutlich mit einem Blicke darauf überschaut werden kann. Wir sahen mehre dieser Karten, auf denen wir mit Schrecken die vielen bunten Farben 14 Die Sammlungen. bemerkten, welche die polnischen, pomischen, finnischen und kaukasischen Provinzen füllten- Auch die Bibliotheken der Universität und der Akademie sollen viel Vortreffliches enthalten, doch war es uns nicht vergönnt, sie zu besuchen. Sie befanden sich bei unserer Anwesenheit gerade in dem Zustande, in welchem sich in der Negel die meisten russischen Anstalten befinden/in dem Zustande der Umstellung und Unordnung. Von den dem größeren Publicum geöffneten Privat - Bibliotheken ist das sogenannte Rumantzow'sche Museum die größte, in einem prächtigen Gebäude am englischen Quai. Sie enthalt eine Menge von Büchern aus allen Feldern der Literatur und des menschlichen Wissens, Classisches und Neues, Griechisches, Römisches, Deutsches und Französisches, Geschichtliches, Naturhistorisches und Belletristisches. Wie unbedeutend aber das hier niedergelegte Capital sich verzinst, sah ich bei meinen wiederholten Besuchen, bei denen ich gewöhnlich die einzige Person war, welche da saß. Der Bibliothekswachter sagte mir, es gäbe ganze Tage, wo Niemand käme. Aus dem Frcmdenbuche ergab sich, daß im Verlaufe der erstm Hälfte des Monats April nur 6 Fremde dagewesen waren. In der Mitte der Zimmersuite steht die marmorne Statue des SadunaiSky — (Rumantzow's triumphatorischer Beiname) — in dem Costume eines römischen Consuls, mit der kurzen, aber pompösen Inschrift: „Nun ^olum m-mis." — Das Mit der Bibliothek verbundene Mineralienkabinet darf neben solchen Schätzen, wie das Berg ca betten corps sie enthält, nicht genannt werden. Tie Sammlungen. 15 Die interessanteste Vüchersammlung für mongolische, chinesische und thibetanische Literatur besitzt der Baron Schilling, der auch bei uns als Kenner jener Literaturen bekannt ist *). Er hat einige Zeit unter den Vuraten und anderen dem Lamaismus anhangenden Mongolenstam-men an der chinesischen Gränze gewohnt und nichts versäumt, an Ort und Stelle Handschriften und andere für das Leben dieser Volker interessante Gegenstande zu sammeln. Seine Bibliothek enthalt ein Exemplar des heiligen Buches der Lamaitcn, des berühmten Gondschur. Es umfaßt diese lamaitische Bibel 10U0 heilige Schriften, 108 Bände und 400,000 Blätter. Es ist dasselbe so rar, daß z. V. die Kalmückenhorde, welche unter russischem Scepter nomadisirt, kein Exemplar besitzt und dem Baron für das seinige schon 10,000 Rubel Silber hat bieten lassen, wofür er es ihnen aber nicht überlassen wollte. Wie sehr könnte ein reicher Mann diese armen Leute beglücken, wenn er ihnen jenes von ihnen uerchrte Buch, nach dem sie von ihren Steppen aus so sehnsüchtig Hinblicken, kaufen und aus Petersburg zuschicken wollte. Er würde dadurch ein ebenso gottgefälliges Werk thun, als wenn er eine christliche Kirche baute. — Aber an die armen Heiden denkt kein Christ, da doch auch für sie das Wort deS Heilandes gilt: „Wer einen der Geringsten von diesen in meinem Namen labet, dem wird der Vater es ver> gelten, und es ist so gut, alS hattet ihr es mir gethan." *) Derselbe ist lcider vor fünf Jahren in Wicn gestorben. Seine reiche Sammlung ist von d«r Petersburger Akademie an, gekauft worden. 16 Die Sammlungen. Die Matter, aufweiche der Gondschur geschrieben ist, bestehen aus feinem chinesischen Pcipier, sind 2 Fuß lang, 4Zoll breit, liegen alle lose je zu 400 zusammen, und die Schrift ist schön und äußerst proper. Jedes Päckchen wird oben und unten von einem hölzernen Deckel geschützt, der mit schönem Schnitzwerke geziert und mit Vcocat und Stickereien überzogen ist. Das ganze Packet ist dann in dicke schwere Seidenstoffe von der bei den Lammten heiligen gelben Farbe gewickelt, und die 108 so emballirten Packele liegen neben einander und gewahren so den Anblick einer mongolischen Bibliothek, bei deren Betrachtung die den Varon besuchenden Mongolen in tiefe Andacht versinken. Wie das mosaische Gesetz seinen Talmud hat, so hat der Gondschur seinen „Dandschur," einen unermeßlichen Commentar zu allen seinen heiligen Sprüchen und Aussprüchen. Der Varon Schilling besitzt nur einen vollständigen Index des ganzen Dandschur und einen Theil des Werks selbst. In Europa existitt nur noch in Paris ein Exemplar des Gondschur, doch ist es von einer anderen Edition; denn es existiren unter den Lamaiten> vielerlei verschiedene Ausgaben ihrer heiligen Schriften. Man muß erstaunen über das Alterthum der Cultur und Gelehrsamkeit bei den Völkern mongolischer Nace. So findet man in dieser Sammlung nicht nur astronomische Werke aus Thibet und China, die schon vor Christi Geburt erschienen sind und alle zwölf Zeichen des Thierkreises darstellen, sondern sogar japanesische Werke über Numismatik, in denen viele schon damals rare, von Liebhabern gesuchte und, wie die Vorrede d^'s Werks besagt, theuer Die Sammlungen. 17 bezahlte Münzen abgebildet sind. Als unsere Vorfahren noch nicht einmal das ABC kannten, hatten die Japanesen sich schon überstudirt und war bei ihnen der Hang zur Wissenschaftlichkeit mit allen seinen kleinen absonderlichen literarischen Launen und Lüsternheiten vollkommen ausgebildet. Wie viele Familien konnten bei ihnen nicht zur Zeit der Sündsiuth schon in Wahrheit zu Noah rufen, was bei uns nur von einer erzahlt wird: „Monsieur, ««UVL2 1v3 äocumen8 äe« X. V. X." — Eine eigene kleine Abtheilung der Bibliothek des Barons ist sogar der Literatur der Koresen gewidmet, die wieder eine ganz andere Schriftsprache haben als die Japanesen und Chinesen. — Die Bibliothek französischer, deutscher und englischer Bücher über China und die Mongolei füllt allein vier große Schranke. Für alle die Güte, welche die mongolischen Lamai-ten in China für ihn gehabt haben, hat sich der Baron auf eine glänzende Weise bei ihnen revanchirt. Er hat ihnen nämlich ihr berühmtes Vaterunser: „Oin mnni du<1 müulwm," in nicht weniger als 250,000,000 Abdrücken zugeschickt. Auf einem großen Vogen hat er jene Redensart nämlich 50(10 Mal abdrucken lassen, und von solchen Abdrücken oder Bogen hat er ihnen 50,000 Eremplare geschenkt. Den Buraten, Kalkas u. s. w. ist ungemein viel damit gedient, weil sie ungcheuer viel von diesen Gebeten verbrauchen. Sie haben nämlich, weil sie, wie die Katholiken bei ihrem Rosenkranze und wie die Griechen und Russen bei ihrem zwölf Mal in einem Athemzuge wiederholten „lio^iocii pomilm," zu dem Aberglauben 1ö Die Sammlungen. gekommen sind, daß der liebe Gott nicht die Innigkeit, sondern die Menge der Gebete ansehe, folgende merkwür^ digs Erfindung gemacht. Sie wickeln einen Streifen Papier, aus welchem jenes Gebet unzählige Male abgeschrieben ist, um einen Stift, der sich in einer höchst zierlich gearbeiten Dose um sich selbst dreht. Durch eine kleine mechanische Vorrichtung kann der Stift mit dem Papiere 500 Mal in einer Minute umgedreht werden, und so oft er sich dreht, steigen die Tausende von Gebeten, die auf ihm geschrieben sind, zum Himmel, und es ist so gut, als wenn 5)00,000 Zungen in dieser Minute einmal gebetet hatten. Der Baron hatte mehre von diesen kleinen Gebetmaschinen. Die Lamaiten, wenn sie »nüssig sind, haben sie, mit einander converssrend, a«f dem Schooße und lassen den kleinen Ommanibadmachom - Kreisel sich bestandig drehen. — Man kann sich darnach vorstellen, welche ungeheuere Masse von Herzensergießungm und Andachtsübungen durch jene 250,000,000 Gebete des Varons mittels der Druckerpreffe den Vuraten möglich wurde. An diese interessante Bibliothek schließt sich auch eine reiche Sammlung von anderen mongolischen, burätischen, tangutischen und chinesischen Alterthümern und Merkwürdigkeiten. Man sieht hier einen Originalstadtplan von Ieddo, der Hauptstadt Japans, einen anderen von Peking, der 10 Fuß lang und 6 Fuß breit ist, eine vollständige japanische und eine chinesische Apotheke mit den vornehmsten bei diesen Völkern angewandten Arzneimitteln, Toilettenkastchen chinesischer Schönen mit den Schuhen, Handschuhen, Hals- Die Sammlungen. 19 Finger- und Ohrgcschmeiden, wie sie bei ihnen gebraucht werden, bis in die geringsten Details, sogar bis zu den Nabeln und Zwirnsfaden herab, alsdann Teppiche, Zeuche, Möbeln, Leuchter, Laternen in großer Fülle und Alles von so schöner Qualität, daß man die vortheilhafteste Vorstellung von der Industrie dieser Völker erlangt.' Die Sammlung lamaitischer Altäre und Götzenbilder ist so groß, daß die Kalmücken und lamaitischen Sibiriaken, die den Baron zuweilen besuchen, in sein Kabinet mit so großer Ehrfurcht wie in einen Tempel treten und mit Begrüßungen, Knkdeugungen und ehrerbietigen Berührungen und Küssen bei den vielen heiligen Gegenstanden kein Ende zu machen wissen. Weil mehre der Götzenbilder ganz so wie in ihren Tempeln aufgestellt sind, so bringen sie ihnen auch Opfergaben und Geschenke dar, und es scheinen dieselben also in ihren Augen durch die Gefangenschaft, in welcher sie unsere europaischen Musen hier halten, nichts an Macht und Ansehen verloren zu haben. In einem eigenen kleinen Kastchen, welches der Baron ausgestellt hatte, fanden wir sogar viele Münzen als Opfergaben deponirt, obgleich hier die Priester fehlten, welche im Namen der Gottheit von ihnen hätten Gebrauch machen können. Unter den Gegenständen der Verehrung der Lamaiten fällt besonders eine gewisse Art kleiner weißer Kugeln von einem unbekannten Stoffe auf, die da glauben machen könnten, daß die lamaitischen Priester eine Art von Cultushomöopathie eingeführt hatten; denn sie sind nicht viel größer als die Kügelchen der homöopathischen Apotheken. Die Priester pflegen dlesel- 20 Die Sammlungen. ben an ihre Anhanger zu verschenken, welche sie sehr hoch halten. Unter diesen Kugeln war eine besonders eingewickelt und mit einer langen thibetanischen Schrift begleitet, welche attestirte, daß sie durch das ununterbrochene vierzehntagige Fasten und Beten eines frommen Priesters aus NichtS hervorgebracht worden sei. Eine winzig kleine Kugel und doch ein großes Wunder und ein handgreiflicher Beweis von der mächtigen Kraft des Gebets, das aus dem Nichts durch Nichts etwas Greif- und Sichtbares hervorbringen könne. Solche durch Gebet hervorgebrachte Kugeln sind natürlich unter den Lamaiten höchst selten. Von einigen, die unter gewissen Bedingungen und Umstanden erzeugt wurden, glauben sie, indem sie ihnen eine gewisse geheimnißvolle Persönlichkeit und Wesenheit zuschreiben, baß sie sich, obgleich unorganisirte Substanzen, durch sich selbst vermehren können. Die Enkel und Enkelinnen solcher Kugeln genießen eine noch größere Verehrung als die Stammaltern selbst. Es scheint in der That, daß die asiatischen Priester, obgleich in demselben Sinne, wie unsere europäischen, doch noch mit viel größerem Raffinement und viel lebhafterer Phantasie die verschiedenen Zweige des Gottesdienstes ausgearbeitet und cultivirt haben. Auch von dem Ziegelthee, der im Leben der mongolischen Völker eine so große Rolle spielt, sieht man in dieser Sammlung einen nicht unbedeutenden Vorrath. Die Mongolen sind an seinen Genuß so sehr gewöhnt, daß sie mit ihm allein zufrieden sind- und Braten und Pastete stehen lassen. Dieser Thee ist so stark nährend, Die Sammlungen, 21 baß ein Reiter, wenn er einen einzigen solchen Ziegel in seinen Sack packte, für eine Woche damit verproviantirt ist. Der Baron hat ein eigenes Memoire über diesen Thee, seine Bereitung, seinen Nutzen, scine Verbreitung u. s. w. geschrieben. Auch der Baron Schilling war der Meinung, baß die Mongolen sehr helle Denker und namentlich starke Philosophen seien, wie jener Deutsche, Namens Jährig, der 16 Jahre unter ihnen lebte und zu ihnen zurückkehrte, weil unsere deutsche Denkungsweise ihm nicht mehr gefallen wollte und weil er, wie Storch berichtet, glaubte, daß die Mongolen eine viel bessere und gesündere Philosophie hatten als wir, die wir in dieser Hinsicht bei ihnen in die Schule gehen könnten. Die Sammlungen chinesischer und mongolischer Bücher und Antiquitäten sind in Petersburg, das seit seinem Bestehen mit Peking in Verkehr getreten ist und schon 1730 eine bedeutende chinesische Bibliothek acquirirte, jetzt so bedeutend, wie vielleicht in keiner zweiten Stadt Europas. Man findet noch mehre ähnliche Kabinete wie das genannte im Besitze von Privatpersonen. Viele Reiche haben sogar, wie wir wohl ein gothisches und altfränkisches Kabinet, in der Suite ihrer Zimmer auch chinesische Salons, mit chinesischen Vasen, Teppichen, Möbeln und Malereien geschmückt. Eins der seltensten ist z. B. im Hause deS Fürsten Dondukoff-Korsakoff, des Curators der Petersburger Universität. Ob die Pekinger wohl hier und da auch ein Petersburger Ameublement als Curiositat sich anschaffen? Mit den naturhistorifchen Sammlungen Pe- 22 Die Sammllmgm. tersburgs, namentlich mit denen der Akademie, der Eremitage und des Bergcadettencorps, verbinden sich, seitdem Peter der Große dem Apotheker Sebe in Amsterdam das erste Kabinet dieser Art zur Begründung seiner Naturalienkammer abkaufte, nun schon so viele berühmte Sammlernamen, der eines Nuisch, eines Muschenbrock, eines Müller, Gmelin, Steller, Dahlberg, Henkel, es haben bereits so viele gelehrte Manner alle Gegenden des Erdballs durchstreift und ihren naturhistorischen Tribut diesen Kabi« netm gezollt, so viel Sammlersseiß und leidenschaftliche Liebhaberei haben bereits cm ihrer Vermehrung gearbeitet und dabei haben die großen Landergebiete des russischen Reichs, wo schon seit Peter's des Großen Zeit im Auftrage der Regierung aufmerksame Augen über alle interessante Entdeckungen und neue Aufsindungen wachen, und wo sehr viele Hände nicht nur mit Durchforschung jedeS in Besitz genommenen Gebirges, sondern auch mit Untersuchung iedes eroberten Grabhügels beschäftigt sind, so viele Merkwürdigkeiten geliefert, daß diese Sammlungen sich nicht nur denen anderer Hauptstädte an die Seite stellen können, sondern auch einen ganz eigenthümlichen Werth in Anspruch nehmen mögen. Die Sammlungen der Akademie der Wissenschaften nehmen darunter entschieden den ersten Platz ein, da sie nicht nur die verschiedensten Gebiete umfassen, sondern auch die reichste Beute besitzen. Die Aufstellung der Schatze in den großen lichten Sälen des Gebäudes der Akademie, so wie -sie jetzt seit 1836 unter der Leitung des berühmten Naturforschers und Akademikers von Vehr Tie Sammlungcn. 23 bewirkt wurde, ist so zweckmäßig und schön, daß in dieser Hinsicht nichts zu wünschen übrig bleibt. Und gewiß ist doch, wenn auch für den Forscher die Zweckmäßigkeit der Anordnung hinreichen mag, für das größere Publicum auch die Schönheit und Genauigkeit etwas sehr Wesentliches. In vielen unserer engen Kabinett sind die Naturwunder wegen Naumersparniß so dicht auf einander gepackt wie in Noah's Arche, daß dem Auge des Beschauers schwindelt und an Genuß und Betrachtung des Einzelnen kaum zu denken ist. In Petersburg hat AlleS so viel Naum und. steht so gemächlich da, daß man jedes Thier in allen Theilen seines Baues auffassen kann, und für manches, wie z. V. für das ungeheuere Mammuth, ist sogar «in eigenes Zimmer angewiesen. Die merkwürdigsten Säle sind entschieden die, welche die Niesenthiere der Urwelt enthalten.' Diese gewaltigen Geschöpfe muffen in den Urwäldern in so großen Schaa-ren gelebt haben, wie in unseren Kornfeldern jetzt die Mäuse oder Ratzen. .Denn es giebt in Sibirien Gegenden, wo ganze Thon- oder Lehmschichten der Art mit sogenannten Mammuthsknochen gemengt sind, daß die Einwohner Gruben darnach graben und eine Art von Bergbau auf Mammuthsknochen eröffnet haben, deren Verkauf einen nicht unbedeutenden Handelszweig ausmacht. Das große Mammuth, das in dem Eise der Lena vor mehren Jahren entdeckt wurde, und das, nachdem sich von seinem tausendjährigen, aber noch frischen Fleische die wilden Thiere eine Zeit lang regalitt 24 Die Sammlungen. und nachdem die benachbarten Menschen manchen Theil feines Knochengebaudes herausgebrochen und sich zu Nutze gemacht hatten, von den Gelehrten in Besitz genommen wurde, ist nun rcstamirt und, wie bereits erwähnt, in einem eigenen Zimmer dec akademischen Sammlung aufgestellt. Neben ihm steht das Skelett eines Elephanten, des Niesen unserer heutigen Thierwelt, der gegen jene antedilu-vianische Plumpheit nur zierlich und bescheiden aufzutreten scheint. — In einem anderen Saale liegen ganze Reihen mächtiger Hirnschädel des Megatherion, des Rie-senfaulthieres, des ungeheueren vorsündfluthlichen Büffel-ochsen und des Rhinoceros, lauter ^«merge odscui-ne für antediluvianische Lebens- und Gedankenbilder, deren Gc-Hirnmassen man mit Eimern messen tonnte. Schade, daß das Daguerrcotyp damals noch nicht erfunden war, sonst hätte sich vielleicht hier und da eins der merkwürdigen Lichtbilder, die durch diese Augenhöhlen eindrangen, auf den inneren Schadelwänden abgedrückt, jene trübe Sonne der Vorzeit, die sie schauten, jene riesigen Krauter und Gräser! Welche Waldhencn, welche Titanen-kämpfe, welche Revolutionen der klaffenden, feuer- und wafferspeienben Erdrinde würden wir sehen! Könnte man doch einigen dieser Thiercyklopen ihre Zunge wieder einsetzen und sie reden lassen von damaliger Zeit. Allein ihre Schädel liegen alle weißgebleicht und stumm da, wie die Köpfe von Plato und Sokrates, in den Nischen eines Antikenkabinets aufgestellt. Wehe aber den schönen Gebäuden der Petersburger Akademie, wenn die Gespenster dieser Riesen einmal ihre irdische Hülle hier wiederfinden Di« Sammlungen. 25 und anziehen sollten. Sie würden bald das ganze Gebäude niedergetreten und dem Erdboden gleich gemacht haben. Unter den Thieren aus unserer noch mit uns athmenden Zeitgenossenschaft machen sich als eigenthümliche russische Unterthanen bemerklich das wilde Dschiggetci, der pferdehaarige Vüffelochs Hochasiens, die verschiedenen schönen Gold-, Silber, Blau- und Eisfüchse Sibiriens und die anderen trefflichen Pelzchiere des Nordens, der mongolische Ielloo, ein langbärtiger Geier, der über den öden Gipfeln des Altai und dcr Vaikalgebirge schwebt, die Silber- und Purpurreiher der Steppen, die weißen Kraniche Sibiriens und dann die Herden der Amphitrite und des Proteus, ungestalte Kühe, Löwen, Schweine und Hunde der arktischen Meere. Auch die mineralogische Sammlung der Akademie ist reich an einer Menge von Prachtstücken. Doch wird sie hierin noch von der Sammlung des BergcadettencorpS Übertrossen. Die Münzsammlung enthält außer vielen tausend Münzen des europaischen Alterthums und der Neuzeit, wie man sie auch bei uns in allen Münzkabi-neten sieht, eine große Anzahl von Monumenten aus der Geschichte asiatischer Völker, wie man sie in solcher ManchfaltiMt und Menge nur hier sehen kann, namentlich russischer Münzen viele Tausende, von dem er» sten rohen „Rubel" (einem abgehackten Silberstück) in viereckiger Form an bis zu den fcingeprägten schönen Geldstücken, wie sie jetzt aus der russischen Münze hervorgehen, — alsdann kasanische, krim'sche, astrachanische und an-der^tatarische Münzgcpragc der Chane von der goldenen Kohl, Petersburg. II. 2 26 Die Sammlungen. Horde, oer Herrscher von Vochara, Samarkand und An-derabe, — 6)inesische, japanische und indische Münzen, und vor allen auch türkische und persische Geldstücke. Mit den 89 Millionen Rubeln, welche nach dem letzten Kriege mit Persien den Nüssen in Tebris zugewogen wurden, kamen viele seltene Schaustücke nach Petersburg, nicht mir Zechinen und Tomane von allen persischen Schachs, sondern auch sogar uralte goldene „Dareiken", von denen Feth Ali sich nur schwer trennen konnte, und wunderliche große Goldstücke von viereckiger Form mit uralten persischen Inschriften. — Man sieht in allen Petersburger Kabineten Proben von diesen goldenen Trophäen, bei deren schönem reinen Goldglanze der Russe in's Faustchen lacht, während mancher Perser dabei weint. Es giebt selbst unter den russischen Großen viel« Münz-liebhaber, die nicht nur alle die halsbrechenden Namen der hundert bosporanischcn Könige und ihre Physiognomieen, sondern auch das Gepräge der anderen Münzen der Welt kennen und schätzen. Es ist dieß eine sehr gefährlich« Liebhaberei bei solchen Leuten, deren Söhne und Brüder in Armeeen commandiren, welche mit ihren Vayonnetten, den bcsiten Dietrichen, so manches Schatzes Thüre aufzudrücken wisscn. Die Russen sind ein Volk der Ebene. In ihrem ganzen weiten ursprünglichen Vaterlands giebt es nichts, was den Namen Gebirge verdiente, und die russische Nation hatte vor ihren Siegen im sieben- und achtzehnten Jahrhundert, welche sie an den Ural, an den Fuß des Altai, deS Kaukasus und des Balkan führten, keinen Ae- - Die Sammlungen. 27 griff von einem Berge. Jetzt haben sie bereits ihre Sa« balkanski und Sakawkaski') und durchsuchen eine große Menge von Gebirgen nach ihren metallischen Schätzen. Es ist daher eine eigene Schule für Bergleute nöthig geworden, an die Peter der Große noch nicht dachte. Cs ist dieselbe in einem prächtigen Locale auf Wassili-Ostrow etablirt und heißt auf Russisch kurzweg das Bsrg-corps (60nwi i^rpuft). Da die Einrichtung dieser Schule ganz militärisch ist (ein General steht ihr vor, militärische Ordnung und Uniform herrscht bei allen Schülern) und da der Vergdienst ein eben solcher Dienst ist wie der Marinebienst, Landttuppendienst u. s. w., das heißt zu Nang und Titeln und, wenn man es richtig anzufangen weiß, auch zu Reichthümern führt, so geben viele vornehme Familien ihre Kinder in diese Schule. Das Aeusiere derselben ist daher höchst elegant, die überall waltende Ordnung vor trefflich und Ameublement, Zimmer, Bedienung u. s. w. ausgezeichnet gut. Deutsche sind auch hier wie überall, und hier bei'm Bergbaue natürlich vorzugsweise, die Lehrer! Wie großartig das ganze Institut angelegt ifh sieht man schon aus dem Umstände, daß ein eigenes Bergwerk zum Behufe des Unterrichts ii, dem sumpfigen Boden der Newainsel angelegt wurde, in welchem alle die verschiedenen Arten von Stollen, Schachtbauten, Wasserleitungen u. s. w. und sogar durch allerlei künstliche *) Balkan- und Kaukasus-Ucbersteiger. Gott gebe, daß wir nicht auch noch einmal von Sakarpatski und Sasu-detski hören mdgen! 2* 28 Dic Sammlungen. Zusammensetzungen verschiedener Steine, mitunter aber auch durch bloßes Anstrichen der Schachtwande, das verschiedenartige Vorkommen der Gebirgsarten deutlich gemacht worden ist. — Die kleinen Cadetten gehen in Verg-mannskleidung und mit Fackeln hinein und spielen die Bergleute. Wenn die Nufsen diese Idee verfolgen, so werden sie wohl am Ende auch noä) für ihre historischen Schulen Schlachten, Königswahlen, Revolutionen, Triumphzüge und andere historische Ereignisse von wirklichen Personen aufführen und in den Gärten und Gehöften der geographischen Schulen ein Afrika, Asien und Amerika lm Kleinen darstellen lassen, mit ausgestopften Figuren der dort lebenden Wilden und mit gemalten De-corationen der dortigen Pflanzen und Thiere. Das Beßte am Bergcorps ist entschieden die reiche mineralogische Sammlung. Wie ehemals in Cadir und Lissabon jahrlich die brasilianischen und mericanischen Silberfiotten einliefen, um die Schatze der allerch ristlichsten Könige zu mehren, so ziehen jetzt alle Winter die reichen Gold-, Silber-, Kupfer- und Platina-Schlittenkaravanen m Petersburg ein, um den ^orvng s«rum des großen Zaarenreichs nen zu elektrisiren. Die Metalle find in der Regel in kleine und große Fässer verpackt und wie alle anderen Waaren auf Schlitten geladen, und sie werden von gewöhnlichen russischen Iämschtschiks transportirt, unter Begleitung von Bergwerlsofsizieren. Nußland erzeugt jetzt 4 Mal mehr Gold als das ganze übrige Europa, und blos die jahrliche Ausbeute Die Sammlungen. 29 dieses Metalls (400 Pud oder 16,000 Pfund) giebt die Ladung von 40 bis 50 Schlitten. Das Silber bedarf zu seiner Transporrirung einer Karavane von 1-0 bis 150 Schlitten. Das Platina hat nur 3 bis 4 Schlitten nöthig, und das Kupfer, das ebenfalls meistentheils zu Lande geht, setzt 5000 Schlitten in Bewegung*). Das Meiste von diesen Metallen kommt nach Petersburg in die dortige Münze. Man kann sich demnach einen Begriff von der Größe der hier beständig anlangenden Metallkaravanen machen. Die Privatbergwerksbesitzer") schließen.ihre Pro- ') Es werden jetzt in Rußland durchschnittlich jährlich gewonnen : an Gold: 400 Pud -^- 16,000 Pfd. an Silber: 1200 - — 48,0U0 - an Platina: 108 - -^ 4300 - an Kupfer: 220,000 - -- «M0M» -an Eisen: 10,000,000 - -- 400,000,000 -an Blei: 43,000 - — I,7'A,,00<1 - an Salz: 30,000,000 -^-1200,000,000 -**) Unter den russischen Privatbesitzern von Bergwerken sind viele, welche königliche Einkünfte aus ihren Neigen beziehen. Die Iakowlews und Demibows sind dic vornchmstcn Bergwcrksbc-fitzer in ganz Rußland. Der Gavdccornct Iakowlcw gewinnt allein den siebenten Theil alles jährlich in Rußland gewonnenen Goldes, d. h. 5« Pud odcr 2300 Pfund, die ungcfähr 200,000 Ducaten werth sein mögen. Ticser Mann zahlt blos an Berg-abgaben für sein Gold eine halbe Million Rubel. ''": Fast alles Platina in Nußlanb wird auf den Gütern der Erben des Geheimcnraths -Omudow gewonnen, nämlich 101 Pud. Von ihren Bergwerken geben die Demidows an Abgaben «00,0W Rubel. Es gehören dazu unglfahr «U Quadratmeilc» Wald, d. h. ein halber Thmingcnvald. Auch der vicrte Theil allcs in 39 Die Sammlungen. ducte gewöhnlich an die der Regierung an, und mit dw fen Karavancn kommen dann nicht blos die reinen ausgeschmolzenen Metalle, sondern auch viele Erzstusen, Krystallisationen und unzählige andere sogenannte Kabinets-stücke, welche in den reichen Privatsammlungen, größtew theils aber in der des Vergcadettencorps niedergelegt werben, die daher nun, da ihr der ganze Ural, der Kaukasus, der Altai und Hunderte von Erzqcbirgslandschaftcn Tribut zollen, in der That zu den bedeutendsten Sammlungen gehört, welche die gebildete Welt besitzt. Rußland gewonnenen Kupfers kommt aus ihren Gruben, nämlich 59,000 Pud. Die Iakowlews, so wie sie die Goldmänner sind, sind auch ebenso bic vorzüglichsten Eiscnmänner. (is giebt drei Iakow lews, die zusammen 2,400,000 Pud Eisen gewinnen, d. h. unge-fähr so viel, als 17,000,000 Unterthanen dcs russischen Kai« fers davon jährlich nöthig haben. Jeder Mensch verbraucht in Rußland jährlich etwa 7 Pfund Eisen m seinem Haushalte. Der Moskauische Kaufmann Rastorgujew schließt sich an die Iakow-I«w5 an, denn er schmelzt in seinen Oeftn jährlich 700,000 Pud Eisen, d. h. ungefähr so vi^l als das ganze Königreich Spanien, welches jährlich ungefähr 170,000 Centner an's Tageslicht schafft. Auch die Demidows entwinden den lHmgcwcidcn der (iroe so viel Eisen, wie im übrigen Europa kaum manches Königreich zu Tage fdrdert. Die grdßtcn Salzsiedereien haben in Rußland bit Stroga-nows. Diese Familie gewinnt jährlich ungefähr 1,600,000 Pud Salz, d. h. 04,000,000 Pfund, womit drei Millionen Menschen versorgt werden können. Solche Pn'vatsalzsicdeieien, die so vi,l liefern, als einem Großherzogthume Weimar ober Mecklenburg genügen würbe, giebt es mehre. Doch kommen sie gegen die Vtro« ganow'schen nicht «„Betracht. Dle Sammlungen. 31 Das reizende Gold bezaubert mit seinem milden Scheine aller Menschen Augen, und auch llnsere erste Frage war daher die nach den schönen gelben Goldstufen. Es sind ihrer bereits sehr viele angesammelt, lauter schimmernde delicate Brocken, so lauter und rein, als waren sie aus der Sonnenscheibe gebrochen. Sie liegen jetzt alle in einer Reihe eiserner Kasten verschlossen, — durch die früheren hölzernen haben doch mehre von ihnen Ritz-chen und Luftlöcher gefunden! Es sind goldene Trümmer da von 2 Pfund Gewicht, andere von 3 bis 4 Pfund bis zu 20 und 25 Pfund. Da die meistcn von ihnen nicht aus dem Inneren der Berge herausgeschasst, sondern auf freiem, offenen Felde gefunden worden sind, so ist es zu verwundern, wie die ganze Fluth der Völkerwanderung mit ihren unzähligen plündcrungsüchtigen und raubgierigen Stämmen Jahrhunderte lang über die Gold-gesilde des südlichen Urals hin- und herflulhen konnte, ohne diesen köstlichen Schutt und Trum zu entdecken. Es that uns sehr leid, daß wir keine Juden bei uns hatten. Wie würden sie vor diesen geöffneten Schräm ken geschwelgt haben! Mehr als bei der glänzendsten Mahlzeit! In langen Reihen standen viele kleine Gläser und Flaschen da, alle gefüllt mit der Quintessenz der Quintessenzen, mit Gold in Körnern der verschiedensten Größen, mit Goldstaub, Goldsand, Golbschrot, Goldgrütze, Goldhagel, Goldeiern, mit feinem und grobem, rundem und eckigem, gekörntem und zerbröckeltem Gold. Aber Alles war zierlich, appetitlich und lecker, und von gelbem Zauberschimmer und röthlichemFeuerglanze strahlte uns «ine solcheFülle entgegen, 32 Die Sammlungen. als wäre hier die Schatzkammer der Danaii, m der sie ihres Jupiter goldenen Negen gesammelt. Ach kostliche Regentropfen, himmlische Thautropfen! Aber alle verschlossen unter eisernen Riegeln! Auf wie manche arme Seele könnten sie erquicklich und herzstärkend herabtröpfeln! Dagegen liegen sie nun hier in Finsterniß befangen und bringen keine anderen Zinsen als die, welche die Neugierde und Schaulust von ihnen zu ziehen weiß. Auch große Silberstufen schließen sich an und ein Platinastück von 15 Pfund Schwere, beide vom Glänze des Mondenschimmers, er» bleichend vor dem sonnigen Golde. Unter den Silberstufen befinden sich die reizendsicn Naturspiele, z. V. mehre sogenannte Eilberbäume. Bei dem einen ist das Silber in eincr wolligen und lockigen Allongenperrücke angewachsen, bei dem anderen steht es als glänzender kleiner Busch da oder als Bäumchen mit hangenden Zweigen und Aestcbcn wie eine Trauerweide. Das Gold wird im Ural oder vielmehr am Fuße des Ural in dem Sande der Kalmückensteppe nur gediegen gefunden und mittels großer Waschanstalten von dem tauben Beimengsel getrennt; es liegt nur dicht unter der Oberfläche des Rasens und schimmert hies und da unter dem Grase hervor. Da, wo man es häufig genug vermuthet, so daß es sich lohnt, Anstalten zu seiner G.' winnung zu machen, werden die Wascn abgeschürft und Wäschereien errichtet. Diese Waschereien sind sehr einfach .eingerichtet und den in unseren Silberwelken zur Reinigung des Schlichs gewöhnlich angewandten ahnlich. Hat man eine Gegend erschöpft, so transports man Dir Sammlungen. 3A die Wasch.ippar.tte an eine andere Stelle, wo dann die armen Leibeigenen und die gut besoldeten Deutschen und die schönuniformirten Bergcadetten auf dieselbe Weise den goldenen Staub gewinnen, den man in Sacke packt und mit der ersten Schlittenbahn nach Petersburg den reU chen Herren zuschickt, die sich in der kaiserlichen Münze Ducaten daraus prägen lassen, Alles verjubeln, vertanzen und oft nichts als Langeweile und Lebensüberdruß dafür gewinnen. — Das Platina wird ebenso in gediegenen Körnecn und Staubchen gefunden und auf ahn-liche Weise gewaschen. Man sieht in der außerordentlich reichen Mooellt'ammer — die bekannte Wiener Modellkammer scheint sehr unbedeutend gegen sie zu sein — alle diese verschiedenen Veranstaltungen, sowie auch die sämmtlichen anderweitigen Arbeiten, mittels welcher in Rußland Mineralien gewonnen werden, das Salzschaufeln, das Salz-graben, das Salzbrechen, das Edelsteinbrechen, die Bernstein-gewinnung, das Marmor-, Malachit- und Granitbrechen und endlich auch das Eisenfischen in trefflichen Nachbildungen. Letzteres ist vielleicht die älteste Art der Eisengewinnung in Rußland, die auch noch in diesem Augenblicke in einigen Gegenden statthat, so z. B. im olonetzlischen Gouvernement, wo auf dem (Grunde mebrer kleiner Seeen gediegenes Eisen gefunden wird. Die Darstellung dieser Arbeit ist aller' liebst. Ein kleines, von Birken- und Tannenwäldchen umgebenes Vinnenwaffer wird von mehren jener sonderbaren, als Fischer gekleideten und agirenden Bergleute befahren. Jeder steht auf einem kleinen Flosse und tastet mit einem an einer langen Stange befestigten eisernen Hamen 2 *' 24 Die Sammlungen. in die Tiefe, um die unbnvegllchen, leicht zu angelnden metallenen Wasserbewohncr heraufzuholen, die er in der Mitte seines Flosses aufhäuft. Die detaillirte Nachbildung des Münzhofes von Iekacharinenburg, der Bergwerke von Nertschinsk, Slatoust und Kolywan und aller anderen großen russischen Bergbauunternehmungen erlauben hier, auf die bequemste und unterhaltendste Weise den ganzen jetzigen Bestand des russischen Bergbauwesens mittels kleiner Reisen von wenigen Schritten zu übersehen. Manche' Abtheilungen der Sammlung sind einzig in ihrer Art, so z. V. eine in technologischer Hinsicht interessante Sammlung von goldenen Kunstprodukten, von dem rohen Goldsande und allen verschiedenen Stufen seiner Reinigung an bis zu allen den feinsten Vergoldungen, Münzen und goldenen Kunstwerken hinauf, eine ähnliche Sammlung in Bezug auf das Eisen und andere Metalle, sogar cine Collection aller aus den Metallen bereiteten Farben. Unter den Eisengußsachen, die in Sibirien verfertigt werden, sieht man Hüte, Stühle, Bet-ten. Bureaus, die Büsten mchrer russischen Kaiser und Kaiserinnen, z.V. von Peter und Katharina, auch die von Romulus und Nemus, sogar die von Schiller und Gö-the. Das dachte sich Schiller wohl kaum, wenn er in Jena vor seinen bescheidenen Spiegel trat, daß diese Züge einst selbst in der fernen Mongolei, am Fuße des Altai hundert Mal aus den Eisenbachen der Kolywan'schcn Berge zusammenstießen sollten. —> Brillant genug ist auch eine Sammlung von glanzenden Säbeln und Degen aus der Waffenfabrik von Slatoust. Die Arbeit an Die Sammlungen. 35 den Degengehängen und an den ans den Klingen dargestellten Schlachten und Kämpfen besticht die Augen. Ob aber diese eleganten Waffen in der Hitze der Schlacht bessere Dienste leisten würden als die russischen Ofengabeln, die das Volk 1812 so verderblich handhabte, ist zu bezweifeln. Ein einfacher Säbel, den Paskewitsch in Eriwan erobette und der jenen zur Seite liegt, hat die Eigenthümlichkeit, daß er 5 Minuten lang nachklingt, wenn man ihn angeschlagen hat. Eine Schlacht mit solchen Säbeln müßte wie ein Glockengeläute tönen. Unter den Eisenstufen ist die merkwürdigste eine mächtige Eisendruse, deren Höhle so groß ist, daß ein Mensch sicn darin verkriechen könnte. Das Wort Sibirien ist bei uns ein Name, der nur schreckhafte Klänge in unserer Seele antöncn laßt. In Rußland selbst bekommt man einen anderen Begriff davon, und die Russen, die Sibirien sahen, sind alle so von diesem Lande eingenommen, daß man nach ihrer Erzählung glauben muß, es sei das gelobte Land, das Eldorndo Rußlands. Die Natur ist dort reich ,md wundervoll, der Menschenschlag stark und gesund, die Gesellschaft in den Städten geistreicher und gebildeter als irgendwo in Rnß-and, und wer nur die anfänglichen Unannchmlichküten des ersten Eintrittes — die Peitsche, die Reise dahin, einige Jahre Zwangsarbeiten u. s. w. — überstanden hat, befindet sich nachher daselbst sehr wohl und ist so zufrieden, baß er sein neues Vaterland mit keinem anderen mehr zu vertauschen wünscht. Das Bergcorps ist sehr geeignet, die gute Meinung von Sibirien zu vermehren 36 Die Sammlungen. und die Vorstellung von seiner Natur noch brillanter zu machen. Es befindet sich hier unter Anderem eine große Pyramide, die ganz aus den verschiedenen Edelsteinen Sibiriens zusammengesetzt ist, ein Monument, das den Reichthum dieses Landes mit einem Blicke überschauen läßt. Die großen, machtigen Malachitstücke, von denen eins mehre Pude wiegt, die herrlichen Smaragden, die prachtvollen Berylle, von denen die größten, einen halben Fuß langen, auf zierlichen Sammetkisscn unter gläsernen Glocken liegen, wie die Kronen der Zaaren in Moskau, die mit zauberischem Goldflimmer durchwebten blauen Lapislazuli und Labradorsteine, die bläulichen Amethyste und Chalzedone, die riesigen Magnete, die ganze Centner mit Leichtigkeit tragen und dmch ihre Last noch e^ starken, die Kupfer^ und Goldkrvstalle, smvie die schönen Landschaften aus den mongolischen Alpen, welche die Wände des sibirischen Zimmers schmücken, tragen nur dazu bei, tie Sehnsucht nach diesem Lande zu vermehren. Unverzeihlich aber ist man mit dem sibirischen Mam-muth verfahren, das sich hier befindet. Man hat allen ächten Schmuz sauber abgekratzt, alle Haut und Sehnenreste abgeschabt, die fehlenden Knochen durch eingefügte Hölzer erseht und dann das Ganze mit dicker Oelfarbe überstrichen, so daß das Skelett nun nicht mehr werth ist als ein restaurirtes und renovirtes Rittcrschloß, wogegen es in seiner ursprünglichen Beschaffenheit den Werth einer alten ehrwürdigen Nuine gehabt hatte. Wie sehr Nußland jetzt daran arbeitet, sich selbst kennen zu lernen, — für den Staat, wie für den Privatmann Die Sammlungen. 37 die ersprießlichste aller Kenntnisse — bemerken wir auch wieder im Vergcorps, wo einige große Zimmer blos den russischen Münzen gewidmet sind, deren Anzahl nicht weniger als 10,000 Stück betragen soll. Unter den Medaillen beflind sich eine Reihe von mehren hundert bron-cenen Geprägen, von denen ein jedes dem Andenken eines russischen Großfürsten, Zaarcn oder Kaisers gewidmet war. Ein silberner Vaum zcigt die Entwickelung des ganzen Romanow'schen Hauses, denn an seinen Zweigen hängen alle die goldenen Früchte, welche an ihm wuchsen, d. h. kleine goldene Medaillen mit Inschriften und den Bildnissen der Kaiser, Prinzen und Prinzessinnen dieser Familie. Es ist jetzt in ganz Rußland kein Gymnasialschüler, der nicht der Reihe nach alle die Namen sämmtlicher Sprößlinge des Rmik'schen und Nomanow'schen Hauses, so wie auch sämmtlicher Hauptgouvernements und Kreisstädte des russischen Reichs herzuzählen wüßte, und ich bin bange, daß die Russen uns in dieser Art von Selbstkenntmß bei Weitem übertreffen. In den Laboratorien des Bergcorps werden wieber viele neue Dinge und Processe gezeigt, unter Anderem das Verfahren bci'm Prägen und Stempcln des Platinas. Dieses Metall ist so hart, daß es sich den Formen des Stempels nicht auf die gewöhnliche Weise fügen würde. Man ist daher genöthigt, es in der Glühhitze des Ofens zuvor in eine schwammartige Masse zu ver-wandeln, die dann schmiegsamer und nachgiebiger ist als die massiven Stücke. Es gewährt ein eigenes Vergrm- 38 Die Sammlungen. gen, diese glänz- und gestaltlosen Häufchen durch einen Druck des Stempels, wie durch einen Zauberschlag, in blanke, schmucke, geränderte und sigurenreiche Münzen verwandelt zu sehen. — In dem großen Sprech-und Entreezimmer der Anstalt sahm wir ähnliche Pro-ceffe vor sich gehen; es waren kleine krausköpfige und nachlassig gekleidete Burschen, die uon ihren Aeltcrn der Anstalt übergeben worden waren und denen ihre neue, blanke, geschmückte, gefranste und farbenreiche Uniform angelegt wurde, und wohl den armen, weinenden und Abschied nehmenden Aeltern, wenn das Geistige ihrer Kinder auch so schnell Schule und Bildung annehmen wollte wie ihr Leibliches und wie die Platinaschwamme des Laborato-riums. An Gelegenheit dazu scheint es ihnen, wie man aus der vorhergehenden Darstellung ersehen haben wird, nicht zu fehlen. Die Krankenhauser. ,.Hi«>l lein Markten! hier kein Handeln! „Wie er «s beging, ei büßt e5!" >3s Wird vom Ministerium des Inneren in Nußland ein Journal herausgegeben, welches der Sammlung von statistischen Daten gewidmet ist und im Laufe seines viel-jährigen Bestandes nun schon eine ungeheuere Masse verschiedenartigen statistischen Stoffs ausgebeutet hat. Die zahlreichen bis jetzt erschienenen Hefte dieses Journals würden bei bcm Neichthume ihres Materials für den Staatsmann, Geographen und Statistiker unschätzbar sein, wenn ihr Inhalt nur einigermaßen zuverlässig wäre. Doch kommen bei den Untersuchungen, die auch ein Unemge-weihter leicht beurtheilen kann, so häusige, crafse und handgreifliche Widersprüche vor, daß es schwer wird, dem Uebrigen einiges Zutrauen zu schenken; die glaubwürdigsten Angaben möchtcn wohl die sein, welche darin über die Sterblichkeit der Bevölkerung enthalten sind. Es 4l) Die Krankenhäuser. sind dieselben grositentheils den Verzeichniffcn cittnom^ men, welche der heilige Synod über diesen Punct jährlich bekannt macht und bei denen in der Regel nicht so viele Ursachen, die zur Uebertreibung und zu Verfälschungen verführen könnten, obwalten. Diese Verzeichnisse umfassen gewöhnlich alle Mitglieder der ganzen griechische russischen Kirche, doch kommen dl,nn und wann auch Listen heraus, welche die Geburts- und Sterbefälle einzelner großer Städte, wie Moskau und Petersburg, be> sonders behandeln. Aus dcn genannten Listen der 10 Jahre von 1821 bis 1830 ergiebt sich, daß von den 4(VM0 Menschen, welche Petersburg im Durchschnitt jährlich in di.'scm Zeitraume gebabt habcn mag, in jcdcm Jahre durchschnittlich 9,2(il) starben. Es erschiene demnach die Sterblichkeit in Petersburg sehr gering, denn von 43 Menschen stürbe jahrlich etwa einer, was ein günstigeres Verhältniß als das der Sterblichkeit irgend ein« anderen Hauptstadt Europas darbieten würde. Da indeß in Petersburg, sowohl in dem hier anwesenden großen Heere von Beamten und Kriegern, als auch unter den zahlreichen Fremden viele Menschen immer gerade im beßten Alter sind, und diese weder ihre Kindheit, noch ihr Greisenaltcr — die beiden Lebensabschnitte, in denen die meisten Menschen sterben, — hier verleben, so zeugt jenes geringe Verhältniß weder für die Zuträglichkeit des Petersburger Klimas, noch für die geringe Sterblichkeit in der Stadt. Man müßte, um hierfür einen Ausdruck zu finden, dann auch noch das mittlere Die Krankenhäuser. 41 Lebensalter, in welchem jedes Mal die in der Stadt Ansässigen ständen, — nicht die mittlere Lebensdauer — kennen, und es würde sich dann vielleicht zeigen, in welchem Verhältnisse die Sterblichkeit Petersburgs zu der in den anderen Hauptstädten steht. Aus denselben Listen ergiebt sich als ein Resultat vierzigjähriger Beobachtungen der Sterblichkeit, daß dieselbe in den verschiedenen Monaten des Jahres in Petersburg folgende ist. Auf 28 Menschen, die im Monate Januar starben, starben im Februar 26, im März 29, im April 30, im Mai 32z, im Juni 3U, im Iu!i 32, im August 29, im September 24, im Octobcr 23, im November 24 und im December 27*). Es sind demnach, wenn auch nicht die gesundesten, — denn die Folgen der mehr oder minder großen Zutraglichkeit der Jahreszeit mögen sich immer erst später zeigen —> doch die an Sterbefallen ärmsten Monate: der September, October und November (durchschnittlich 23H), die reichsten dagegen: Mai, Juni und Julil (durchschnittlich 31^). Der ärmste Monat )st der October (23), der reichste der Mai (32^). Im Mai sterben also beinahe ein halb Mal so viele Menschen mehr als im October. Vom October steigt die Sterblichkeit fortwahrend bis in den Februar hinein, wo sie etwas abnimmt, um dann *) Vom Jahre I79l bis 1830 starben namlick im Januar 2NM7 Mensckcn, im Frbruar 26,9l6, im März 29,536. im April 30,847, im Mai 32,495, im Juni 30,45N, im Juli 3'2,3?5, im August 29,069, im September 24M9, im October 23,«62, im November 24,833, im c«cewber 27,376. 42 Die Krankenhäuser. bis in den Mai hinein wieder fortwährend zu steigen, wo sie ihren Culminationspunct erreicht, auf welchem sie sich trotz einer geringen Abnahme im Juni bis Ende Juli erhalt, worauf sie vom August bis zum October constant fällt, in welchem Monate sie bis auf das Minimum hinabgeht. Unter 09,000 Menschen, welche von 1791 bis 1800 starben, waren 1 über 125i, 3 über 120, 5 über 115, 1U über 100, 39 über 95 und 152 über 90 Jahre alt geworden. Im ganzen russischen Reiche sterben jährlich nicht weniger als 20,000 über 80 Jahre alte Kreise'), d. h. der 3l»ste Theil der jahrlich Sterbenden, und über 900 erreichen ein Alter von 100 Jahren; 50 bis 55 Menschen sterben, die über 120, 20, welche über 130, 8, die über 135, Jahre alt geworden s>nd, und gewöhnlich reichen ein paar bis 14 » und 155, hinauf. Es ist dieß vielleicht weniger eine Folge des guten Klimas und der einfachen Lebensweise der Menschen als der dem russisch-slavischen Stamme lnwohnenden Dauer und Zähigkeit, denn theils leben selbst die russischen Bauern durchaus nicht einfach und nüchtern, theils giebt es sogar unter den Vornehmsten, die ihr ganzes Leben offenbar in Luxus und Ueppigkeit verbrachten, Beispiele von sehr alten Leuten. In Petersburg und Moskau giebt es viele alte Herren und Damen, die 90 und 100 Jahre alt sind und wahrlich nicht bei Grütze und Schwarzbrod so alt wurden. *) Es ist dabei blos von Männern die Rebe. H)ie Krankenhäuser. 43 Petersburg ist natürlich ein Menschenleben verzehrender und wenig producirender Ort und bedarf jährlich eines bedeutenden Zuschusses, um die kucken, welche der Tob hier machte, zu ersetzen. Es erhellt dieß aus der Vergleichung der Geburts- mit den Sterbelisten. Vom Jahre 18! 1 bis 1820 wurden geboren im Januar 5,466, im Februar 5,5,75, im März 5,175, im April 5,177, im Mm 4,777, im Juni 5,070, im Juli 5,084, im August 5,044, im September 4,665, im October 5,586, im November 5,429, im December 4,5b9, zusammen in diesen 10 Jahren 61,616 Kinder. Dangen starben in demselben Zeitraume im Januar 7,538, lm Februar 7,225, im März 7,687, im April 8,014. im Mai 8,224, im Juni 7,187, im Juli 7,874, im August 7,0^9, im September 6,076, im October 6,252, im November 5,915, im December 6,764, zusammen 85,845 Menschen. Es starben also in 10 Jahren 24,229 Menschen mehr, als geboren wurden, ober in jedem Jahre ungefähr 2,422 mehr. Die wenigsten Kinder werben in den Monaten September und December geboren, was davon herrührt, baß im December, welcher der neunte Monat vor dem September des folgenden Jahres ist, und im März, welcher der neunte Monat vor dem December desselben Jahres ist, wegen der bann eintretenden großen Fasten, uyter den Russen gar kein Eheband geknüpft rnd eingesegnet wird. Folgende Tabelle der in Petersburg in« nerhalb 30 Jahren abgeschlossenen Ehen wird dieß deutlicher zeigen. 44 Die Krankenhäuser. Von 1791 bis 1800 wurden in Petersburg Ehen vollzogen: Ian.lFlbl. Mar, Xpill Mal IunijFuIl ^ug.IStpt. ^ Die Natio>uilrussen schließen im December und März gar keine Ehebündnisse, und die 18 und 8 Hochzeiten, welche in diesen beiden Monaten jährlich, in Petersburg gefeiert werden, gehören blos Nichtmffcn vonc» na umu, ollo n ^llna>va na ^«uika^ (was bei dem Nüchternen im Herzen, das sitzt bei dem Trunkenen auf der Zunge). In gewisser Hinsicht laßt sich Aehnliches von den Wahnsinnigen behaupten, denn auch sie verrathen oft in ihren unberechneten und gewissermaßen prophetischen Aeußerungen, was in der innersten Seele des Volkes vorgcht. Die Ursachen und die Aeußerungen des Wahnsinnes bei den verschiedenen Völkern sind so verschieden, daß ein Ethnograph, der mit dem Wesen des Volkes und mit dem Charakter der Nüchternen und Klugen sich bekannt zu machen wünscht, sie ebenso wenig übersehen darf wie die Trunkenen. 56 ^ Das Irrenhaus. Die Russen haben im Ganz?n cin so sanguinisches Temperament, dabei ein so wenig tiefes und so leichtfertiges Gemüth, daß sie die Stürme und Unglücksfalle dieses Lebens in der Negel sehr leicht ertragen und dulden, und daß viele Donnerkeile des Schicksals, die bei anderen gemüthstieferen Nationalitaten haften und eine große Gluth entzünden, bei ihnen spurlos abblitzen und uorübergleiten. Grübler und Philosophen haben sie gar nicht; die Lieb« ist bci ihnen mehr sinnlich als platonisch oder idealisch; die Religion ist eine gedankenlose Gewohnheit ohne Speculation, und der Geist, der bei diesen Dingen unberührt bleibt, ist unergriffen und ungewärmt und sitzt daher auch sicher hinter der äußeren Hülle ungestört und ungetrübt. Da ihr geistiges Sein immer mit Gott in naher Berührung sieht, da sie so zu sagen bestandig in ihm leben, weben und sind, und da ihr leibliches Glück in der Regel in der Hand ihier Leibherren und Oberen liegt, in deren Willen sie sich so schmiegsam fügen, wie in den des Schicksals, so retten sie sich aus allen Schiffbrüchen voll Muth und Hoffnung mit dem einfachen Troste und den stets bei solchen Gelegenheiten wiederholten Worten: „Gott wollte es so," oder: „die Obrigkeit hat's so befohlen." Schlau, verschmitzt, gewandt sind sie alle von Natur, und sämmtliche Glieder der Nation haben davon fast eine völlig gleiche Portion. Wenn es daher auf der einen Seite wenig tiefe Denker unter ihnen giebt, so giebt es auf der anderen Seite eben so wenige Stumpf- und Blödsinnige. Die Deutschen und andere Nationen sind verstandig, Das Irrenhaus. ' 57 und da sie die Vernunft in höherem Grade besitzen, so verlieren sie sie auch häufiger. Die Russen sind trotz ihrer instinctartigen Schlauheit ein unmündiges, kindliches und poetisches Volk, und da sie sehr häufig im gewöhnlichen Leben närrisch und theatralisch genug sind, so geben sie schon im alltäglichen Sein vielem Narrheitsstosse so zu sagen Luft, und die Tollheit concentrirt sich bei ihnen nicht so oft und sammelt sich nicht so häufig zu einzelnen zerstörungsreichen Explosionen. Dazu fehlt ihnen auch trotz ihrer Rang- und Titelsucht in hohem Grade eine andere Gcisteseigenschaft, die bei anderen Nationen ebenso häufig große Dienste leistet, als sie oft Ursache von Gei-steszerrüttungen zu werden pflegt, der Ehrgeiz. Aus gekränktem Ehrgl'fül'le verlieren wenig Russen den Verstand, weil bei keiner Nation so wenig Pointd'honncur sich wirksam zeigt als bei der russischen. Es ist mir höchst wahrscheinlich, obgleich die Sache aus Mangel an Daten nicht mit Zahlen klar bewiesen werden kaun, daß es unter den 45 Millionen Nüssen weit weniger Geisteskranke giebt als unter irgend einer anderen Nation Europas, und daß das Verhältniß der russischen Wahnsinnigen zu den Geistesgcftmben vielleicht drei bis vier Mal geringer ist als bei den Deutschen. — Das Petersburger Irrenhans hatte 1^36 unter seinen 130 Patienten allein 43 Nichtrussen, meistens Deutsche *). Dürfte man diese Zahlen zu Grunde legen und sie mit *) Die Petersburger Deutsche» mögen das Irrenhaus mehr benutzen als die Nüssen. Dagcgm kommcn abir auch viele Russen aus dem Inneren dahin, div gar nicht Petersburger Bürger smd. 3" 53° Das Irrenhaus. den Bcvolkcrungselcmenten der Stadt in Verhältniß siel» len, so würde aus diesem Vergleiche das Resultat hervorgehen, daß der russische Stamm 4 bis 5 Mal weniger geistig Verirrte liefere als der germanische. Das Petersburger Irrenhaus steht unter der Leitung eines äußerst gebildeten und humanen deutschen Arztes und kann sich gewiß «n seiner ganzen inneren und äußeren Einrichtung jeder ahnlichen Anstalt bn-ser Art an die Seite setzen. Schon der Name, den die Russen ihm gegeben haben: ,,NoImi?!n n'Kücll ßIvl,i-dM^ mäß umbaute und mit vielen Mmderen Anbauten ver-mehrte, welche jetzt alle -zusammengenommen einen klei-nen Stadttheil für sich ausmachen. Das Petersburger Wospitatelnoi-Dom ist noch weit prachtiger als das Moskauer eingerichtet; auch ist in Bezug auf den Unterricht der Knaben und Madchen darin besser gesorgt, so wie endlich auch seine Zöglinge leichter ein gutes Unterkommen finden. Nichtsdestoweniger ist d^ Sterblichkeit unter der kleinen Welt größer als in Moskau, woran hauptsachlich der dürftigere Zustand der UmwohnersclM Petersburgs Schuld ist. Moskau liegt in. det Mitte des kraftigsten Volksstammes Rußlands, Das Fintelhaus. 77 UNd es wird dort leichter, gesunde, frische 'Ammen zu erhal» ten, so wie die Kinder be! den Vaucrn auf dem Lande zur ersten Pflege besser untergebracht werden können. Die deutschen Colonisten sind in der Nähe von Petersburg wenig zahlreich, und ebenso erscheinen die eigentlichen Nuffen hier nur als Fremdlinge und Colonisten. DaS Land ist ingrisch und die Urbeuölkcrnng also siuniscb, kaum einige hundert Menschen kommen auf die Quadrat-meile^), und der Zustand der Bewohner, sowie ihrer Hauser und Wirthschaften ist ein höchst elender. — Von den in's Haus gebrachten Kindern stirbt gleich innerhalb der ersten 6 Wochen ein Viertel an ber-Ammenbrust, und von den nach 6 Wochen zur Verpflegung auf's Land gebrachten stirbt innerhalb der 6 I^hrc, die man sie in den Händen der Bauern laßt, noch mehr als die Halste, so daß also nach 6 Jahren nur etwa ein Drittel der Eingebrachten noch lebt. Bei'm gewöhnlichen Laufe der Dinge, d. h. wenn die Kinder Gn cilterlichcn Hause und an der Mutterbrust blieben, würde nach 6 Jahren noch die Halste leben. Einen großen Theil der Schuld an jener bedeutenden Sterblichkeit tragen die weiten Transporte, denen Alles, also auch diese Kinderschaar in Rnsiland unterliegt, denn oft müssen die Kleinen mitten im Winter 15 bis 20 Meilen weit gefahren werden; ja viele von ihnen kommen in der Anstalt schon halb leblos an, da nicht etwa nur Petersburg und die nächste Nachbarschaft von ihr Vor° *) Im ganzcn Gouvernement Petersburg kommen durch, schnittlich 70 Hmw^hmr auf die Q.uadratmcilc. TA Das Findelhau«. theile zieht, sondern halb Rußland — die andere Hälfte geht nach Moskau — ihr selne überflüssigen Kinder zuschickt. Im Jahre 1836 kamen ein Mal an einem Tage ein Kind aus Kifcheneff in Veffarabien und ein anderes aus Tobolsk in Sibirien an, welche beide Orte ungefähr 250 Meilen von Petersburg entfernt sein mögen. Wie viele arme Kinder mögen da nicht auf solchen weiten Wegen verkommen und sterben, ehe sie in den rettenden Hasen des Wospitatelnoi-Dom einlaufen! Die Kinder werden, wenn ihre Erziehung vollendet ist, durchaus von aller Verbindlichkeit geqen die Anstalt frei gesprochen und widmen sich dem Berufe, den sie sich selbst wählten oder für den man sie je nach ihren Fähigkeiten vorbereitete. Von den Knaben kommt eine bedeutende Anzahl in die kaiserlichen Fabriken, in die Spiegel-schleiferel, Papierfabrik, Tapetenmanufactur u. s. w., ein anderer Theil wird bei Kaufleuten u. s. w. untergebracht, die Fähigsten werden Künstler, Studenten oder Priester. Die Mädchen werden ebenfalls je nach ihrm Anlagen zu Dienstmädchen, Kinderwärterinnen, Bonnen, Gouvernanten u. f. w. bestimmt. Da diejenigen unter ihnen, welche sich besonders fähig zeigen, nicht nur in allen Wissenschaften, sondern auch im Französischen, Deutschen, Zeichnen, Klavierspiel, Singen u. s. w. unterrichtet werden, und da die Russen solche Vorurtheile gegen die uneheliche Geburt, wie sie aus dem Mittelalter uns überkommen sind, nicht kennen und für diese Art von „Anrüchigkeit" kaum einen Ausdruck in ihrer Sprache haben, so ist die Frage nach Gouvernanten und Erzieherinnen aus dem Findel- Das Findelhaus. 79 hause immer groß. Im Jahre 1836 waren 32 Gouvernanten aus demselben in gute Hauser eingetreten, und im Jahre 1837 war die Nachfrage nach diesem Artikel schon so groß, baß man fürchtete, nur die Halste der Wünsche befriedigen zu können. In der Anstatt sind 600 bis 700 Ammen ange« stellt, von denen jede jährlich 250 Rubel Gehalt und völlig freie Station erhalt. Es ist keine Frage, daß bei so ausgezeichneten Bedingungen sich immer eine Auswahl von tüchtigen Individuen darbieten wirb. Als Lehrerinnen, Aufseherinnen, Inspectricen oder — „Classcndamen", »vie sie in allen russischen Erziehungshäusern genannt werden, sind 400 bis 500 Deutsche, Französinnen und Russinnen thätig, deren Gehalte sich oft auf einige tausend Rubel belaufen. Blos der Unterricht kostet über eine halbe Million, — d. h. wenn man die Knabenanstalt in Gatschina dazu nimmt. Vei den Hospitälern des Hauses sind 12 Aerzte thätig, meistens Deut-sche, denen zugleich auch die Inspection der auf dem Lande vertheilten Kinder obliegt, zu denen sie bestandig umherreisen. Ein Theil dieses großen Personals von Angestellten, das noch durch die als Köche, Oekonomen, Diener oder Mägde Thätigen sehr vermehrt wird, ist aus der Anstalt selber hervorgegangen. Doch nimmt man aus vielen Gründen lieber Fremde. In dcm Gebäude des Petersburger Theils des ganzen Etablissements wohnen nicht weniger als 6000 Menschen. Man kann sich darnach einen Begriff von dem ungeheueren Ge-schaftsbetml des Directors eines solchen Instituts machen. 60 Das Fmdelhaus. Mit dem Fmdlingshause ist noch ein Entbinbungs« haus verbunden, dessen Einrichtung auf eben so liberalen Principien basirt ist. Da auch hier Alles, was sich meldet, unentgeltlich und unbedingt aufgenommen wird, so machen gar viele Stande und Classen der Gesellschaft weiblichen Geschlechts davon Gebrauch. Die schwangeren Frauen können sogar schon 4 Wochen vor ihrer Entbindung darin Aufnahme und Pflege erhalten. Es ruht ein strenges Geheimniß auf diesem Hause, und es wird natürlich Niemandem als nur den durch ihre amtliche Stellung Eingeweihten geöffnet. Selbst dem Kaiser, der einmal weiter vordringen wollte, wurde hier der Weg versperrt, und er respectirte das Asyl der verschämten Frauen. — Die übrigen Theile der Anstalt werden aber allen Fremden g'zeigt. Nur der Sonntag ist davon ausgenommen, wo keinem Fremden der Zutritt gestattet wird, weil dieser Tag den Besuchen der Verwandten und Angehörigen der Findlinge gewidmet ist. Viele Mütter und Väter verfolgen nämlich auch noch im Findelhausc den Lebenslauf ihres Kindes, von dem sie sich oft nur aus Noth oder aus Schamhaftigkeit trennten, ohne doch den natürlichen Gefühlen, mit denen sie an ihm hangen, zu entsagen. Man sieht dann nicht nur arme Fußganger herbeieilen, sondern auch manche vierspännige Carrofse vor der Thür anlangen, man erblickt gemeine Soldaten und vornehme Leute, welche Zärtlichkeiten an kleine Wesen verschwenden, welche nicht wissen, ob aus dem Gewühls der Ankommenden eine Bauersfrau oder eine Edeldame als ihre theuere Mutter hervortreten wird. Das Findelhaus. 81 Wir beg.ib.-n uns zunächst zu dcm Cmpfaugöbureau der kleinen Schreihälse. Es ist ein kleines warmes Ka? binet an einem etwas versteckten Eingänge des Hauses, wo man diese Früchte verbotener Liebe in Empfang nimmt. Die Thür ist das ganze Jahr hindurch zu jeder Nacht-unb Tageszeit geöffnet, und eine Inspcctrice mit mehren Dienerinnen ist hier beständig gegenwärtig. Ein dickes Buch liegt aufgeschlagen, in welches man die jungen Wesen eintragt. Es kommen deren taglich 15 bis 2l) an. Man empfangt sie stumm und ohne Weiteres, und die einzige Frage, welche gestattet wird, ist die, ob das Kleine schon getauft sei und ob es einen Namen habe. Ist dieß der Fall, so tragt man es unter dem angegebenen Namen ein, wenn nicht, so giebt man ihm hier wie einem überbrachten Waarencollo eine Nummer, unter welcher es eingeschrieben wird. In der Abenddämmerung sieht man die Weiber am zahlreichsten mit ihren lebendigen, in Tücher gehüllten Waaren herbeikommen. Bei schöncm Wetter ist das Zuströmen größer als bei schlechtem, im Sommer starker als im Winter und im Fnil'linge, bis zu dessen milderer Witterung mancher Transport des Winters aufgespart wurde, am stärksten. Wlr waren des Mittags um 1 Uhr da, und bis dahin hatte der Tag die Familie des Hauses schon um 8 neue Töchter und Söhne vermehrt, die wir mit frischer Tinte eingetragen fanden- Nr. 2310 bis 2317. Nicht selten creignet es sich, daß, wenn die Mütter das Tuch losbinden, sie ihr Kleines schon todt finden. Diese Entschlafenen werden nicht angenommen, sondern zurückgewiesen und bei der Pc^ 4.. 82 Das Findelhaus. zei angezeigt. Es gewahrt ein eigenes Interesse, dem Treiben in diesem Kabinete eine Weile zu zusehen, wo alle Geschäfte so pünctlich und prompt abgemacht werden, wie in dem Comptoirs eines Kaufmanns. Die Lautlosigeit und das Geheimniß, die auf allen Operationen ruhen, steigern das Interesse nicht wenig. Woher kommen die Kleinen? Sind es Deutsche, Nüssen, Finnen oder Franzosen? Lallen sie auf Schwedisch, Englisch oder Mongolisch? Liegt in diesem kleinen Haupte der Same zur Entwickelung polnischer oder tatarischer, ing-rischer oder mordwinischer, schwabischer oder sachsischer Denkweise? Alle diese Fragen sind gestattet, denn auf die cine, wie auf die andere ist ein Ja möglich. Wurde diese Saat für Mohammed, für Christus, für den Papst, für Luther oder für die Götzen gestreut? Wurden sie im Purpur oder auf Sackleinwand geboren? Die Physio-gnomieen der Menschen, wie sie an's Licht der Welt treten, gleichen sich so sehr, daß nichts ihren Ursprung verräth, und selbst ein Nsgersaugling sieht fast nicht anders aus als der einer alabasternen Kalckasierin. Die sechsstündigen kleinen Schreihalse der Mongolen weinen, grinsen und lächeln auf Mongolisch ganz eben so wie die Deutschen auf Deutsch, und die Fürstenkinder schreien nicht anders als die Kinder der Tagelöhner. Auch bekümmert man sich nicht einen Aligenblick um die Untersuchung aller dieser Dinge. Christ, Heide, Jude, Mongole, Russe, Pole, was es sei, Alles wird griechisch von Popen getauft, nach t» Wochen auf's Land geschickt, wo cs in dcn ersten 6 Jahren seiner Kindbett ^um sin- Das Findelhaus. 83 nischm Vauerjungen gemacht wird, sich finnisch kleidcr, sinnisch sprechen und denken lernt, bis man vom sechsten Jahre an auf diesen finnischen Grund westeuropäische, französische, russische, deutsche Sitten pflanzt, und bis endlich nach beendigter Schule sich das Leben selber seine Leute aus der Menge hervorsucht, das Fürsten«' kind zum Stiefelputzer, den Bauernsohn zum Künstler und den Sclavensprößling zum mächtigen Beamten erhebt. Wenn die Mutter oft unter vielem Weinen und Schluchzen ihrem Säuglinge den letzten Kuß im Em-pfangskablnete aufgedrückt hat, in welchem mehre Wiegen und Betten zum vorläufigen Deponiren bereit stehen, so wird das Kind, das nun eine Tochter oder ein Sohn der so kinderreichen Mutter, der großen Erziehungsanstalt, geworben ist, in die oberen Raume des Hauses, und zwar zunächst in die am Ende der Treppe gelegene Kapelle gebracht, um dort von den Priestern des Instituts in den Schooß der rechtgläubigen griechischen Kirche aufgenommen zu werden. Hier hören die heiligen Gesänge, die frommen Ceremonieen, die andachtigen Umwandlungen der heiligen Gerätschaften, mit denen die neuen Abkömmlinge begrüßt werden, den ganzen Tag über nicht auf, und man bekommt von den beständig geschäftig waltenden Naturkräften, die in jedem Momente an dem großen Riesenbaume der Menschheit eine Blüthe nach der arv deren sich entfalten und ein Blatt nach dem anderen absterben lassen, nirgends eine großartigere Vorstellung als hier. Die, welche noch athmend aus der Taufkapelle koni- 84 Das Findelhaus. men, — einige sterben den Priestern unter den Handen, einige endigten schon auf der Treppe, und viele waren bereits im Empfangskabinete gestorben, und über den ganzen Lebenslauf aller dieser existircn dann nicht mehr als zwei Documents von denen das eine lautet: „Nr. 4512, Kind von 3 Wochen — Madchen — empfangen den 6ten April, 8 Uhr Morgens", und das andere: „Nr. 4512, gestorben den ttten April 9 Uhr Morgens und zu derselben Zeit an den Todtengräber zur Beerdigung abgegeben," — die Ucbcrlebenden also, werden dann vom Arzte untersucht und, wenn sie gesund befunden worden, der Inspectrice der Brustkinder und Ammen überliefert, die dem Priester und der Inspectrice des unteren Kabmets über die erhaltenen Nummern einen Empfangsschein ausstellt, der etwa so heißt: „Nr. 3333, — Knabe, — getauft Iwan Petto-witsch, von der Inspectrice des Empfangskabinets erhalten den 1l>. Mai 10 Uhr Morgens, gesund befunden und an demselben Tage unter die Brustkinder einregistrirt." Unterzeichnet: „Mariana Pawlowna, Inspectrice des zweiten Saales der Brustkinder." Von nun an athmet und schreit der kleine Iwan auf Gefahr und Verantwortung der Mariana Pawlowna, die als Mutter so vieler Kinder keinen ruhigen Augenblick haben kann, wenn sie auch nur des hundertsten Theiles der Sorge einer Mutter fabig ist. Die Zimmer der Brustkinder sind an Geräumigkeit, Wärme, Möbeleleganz und Erleuchtung wahre Salons. In den Vorzimmern werden beständig Badewannen, mit warmem Waffer gefüllt, unterhalten, in denen man die Das Finbclhaus. 85 Kinder hausigen Waschungen unterwirft. Die Ammen sind alle sauber in das russische Nationalkostüm gekleidet, in jeder Abtheilung aber mit anderen Farben geschmückt, damit man mit einem Blicke die ganze Gliederung der j^ber- und Unterabthcil'ung überschauen könne. Es ist nicht selten, daß die Mütter der Kinder selbst bei ihren geliebten Sprößlingen als Amme zu dienen sich erbieten, was ihnen, wenn es sich möglich machen läßt, gestattet wird. Um die Vertauschungen der Kinder, welche die fremden Ammen sonst häufig vornahmen, möglichst zu verhüten, hat man jetzt immer die Wiege eines Knaben und die eines Madchens zusammengestellt und jedes Mal zwischen einem solchen Pärchen die Betten der beiden Ammen angebracht, so daß also zwischen je zwei Kindern desselben Geschlechts immer 3 andere Betten stehen, und also eine Umtauschung sehr schwer wird. In jedem Saals stehen etwa 40 bis 50 Betten, und es waren jetzt gerade 650 Brustkinder und eben so viele Ammen vorhanden. Der Anblick all dieses kleinen hilflosen, schreienden, winselnden, lächelnden und hüpfenden Menschengewürmes ist ein mächtig ergreifender, und Furcht und Zittern erfaßt die Seele, wenn sie an die Fluch von Leiden und Jammer denkt, die über diese Schaaren hereinbrechen wird, über diese Tausende zarter kleiner Sprossen, die den Stürmen des Lebens entgegenkamen, ganze Schaaren kleiner Moses, in gebrechlichen Nachen zur Schwelle des Wos-pitatelnoi-Dom herangeschwommen und von milber Hard gerettet, aufgespart und aufgefüttert zu den Leiden der Wüste dieses Lebens, wo Hunger, Hitze und Norl, sse 86 Das Findelhaus. treffen werden. Werden sie den Gott im feurigen Busche vernehmen? Wird scin Himmelsmanna sie erquicken? Werden sie den Zauberstab finden, der sie der drohenden Meeres-fiuth, dem verfolgenden Pharao entreißt? Werden sie sich dem großen Haufen anschließen, vor dem goldenen Kalbe anzubeten? Werden sie den Versuchungen des Teufels widerstehen? Ober werden sie, wie die Mehrzahl, aufwachsen wider ihren Willen, jubeln, weinen, ungeduldig dulden, heirathen und sich heirathen lassen, schneidern, hobeln, schustern, um die Nahrung zu gewinnen, sich selber unklar leben und bewußtlos hinübergehen in jene Welt? Wohl Denen, die Gott nach seinem Wohlgefallen schon zu sich genommen, bevor sie kaum den bitteren Kelch mit den Lippen berührten! In dem Wospitatelnoi-Dom streifen laglich 4 bis 5 solcher Glücklichen ihre kleine irdische Hülle ab, jährlich 1500 bis, 1800 *). Es ist eine eigene Abtheilung des großen Ochta'schen Kirchhofes für die Findlinge bestimmt. Sie werden hier Mtieenweise beerdigt, da man immer die Ernte des Todes von zwei oder drei Tagen zu einem Trauerzuge vereinigt, und auf dem Kirchhofe liegen sie auch so partieemveise beisammen. Es mögen hier leicht schon an 30,000 Kinderhüllen ruhen. Sollte die Anstalt in dem jetzigen Umfange noch 100 Ichre bestehen, so würden dann nahe an 200,000 Elternlose Säuglinge dort modern. In dem Hospitale der Anstalt fanden wlr 150 Kin- *) d. h., wie aus dem früher Gesagten erhellt, innerhalb des Etablissements in der Stadt. Innerhalb der Gränzen des ganzen Instituts sind es 2400 bis 3000. DaS Findrlhaus. 87 der auf dem Krankenbette, mit trüben Aeugelein und winselnden Stimmchen. Drei schon hatten diesen Morgen ihre Augen auf immer geschlossen, und ihre frischen Leichen lagen in dem Todtcnsaale auf kleinen Paradebetten , welche die Pflicht vorschriftsmäßig geschmückt hatte, an denen aber der trostlose Mutterschmerz fehlte. Doch schien mir immcr mehr Trost bcim Sarge zu liegen als bei der Wiege. Darnach traten wir in die Abtheilungen, welche den vom Lande zurückgekehrten Madchen von l» bis 16 Jahren bestimmt waren. Es waren deren, ich weiß nicht mehr, wje viele Hunderte, vorhanden. Ich mußte erstaunen über die Sauberkeit in der Kleidung und ganzen Haltung dieser Mädchen, über die Reinlichkeit und Ordnung, die in Keller, Küche und Schlafkabine! herrschte, über die Zweckmäßigkeit und Geräumigkeit der Betten, der Schlafzimmer, Schulstuben, Speisesale u. s. w., so wie über die Größe und Pracht — der Ausdruck ist im Vergleich mit ähnlichen Instituten bei uns nicht zu stark —> des Ganzen. Wir trafen gerade zur Mittagszeit ein, lange Tafeln waren in 3 großen Räumen des unteren Stocks appetitlich gedeckt, und aus allen Zimmern marschirtcn in langen Reihen, paarweise geschaart und nach der Größe geordnet, unter Anführung ihrer Aufseherinnen und Gouvernanten die kleinen Mädchen heran. Hunderte sprangen aus den Garten herbei, und Hunderte hüpften die Treppen herab. Sie waren alle nach den verschiedenen Klaffen verschieden gekleidet, die einen roth, die anderen 88 Das Findclhaus. blau, die dritten gelb, die vierten braun u. s. w., nlle mit höchst reinlicher weißer Wäsche geziert. Die Haare der einen Partei waren gescheitelt und in herabhangenden Flechten geordnet, die der anderen gelockt und die der dritten aufgebunden und um den Kopf gelegt. Die Kinder schienen sämmtlich ohne Ausnahme frisch, fröhlich und blühend, und der Anblick so vielen hübschen Madchenblutes war bezaubernd. Im Vorüberhüpfen grüßten sie alle freundlich und unbefangen, ja töchterlich herzlich, den bei mir stehenden Director mit dcn Worten: „«ärnslnlliho pnpink«, sdi-l^l-^vuil^« l'ui'ii'ku," „liun ^v' Nil-«!»«!" (zur Börse!). Man muß, um zum Zwecke zu kommen, rufen: ,,iv' 6ol!um!,^n Lirxlw!" (zur holländischen Börse!) Denn so nennen die gemeinen Russen d^s qroße schön« Gebäude der Zusammenkünfte der Kaufleute auf 92 Die Börse. Wassili-Ostrow. Es ist ein Name, der wahrscheinlich sich noch aus den ersten Zeiten der Anlage Petersburgs herschreibt, wo Hollander die ersten, von Peter dcm Großen besonders eingeladenen und begünstigten Kaufleute waren, die sich auf der Newa vorzugsweise einfanden und sich auf Wassili-Ostrow an derselben Stelle versammeln mochten, wo man jetzt Repräsentanten aller zur See fahrenden Nationen findet. Die Börse von Petersburg hat eine Situation, die so paffend und herrlich ist, wie sie selten einem schönen Gebäude zu Theil wird. Sie liegt auf der äußersten Spitze von Wassili-Ostrow, in der Mitte sämmtlicher Stadttheile, aus denen im Winter die Schlitten und im Sommer die Flußboote von allen Seiten mit den Kaufherren herbeieilen, die hier ihre Geschäfte besprechen wollen. Die Spitze der Insel läsic noch einen schönen freien Platz vor dem auf erhöhtem Fundamente sich erhebenden Gebäude, und auf beiden Seiten des herrlichen Granitquais, mit dem das Ufer befestigt ist, theilt sich der majestätische Strom in zwei gewaltige Arme, die ruhig und ohne Brandung rechts und links von der Spitze abstießen. Prächtige Granittrcppen führen überall vom Ufcrrande, zu dessen Erhöhung und Befestigung man hier erstaunliche Massen von Steinen und Bauschutt versenkte, zum Flusse hinab. Auf dem freien Platze vor der Börse stehen in angemessener Entfernung, dem Mercur zu Ehren, zwei dicke, über 1VU Fuß hohe 6l>lm»nae i-osli-nlns, mit eingefügten, aus Metall gegossenen Schiffsschnäbeln. Die Säulen sind inwendig hohl, und man kann auf Die Börse. V9 einer eisernen Treppe zu ihrer Spitze hinaufsteigen, wo riesengroße Feuerbecken aufgestellt sind, in denen bei feierlichen Illuminationen der Stadt eine weithin erblickte Gluth flammt. — Die ganze Umgebung und alle Zugänge zu diesem Gebäude, in -welchem es sich beständig um das Interesse von unzahligen Familien, von hundert Völkern und Reichen handelt, sind großartig und der Wichtigkeit des Zweckes vollkommen entsprechend. Es wurde auch an dem Ganzen, an der Vorbereitung des Platzes, der Quais und der Treppen, sowie an dem Baue dcs Hauses selbst, nicht weniger als 6 Jahre lang, von 1804 bis 181t), gearbeitet, was in Petersburg, wo eine Copie dcs römischen Peterdomes «n zwei Jahren fertig wurde und ein neuer Kaiserpalast in elf Monaten aus der As6ie entstand, zu den unerhörten Dingen gehört. Der Plan und die Ausführung des Ganzen stammt von dem Architekten Thomon her. Ein unbefangenes Laienauge möchte an dem im griechischen Style gezeichneten Börsengebaude selbst die verhaltnißmaßige Kleinheit der rund umherlaufenden Säulen tadeln, so wie das, als antik griechisches, sich zu breit und groß darstellende Dach. Auch scheint die Farbe, die man dem Aeu-ßeren gegeben hat, ein wassigeres (Graublau, mit weißen Einkantungen untermischt, unpassend gewählt; ein reines Weiß würde sowohl gegen den blauen Himmel gefalliger abstechen, als in den grünlichen Wogen des Flusses sich schöner spiegeln. — Auf einem festen tiefliegenden Unter-dauc von Granitauadern führen von allen Seiten einige Stufen zu der Colonnade und zu den an beiden entge- 94 Die Ndrft. gengesetzten Enden befindlichen Eingangen hinauf, über denen im Frontispiz einige kolossale Statuengruppen stehen. Die schäckige, so wenig mit der Einfachheit des griechischen Styls harmonirende Färbung der Börse wird noch bunter durch ein sonderbares großes Halbmondfenster, das man in die vordere Facade eingesetzt hat. Es ist dieses große Fenster, daS einzige von unten sichtbare, halb» kreisförmig, und von seinem Rande gehen sehr viele schmale, weiße, längliche Zacken radienförmig aus, wie die Strahlen eines Fächers. Wahrscheinlich hat der Bau-meister geglaubt, sein Gebäude dadurch besonders zu zieren, doch mir schien es eine auffallende Verunstaltung desselben. Es sieht gerade so aus, als hätte man ein un> geheueres, weiß angestrichenes Mühlenkammrad in die Fronte vermauert. Man begreift nicht, wie ein rundes Fenster in einen Baustyl paßt, der sonst Alles, Thürme, Bedachung und Rumpf, eckig und winkelig zeigt, und wo sich sonst nirgends, wie im arabischen, gothischen oder byzantinischen Style, Gekuppeltes und Bogenförmiges darbietet. Einen Engländer mag es wundern, auch selbst vor dem Thore dieses Tempels des Mercur alte Soldaten als Wachter, Portiers und Hauswärter zu finden. Freilich find es hochverdiente Krieger, denn eine ellenlange Reihe von Kreuzen und Medaillen, die jenseits des Kaukasus und Balkans erfochten wurden, ziert ihre Brust. — Der große innere Saal von kolossalen Verhaltnissen wird von oben erleuchtet und hat hinten und vorn, wie zu beiden Seiten, kleine, nur durch Arcaden von ihm getrennte Gemacher. Die Bdrse. 9s? In einem der. vorderen Raume ist ein Altar mit stets brennenden Lampen zum Frommen der griechisch-russischen Kaufleute errichtet. In seiner halb modernen, halb alterthümlichen Erscheinung gleicht er ganz den russischen Kaufleuten selbst, die sich bei'm Eintritte zum Geschäfte vcr ihm beugen und auch niederwerfen, um den Beistand aller Heiligen zum glücklichen Gelingen ihrer Pläne anzuflehen. Wie diese in blauem oder grünent modi' schen Ucberrocke, dabci aber mit langem Barte und nationalrussischen Physiognomieen erscheinen, so ist der Altar aus sehr vielen schon polirten Mahagonisaulen, die mit uergoldeten Knäufen im neuesten Geschmacke verziert sind, zusammengesetzt. Ein eben aus Paris angekommener Teppich liegt auf seinen Stufen, dabei aber zeigt er ein ganz alterthümliches verschwarztes Heiligenbild, das zu modemifircn man sich nicht erlaubte, eben so wie die Kaufleute es nicht wagten, an ihren Vart das Scheel Messer zu setzen. Die Petersburger Kaufmannschaft, die sich alle Mittage um 3 Uhr in diesem Gebäude versammelt, ist aus verschiedeneren Elementen zusammengesetzt als vielleicht die irgend einer anderen großen Handelsstadt. Jedoch dominirt darin sowohl in Bezug aus ihre Anzahl, als auch in Bezug auf die Wichtigkeit ihrer Geschäfte dieselbe Nation, die sowohl in Bordeaur und Kopenhagen, als auch jenseits des atlantischen Meeres in Baltimore und Philadelphia eine so Ton angebende Rolle spielt, und die außerdem in jedem soliden Seehandelsplatze der Welt ihre gewichtigen und angesehenen Repräsentanten hat, — die deutsche näm- M Die Börse. lich. Wassili-Ostrow, wo die dmtschen Kaufleute ganze Reihen schöner Häuser besitzen und wo fast jedes Wirthshaus und jeder Laden nur eine deutsche Überschrift hat, ist so deutsch, daß man es als eine sehr bedeutende Co-lonie unserer Nationalitat ansehen muß, und zwar wohl insbesondere als eine der neuesten Colonieen des Hansen tischen Bundes und seiner Pflanzstadte. Die ersten Hauser in Petersburg sind neben den englischen die deutschen, und den zweiten Rang füllen die letzteren beinahe ganz aus, es sind Sprößlinge von Bremern, Hamburgern, Lübeckern, Danzigern, KömMergcrn und dann insbesondere von Riga'schen, Newal'schen, Narwa'schen und Wiborg'-schen Kaufmannsfamilien, die sich hier ansiedelten und durch ihr Genie und ihre Charaktersolidität sich ihren Credit gründeten. Die nächsten deutschen Hafen von Newal, Narwa u. s. w. mögen verhaltnißmaßig am meisten zu dieser Kolonie beigetragen haben und ihre Hauser den eigentlichen Stamm der Petersburgischen Kaufmannschaft bilden. Es giebt schon sehr alte deutsche Häuser, einige zahlen über ein Jahrhundert und datiren noch aus den Kindheitsjahrm der Stadt. Der gesellige Ton in diesen Hausern ist der angenehmste, den man sich denken kann. Der Deutsche hat sich auf eine sehr verständige Weis« mit dem Russen abgefunden. Er hat, obnc ihn so entschieden wie der Engländer zu verachten, manche gute Eigenschaft von ibm angenommen und, N',dem er doch auf der anderen Seite seine deutsche Nationalitat nicht verleugnete, seine angeborene Solidität und Bildung beibehalten, die nun im Lichte und mit der Die Börse. M Verbrämung der russischen Gewandtheit im Benehmen und in der nordischen Gastfreiheit um so ansprechender ist. Freilich will man die junge, in Petersburg selbst aufwachsende Kaufmannschaft nicht sehr loben und behauptet, die Kolonie bedürft immer frisches Blut von außen. Nach den Deutschen kommen entschieden die Englander, die hier eine, in noch mehrfacher Beziehung gesonderte Kolonie bildm als die Deutschen, von welchey letzteren viele schon eingebürgerte Petersburger Kaufleute und russische Unterthanen geworden oder von jeher gewesen sind, wahrend jene durchweg blos zu den sogenannten „fremden Gästen" gehören, die in Friedenszeiten ble Meisten Vortheile der Unterthanenschaft bei Befreiung von vielen ihrer Onera genießen. Die Engländer nennen ihre Kaufmannschaft „die Petersburger Factors." Sie haben ihre eigene Kirche und leben, alle anderen Nationen, insbesondere aber ihre Schutzherren, die Russen, verachtend, ein abgeschlossenes Leben für sich, kutschen mit englischem Angespanne, gehen an der Newa auf die Bärenjagd, wie am Ganges auf die Tlgerjagd, nehmen vor dem Kaiser nicht den Hut ab und trotzen, auf ihre Unent-behrlichteit und ihre unüberwindlichen Flotten pochend, Jedermann, sie scandalisiren über Alles, was sie sehen, werden aber von der Regierung und Jedermann hoch gehalten, weil sie sich selbst hochstellen, und wohnen hauptsächlich an lxm prachtigen, nach ihnen benannten Quai, an dem übrigens auch sehr viele reiche Russen Prachthäuser besitzen. Kohl, Petersburg. II. 5 98 ' Die Borst. Außer diesen bciden Nationen, die vorzugsweise im Besitze des Petersburgischen Seehandels sind, finden sich aber auch noch Dänen, Schweden, Franzosen, Portugiesen, Spanier und Italiener, die alle ihre Repräsentanten und Handelsconsuln hier haben, und es giebt außer London gewiß keine andere Stadt von Europa, in deren Handel alle übrigen Völker des Welttheils so ohne Ausnahme interessirt waren, als Petersburg. Den Kolonieen und Factoreien der auswärtigen, seewärts speculirenden Kaufleute stehen die national - russischen gegenüber; sie betreiben nur vermöge ihrer weit verzweigten Bekanntschaften im Inneren des Landes die Anfuhr und Herbeischaffung der eigentlich russischen, zur Ausfuhr bestimmten Waaren, des Talgs, Korns, Holzes, Leders und alles Dessen, was etwa der asiatische Han» de! liefert. Die Vertheilung der in Petersburg ange» fahrenen ausländischen Waaren, der Manufacturer«, Materialien, Früchte, Weine u. s. w. in's Innere des Landes, sowie in Petersburg selbst, fallt ihnen nur zum kleinsten Theile zu; denn für diese feineren Product« mchtrussischer Industrie erjstken wieder in allen Städten des Inneren französische Putz,- und Galanterieladen, deutsche Apotheken, Materialien- und Tuchmagazine, französische und deutsche Weinkeller u. s. w., die sich ohne russische Vermittelung mit den Petersburger ausländischen Hausern in Corresponbenz setzen. Sehr wenige National-Russen handeln zur See, sie haben dazu weder die nöthigen Kenntnisse und Verbindungen, noch den eigentlichen, wahrhaft genialen Kaufmanns- und Speculations« Di« Börse. M geist. Der Nüsse kann sich seiner engherzigen und wenig idealen Natur gemäß nicht von seiner falschen Betrachtungsweise des Geldes losmachen und ebenso wenig sich nach Art aller orientalischen Kaufleute zu einer geistreichen Betrachtungsweise der Zeit erheben. —> Geld gilt ihm nicht als bloßes Mittel im Handel zur Anhäufung von Werthen und Vermehrung des Credits, sondern das blinkende Metall erscheint ihm eben als der eigentliche Zweck alles Handels; er kann sich daher nur schwer von einmal in Vesih genommenem Gelde trennen und sich nie entschließen, zur rechten Zeit zu verlieren, um größerem Verluste vorzubeugen, weßhalb er dem geistlosen Schachspieler und Feldherrn ähnelt, der am meisten gewonnen zu haben glaubt, je mehr Feinde er erschlug oder gefangen nahm, und nichts von Taktik der klug geleiteten Rückzüge und der schlau reparittm Verluste versteht. Der russische Kaufmann will bei jedem Geschäfte einen baarm, handgreiflichen Gewinn, wenn er auch noch so gering ist, sehen und würde gewiß nie einem amerikanischen Dampfschifffahrer nachahmen, der Jahre lang Passagiere von einem Orte zum anderen gratis transportirte und dabei Tausende zusetzte, um zunächst seine Eoncur-rentm auf die Seite zu schaffen und dann durch einen erhöhten Preis seinen erlittenen Verlust zu decken. Die Aengstlichkeit und Geldliebe der russischen Kaufleute geht so weit, daß sie oft in die größte Pedanterie ausartet, und daß sie z. B., wenn sie zwei Partieen von derselben Waare gekauft haben, die eine zu einem höheren, die andere zu einem niedrigeren Preise, und dann der Preis 5' W0 Die Bdrse. ber Waare sinkt, sich sicher nur entschließen werden, von der billigeren Partie zu verkaufen und die höher bezahlte, obgleich um nichts bessere, so lange als möglich angstlich aufspeichern. Sie cntriren daher auch leicht ein jedes Geschäft, das Aussicht auf Geldgewinn gewährt, ohn« seine Solidität zuvor lange zu untersuchen. Eben so wenig wissen sie auch, was das heißt, wenn ber Deutsche sagt: ,,3eit gewonnen, Alles gewonnen," und kennen nicht das Sprüchwort des englischen Kaufmanns: „Zeit ist Geld," sondern wie der nradische Kaufmann, den Vurkard beschreibt, lassen sie in Hoffnung auf die Möglichkeit, dem Verluste auszuweichen, Jahre verstreichen, ohne zu berechnen, wie indeß die Procente an ihren Capitalien fressen. Indessen werden doch Vi>ele — die große Mekge Derer, welchen auf der Bahn zum Tempel des Gelbes das Rad bricht, ist ungezählt — wohlhabend und reich, und es giebt in Petersburg Leute genug, die aussehen wie Bauern und Geld haben wie Lräsusse; denn es wird bet der Lebhaftigkeit des Petersburger Handels und seiner stets im Auslande gesuchten Artikel unglaubliches Geld bei deren Verkaufe verdient. Eine nicht geringe Merkwürdigteit ist es, daß diese Kaufleute trotz aller ihrer Gelbliebe doch Verluste leicht verschmerzen. Es soll sel-ren vorkommen, daß ein bankerotter russischer Kaufmann, wie bei uns dieß doch leider nur zu häufig geschieht, sick) «in Leides anthut. Zum Theil läßt sich diese, anschei-u«M Mit dem Vorigen in Widerspruch stehende Erscheinung aus dem überhaupt leichten Temperamente der Russen erklären, zum Theil daher, daß ber russische Kauf- Die Börse. M mann mit dem Verluste feines Geldes nicht auch seine kaufmännische Ehre und seinen bürgerlichen Credit an-. getastet glaubt, weil etwas der Art bei ihm gar nicht eristirt. „Nox t-'nim!" (Gott mit ihnen!) spricht cr zu seinen verlorenen Nudeln und fängt sein Kartenhaus „«' IioFom!" (mit Gott!) von Neuem an. Es giebt nicht wenige russische Kaufleute in Petersburg, die schon mchr, als ein Mal aus einem Echiffbruche nichts retteten als ihr rothes Hemd und ihren Kaftan und doch jctzt wieder als angesehene Männer auf der Börse den langen Bart sich streichen. Der Mittelpunct des ganzen Petersburger Börsenverkehrs, die Axe, um welche sich Alles drehte, die Sonne> die hier das Wetter machte, das Thermometer, dessen Bewegungen Alle scharf beobachteten, die Quelle, aus welcher Alles Leben und Thätigkeit empfing, war noch vor wenigen Jahren ein Sprößling desjenigen merkwürdigen Volks, aus welchem seit Jahrhunderten alle Geldmanner Europas hervorgingen. Der allgemein hochgeachtete Baron S. war es, der in Petersburg den nervu.»! rvrum elek-trisirte, der Rothschild Rußlands, ohne den kaum irgend eine große Unternehmung in's Leben treten konnte. Jetzt ist dieser Ehrenmann gestorben. Das jährlich von ihm blos im Seehandel umgesetzte Capital betrug 30 bis 35 Millionen; Vieles hat er in allen Theilen Nußlands bis an's schwarze Meer hin in Gütern niedergelegt. Sein kluges, hellleuchtendes Auge, seine kleine gedrungene Na-poleonssigur und sein alter einfacher, grüner Ueberrock waren täglich in der Mitte der Börse zu bemerken. In <62 Die Börse. der Nähe dieses Mittelpunctes drängte sich das Gewühl der englischen, deutschen und französischen Kaufleute, auf welche aus dem oberen Dache des Saales das hellste Licht direct herabfallt. — In den sechs Seitenzimmern haben sich die Talghandler, Zuckerbacker, Kornhandler und Holzverkaufer vertheilt, und jede Classe hat durch Gewohnheit von einem besonderen Raume Besitz ergriffen; eS sind fast lauter Russen, mit und ohne Bart, mit langen, gescheitelten, nach alter slavischer Weise kreisrund beschnittenen Haaren, einige Greise noch im Kaftan, andere in modernen, französischen Röcken; zwischen ihnen und den Seeherrcn in der Mitte sieht man die in bestandig rühriger Bewegung begriffenen, zum größten Theile deutschen Mäkler mit silbernen Marken im Knopfloche wie Kometen umherschweifen. In den äußersten Kreisen endlich, in den Vorzimmern, befinden sich die „Artelschtschiki," eine Art von Commissionarcn oder Comptoirdienern, die zum Vries-tragen, Geldschleppen und zu anderen Votendiensten bestimmt sind, deren man immer einen bei jedem Petersburger Kaufmanne findet und zwar immer einen von russischer Nationalität, welche sich am beßten zu diesem Geschäfte zu eignen scheint. Diese Versammlung der Petersburger Kaufleute ist gewiß die größte Gesellschaft anstandiger, gebildeter und achtbarer Leute, die man in Nusiland finden kann, ohne daß ein Orden oder Ritterkreuz auf einer Brust erscheint. Außer jenen silbernen Marken, welche die Makler als Zeichen der Bestätigung und Beeidigung zu ihrem Geschäfte tragen, und außer großen pfundschweren Medail- Die Börse. 103 len, welche sich einige russische Kaufleute haben um den Hals hangen lassen, bemerkt man kein Abzeichen dieser Art, lauter schwarze Fracks und lauter simple grüne Ueberröcke. Dem, der gewohnt ist, sich immer zwischen den reich be-corirten Uniformen russischer Generale und Hofleute oder Petersburger Akademiker und Professoren, deren goldgestickte Röcke von überschwanglichem Verdienste mehr glit-tern als der Orion von Alphas und Betas, zu bewegen, mag dieser Anblick so vieler einfarbigen Leute, die doch gebildet und anständig sind, höchst auffallend und sonderbar erscheinen, und es ist nicht zu sagen, wie sehr das verwöhnte Auge dadurch betroffen und fast beleidigt wird, während manches andere wieder mit Wohlgefallen auf diesem wohlthuenden Anblicke ruhen mag. Die Versammlung, die übrigens keineswegs in allen ihren Elementen gentlemanlike ist, und wo ein Engländer manches stille Aergerniß an den sich mit eindra, gen-den polnischen Juden, an den ebenfalls zuweilen auftretenden Tataren und Vucharen nehmen mag, erscheint Dem, der das Innere des Landes kennt und das lange Echo, das ein paar in diesen Hallen gesprochene Worte, oft nur einige stumme Pantomimen durch alle die gro^ ßen Landereien hin habcn, zu deuten weiß, im höchsten Grade interessant. Mit flüchtigem Bleistifte notirt der Makler einige tausend Centner Talg in scin Buch, — von beiden Seiten ein bestätigendes Kopsnicken, — und der Tob von Hunderten, im fernen Steppcnlande gra« senden Ochsen ist beschlossen. Welche Votschaften! welche Eorrcspondenzen! welches Hirtenhallo! welches Schlach- 104 Die Börse. ten und Blutvergießen! welches Schiffergetümmel! was für Arbeit, Schweiß, Noth und Tod, im Gefolge dieser einfachen Notirung und ldiescs stummen Kopfnickens, bis der Talg endlich aus den Gräsern unter das Fell der Schafe und Ochsen, aus diesem in die Siedekessel der Ssalganen*), aus den Ssalganen auf die Schiffe der Wolga, Oka, Newa, und aus der Newa über die Ost-, West- und Nordsee nach London gekommen ist, und bis endlich in Dublin, oder Glasgow, oder Gott weiß, in welchem Winkel der Erde eines spaten Abends ein Herr zu seinem Diener spricht- „Charles, stecke das Talglicht an und lass' verglimmen dieß Endresultat so vieler Bemühungen, lass' ruhig zerschmelzen und zergehen dieß Product so tausendfacher Unruhe in das allgemeine Reservoir aller sich lösenden Elemente." „Gospodin Müller, werden Sie mir nicht einen Auf-, trag geben auf einige Holzsplitterchen? Vielleicht würden Sie mit meiner Lieferung zufrieden sein?" spricht ein langbartiger Kaftan zu einem deutschen Ueberrocke, der beide Hände in der Tasche halt. „Ja, wollen «s versuchen, Gospodin Pawlow, notiren Sie für mich 1200 Mastbaume erster Größe, 6000 Spieren und 300 Schock Eichenplanken, 1^ Fuß breit, 2 Zoll dick," antwortet Mütter und geht, ohne eine besondere Emotion zu verspüren, seinen Weg weiter, um neue Auftrage zu geben. Denkt Müller wohl mit einer einzigen Gedankensylbe an das Heer von Tauben und 4) Südrussischc Talgsiedereicn. Die Börse. 105 Eulen, die er mit diesem rücksichtslosen Auftrage aus ihren mütterlichen Nestern aufstört, an das Chor von Hamadryaden, das er unter den grausamen Beilen der Wologdaer und Wiatkaer Plotniks erseufzen laßt? Ahnt er in seiner lahmen Phantasie nur von fern die Verwüstung, welche sein Auftrag in wenigen Tagcn in den schönen Urwäldern anrichten wird, an denen die Diener der Natur, die Sylphiden und Gnomen, Jahrhunderte lang schassten und arbeiteten? — Müller weiß davon »nichts. Nach 1^ Jahren — denn so lange brauchten die schwerfalligen Balken, die der zauberische Credit des Kaufmanns entwurzelte und auf das Fluß-waffer brachte, um gefällt zu werden, um durch die ver» schiedenen Flußsysteme des inneren Nußlands sich hindurchzuarbeiten und dann auf der Newa zu erscheinen, — empfängt er die Balken, schreibt so viel in's Credit, so viel in's Debet, läßt sich melden, wann die Hölzer in London angekommen sind, und kümmert sich dann wenig darum, welche Flagge dereinst diese Baume, die er wider ihren Willen dem festen Waldboden entrissen und in's sturmbewegte Leben hinausgetrieben, bewimpeln wird, welche Weltthcile sie umsegeln und an welchen Felgen sie zerschellen werden, um im tiefen Grunde eines antarktischen Meeres endlich einer späten langsamen Auflösung entgegmzufaulen. Große Portionen von Zucker werden gesucht. Herr Karigin will 1W0 Centner, Herr Machowsky eben so viel, und Herr Stanikewitsch kauft Alles an, was ihm geboten wirb, gute und schlechte Waare. Der Markt 5.. 106 Die Bdrst. von Nowgorod steht bevor, und die letzte Messe von Char-koss hat einen großen Theil der Vorrathe erschöpft. Die Karakalpaken haben sich in neuerer Zeit auch daran gewöhnt, ihren Thee mit Zucker zu trinken, und im Kirgisenlande will jeder kleine Junge schon ein Stück Zucker zu seinem „Tschai" (Thee) haben und schreit, wenn die Mama es nicht gleich giebt. Die Bucharen, die Oren-burger und Tataren haben diesen Schrei vernommen, und es sind Nachrichten in Petersburg eingelaufen, daß sie mit großen Karawanen auf Nowgorod im Anzüge sind, die alle Zucker mit zurücknehmen wollen. — Hui! was sctzt es nun auf allen Inseln Westindicns für Peitschenhiebe auf die armen Sklavenrückcn! „Neger, arbeite, rasch, hacke den Boden, haue die Rohre um, treibe die Ochsen, tritt die Presse, flink, flink, daß der süße Saft fließe, rühre den Kessel, daß er sich klare! Hebe die Kisten rasch in's Schiff! So! und nun, Aeolus, schicke deine Diener! Blaset, blaset! Seid folgsam, ihr Elemente, seid artig, ihr Tritonen! Ihr Gestirne, zeigt den Weg, und ihr, Helios und Diana, helft unserem Schiff-lcin leuchten, denn die Vucharen haben es nach Nowgorod gemeldet, und die Nowgoroder haben die Botschaft an Herrn Machowsky in Petersburg geschickt, und Herr* Machowsky hat es Herrn Snopes vertraut. Herr Sno-pes hat nach London an Hicks und Sohn geschrieben, und Hicks und Sohn haben es jenseits des Meeres verkündet, daß die Kirgisenknaben nach Zucker schreien und daß man ihnen ihre Dosen füllen soll." Der Saal der Petersburger Vorse ist so groß, daß Die Börse. 107 die Kriegsmusiker aller Garderegimenter darin mit Be» quemlichkeit ihr Echo finden könnten, allein er ist nur für Geflüster gebaut. Eine vernehmliche Rede wurde hier noch nie gehalten, und was allenfalls laut gesprochen wurde, sind Bagatellen. „Wie befindet sich Ihre werthe Frau Gemahlin?" — „O, wir haben uns auf unserer Newafahrt gestern tresslich amusirr, wir waren da und dort, und bei Dem und Dem." — „Ja das gebe ich zu, bei A___s speiset man sehr gut, doch befinde ich mich bei B___s comfortabler." — Das ist es, was man laut vernimmt. Aber, wenn man ein paar Leute die Köpfe zusammenstecken sieht, die pimw und p>nms«üno sprechen und mit den Nücken ihren Kreis verpalissadiren, so daß keine Maus hineindringen kann, kann man darauf rechnen, daß es etwas setzte, daß ein Tractat geschloffen wurde und daß es, wenn das Gewisper zu Ende ist, zu einem Resultate kam. „Ja, Herr," „nein, Herr!" — „Es ist zu viel!" „Dreitausend, — vier, — zwanzig, — hundert, — tausend," — ,,October," — „November," — „London," — „Hull," „Baltimore." — ,>Nun, ich nehme!" — „Abgemacht!" — „Es bleibt dabei, Herr Curtius!" — Was war es? — Herr Curtius verkaufte tiUO Last schönen Tula'schen Weizen und 2W Last beßte Pleskau'sche Leinsaat nebst 3W Stein livlandischem Flachs an Herrn O'Higgins. Jene 600 Last Weizen fielen mehr als eben so vielen armen Vauerfamilien zur Last, zu schwerer, niederdrückender Last. Mit Stockprügeln wuche mancher arme Russe deßwegen auf den Acker getrieben, und wie viele jener 108 Die Börse. kleinen unermüdlichen Pferdchen, deren Nace so weit im Norden verbreitet ist, mußten sich deßwegen pflügend, eggend und dreschend abarbeiten und oft, unter unzähligen Schlägen schmachtend, zu Boden sinken. Vei der Ernte mußten die Leute Tag und Nacht frisch und munter sein, die Mütter, Knaben und Madchen — die kleinen Säuglinge lagen dabei schreiend im feuchten Grase, und die Kranken seufzten, ungepflegt in den Häusern zurückgelassen. — — Doch was kümmert dieß die Her« ren O'Higgins und Cuttius? Mögen die harten Gutsherren ihre Rechnung mit dem Himmel selber abschließen, sie machen die ihrige unter einander fertig und fragen dann in London an, ob sie hungerige Leute haben, deren dort denn auch immer mehr als unter den Kirgisen vor? Handen sind, und auf diese Weise gelangt denn die harte Brotrinde in den Mund des englischen Bett-lers, der dabei denkt: „wären meine Lords nicht so mar« melherzige Steinbilder und striche der Petersburger Kaufmann nicht so viel Prosit vom Brote weg für seiner Töchter Equipage, für seiner Tafel gute Weine, so könnte ich vielleicht mir auch ein Häppchen mehr gönnen," — und am Ende muß er doch noch dem russischen „Pamesch-tschik" (Gutsbesitzer) dafür danken, daß er seine Leute nicht müssig gehen ließ und daß er sirenge Aufsicht aus ihre Arbeit hatte, die den Englander wenigstens vom Hung«' tobe rettete. Außer t^m Vrote für die Englander, dem Holze für die Hollander, dem Talge für die Schotten, bildet noch Flachs und Hanf einen hauptfächlichen Artikel für Die Borst. 109 die Petersburger Börse, obgleich vielleicht von Riga, dessen Düna recht mitten durch die Flachs producirenden Lan» der geht, von diesen Waaren, so wie auch von Leinsaat, noch mehr verschifft werden mag. Bei der ganzen Einrichtung dieses Handelszweiges, der dafür angestellten und beeidigten Braker und der dafür eigens bestimmten Zunft der Packer haben die Einrichtungen von Riga als Muster gedient, und man findet in Petersburg in diesem Fache ganz die Riga'schen Gewohnheiten wieder. —- Wahrend die Stadt die feinen deutschen und hollandischen Linnen, die so gesucht sind, daß sie selbst einen Zoll von 200 Thalern pro Eentner tragen können, von außen empfängt, gehen ungeheuere Massen rohen Flachses und groben Gewebes und insbesondere hänfene Stricke beßter Qualität von hier in alle Welttheile aus. Die russischen Stricke, die Petersburg verschiffte, findet man in jedem kleinen Laden der geringsten deutschen Landstadt wieder. Wag bei uns gut gebunden sein will, muß mit einem russischen Stricke gebunden sein, und man kann buchstäb« lich behaupten, daß halb Europa in russischen Banden liege. Ebenso ist fast ein Dritttheil aller europäischen Ketten aus russischem Eisen geschmiedet, das, aus den ungeheueren Besitzungen der Demidows, Iakowlews und anderer russischen Großen, die sich ganzer Aeste des Uralgebirges bemächtigt haben, hervorgehend, ebenfalls unter die ersten Handelsartikel des Newahafens rangirt. Der Werth der ganzen Ausfuhr aller dieser rohen voluminösen Artikel, die der russische Binnenhandel theils auf gewaltigen Flußschiffen, theils auf leichten Schlitten und lW Die Bdrst. kleinen schnellräderigen Telegen herbeiwälzt, an denen aber gewöhnlich mehr und bequemer Geld verdient wird als an den zierlichsten Producten der Kunst, betragt jährlich «m Durchschnitt 150 Millionen Rubel. Der Talg steht in dem Verzeichnisse der Exporten entschieden und überwiegend obenan; er betragt ungefähr ein Drittel der ganzen Ausfuhr. Nach dem Talge kommen Leinwand, Leinsaat, Hanf und Stricke mit etwa einem Fünftel des Ganzen» darnach folgt Getreide mit beinahe eben so viel, dann Eisen und Kupfer mit einem Zehntel des Ganzen, alsdann Häute mit einem Zwanzigstel, Holz mit nicht viel weniger, und endlich Potasche und Oel ebenfalls mit namhaften Brüchen. Der Werth der ausländischen Waaren, die auf 1500 bis 1700 zur Hälfte englischen Schissen herankommen, übersteigt den der inländischen, für die Rückflchr bestimmten um 30 bis 40 Millionen, und es findet nur in dem so außerordentlich privilegirten Hafen von Petersburg dieß Verhältniß des Imports zum Exporte statt, da alle anderen russischen Häfen unvergleichlich mehr aus-als einführen. Keine deutsche Stadt steht mit Petersburg in so lebhaftem Verkehre als die, welche am ent< gcgengesetzten Ende der Ostsee liegt, nämlich Lübeck, das allein jährlich 60 bis 70 Schiffe schickt, d. h. eben so viele als die vereinigten Staaten, Frankreich oder Schweden, drei Mnl mehr als Hamburg und zehn Mal mehr als Bremen. Unter den eingeführten Waaren steht Das, was die westindischen Neger und die Sklaven der englischen Fabrikherren bearbeiteten, obenan, nämlich roher Di« Börse. 111 Zucker und baumwollene Stoffe; beide Artikel allein belaufen sich auf die Hälfte der Einfuhr. Nach ihnen kommen die Weine Frankreichs, unter denen entschieden der Champagner die erste Stelle einnimmt, der in Rußland mehr Vlutwellcn durch die Adern treibt als in irgend einem anderen Lande, denn es wird im Schatten des russischen Adlers mehr Champagner getrunken*) als Kaffee, der mit einer erstaunlich geringen Summe in den Importationslisten bebulirt. Petersburg und das halbe Reich, das von hier aus damit versorgt wird, zahlt nicht mehr als jährlich 3 bis 4 Millionen für diesen letzten Artikel an's Ausland, was denn gewiß weniger ist als DaS, was das Königreich Baiern allein dafür verausgabt. Des Kaffees Bruder, der Thee, der sowohl im Besitze des Morgens als des Abends ist und sowohl die schläferige Morgennüchternheit der Nüssen hinunterspült, als sie des Abends gesprächig macht, hat den Kaffee, der nur in den vornehmen Hausern allenfalls in einem einzigen Schalchen nach dem Diner seine Aufwartung machen darf, nicht aufkommen lassen, ja scheint ihn von Tag zu Tag mehr zu vertreiben. — Ausländische Tabake werden ungefähr für 8 Millionen, Seidenwaaren für 4 Millionen, Früchte für 2 Millionen, Käse für 1 Million eingeführt. Viele dieser Artikel mögen unbedeutend erscheinen, wenn man sie mit dem von Petersburg aus versorgten Handelsgebiete, das mehr als die Hälfte des *) Jährlich etwa «00,000 Flaschen, dic in Rußland zu 900,000 Rubeln verkauft werden. 112 Die Börse. ganzen Reichs beträgt, vergleicht. Sie zeigen sich aber als ungcmein reichlich, wenn man erwägt, daß sie vielleicht nur für einige hunderttausend Reiche, Auslander und Adelige bestimmt sind, die mit Ausschließung des zahllosen, „Tschornoi narod" (gemeinen Volks) allein von jenen Kostbarkeiten prositiren. Die Itit) Millionen Importen zahlen an Zoll ungefähr 50 Millionen, im Durchschnitt betragt also die Verzollung der Waaren in Nußland 33 Procent oder ein Drittel ihres Werthes. Es ist wohl keine Frage, daß, wenn man einmal dieß Zolldrittel wegfallen lassen wollte, sich die Handels-thatlgkcit verdoppeln oder verdreifachen würde. Der gebildete Mann würde dann nicht nur ein Drittel-Mal, sondern zwei ooer drei Mal billiger leben, es würden sich viele Tausende mehr im Stande sehen, an dem vom Auslande gebotenen Lebenscomfort Theil zu nehmen, es würden die rohen Products Nußlands um Vieles billiger und in weit größerer Masse als bisher abgeholt werden. In Folge dessen würden sich der Ackerbau, die Viehzucht und ble Waldwirthschaft ungemein verbessern und veredlen, die Bevölkerung und die Einkünfte des Privatmannes sich mehren, die Grunbkräfte des Reichs würden aufgeregt und der Natur überall mehr abgewonnen werden, Wege und Kanäle würden dann gebessert werden, der Grundbesitz würde an Werth gewinnen, die großen Güter würden von selbst in kleinere Stücke zerfallen, und selbst der Schatz des Kaisers würde sich besser dabei stehen, wenn er auch anfangs dabei etwas leiden müßte. Die unnatürliche und kostspielige Fabriciruna, vieler Die Börse. N3 Products, die doch meistens nur auf äußerst unvollkom« mene Weise erzielt werden, würbe aufhören, und di« Kräfte des Volks würden sich mehr auf Verbesserung solcher Industriezweige wenden, die seinen und seines Vaterlandes Zuständen angemessen sind und deren Fabrikate man ihm nie aus dem Auslande würde zuführen können. Der ganze Handel Petersburgs mit dem Auslande beschäftigt jährlich ein Capital von ungefähr 300 Millionen. Dauon kommt auf Rechnung der „ausländischen Gaste" (immxli-lümi^ ^««tlll) etwas mehr als ein Viertel (75 bis 80 Millionen), und das Uebrige (220 Millionen) auf die einheimischen, dem Reiche unterthä-nigen Kaufleute (Nüssen, Deutschen, Franzosen, Schweden u. f. w.). —' Es.giebt mehre Häuser in Petersburg, die allein jährlich für 10 bis 20 Millionen umsetzen, welcher Umsatz ungefähr ein Drittel des ganzen Handels von Riga betragt*). Der Handel ist trotz der drückenden Zölle noch immer in einer ungeheueren Zunahme begriffen; blos im Laufe des verflossenen ersten Drittels dieses Jahrhunderts hat er sich verdoppelt"). — Die eif- *) Vs sind ungefähr 150 über See verkehrende, in Petersburg etablirte Großhändler, davon 20 bis 24.englische Häuser, 5 französische, 1 spanisches und nahe an I(X) deutsche. ") Wenn einige Reisende bchauptcn, «r habe sich vernier« oder gar verfünffacht, so geschieht dieß wohl nur in Folge solcher Tabellen, auf denen die verschiedenen Werthe der ein-und aus-geführttn Waaren in Rubeln angegeben wurden, ohne daß dabei bedacht wurde, daß der Rubel auch noch seit dem Anfang« dieses Jahrhunderts bedeutend im Werthe gesunken ist. Die Anzahl 114 Die Börse. rigsten Zwischenhändler zwischen der Newa und dem AuS-lanbe waren in alten Zeiten die Hanseaten, seit der Gründung Petersburgs während der ganzen ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts die Holländer und seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts die Engländer. Das erste Schiff, welches in den neuen Hafen Petersburgs einlief, war ein holländisches, dasselbe, auf dem Peter der Große in Holland den Seedienst und die Steuermannskunst erlernt hatte. Es wurde mit außerordentlichen Freuden-bezeigungen und Festlichkeiten aufgenommen und ihm das Privilegium ertheilt, auf ewige Zeiten AlleS, was es an Bord führte, zollfrei in das Ncich einzubringen, und es ging dieses Privilegiums erst am Ende des vorigen Jahrhunderts verlustig, als es seine Fahrten einstellen mußte, weil es auf keine Weise mehr möglich war, das Schiff stürm- und wogenfest zu repariren. Noch jetzt wird immer das Schiff, welches im Mn nach siebenmonatlichcr Winterreise als Frühling verkündende Schwalbe zuerst anlangt, mit besonderen Freudenbezeigungen empfangen und hat sich auch mancher Begünstigungen zu erfreuen. In dem ersten Jahre seiner Existenz bis 1720 sah Petersburg jährlich nur 12 bis 50 Schiffe ankommen, von 1720 bis 1730 aber schon 100 bis 250, im Reste der ersten I^hrhundertshälfte jährlich im Durchschnitt 300 bis 400, in der zweiten Iahrhundertshälfte 700 bis 900 der Schiffe gicbt einen besseren Maßftab. Am Ende des vorigen Jahrhunderts bis I5M» liefen ungefähr jährlich 800 bis 909 Schiffc in Petttbburg cin, jetzt kommen daselbst gewöhnlich nahe an 2000 an. Die Vdrse. N5 und in diesem Jahrhunderte jährlich im Durchschnitt 1200 bis 2000. Die Ukasen von Peter dem Großen, vermöge deren er theils verbot, daß die Waaren aus dem Inneren nach Archangel gebracht werden sollten, theils gebot, daß Archangeler Kaufleute sich m Petersburg niederlassen und überhaupt alle Kaufleute des russischen Inneren ein Drittel ihrer Waaren zur Ausfuhr an die Mündung der Newa schicken sollten, haben keineswegs allein den Han« del der Stadt so groß gemacht. Man ziehe um die Gouvernements Moskau, Twer, Kaluga, Wiatka, Orel, Tula, Iaroslaw, Kostroma, Nowgorod, Wladimir u. s. w., die den eigentlichen großrussischen Kern des Reichs bilden und der Sitz jener ungemeinen, aufstrebenden Volksbewegung sind, einen Kreis, und man wird finden, daß die innere, tief in's Land eindringende Spitze des sinnischen Meerbusens dieser Haupt- und Lentralmasse des sich cultwirenden und verjüngenden Reichs sich als nächster und bequemster Meereshafen zum In- und Export darbietet, und daß Archangel, Neual und Riga auch ohne jene Ukasen allmalig verlassen oder doch wenigstens auf ihre ihnen eigenthümlich angewiesenen Gebiets-kceise zurückgewiesen werden musiten. Jene Ukaftn führ< ten diesen natürlichen Gang nur etwas schneller und energischer herbei. Der Börse zur Seite im Westen am Ufer der kleinen Newa zieht sich das „c>,8t<>m-lwu8o" oder, wie die Russen sagen, die „Tomoshna" hin, an deren Quai alle Schisse, die nicht über 9 Fuß tief im Wasser gehen, bequem landen können, um die Waaren aus- und ein- 116 Die Börse. zuladen, und in der Nähe derselben befinden sich große Waarenmagazine, mit Reichthümern aller Art gefüllt. Unmittelbar hinter der Börse ist auch noch ein großer, mit eisernem Gitter umgebener Platz, auf dem ebenfalls das ganze Jahr hindurch bei allen verschiedenen Wetter« Phänomenen bedeutende Massen von Waaren und mitunter recht zärtliche, z. B. Zucker, unter freiem Himmel aufgespeichert liegen. Man findet in ganz Rußland, sogar in Niga, mitten aus dem Markte der Stadt solch« vorlaufige und oft sehr lange dauernde Deponirungen von Waaren, wie man sie in anderen Landern nie zu sehen bekommt. Es erklärt sich diese Sitte wohl aus der gewohnlichen Rohheit der russischen Handelsgegenstande (des Holzes, der Felle, des Talges, des Leders u. f. w.), die im Ganzen wenig empfindlich gegen das Wetter sind und durch eine Matte oder durch ein dickes getheertes Tuch leicht geschützt werden mögen. Da einerseits die Erbauung von Magazinen hierdurch natürlich seltener wurde, und man andererseits jene getheerten Tücher u. s. w. schon vorgerichtet hatte, so mochte man die Gewohnheit, die Waaren unter ihnen zu verbergen, auch bei anderen empfindlicheren Gegenstanden beibehalten. Man sieht oft in jenem Hofe unter solchen getheerten Lappen blos auf untergelegten Balken Blei, Kupfer, Eisen, Zucker, Weine, u. s. w. Monate lang lagern und bald Schnee, bald Regen, bald Sonnenschein über sie hingehen; man findet hier Blei, dessen Nußland aus dem Auslande bedarf, genug, um alle Krähen der Welt zu todten, wollte man auch auf jede einen Dreipfünder abschießen, Zucker Die Börse. 117 in solchen Massen, um den Ladoga-See zu süßen, und Weihrauch und Gewürze, um damit das ganze Reich zu balsamiren, Hölzer der verschiedensten Art, die Elite brasilianischer und westindischer Wälder. Im Frühlinge, bald nach Eröffnung der Schifffahrt, wird auf eben diesem Platze hinter der Börse ein ganz eigenthümlicher Markt abgehalten, der die ganze Petersburger Gesellschaft hier vereinigt und für Jung und Alt, für Vornehm und Gering ein großes, lange sehnlich erwartetes Vergnügen, wie für manchen Schiffer und Handelsmann die Quelle eines nicht zu verschmähenden Gewinnes ist. C's werden hier dann viele solcher ausländischen Products ausgekramt, welche die Kaufmannschaft für zu unbedeutend halt, um sie zu einem besonderen Gegenstande ihres Handels zu erheben, deren aber die Schissscapitane und Matrosen sich bemächtigen, um damit in der Heimath ein Geschenk zu machen oder eine kleine Speculation zu verbinden. Papageien nämlich und viele andere rare Vögel, Affen, Meerkatzen und sonstige kleine, seltene Thiere, die man in vornehmen Häusern füttern könnte, und prachtvollen Blumen aus den tropischen Zonen schreien bann hier in bunten Tönen und grellen Farben durch einander. Auch (5onchi)Nen, wunderliche Geräthe und Kleider wilder Völker werden hier wohl zuweilen zu Markte gebracht; ja mitunter führt ein Kapitän selbst einen schwarzen Negerburschen mit sich herum, um ihn, wenn auch nicht gerade als Sklaven — Gclo gegen arbeitendes Fleisch und Bein — zu verkaufen, doch gegen Lohn in die Dienste eineS Vorneh- 118 Die Börse. men treten zu lassen. Nach dem todten, stillen und farblosen Winter gefallt dieß bunte Gewühl, die erste Gabe, welche das Ausland der nordischen Stadt gleichsam als Handgeld zum Beginn neuer Geschäfte spendet, besonders gut, und die Waare geht reißend ab, vor Allem die kreischende und fratzenschneidende. Die T h e e l ä d e n. „Von allen schönen Waaren. „Zum Markte hergefahren, „Wird keine mehr behagen, ,,Als die wlr euch getragen ,,Aus fremden Ländern bringen" <^)u den vielen befreundeten Nachbarn, mit denen der Russe an den weitreichenden Gränzen seines Vaterlandes verkehrt, zählt man außer den Schweden, Deutschen, Persern, Mongolen, Engländern und Mexikanern auch die Chinesen, deren lieblich duftendes Getränk das Entzücken von ganz Rußland ausmacht. Der Reisende hat kaum die Gränzen Nußlands überschritten, so riecht er an dem herrlichen Thee, der ihm überall servitt wird, sogleich die Nähe Chinas durch. „I^ewi" (Thee) ist einer der drei mächtigen Abgötter der Russen geworden, die in dem beständig in Rußland vernommenen Refrain: „lsolnn*), t-zelin!, 8ol>t«cki**)" *) Rang. ') Kohlsuppe. 120 Die Theeläden. wiederktingen. Tschai ist das Morgen- und Abendgetrank der Nüssen, wie „tln^piäi ^omilui" ihr Abend- und Morgengebet. Tschai ist ihre Medicin in hundert Krankheitsfallen, und die gefüllte Theetasse das Meer, in welchem sie alle ihre Sorgen ersaufen. Es giebt sogar Völkerschaften in Rußland, deren alltagliches und vornehmstes Nahrungsmittel der Thee ist, deren Suppen, Brühen und Pur/es lauter Theesuppen, Theesaucen und Theepun'es sind, und die kein Glas Waffer trinken, es sei denn mit Thee gewürzt. In der ganzen Mongolei wie bei einigen Sibiriaken ist für die Köche dieser Nomaden zu jenen Zwecken der sogenannte „Kirpitschni tschai" (Ziegelthee) verbreitet, der, mit animalischen Bestandtheilen und einigen anderen Krautern gemischt und wie unsere Bouillonertracte in feste Ziegelform gebracht, in Waffer aufgelöst, eine sehr nahrhafte und weit und breit beliebte Speise giebt*). I.es «xli-^me^ 8L wnokont, und daher mag es sich erklären, daß dasselbe Volk, welches so leidenschaftlich dem pikantesten aller Getränke, dem Branntweine, zuspricht, auch eben so innig das flaueste von allen, den lauen Thee, liebt. —> *)'Dieser Kirpitschni-tschai ist seit uralten Zcitcn unter jenen Völkern gebräuchlich. Seit wie lange und auf welchem Wege vor der Errichtung des Kiächta'schcn Handelsrmponums chine« , sischrr Thce nach Nußland qckommm scm und sich den Russen als Bedürfniß aufgedrungen haben mag, ist wohl taum genau zu bestimmen. Ucbngcns tranken und trinken die Russen auch außer drm chinesischen 2hce warme Aufgüsse von einer erstaunlichen Menge getrockneter Blüthen und Beeren, die sie in ihrem eigenen Vaterland« finden. Die Theelüden. 12!. Als Prometheus die verschiedenen Nationen schuf, und der Grieche sich auf Befragen ein schönes Weib erbat, der Italiener Macaroni, der Engländer Becfstakes, da nahm der Nüsse vor dem Menschenschöpfer hoflich den Hut ab und erbat sich ein Trinkgeld ,,"» ^ucllc»" (zum Branntwein) und eins „ n» t8o!>^!i" (zum Thee). — Und man wird zugeben müssen, daß er nicht das Schlechteste forderte, wenn man erst ein Mal von dem achten chinesischen Karavanenthee, wie er in Rußland getrunken wird, kostete. Wir machen bei uns unter dem Namen Thee ein Gebräu, wobei jeder russischer Gaumen Mühe haben wird, es für etwas Schmackhaftes zu halten, und von dem die Russen schwer begreifen, daß ein solcher Handelsartikel so viele Millionen Thaler, Hände, Schiffe und speculirende Köpfe beschäftigen kann. Sei es, daß England und Amerika ihren Thee aus denjenigen chinesischen Provinzen beziehen, die der Entwickelung dieser Pflanzen weniger günstig sind als die nördlichen, mit denen Nußland in Berührung kommt, sei es, daß der Seetransport den Duft dieser Blume verdirbt, genug eine Tasse Thee, wie sie dir in Petersburg bei der Gräfin L. oder der Fürstin F. von schöner Hand servirt wird, ist das edelste Getränk, das in einem Gefäße schwimmen kann, und in enthusiastischen Theeliedern könnte seine zarte Eigenthümlichkeit nicht weniger begeistert besungen werden als die des Gersten- und Nebensaftes in Dithyramben. Bescheiden wie das Veilchen drftend, laulich die Kälte bannend, freundlich dcm Gaumen schmeichelnd, durchhaucht es den Menschengeist mit süßer Würze und be-Kohl, Petersburg. II. . g 122 Die Theelädm. lebt das Gedankenspiel mit stillem Zauber. Wenn Vac-chus, der Gott des Weins, ein freilich kräftiger, aber lärmender Gott ist, so ist die Theegöttin ein jungfräuliches, zauberisches Wesen, ein ätherisches Gebilde, eine Freundin der Psyche. Sie zankt nicht, sie poltert nicht, sie lispelt leise wie eine Aeolsharfe und tanzt allenfalls, fern von den Ausschweifungen der tobenden Bacchanten, eine graziöse Frau^aife im Thee dansant. In China, wo diese Göttin geboren ist, wo dem rauhen Bacchus in nichts gehuldigt wird, ist daher auch die schönste Theetemperatur in allen Gemüthern. Die Leute scheinen dort nur Theegewasser in ihren Adern stießen zu haben, sprechen unter allen Umstanden artig, blumig, gebildet und zart, halten jeden weintrinkenden Fremden mit Recht für einen Bacchanten und finden unser ganzes ungestümes Wesen rauh und barbarisch. — Von den europäischen Landern ist, wie gesagt, Rußland b.is einzige, wo man von allen diesen wunderbaren Dingen noch einiges Verständniß erlangen kann. Die hübschen Theeladcn Petersburgs in der Perspective und anderen guten Stadttheilen /ind so zierlich und elegant, daß sie kleine Tempel zu sein scheinen, welche man der Theegöttin erbaute. Sie sind vielleicht das Hübscheste, was man in dieser Art finden kann, da europäischer Geschmack, Petersburger Luxus und chinesische Zierlichkeit sich hier vereinigen, um die Räumc zu schmücken und die Waaren wohlgefällig zu ordnen. Denn da die Nüssen es in der Feinschmeckerei des Thees zu eiuem hohen Grade von Kennerschaft gebracht baden, und Die Theeläden. ,123 die Waare delicat und kostbar ist, so kommm die vornehmen Herrschaften oft selber in diese Läden, um ihre Einkäufe persönlich zu machen, und es muß daher Allcs salonartig geschmückt sein. „Hier verkauft man alle Sorten chinesischen Thees," steht gewöhnlich mit goldenen Buchstaben an den Fenstern einer solchen „I^olttnnijü lawkn." Das will viel sagen. Denn der Gattungen, Gassen und Varietäten, welche die Nüssen bis jetzt aus dieser Waare heraus-geschmeckt, sortirt und benannt haben, sind schon mehre hundert, und die eleganten Preiscourante, welche die Kaufleute ihren Kunden zuschicken, gleichen den Pstanzen-25erzeichnifsen der Botaniker. Von den gemeinsten Sor-ten kostet das Pfund 5» bis 10 Rubel, und von diesen geht es hinauf bis zu den edelsten, die 100, ja zuweilen bis 400 Rubel das Pfund gelten. Kaum hat man die Theebude geöffnet und zieht den Fuß vom Straßenpflaster der Perspective, so verlaßt man Europa und tritt in das leibhaftige China ein. Der Boden ist mit chinesischen Teppichen belegt, die Wände sind mit chinesischen Tapeten von den zierlichsten Stickereien behängen, und matte Lichter in bunten chinesischen Papierlampm erleuchten das Ganze mit Mondscheinschimmer. Alle Sachen und Möbeln sind von ächter chinesischer Arbeit, und es fehlte nur, baß auch die Verkäufer sich chinesisch maskirt hätten, um die Täuschung, daß man sich mitten im himmlischen Reiche der Mitte befände, vollständig zu machen. Auf den dick-stofsigen Scidi'ntapeten sieht man chinesische Garten mit 6* 124 Die TtMäden. manierlich gemeißelten Felsen, artig beschnittenen Bäumen und hübsch gedrechselten Häusern dargestellt. Hier beschäftigt sich ein Arbeiter mit Zubereitung der gepriesenen röthlichen Theeblüthe, dott lauschen ein paar chinesische Madchen dem Gesänge eines im Käsig zwitschernden Vogels, hier überreicht ein chinesischer Schöngeist und Liebhaber einer jungen Dame ein Blumen-bouquet, von schönen Redensarten begleitet, und dort empfängt im Beisein eines Mandarin ein Arbeiter die Va-stonnade. Der lieblichste Wohlgeruch erfüllt die Raume, in denen es sich so leicht und angenehm athmet, daß man wünscben mochte, ewig in einer solchen Tl)ttbuden> Atmosphäre Athem holen zu dürfen. Der Theeduft schmeichelt den Sinnen auf die gefälligste Weise und erfüllt die Seele mit Heiterkeit, obne den Kopf einzunehmen und die Neruen zu überreizen. Nur ein holländischer Käsehändler, der für nichts enthusiasmirt ist «ls für den Geruch seines Edamer und seiner Häringe, kann ohne Begeisterung diese Theeluft genießen. Die kostbaren Blüthen selber sind in eine Menge von Kästchen und Beuteln von verschiedenster Form, je nach Verschiedenheit der Sorte, verpackt und mit so viel Accuratesse und Ordnung in den lackirten Schranken ran-girt, wie hübsch gebundene Bücher einer Bibliothek. Man sieht an diesen Kästchen, wie hoch die Chinesen ihre Waaren schätzen, denn sonst würden sie an diesen gebrechlichen, doch nur zur Verpackung dienenden Hüllen nicht so viel Kunst Verschwender haben. Die kostbarsten Sorten liegen zu einem oder zu zwei bis zu fünf Pfunden D« Thccläden. 125 in höchst sauber und appetitlich gearbeiteten, nußbraunen, schwarzlackirten und mit Vergoldung gezierten Schachteln, an denen die Arbeit so lim ist, als sollte sich der Thee mit dieser Reisetoilette gleich in den Salons produciren. An manchen sind sogar ganz eigenthümliche Basreliefs angebracht. Die Figuren dieser Basreliefs bestehen aus einer Art von Papiermache und ihre Kleider aus sehr künstlich gearbeiteten Seidenstoffen. Schwerlich möchte man in Europa außer London nach sonst einen Fleck finden, wo si'ch so bequem Leben und Industrie, Zustände und Sitten der Chinesen studiren ließen wie in Petersburg. Und es ist daher dieß Alles wohl der Beachtung eines Petersburger Beobachters werth. Zuweilen giebt das Basrelief einen Zweikampf, zuweilen eine ganze Schlacht Mit den Mongolen, mitunter einen Theetrinker und am hausigsten ein verliebtes Paar, ein verschämtes sittsames Madchen und einen entzückten Liebhaber, der ihr mit nachdrücklichen Gesticulation«« seine chinesische Liebe erklart. Bei den Scenen der letzteren Art fehlt nie ein filberpapierenes Streifchen, das den Mond vorstellt, und ein weißer Klecks, der eine versilberte Wolke bedeutet. In diesen Kastchen, auf Chinesisch, wie man mir sagte, „Lausin" genannt, schlummert nun die holde Blüthe, in bleiernem Gewände wohlverwahrt. Um wiederum den Lack und die Malerei der Lansins zu conserviren, sind sie in zarte Papiere sorgsam eingeschlagen. Ein Gestecht aus Vambusrinde umgiebt das Papier, und zwischen dieser und dem Geflechte ist noch eine Menge von Faserstoff sorgfaltig eingeschoben. So verhüllt, werden die Käst- 126 Die TtMäden. chen zu Dutzenden in große Kisten gestellt, und diese großen Kisten, auf Russisch-chinesisch „Tzibiken" genannt, sind mit behaartem Kalbsleder umnagelt. Auf diese Weise kann denn freilich kein Atom des kostbaren Duftes entfliehen, und kein fremdartiges Tröpfchen auf einer Reise um den Globus störend in das verschlossene Aroma eindringen. Jene groben Hüllen haben die Kisten nun freilich in den eleganten Boutiquen abgeworfen, doch kann man sich in den hinteren Abtheilungen der Magazine AlleS zeigen laffen. Thee ist allerdings der Hauptzweck alles russischen Verkehrs mit China. Allein es schleppen sich in scincm Gefolge noch viele andere chinesische Waaren in Rußland ein, die mit ihm gemeinschaftlich die Steppen der Mongolen und die Eisfelder der sibirischen Nationen bis zur Newa durchziehen, seidene und baumwollene Stoffe aller Art und darunter schr kostbare, Malereien, Pfeifen, Theeserviccs, Mosaikarbcitcn, Götterbilder, Laternen, aus feinem lackirten Holze höchst zierlich geschnitzt, Toiletten-kastchen, Spielsachen, Alles mit einer bewundemswerthen Vollendung gearbeitet. Wenn diese chinesischen Produtte nun auch noch nicht gerade Bedürfniß in Nußland geworden sind, so sind sie doch ein nicht unbedeutender Modeartikel, und neben den Sammlern chinesischer und mongolischer Raritäten, deren es in Petersburg mehre giebt, eilen auch die vornehmen Damen in die T^'ee-buden, um sich etwas Hübsches zur Ausschmückung ihrer Salons zu holen. Auch die Maskeraden in Petersburg, auf denen chinesische Costume sehr beliebt sind, brauchen Die Theeläden. 12? viele Artikel dieser Art. Zuweilen sind große und brillante Maskeraden bei Hofe gegeben, und chinesische Sit-len und Etiketten treu, aber komisch dargestellt worden. Der Kaiser von China mit seinem ganzen fabelhaften Hofe fehlte dabei nicht, und der Kaiser von, Rußland und seine ersten Minister übernahmen Rollen in einem solchen Schauspiele, als wenn China ein längst verschollener Name wäre, ohne zu bedenken, daß jener Kaiser noch jetzt lebendes und fühlendes Fleisch ist und leicht eine solche Persiflirung seiner Manieren übelnehmen könnte. Welche wunderbare Verhältnisse zweier Staaten, die auf mehre hundert Meilen Lange Nachbarn sind und doch sich gegenseitig so sehr ignoriren, als waren sie fabelhafte Utopier. Russen, die lange in China waren, versicherten mir, daß man dort nicht einmal den Namen von Petersburg kenne und es auch nicht im Geringsten der Mühe werth halte, der Residenz der benachbarten Barbaren einige Aufmerksamkeit zu schenken. — Mit dem, obgleich schon sehr bedeutenden, doch immer noch zunehmenden Verbrauche des Thees in Rußland werden auch die chinesischen Products, welche mit ihm einwandern, immer zahlreicher, und die Interessen Rußlands könnten sich leicht so innig mit denen Chinas verflechten, daß einmal vielleicht auch ein paar chinesische Provinzen mitwandern werben. Die erste Hauptniederlage für alle diese Sachen ist Irkutzk, die zweite der Markt von Nowgorod, und die dritte, der vornehmste Zielpunct der ganzen Reise, Petersburg. Die Theeladen sind hier so elegant mit jenen chinesischen Kunst- und Industrieproduc- 125 Di« Theeladcn. ten verziert, daß sie Peking'schen Boudoirs gleichen, und den Galanteriewaren-Läden des himmlischen Reichs wenig nachgeben mögen. Es kommen hier chinesische, mit Silber oder Gold brodirte Zeuche vor, von denen die Elle oft mehre hundert Rubel kostet, und doch haben sie gll^ ten Abgang. Während meiner Anwesenheit in Petersburg kam der Fall vor, baß einer dieser neu angekommenen Stoffe das Wohlgefallen der Kaiserin erregte und sie einige Ellen davon zu haben wünschte. Sie fand jedoch den Preis von 250 Rubeln für die Elle zu theuer und ließ den Stoff ungekauft. Aber als sie sich am anderen Tage dennoch anders besann und in dcn Laden schickte, um sich 1l) Ellen holen zu lassen, war schon das ganze Stück bis auf den letzten Rest an eine reiche Unterthanin verhandelt. In der Holzschneidekunst haben es die Chinesen ungemein weit gebracht. Ich sah unter Anderem einige 4 Fuß hohe Candelaber, aus kohlschwarzem Holze von durchbrochener Arbeit. Feine, zartbeblümte und beblätterte Zweiglein waren in einander verwebt, den Rumpf und die Arme des Leuchters zu bilden, und die Wurzeln verschlangen sich innig zur Darstellung der drei Füße. Durch die Lücken und Durchbrüche des Geschlinges schimmerte ein untergelegter Goldgrund, der hübsch von dem schwarzen Holze abstach. Ein gewisses Braunroth und Schwarz scheinen überhaupt die kieblingsfarben der Chinesen zu sein, wenigstens haben ihre Holzwaaren alle diese Uniform. Wie weit die Ausschmückungssucht dieser Leute geht, vermöge deren sie Allem, selbst dem Kleinsten, Form Die Theeläden. . 129 und Farbe zu geben suchen, zeigten die Kerzen aus Baum-wachs, welche in dcn Candelabern steckten. Sie waren nicht rund, sondern achteckig, pyramidallsch und nach unten zugespitzt. Auf den Seitenflächen der Kerzenpyra-mide waren viele kleine erhabene Basreliefs angebracht, und zwischen den Basreliefs wieder Malereien und Arabesken. Ja sogar oben am Rande der Kerze tanzte ein Paar aus Wachs bossitter Figürchen, die spater die Flamme fressen mußte. Daß kaum eine Kunst in Europa getrieben und in neuen Zeiten erfunden worden ist, welche die Chinesen nicht schon langst kannten und übten, zeigt sich auch hier wieder. So machten die Chinesen schon, ehe die Welt noch an Florenz dachte, Florentiner Mosaik, und sic schicken jetzt die elegantesten Sachen von dieser Arbeit nach Petersburg. Man sieht kleine Landschaften, in denen jedes Blättchen der Baume aus einem eigenen grünen Steinchen gebildet ist. 3u den gewöhnlichen und stehenden Artikeln gehört unter anderen eine gewisse Art von Fächern, deren sich die russischen Damen bedienen, um den grellen Schein .des Kaminfeuers zu mildern. Aus Federn, aus Pflanzenfasern, aus feinen Hölzern, aus dünnen Papieren, ^us Seidenfäden und anderen zarten Stoffen wissen die chinesischen Hände sie wohlgefällig und zierlich darzustellen. An manchfaltigen, sammetähnlichen, seidenartigen, spinnen-webfeinen Papieren sieht man hier das Bewunderns-wertheste, so wie in Tuschen und anderen Farbstoffen das Exquisiteste vorhanden ist. liw Die TtMäden. Wir hatten früher auch in Europa eine Epoche, wo die geschicktesten Künstler darauf ausgingen, an hübschen, aber unnützen Künsteleien ihre Zeit zu verschwenden. Unsere Kunstkabinete und grünen Gewölbe sind noch voll von allerlei solchen künstlichen Spielereien. Die pedantischen, altfränkischen, in Allem, was sie thun, stets zierlichen und blumenreichen Chinesen scheinen in dieser Kunstperiode schon seit Jahrtausenden begriffen zu sein und werden vielleicht nie aus ihr in eine andere übergehen. Sie verschwenden eben so viel Phantasie und Talente in Erfindung und Ausschmückung von Bagatellen als in Veredelung und Vervollkommnung des Nützlichen. In den Petersburger Theebuben sieht man unter Anderem ganze Schranke blos mit allerlei kleinen Automaten gefüllt, lauter höchst zierlich gearbeiteten Puppen, den kostbarsten Kinderspielzeugen, die aber in China, wo sich auch die Phantasie der Erwachsenen noch gern kindlich zu ergötzen scheint, gang und gebe sind. Die Gefälligkeit der russischen Kaufleute klaubt es leicht, alle diese Puppen auszukramen, ihr Räderwerk aufzuziehen und das chinesische Straßcnlebcn, wie es leibt und lebt, auf dem langen Tische vor sich hin spazieren zu lassen. Am häufigsten sieht man unter diesen Figürchen folgende wiederkehren: ein junges Madien, das auf einem weißen Zelter reitet, — einen Schreiber, der mit einer Masse von Papierrollen zum Gerichte läuft, — ein paar Mandarine, die sich vor einander bis zur Erde beugen, — einen Ritter, auf einem kleinen Elephanten trabend, — einen anderen, auf einem goldenen Drachen über den Die Thceläden. 131 Tisch hin raschelnd, — einen Wasserträger, der seine Last langsam fortschleppt. — Wenn einmal die Petersburger Liebhaber aufhören sollten, das Alles so theuer zu bezahlen, fo könnten die russischen Theehändler mit ihren Buden auf unsere Messen kommen und in unseren Residenzen herumreisen, und sie würden gewiß mit dem Produciren ihres interessanten chinesischen Mikrokosmus, den sie enthalten, uns Spaß genug bereiten. I n d u ft r i e. „Munter entbrennt, des Eigenthums floh, das Gewerbe, „Glänzend umwindet der goldene Lein die tanzende Spindel, „Durch die Saiten des Garns sauset das wedende Schiff. ^ <<^5ir bemerkten schon oben, daß in Rußland allen ausländischen Waaren gewöhnlich auch Ausländer, insbesondere Deutsche und Franzosen, als Verkäufer dienen und daß der Handel mit den westeuropäischen Manufac-tur- und Kunstproducten ein vom ächttussischen und orientalischen Binnenhandel getrennter und für sich bestehender Verkehrszweig sei. Petersburg ist durch seine Lage und seine Privilegien fast der einzige Hafen, von dem aus ausschließlich ganz Nußland mit Bijouterieen, Nhren, Kleidern, Weinen, Tüchern, Spitzen, Seidenwaa-ren, Cattunen u. s. w. versehen wird, und Alles, was Riga, Odessa, Archangel, Taganrog, Neval u. s. w. an dergleichen Sachen einführen, ist äußerst unbedeutend. Industrie. 13H Es haben sich daher in Petersburg erstaunliche Vorräthe solcher westeuropäischen Waacen aufgehäuft und große Magazine gebildet, die in den Provinzstadten wiedcr theils wirklich von ihnen abhangende Filialmagazine gegründet, theils andere ihnen ahnliche hervorgerufen haben. Es geht so von Petersburg aus von Stadt zu Stadt bis in die äußersten Städte des Reichs, bis Charkow, Woro-nefch, Astrachan, Tobolsk und Kaluga ein höchst merkwürdiger, von Ausländern betriebener Handel mit Kunst-producten, für welche sie gewöhnlich in jeder russischen Stadt eine eigene kleine Kolonie gegründet haben, indem sie sich meistens an der Hauptstraße derselben ansiedelten und festsetzten. Diese durch das ganze Reich, d. h. über halb Europa und halb Asien gehenden Stadtkolonieen der ausländischen Künstler, Handwerker und Kunstproductenhänd-ler, die als gebildete Leute sich mittels ihrer Waaren auch ganz eigenthümliche und bedeutende Wirkungskreise verschaffen, die nicht nur als Kaufleute, sondern auch noch sonst vielfach im Dienste der Cultur stehen, und die als einfache Uhrmacher, Kleiderverfertiger, Vijouteriehandler oder Tuchverkaufer oft von einem Einflüsse und einer Wichtigkeit sind, die ihnen blos als solchen gar nicht zukommen, sind gewiß eine der Aufmerksamkeit jedes Reisenden würdige Erscheinung. Da sie alle sich auf eine auffallende Weise gleichen, sogar bis in die kleinsten Züge und Eigenthümlichkeiten, weil immer die in ganz Rußland sich gleichbleibenden Verhaltnisse und Bedürfnisse auf dieselbe Weise auf sie eingewirkt haben, — da nicht nur die vcr- 184 Industrie. schiebenen Branchen dieses Kunstproducten-Vinnenhandels auf dieselbe Weise zerfallen und nicht nur die Magazine überall auf dieselbe Weise eingerichtet sind und dieselben Waarm sich immer zu denselben Waaren gch'llcn, sondern auch immer dieselben Menschen bei denselben Waaren gefunden werden und diese Menschen überall von derselben Nationalitat, von denselben Lebensschicksalen sind und dabei dieselben Eigenschaften entwickeln and dieselben Fehler in der Fremde annehmen, so wird es sich auch insofern lohnen, über diese ausländische Manufactur und Industrie 'in Petersburg die gemachten Bemerkungen zu sammeln, als dadurch zugleich die unzähligen Kolonieen in allen übrigen Theilen des Reiches charakterisirt erscheinen. Nach der Ansicht des gemeinen Russen zerfallt die ganze Welt, d. h. die europaische, in „Nascha Storona" (unsere Seile) und „Wascha Storona" (euere Seite), unter welcher letzteren Benennung er das ganze annoch nicht-russische Europa versteht *). Dieses ganze übrige Europa nennt er auch das „Ausland," und gewöhnlich bildet er sich ein, daß darin AlleS ganz vortrefflich beschaffen sei, die Menschen äußerst gut, die Natur ungemein schön, die Kunstproducte vollkommen und untadelig. Denn daher kommen ja zu ihm diese „Inostranzi" (die Auslander), dlese klugen Leute, die Alles besser verstehen als er, *) In diesem Sinne sagte mir ein Russe, indem er mit mir von einem Professor sprach, der aus Ungarn gebürtig war: „Ihr müßt ihn ja wohl kennen, er ist ja von Euerer Seite." Industrie. ' 135 die so gebildet und fein sind und von, denen er so Vieles lernen muß. Diese Inostranzi, Franzosen, Deutsche, Schweizer, Schweden, Italiener, die übrigens keineswegs erst seit Peter dem Großen in Rußland erschienen sind, sondern schon seit mehr als hundert Jahren vor ihm in's Reich wanderten und sich in seinen Städten ansiedelten, waren von jeher, wenn auch nicht immer, wie seit des Iwan Wassiliewitsch Zeiten, durch kaiserliche Bestimmungen, doch durch ihre eigene Ueberlegenheit ein privilegirter Stand. Ihre meisten Freiheiten stammen aber von Peter dem Großen und Katharine« her, und obgleich seit der Zeit hier und da Versuche gemacht worden sind, sie darin zu beschränken, so sind sie doch im Ganzen noch in hohem Grade bevorrechtigt. Sie handeln und arbeiten frei von Stadt zu Stadt durch das ganze Reich, indem sie völlig nach ihrem Belieben und je nach ihren Talenten bald zu diesem, bald zu jenem Gewerbe greifen. In unseren deutschen Staaten erscheint der arme Ausländer von den privilegirten Inlandern ungemein beschrankt, ja gedrückt und verfolgt zu sein, wahrend in Nußland umgekehrt der Ausländer gegen den armen Inländer als beneidenswerlh privilegirt dasteht. Nicht nur die Privatpersonen, sondern auch die Behörden glauben sich, wenn es von Ie^ mandem heißt! „on inostrnnea" (er ist ein Ausländer) zu höflichcrem Benehmen und zu einem gewissen Respect verpflichtet. „.Ill inu^i-niiea sich bin ein Auslander), Hut ab, Russe!" sagt der Deutsche, und „verzeihen Sie, Ew. Hochwohlgeboren," antwortet der Russe und legt die Hand an seinen Hut. Es ist daher natürlich, daß ein Ino, 1.36 Industrie. stranez sich so lange als möglich dieses kostbare Pra-dicat, diese werthvolle Eigens6)aft zu erhalten sucht. Allerdings sucht die Regierung zu Zeiten alle Inostranzi zu vernichten und sie als Unterthanen zu incorporiren. Es erscheint dann und wann ein Befehl, daß alle Auslander im ganzen Reiche, die so und so lange sich daselbst aufgehalten haben, ohne Widerrede zur Fahne schwö' ren sollen, was allerdings Manchen in Schrecken setzt. Denn da es dann für einen Kaufmann ober Handwerker, der sich durch keinen Staatsdienst irgend einer Art einen „Tschin" (Rang) erworben hat, keine andere Klaffe giebt als die der „Kupzi" (Kaufleute) oder „Msch-tschamns" (Stadtbürger), bei denen er sich einschreiben lassen könnte, diese aber nicht nur unter dem Stocke stehen, recrutenpsiichtig und noch sonst mancherlei Plackereien unterworfen sind, so suchen sie dieß natürlich auf alle Weise zu vermeiden. Einige reisen bei'm Erscheinen einer solchen Vorschrift auf einige Zeit in's Ausland und kommen mit neuen Paffen als neue Auslander zurück, Andere wissen sich diese Paffe im Lande selbst zu verschaffen oder sonst auf andere Weise durchzuschlüpfen, und so gelingt es ihnen, ihre Vorrechte noch selbst auf ihre Kinder zu vererben, die als Kinder von Auslandern ebenfalls als „Inostranzi" eingeschrieben werden. Ein „Inostranez," wenn er nur einigermaßen ein Mann ,, ser abscheulichen, schreienden, kratzenden, krachenden, schrillenden, kreischenden und schrickscnden Arbeit beschäftigt. Wenn die Folter, auf der die armen Gehörnerven dieser Leute den ganzen Tag liegen, sie nicht völlig abtödtet, so mag ein Gesang nach dieser Arbeit sie im höchsten Grade beseligen. Uebrigens ist es auffallend, daß diese Fabrik weniger in der Feinheit und Accuratesse der Schleiferei als in der Kühnheit und Gewandtheit, mit der hier große Güsse ausgeführt werden, ercellirt. Auch für die russischen Kirchen wird hier viel gearbeitet, in denen aus Glas gegossene Balustraden und Einfassungen sehr in Mode sind. Man erzählte uns hier von dem erfinderischen Geiste eines Russen Folgendes. Der Kaiser hatte den Plan, die Aleranbersaule des Nachts mit Lampen großartig erleuchten zu lassen; die Größe der runden Lampen ward vom Baumeister so bestimmt, wie sie der Größe des Monuments zu entsprechen schien, und die Glaser wurden darnach in der Fabrik bestellt, wo sich aber alle Arbeiter vergebens abmühten und außer Athem bliesen, um die vorgeschriebene Größe zu erreichen. Da der Auf- Industrie. 149 trag nicht wohl unerfüllt bleiben konnte, so setzte man hohe Prämien für den Arbeiter aus, welcher die Aufgabe lösen würde. Alles verschwendete von Neuem seinen Wind, ohne zum Zwecke zu gelangen; endlich trat ein bärtiger Mann auf, der bisher den Uebrigen nur zugesehen hatte, und erklärte, er wolle die Prämie verdienen; er habe eine gesunde Lunge, nur wolle er sich zuvor den Mund mit etwas kaltem Waffer ausspülen, um seine Organe zu erfrischen. Er nahm etwas Wasser in den Mund, Glasmasse auf die Röhre und blies der Art, daß sich in wenigen Augenblicken die Kugel hob und wölbte, größer und größer wurde und bald über das vorgeschriebene Maß hinauswuchs. „Halt! halt!" schrieen Alle dazwischen, „genug! genug! Wie hast Du es angefangen?" „Die Sache ist sehr einfach," antwortete der Bauer, „aber erst gebt mir meine Prämie." — Als er diese in der Hand fühlte, erzählte er, daß er ei' nige Tropfen Wasser im Munde behalten und sie nach und nach durch die Röhre in die glühende Kugel entlassen habe, wo sie ihm denn, in Dampf verwandelt, diese guten Dienste geleistet hatten. Es ist ein ausgemachtes Factum, daß elnige von den auS Europa nach Nußland verpflanzten Industriezweigen jetzt hier schon vollkommener als im Auslande selbst betrieben werden. Dahin gehört die Verfertigung des Siegellacks, das man außer in England nirgends besser und billiger als in Nußland haben kann, sowie vielleicht auch die große Peterhof'sche Papierfabrik. Als der Kaiser Alerander im Jahre 1818 in England war, lud 150 Industrie. er englische Papierfabrikanten nach Nußland ein, die ihm die Fabrik bauten, indem sie die Maschinerie dazu aus England selbst mitnahmen. Dieselbe ist auf einem äußerst großartigen Fuße eingerichtet und liefert jetzt jährlich nicht weniger, als 70,000 Ries Papier von allen Sorten, insbesondere aber feines Papier. Für das grobe Papier sorgen schon viele im Inneren des Reiches, besonders von Gutsbesitzern errichtete Fabriken. Man muß gestehen, daß ihre Producte, sowohl die feinen Schreibpapiere, als die Zeichnen- und Briefpapiere, das Vollkommenste sind, was man sich wünschen kann. Die zarten, bläulichen, rötblichen, grünlichen und gelblichen Bogen werden gleich in der Fabrik selbst in so zierliche Formate zurccht geschnitten, wie die Liebhaber sie zu ihren Billets-doux verbrauchen und wie alle Damen sie in Menge und schönster Auswahl hier auf ihren brillanten Schreibtischen liegen haben, wie sie sich die Grasin t. wünscht, um darauf einige elegante franzosische Redensarten an die Fürstin V- hinzuwerfen. Man muß über die ungeheuere Masse eleganter Schreibmaterialien, die Rußland jetzt in dieser Branche der Schriftstellerei verbraucht und mit denen man in Peterhof ganze Magazinkammern angefüllt sieht, erstaunen. Man sagte uns in der Fabrik, daß Nußland schon einigen Dank an England abstatten könne, da bereits nicht Weniges von diesem Papiere nach England und sogar auch nach Amerika gehe. Es ist eine auffallende Erscheinung, daß man gegenwärtig fast nirgends elegantere Briefe als in Rußland hat. Das Postpapier ist das beßte; auf Kalli- Industrie. 151 graphic halt man erstaunlich viel, und die Couverrkuna. ist immer sehr accurat und hübsch. Alle die großen und kleinen, breiten und länglichen, beschriebenen und beschmierten Vliese, die ein deutscher Postillon herumschleppt, sieht man nie in den Händen eines russischen. Man findet daher in den russischen Papier- und Krambuden als einen ganz gewöhnlichen und stehenden Artikel, nach dem man vor einigen Jahren bei uns, selbst in den Hauptstädten, sich vergebens müde rannte, fabrikmäßig verfertigte Vrief-couuerts vom feinsten und gröbsten Papiere dutzendweise zu kaufen. Die Arbeiter in der Papierfabrik, 800 an der Zahl, stammen alle aus dem Petersburger Fmdelhause, sie sind schneeweiß gekleidet wie die Köche, tragen durchgangig sehr zierliche, aus Papier gearbeitete Mützen von eigener Erfindung und verfertigen sich auch sonst noch gelegentlich aus diesem Stoffe manches kleine Instrumentchen. Auch Papier ohne Ende wird hier mit jenen von den Englandern erfundenen Maschinen, deren Thätigkeit eine wahre Zauberei zu sein scheint, gemacht; denn wahrend oben an dem einen Ende die Elemente noch schlammig und aufgelöst im Chaos schwimmen, haben sie, über die Walzen und heißen Kupfercylinder sich ergießend, einige Schritte weiter schon Consistcnz und brauck-bare Form und Gestalt gewonnen und wickeln sich unten als vollendetes, festes Papier auf die Rolle. In demselben Gebäude mit der Papierfabrik befindet sich auch eine kaiserliche Edelsteinschleiferei, wo aus dem Schmuz der Schleifsteine nach Verschwendung unsäglicher Mühe die glänzenden Facetten der Vrillan- 152 Industrie. ten hervorgehen. Bei dem großen Reichthums des Urals und-Mais an edeln Steinen und bei dessen immer eifrigerer Ausbeutung wird diese Anstalt in Zukunft wohl noch mehr zu thun bekommen. Doch auch jetzt schon ist ihre Thätigkeit bedeutender als die irgend einer kaiserlichen oder königlichen Edelsteinschleiferei. Denn es möchte wohl kein zweiter Hof gefunden werben, der solche Massen edler Steine theils selbst verbrauchte, theils an Andere verschenkte, wie der Petersburger. Blos die Menge von Edelsteinen, welche das Ordensklipitel zur Auslegung der Sterne und Kreuze, die es beständig auf die Uniformen der inländischen und ausländischen Großen herabregnen läßt, consumirt, ist unglaublich groß, noch mehr aber die, welche an Brillantringen, Armbändern und tausend andere Bijoux verschwendet werden, mit denen der Hof allenthalben seine Gunst bezeigt, da es Sitte ist, daß der Kaiser oder die Kaiserin fast nirgends erscheinen, wo sie zufrieden zu sein Ursache hatten, ohne ein huldreiches Geschenk zu hinterlassen, wie es im Oriente umgekehrt Sitte ist, daß Niemand vor dem Gebieter oder der Gebieterin erscheint, ohne daß er durch ein zierliches Geschenk ihr Wohlgefallen zu erwerben sucht. Wenn der Kaiser oder die Kaiserin reisen, so befmdet sich unter ihrem Gepäcke allemal eine mit Juwelen gefüllte Kiste, die selten ungeleert nach Hause kommt. Unzahlige Damen erscheinen mit der zu Edelsteinen verkörperten kaiserlichen Gnade und Güte überschüttet. Wenn diese Geschenke immer zum treuen Andenken bewahrt und nicht in der Negel wieder zu Gelde gemacht würden, wodurch sie dann Industrie. , 153 ihre Circulation durch die Hand« der Juden und Goldschmiede und durch die kaiserliche Schatzkammer häusig und rasch vollenden, so würden bald nicht Edelsteine genug aus den Brüchen und Gruben zu beschaffen sein. Ein kleines Kabinet geschliffener Steine, das mit dieser Anstalt verbunden ist, zeigt die interessantesten Raritäten, Dosen, Ringe, Figürchen aller Art, unter Anderem auch eine Sammlung kleiner Obelisken von Topasen, an denen die Wappen aller russischen Gouvernements angebracht sind. Jeder von ihnen ruht auf einem Piede-stale, das aus Steinen mit den verschiedensten Farben des Gouvernements zusammengesetzt ist. Das Schönste aber und Eigenthümlichste, was aus diesen Schleifereien hervorgeht, sind die großen, prachtvollen Malachit-Vasen, zu denen Sibirien das Material liefert. Nirgends in der Welt wird diese herrliche Substanz in so exemplarisch großen und untadeligen Stücken gefunden als dort, und es werden hier Vasen daraus gemacht, deren eine oft an hunderttausend Rubel zu stehen kommt. Manch« Paläste europaischer Könige sind schon mit diesen kostbaren Petersburger Vas.'n geschmückt, und auch auf den Landsitzen der russischen Großen findet man viele, die sie ankauften, oder die sie als Gnadengeschenke vom Hofe empfingen. AehnUche Niesenexemplare von Vasen gehen aus der kaiserlichen Porzellanfabrik hervor, die sich aber, wie es scheint, am wenigsten anderen Instituten di«ser Art 'm Auslande an die Seite stellen kann. Sie liegt in der Nähe von Alexandrowsk, einem anderen kleinen Orte 7.. 154 Industrie. bei Petersburg, wo außerdem auch noch bedeutende Baum-wollenmanufacturcn und Eisengießereien errichtet sind. Die Eleganz und Großartigkeit, mit welcher besonders diese letztere eingerichtet wurde, ist bewundernswerth. Doch muß sie einer ähnlichen Anstalt des Englanders Baird zu Petersburg selbst, die im Aeußercn allerdings keine solche Eleganz zeigt, in Bezug aus Güte der Arbeit den Vorrang zugestehen. Die Regierung selbst hat sich genöthigt gesehen, die Ausführung aller bedeutenden Aufträge nicht ihrer eigenen Fabrik, sondern jenem Beard zu überlassen. Die Etablissements dieses Englanders, die in jeder Hinsicht sehr bedeutend und großartig sind, befinden sich unmittelbar hinter der neuen Admiralität. Die wichtigsten darunter sind eine Zuckerfabrik, eine Eisengießerei und eine Holzschneiders!. Für die Anfuhr der rohen Waaren und der abgehenden Fabrikate, so wie für die zehn Dampfschiffe, welche Mr. Baird außerdem noch besitzt, und mit denen er den Passagiertransport zwischen Kronstadt und Petersburg besorgt, hat er hier einen besonderen Hafen zu eigenem Vcdarfe für sich graben lassen. Das Holzschneiden besorgen mehre Dampfmaschinen, und damit der nach Vretern zu jeder Zeit großen Nachfrage zu jeder Jahreszeit genügt werden könne, werden die großen Kanäle, in denen das Holz schwimmt, im Winter durch Dampfröhren geheizt, so daß nichts einftieren kann. Das ganze Jahr hindurch sind hier die gefräßigen Zahne der Sägen thatig, die ächzenden Bäume zu zer. schneiden, an denen in den Wäldern dec Mordwinen und Industrie. 155 Wiatkaer die Natur Jahrhunderte lang arbeitete. Un^ säglich ist die Menge der zersägten Planken, die von den Stürmen Sibiriens so lange Reihen von Jahren hin-und hergebeugt wurden und dazu bestimmt sind, in Zukunft nur unter dem tanzenden Fuße der Petersburger Schönen zu schwanken, bis dereinst die rothen Leuchten an den Thürmen Petersburgs ihr rasches Ende in einer der zahlreichen Feuersbrünste der Stadt verkünden werden. Die Zuckerfabrik des Herrn Vaird wird Niemandem qezeigt, weil der starke Vertrieb ihres Products daS Resultat eines Geheimnisses ist, eines neu entdeckten Surrogats, vermöge dessen man auch ohne Ochsenblut den Zucker reinigen kann. Die Russen versagen sich nämlich auS übertrieben gewissenhafter Religiosität wegen des kleinen Antlieils animalischer Stoffe, die der Zucker bei dieser gewöhnlichen Reini^ungsmethode haben könnte, allen Genuß desselben wahrend der Fastenzeit. . Nur der mit dem Stempel der Vaird'schen Fabrik versehene kommt dann auf die Tafel und den Theetisch, well man überzeugt ist, daß von ihm alle Anwendung von Thiersubstanz fern geblieben ist. Der Baird'sche Zucker geht daher durch ganz Rußland, und man findet bedeutende Quantitäten von ihm auf allen Märkten des Inneren wieder. Es ist nicht möglich, daß man ihn theuerer bezahlen kann, als man dieß in Rußland thut. Die Preise dieses Artikels steigen, von Petersburg auSgeheno, in den Steppen des Südens und noch mehr am Obi' und am Irtisch und in den dürftig gesaeten Ortschaften der sibirischen Länder zu einer exorbitanten Höhe. 156 Industrie. Die Eisengießerei von Vaird hat fast alle schwierigen Güsse, welche bisher in Petersburg oder Moskau vorkamen, ausgeführt, d. h. mit Ausnahme der großen Glockengüsse, denn diese fallen wieder, wie das ganze Departement des Kirchenbaus, den Nationalruffen anheim. DaS gigantische Gestell der uralten Niesenkanonen auf dem Kreml ging aus dieser Fabrik hervor, eben so der 20 Fuß hohe Engel mit dem Kreuze, der auf der Alerander-saule steht, desgleichen eine Menge der prachtvollen Eisenhecken, welche die Kirchen und Palaste umgeben. Wir bewunderten hier das Modell jenes Engels, das riesengroß, durch zwei Etagen des Gebäudes ragend, vor uns stand, wahrend man auf der Säule selbst den eben so großen Engel von untcn kaum bemerkt. Besonders viele Güsse von eisernen Pojesden, jenen von uns oben erwähnten thürschützcnden Vorbauten der Palaste, und von Balkönen, zwei in Petersburg viel begehrten Producten, werden immer auf Vorrath gemacht. Unter den Baumwollenspinnereien der Stadt ist die bedeutendste eine vor wenigen Jahren vom Varon Stieglitz errichtete. Sie arbeitet mit einer großen Dampfmaschine von 110 Pferden Kraft, jetzt der größten Maschine dieser Art im ganzen Oriente Europas. Es ist eine schone englische Maschine, die interessant genug ist, um allen d.n in Petersburg aus Asien und Osteuropa zusammenströmenden Volkern eine anschauliche Idee von der Industrie unscrer Zeit, von dem erfinderischen Genie der Engländer und der Kühnheit des menschlichen Geistes zu geben. Man dcnte sich doch die Qualerei von Industrie. 175 litt arbeitenden Pferden, das Gekreische und Geklatsche der sie leitenden Kutscher, dieses Gewirr von Strängen, Stricken und Geschirr, alles das dabei nöthige Durch-einanderschreien und Commandiren, und nun dagegen diese vereinfachte Arbeit der Dampfmaschine, dieses sanfte, leichte, geräuschlose Auf- und Niedersteigen der mit Oel geschmierten beiden Riesenarms, auf welche alle jene unregelmäßigen und lärmenden Anstrengungen re-ducirt wurden, dabei die Eleganz und Tactmäßigkeit der Bewegungen, die mit spielender Leichtigkeit sich empo» und hinabschwingen. Die Maschine steht in einem großen Saale, und aus Eisen gegossene Gelander und Treppen laufen rund umher, auf denen man bequem auf- und absteigen kann, um das herrliche Muskelspiel dieses gewaltigen Eisenmannes ardeiten zu sehen. Leider fanden wir daselbst nie einen Belehrung suchenden Tataren oder einen lernbegierigen Lappen. Der Director der Anstalt war Herr Greyk, ein Engländer, von dem wir die Erlaubniß zur Besichtigung der Fabrik erbitten wollten. Allein wir fragten vergebens nach ihm, denn keiner der in dem Gebäude beschäftigten Russen kannte Herrn Greyk. Als wir daher weiter vordringen wollten, fragte man uns, ob es denn „Feo-dor Romanowitsch" (Friedrich Romann's Sohn) erlaubt hatte. Glücklicher Weise trat der russisicirte Herr Feodor Romanowitsch, eben der englische Herr Greyk, dessen Familiennamen die Russen nach ihrer Weise ignoritten, zur Thür heraus und hatte die Güte, uns die Fabrik selber zu zeigen. Es war eben ein Sillstand 158 Industrie. eingetreten. Die Maschine ruhte, und alle Arbeiter grup-pirten sich in den verschiedenen Winkeln des Gebäudes, ein frugales Vutterbrod als Frühstück zu verzehren. Auffallend war das gesunde und frische Aussehen dieser Fabrikarbeiter im Vergleich mit dem depravirten, kränklichen, demoralisirten, elenden Fabrikpöbel, den man in den Manufacturdistricten Englands, VclgieNs, Frankreichs und, Deutschlands findet. Die beweglichen Russen bleiben in keiner Lebenssituation so lange, daß dieselben eigenthümlich schädlich auf sie einwirken könne. Auch ist die Tyrannei der Fabrikherren hier noch nicht so ausgebildet wie in anderen Landern. Noch während unserer Anwesenheit hörte die Zwischenstunde auf. Es erhob sich ein Rauschen der sich wieder in Bewegung setzenden Maschine. Durch das ganze Gebäude hin fingen die Nader an, sich zu wälzen, die Spindeln, sich zu drehen, und, wie von einem elektrischen Schlage berührt, begannen alle tausend Fäden, sich fortzuspinnen. Aus allen Winkeln flogen die Arbeiter an ihre Posten, die ihnen zugewiesenen Schnürchen zu ordnen, und in demselben Augenblicke, in dem der rege rauschende, schnurrende Sturmwind die Zimmerreihe durchsauste, erhoben sich auch über ihm, als wollten sie gleichsam Opposition gegen seine unmelodischen Töne machen, die fröhlichen Gesänge, mit denen die russischen Arbiter alle ihre Geschäfte zu begleiten pflegen und die hicr auf dem Gebrause der tausend Maschinchen wie einzelne bunte Vögel über einem tobcndcn Meere schwebten. Schwerlich möchte es bei jcdcm anderen, weniger gesangrcichcn Volke sich ereignen, daß sogar Industrie. 159 die prosaischen Maschinen dieser neuen Fabrikkasige von Liedern umgaukelt werden, wie jene altm Homerischen Webstühle der gescmgreichen, sie stets fleißig umwandelnden Circe oder Kalypso. Auch auf der Wiborg'schen Seite giebt es mehre fabricirende Etablissements, von denen das bedeutendste einem Deutschen gehört. Es fertigt dasselbe Tücher, Manchester, Kattune u. s. w. Der Fabrikherr, wie gesagt, ein denkender Deutscher, erzählte uns viele interessante Sachen von den verschiedenen Nationen, die sich unter den IWl) Arbeitern seiner Fabrik befanden. Die Finnen, sagte er, stelle er da an, wo eine Sache viel Geduld und eine geringere Beweglichkeit erfordere, bei allen hakli-chen Arbeiten, wo Knoten und Verwirrungen mit zarten Fingern langsam zu lösen seien, die Russen aber, die in jenen Fallen nicht zu gebrauchen seien, weil sie die Knoten gewöhnlich nur nach Alexander's des Großen Weise löseten, da, wo Bewegung und Raschheit nöthig sei. Erstaunenswerth war hier die Größe der zur Appretur der Tücher und Manufactur verwandten Kraft und die Menge der Maschinen und Arbeiter, die blos darauf abzwcckten, durch Stoßen, Knebeln, Quetschen, Kratzen, Pressen, Walzen, Bürsten, Glandern, Streichen und Glatten der Waare einen besseren Austria) zu geben, sie aber dadurch gewiß in ihrem inneren Werthe sehr verschlechterten. Die feinsten Gewebe mußten sich die gewaltsamste Behandlung gefallen lassen und buchstäblich durch Feuer und Wasser gehen. Der Fabrikhcrr sagte uns, daß über die Hälfte seiner mit einer Dampf- 160 Industrie. Maschine von 36 Pferden Kraft und fast' 1000 Arbeitern thätigen Fabrik blos in dieser Weise beschäftigt wäre. Die Russen und die Völker Asiens, welche sie mit ihren Waaren versorgten, waren so begierig nach einer schönen Außenseite der Waare, daß eine solche Bearbeitung unumgänglich nöthig sei. Er erhielte von allen Seiten her Tücher, Manchester u. s. w. in großen Par-tieen zugesandt, um ihnen Glanz und Firniß zu geben. Unter anderen war hier eine Maschinerie vorhanden, die jedem Manchesterstücke nicht weniger als 25,000 Stoße versetzte. Die 25,000 Stöße waren indeß nur der zehnte Theil des ganzen von ihr zu erduldenden Processes, der dennoch Summa Summarum nicht über eines Papierrubels Kosten pro Stück verursachte. Nach der Heftig-keit der damit vorgenommenen Proceduren hatte man aber darauf wetten mögen, daß jedes Stück dadurch wenigstens um 10 Nubel im Werthe verlieren müßte. Die Fortschritte in vielen Manufacture« und die Begründung und Entwickelung neuer Industriezweige in Rußland geht reißend schnell, und die Reisenden und Statistiker haben alle Augen nöthig, um das stets auftauchende Neue zu beobachten und nachzutragen. So hatte Petersburg vor fünfzehn Jahren noch kein Privat-etabliffement zu Verfertigung mathematischer Instrumente; optische und physikalische Instrumente waren aller, dings schon hier und da von einigen Deutschen gefertigt worden, jetzt aber erscheinen bereits Optiker und Mechaniker mit sehr reich versehenen Voutiaum auf den Markten der MalorosiMen und Kosaken, auf den Messen von Industrie. 161 Kursk und Charkow, und in Moskau giebt es Ecablisse-ments dieser Art, die in Erstaunen sehen. Seit fünfzehn Jahren haben sich in Petersburg bereits dxei von deutschen Mechanikern geleitete Etablissements begründet, die sich fast ausschließlich mit Verfertigung mathematischer Instrumente beschäftigen. Ich besah die Werkstatte des Einen derselben, Namens Nohde, der mit 16 Gesellen arbeitete, worunter 4 von der Krone ihm als Lehrlinge und Schüler beigegeben worden waren. Er hatte schon eine ziemliche Auswahl von Theoliten, Passageinstrumenten und anderem nautischen Vedarfe, welche er auf Vorrath gefertigt hatte. Seit einigen Wochen arbeitete er an einigen vorzüglichen Instrumenten, die für die Flotte bei ihm bestellt worden waren. Bemerkenswert!) war es, daß sehr viele Theile dieser Sachen aus Platina bestanden, mit denn Nußland nicht zu geizen braucht und das seinen Instrumenten vielleicht einmal besondere Vorzüge gewähren wird. — Uebrigens werden auch in dem vom Finanzminister neuerdings begründeten technologischen Institute verschiedene Maschinen und Instrumente gearbeitet; das wichtigste Institut für solche Manufacte aber ist in Kolpina. Für die elegante Welt von Petersburg ist das erste aller Etablissements, überhaupt eines der größten in seiner Art, die man sehen kann, das sogenannte englische Magazin, der Bazar der reichen Leute, die in ihm für herrliches Geld die herrlichsten Waaren finden. Es wurde dasselbe vor mehren Jahrzehnten von einigen Englandern begründet und daher ihm der Name „englisches 162 Industrie. Magazin" gegeben, obgleich jetzt weder die Eigenthümer, noch auch alle Waaren englisch sind. In dem lebhaftesten Theile der Stadt, nicht weit vom Winter-palais, an der Ecke der Morskoi und des Newsky'schen Prospects gelegen, hat es in einer Neihe großer Säle Alles ausgekramt, was nur irgend das Bedürfniß oder die Laune reicher Herren und Damen sich wünschen kann. Das eine Zimmer ist den Vijoltterieen gewidmet, und man sieht hier Tabatieren, Diademe, Perlenschnuren, Ringe u. s. w. in solcher Menge, wie sich deren vielleicht nicht in jedem Königsschatze wiederfinden. Ein anderes enthalt die Toiletten- und Modeartikel, derentwegen das Magazin eine ebenso eifrige Correspondenz mit Paris als mit London und Wien unterhalt, um von jedem Modencentrum das Neueste und Beßte zu erhalten. Wieder ein anderes ist ausschließlich den Broncesachen, ein drittes den Silber- und Neusilberwaaren bestimmt, an denen sich die beßten Vromeurs und Goldschmiede der französischen und britischen Nation versuchten. Dann giebt es hier Seidenwaaren, Tücher, Parfums, Regenschirme, Leinwand, Schuhe, Stiefeln, die seltensten Gegenstände, aber,auch selbst die gewöhnlichsten zu den außerordentlichsten Preisen und daher wahrscheinlich von den außerordentlichsten Qualitäten. Denn da die Reichen nur in diesem Magazine etwas Taugliches und Brauchbares zu kaufen und sogar ihre Zahnstocher und Nähnadeln hier holen zu müssen glauben, so müssen die Entrepreneurs auch aus Alles gefaßt sein,'und man sieht daher Strohkörbe und Pelzschuhe, Dinte und Siegellack, Diamanten und Uhren, Papiere Industrie. 163 und Schreibfedern, das Gemeinste und Edelste in zierlicher Fassung auf das Eleganteste zur Schau ausgestellt, und sogar die .Stiefelwichse in so hübsch etiquettirten Flacons, daß sich der reiche Mann selbst die beßte aussuchen und in seiner Rocktasche nach Hause tragen kann. Ein großer Theil dieser Waaren wird jetzt in Petersburg selbst gefertigt; nur solche, die sich auf keine Weise hier fabriciren lassen, wie z. V. feine Tücher, Vrabanter Spitzen u. s. w., sind wirklich ausländisch. Die Eigenthümer des Magazins haben eine Menge in- und aus--landischer Künstler und Arbeiter im Solde, die nur für sie arbeiten, und dennoch gelten alle Waaren für ausländisch, und der Credit des Magazins, obgleich das Pu-blicum weiß, daß nicht Alles aus Paris und London kam, erhalt sich, weil es in der That nur immer die beßte Waare ankauft und die vorzüglichsten Arbeiter sich aussucht. — Manche Sachen werden, wie man behauptet, in Petersburg jetzt schon eben so gut geliefert, wie man sie aus dem Auslande beziehen kann, so namentlich die Fassung der Edelsteine. Theils mag sich wegen der so hausig vorkommenden Aufträge auf Arbeiten der letzteren Art, da die russischen Reichen ihren Diamantenvorrath bald so, bald so fassen lassen, ein Stamm geschickter Arbeiter in Petersburg ausgebildet haben, theils aber haben auch die benachbarten Finnen, die in verschiedenen Petersburger Industriezweigen als sehr brauchbare Leute auftreten, eine besonders ausgebildete Geduld und Fingerfertigkeit in der Behandlung der kleinen glänzenden Steine. Die Preise für die Waaren sind enorm und wür- 164 Industrie. den in jeder anderen Stadt lächerlich erscheinen. Hier, wo das Gelb einen so geringen Werth hat und wo mancher Ueberflüssigrciche froh ist, wenn er seine nichtsnutzigen Bankozettel gegen eine hübsche, zierliche Sache vertauschen kann, die ihn wenigstens auf einige Augenblicke erfreut, hält man sie oft noch für gering und ist gutmüthig genug, dem Verkäufer, der versichert, er habe die bescheidenste Forderung getban und gäbe die Waare nur so billig, weil man immer von ihm kaufe, Glauben zu schenken. Erwägt man übrigens, daß das Magazin für jedes Fenster seiner Zimmer 1WU Rubel Miethe bezahlt, und daher jeder davor ausgestellte Vronceleuchter, wenn er nur ein halbes Jahr unverkauft bleibt, leicht an 100 Rubel blos für den Raum, den er einnimmt, kostet, so mögen jene Preise auch weniger übertrieben erscheinen. Das englische Magazin ist eine Art von Vörse für die elegante Welt, die sich l)ier begegnet, conversirt und mit Beschauen und Einkaufen der zierlichen Waaren amu-sirt. Es ist die gewöhnliche Promenade der vornehmen Damen, und vor seiner Thüre sind beständig fast eben so viele Wagen angefahren wie vor dem Winterpalais, so wie sich in seinen Vorzimmern so viele Bediente drangen wie in den Vorzimmern eines Palastes. Der jährliche Capitalumsatz dieses merkwürdigen Magazins M sich aus mehr als 12 Millionen belaufen. Schon mehr als ein Roman wurde in seinen Hallen angesponnen, schon mancher Schauspielact in ihm aufgeführt, und die ruf? fischen Novellenschreiber legen die Scenen ihrer Erzählungen häufig in diese bedeutungsvollen Zimmer. Industrie. 165 Kein anderes Petersburger Magazin thut es dem englischen gleich, welches die unbeschränkteste, monopolisi-rende Despotie über alle Käufer und Verkäufer hübscher Waaren ausübt und seine Herrschaft selbst bis tief in die Provinzen des Landes, die es sich unterthanig machte, fühlen läßt. Am nächsten kommt ihm das „holländische Magazin," das jetzt auch unter dem Namen ,,«„ Mit linear" fashionable zu werden anfängt; dann folgen die sogenannten „Nürnberger Buden," an die sich alsdann eine Unzahl kleiner Magazine anschließen, die sich nicht dem ganzen Umfange des Bedürfnisses der Reichen, sondern nur einzelnen Zweigen der Toilette gewidmet haben. Die meisten von ihnen befinden sich auf der Son« nenseite des Newsky'schcn Prospects, auf dessen Trottoir vom Winterpalais bis zur Annitschkow'schen Brücke die hauptsächlichste Promenade der Petersburger Beaumonde ist. Der Reichthum der Uhrenmagazine, in denen die Hören in .hundert Gruppen tanzen, der der Goldschmiede, in deren Schränken ganze Milchstraßen von Ordenssternen und Vrillantkreuzen glänzen, der der sogenannten Silberbuden, welche in einer ganzen Reihe ncben einander liegen, so wle die geschmackvolle und pomphafte Anordnung aller Gegenstände in ihnen, dieß Alles seht wahrhaft in Erstaunen. Einer besonderen Erwähnung verdient noch das berühmte Gamb'sche Möbel Magazin, das von einem einfachen Schwaben, dem Tischlermeister Gamb, gegründet wurde und nun nach russischer Weise, nach welcher sich leicht jede Werkstatt zu einer Fabrik erweitert, ein 166 Industrie. bedeutendes Etablissement für die Fabricinmg und Verschleißung von Tischlerwaaren geworden ist. Herr Gamb selbst ist gestorben, und seine drei Söhne, elegante, junge Petersburger, die das Geschäft des hobelnden Vaters nur als Großhändler fortsehen, haben mit 50 bis 60 Tischlermeistern Contracte abgeschlossen, vermöge deren dieselben verpflichtet sind, ausschließlich für sie zu arbeiten, und außerdem haben sie noch viele Bildhauer, Holzschneider, Zeichner und Maler in ihrem Solde, die sie mit Erfindung und Nachahmung neuer Dessins beschäftigen. In einer langen Reihe äußerst hübsch verzierter Salons haben sie für einige Millionen Möbeln aufgestellt, Stühle für Kinder und Großväter, für Geschäftsleute und Nachmittagsschläfer/Tische für Boston und Whist, für Thee und Diners, für Schreiber und Gerichtspersonen, für Nachtlampe und Armleuchter, Sophas, Divans, Vergoren, Couchetten, in Rococo, » 1u Ili^»« oder i> ll> krnn?ai«e, itt den schwarzen und weißen, grünen und gelben, weichen und harten Hölzern dieser und der anderen Hemisphäre ausgeführt. Ein eigenes Kabinet enthält ächte alte Möbeln für Liebhaber, französische, spanische, sogar maurische Bureaur und Schränke, und mehre andere Zimmer sind — besonders wichtig in Rußland — mit leicht transportablem Zimmergerathe für Reisende angefüllt. Man findet hier vollständige Betten, die man mit dem ganzen Gestelle und Kissenapparate in einen Kasten von 4H Spannen Länge, ^ Spanne Breite und 4 Zoll Höhe verpackt, das ganze Ameublement eines nomadischen Zeltes mit Stühlen, Tischen und allen anderwei- Industrie. )tt7 ligen. einem sitzenden, liegenden oder speisenden Menschen nöthigen Bequemlichkeiten, in einen einzigen Koffer verpackt. Die Herren Gamb sind natürlich in dieser Branche ihrer Fabrikate besonders erfinderisch gewesen, denn es gehen bestandig aus dem bequemlichcn Petersburg viele verwöhnte Leute in die pontischen Steppen, nach dem unwirthbaren Kaukasus und zu den sibirischen Einöden, wohin sie gern ein leicht zu verpackendes Stück Petersburger Comforts mitnehmen. Auch hat der Petersburger Luxus, der sogar ein eigenes zierliches Instrument für die Damen erfinden ließ, um sich ihren ent-sallenen Knaul oder ihr Schnupftuch auch ohne krummen Rücken aufzuheben, und der manche Waaren, namentlich die weichgepolsterten Lehnstühle, besonders zahlreich machte, viele andere eigenthümliche Erfindungen hervorgerufen. — Ausgezeichnet ist an diesen Möbeln die Arbeit der Holzschneider, für deren Kunst man in Rußland überhaupt viele Talente ausgebildet findet. Die einzige Vergerenart, welche die Herren Gamb aus ihrem Magazine ausgeschlossen zu haben scheinen, ist die, auf welcher der Petersburger Mensch den aller-sanftesten und ungestörtesten Schlummer schlaft, der Sarg. Da ihre Salons blos für lebenslustige Leute bestimmt waren, so thaten sie auch wohl daran, denn an diesen Schlummer mag Niemand, der noch an den Einkauf von Spiel- und Toilettentischen denkt, gern erinnert werden. Nichtsdestoweniger aber wird man in anderen Magazinen auffallender als in sonst irgend einer Stadt daran erinnert. „Hier verkauft man Sarge," sieht man 168 Industrie. vor manchen Laden mit goldenen Buchstaben angeschrieben und findet darin auch diese traurige Waare, von den Verfertigern auf's Artigste angepriesen, in großer Fülle aufgestellt. Hunderte von Sargen sind zierlich über und neben einander aufgetempelt, und zwar für alle Religionen, für alle Stande und jedcs Alter, so z. B. große schwarze mit goldenem Kreuze fül die Protestanten, braune und hellfarbige für die griechischen Russen, kleine rosenrothe mit weißen Spitzen für junge Mädchen, andere himmelblau angestrichene für Knaben. Da die Russen ihre Todten sogleich nach dem Tode ausstellen, so verlangen sie die Särge gleich fertig und eine gehörige Sammlung zur beliebigen Auswahl. Die prunkende Aufstellung aller Waaren, die das Petersburger Publicum, wie überhaupt das russische, verlangt, der getrockneten Früchte und Schwämme wie der Gold- und Silberwaaren, der Bostontische wie der Särge, diese den Russen überall so unentbehrliche, lachende und einladende Oberfläche, die es dem Schwefelstückenkramer sogar nöthig macht, wenn er Käufer finden will, seinen Laden so zu arrangiren, wie der Taschenspieler seinen Gaukeltisch, zeigt sich auch in jedem anderen Kaufladen wieder. Es gewahrt dem Ethnographen großes Interesse dergleichen allgemein waltende Principe bis in's Einzelne zu verfolgen. Zu solchen Einzelheiten gehört z. ,V. die Sitte der Petersburger, so wie aller russischen Apotheken, die Fenster ihrer Laden mit großen kugelförmigen Flaschen zu besetzen, die mit sehr grell gefärbten, blau, roth und gelb Industrie. 169 schimmernden Flüssigkeiten gefüllt sind und, am Abend erleuchtet lind weit in die Straßen hineinblinkend, den Effect einer chinesischen Lampenillumination hervorbringen. Eine andere Eigenthümlichkeit ist die luxuriöse Anordnung der Kaffee- und Zuckerläden. In ihnen hat man rund herum Mahagoni schränke in die vier Mauern des Magazins gelassen, wo in jeder kleinen Nische ein Zuckerhut, von zierlichen Papieren bemäntelt, aufgestellt ist; die Kaffeesäcke, zu hohen Säulen aufgestapelt, trennen die verschiedenen dem Zucker bestimmten Fächer. Vor den Fenstern und aus den Tischen des Magazins stehen abwechselnd große krystallene Vasen, mit Kaffeebohnen gefüllt, und eben so große Glasglocken, abgebrochene Zuckerhüte deckend. Auch die vielen englischen, französischen, holländischen und rheinischen Weinkeller bieten ihre Waare nach der herrschenden Sitte und nach der modigen Weise feil. Fast durchgangig ist der Wein schon auf Flaschen gezogen, die Vouteillen stehen also sichtbar und zur Schau im Magazine ausgestellt, und jede Flasche ist sorgsam in zartes Papier eingepackt und besonders mit vielen Etiquetten versehen. Da zurVerisicirung der Güte des Weins nicht nur sein Name und der seines Geburtsorts darauf gedruckt steht, sondern auch die Firma des Großhändlers, von dem er sich herschreibt, sowie die Adresse des Magazinbest'tzers, aus dessen Händen die Lakaien die Flaschen empfangen, so bleibt dem Russen nicht der geringste Zweifel, daß es Traubennektar von der köstlichsten Art sei. Es herrscht jetzt diese Krämersitte in ganz Rußland, und in jeder einigermaßen bedeutenden russischen Kohl. Petersburg. II. 8 156 Industrie. Stadt, sind solche Läden mit Petersburger Eleganz zu finden. Solcher Wein- und Porterkeller soll Petersburg nicht weniger als 25(j besitzen. Viele von ihnen haben auch eine Schenkwirthschaft damit verbunden, doch sind nur die uneleganten, die für das gemeine Volk schenken, interessant; denn in den feinen findet man gewöhnlich keine anderen Gruppen als ein paar champagnernde russische Lakaien, oder einige bci'm „Nenskawo" (Rheinweine) renommirende deutsche kabenburschen. In den gewöhnlichen, für das bartige Publicum bestimmten Kellern findet man viel Charakteristisches. Hier wird Vier, Meth, Branntwein und schlechter Wein geschenkt und dabei von den Leuten selbst wie von den zur Ausschmückung an den Wänden befestigten Bildern das gesprochen, was si« denken. Dies« Vierschenkenbilber sind gewiß für je^ den Ethnographen sehr beachtenswerth, da sie mit grellen Farben die Ideeen darstellen, welche der gemeine Russe über die wichtigsten Gegenstände des menschlichen Nachdenkens hegt, über Gott, den Himmel, die Hölle, die Seele, die Weltschöpfung, und ohne welche er, der so ganz mit Religiosität Impragnirte und so unausgesetzt in ascetischen Uebungen Begriffene, nicht einmal einen Schluck Vier zu sich zu nehmen vermag. Gewöhnlich sind diese Schenken mit solchen Bildern austapezirt wie Guckkasten. Das Studium dieser Darstellungen ist um so interessanter, da sie in der Regel uralt sind, und man sich bei vielen wenigstens durchaus keine Abweichungen vom Herkömmlichen erlaubt. Die Phantasie, welche sie hervor- Industrie. 171 brachte, — gewöhnlich sind es Produtte der Kirchenmaler von Moskau oder Kiew, in welchen Städten sich neben den heiligsten, urältesten Gotteshäusern Rußlands auch diese ihnen angehorigen Industriezweige in vorzüglicher Blüthe erhalten haben, — ist in der That ungemein lebhaft und orientalisch grotesk. So sieht man z. V. den Schöpftmgstag auf einem gewaltig großen Vogen folgendermaßen vorgestellt. Auf dem oberen Theile des Blattes brütet noch das Chaos, mit dunklen, kräftigen Strichen ang'deutet, Sumpf, Waffer, ungestalte Felsen in schrecklicher Verwirrung; darüber verbreitet sich ein dicker, trüber Nebel, den ein einziger kühner Strich eines Kleisterpinfels fühlbar macht; mitten darin schwebt der Schöpfer mit der Physiognomie eines russischen Priesters, dem, in altslavonischen Schriftzügen gekritzelt, die schaffenden Worte, das „Werde," aus dem Munde dringen, und unter ihnen fahren aus dem Chaos die Sterne und Sonnen hervor, die Sonne, welche einem Medusenhaupte gleicht, der Mond und die sieben großen Planeten. Sie bewegen sich alle auf kreisförmigen Bahnen, die durch hellblaue, grellgelbe, rothe und grüne Halbzirkelbogen angedeutet sind und auf denen sie wie auf Brücken rollen. Bei jedem Sterne ist in slavonischer Schrift sein Name beigeschrieben, z. V. „8u1n«.2v" (die Sonne), „M63L>5" (der Mond) u. s. w. Alle übrigen Sterne laufen auf einem einzigen festen, blaugefärbcen Balken, der das Firmament bedeutet. Sie drehen sich sämmtlich, wie auch die Sonne, der Schrift gemäß um die Erde, von der man ein Stück, den Garten des Paradieses, auf 8' 172 Industne. dem unteren Theile des Blattes erblickt; mitten in's Paradies hinein lacht die Sonne mit einer Menge Alles durchkreuzender gelber Striche, welche ihre Strahlen bedeuten. Ueber dem Paradiese häufen sich Wolken, aus denen auf der einen Seite eine Partie dicker Tintenkleckse fallt, bei denen geschrieben steht! „Regen," während auf der anderen eine segensreiche Fülle weißer Flocken herabschauert, bei denen mit großen Buchstaben zu lesen ist: „Snox" (Schnee), denn schwerlich konnte der Ruffe sich ein Paradies denken ohne den ihm so vielfach nützlichen Schnee. Rund um das Paradies herum läuft ein Kranz von Bergen mit viel höheren Gipfeln und viel tieferen Thälern und Abgründen, als sie in irgend einem Gebirge existiren, denn einige reichen bis zu den Sternen. Je weniger der Russe Gebirge kennt, desto großartiger und gewaltiger malt sie sich seine Phantasie. Die Ränder der Berge sind mit Blumen beseht, die in allen Farben des Regenbogens spielen und fast eben so groß sind wie die Berge selbst. Zwischen zwei Blumen steht allemal regelmäßig wie auf einer Stickerei ein grüner Baum, der bald die Blumen überschattet, bald von ihnen überschattet wird, und als hatten Kinder das Bild gemacht, so steht mehrmals dabei geschrieben: „die blühenden Blumen, die blühenden Blumen." In der Mitte des Gartens knieen Adam und Eva — ein „Nußky" und eine „Nußkaja" — in der Nähe einer sprudelnden Quelle, angehaucht von dem Athem zweier blasenden Engelsköpfe, wobei die Deutung „Wo»äuol>" (die Luft), und übertanzt von einem gigantischen Irrlichts, „llxon", Industrie. 173 (das Feuer bedeutend). Rund um sie herum brüllen in der gewaltigsten Aufregung des Schöpfungsmorgens alle Thiere der Natur und der menschlichen Phantasie, die Vögel alle, die wirklichen und die fabelhaften, die Elephanten, die Einhörner, die Löwen, die verführerische Schlange, der Leviathan, die Hasen, die Karpfen, der Fisch des Jonas, die vier Ungeheuer der Apokalypse und daneben die Mäuse und Ratzen. Das ganze Vild ist in einen Rahmen gefaßt, der aus einer Arabeske von Kränzen aus Heiligen- und Engelsköpfen besteht. — In diesem Style, mit dieser Kindlichkeit und Lebendigkeit der Phantasie und mit diesem Reichthum der Darstellung sind alle jene Bilder gefertigt. Der in der griechisch-russischen Kirche so berühmte Berg Athos (russisch: „Afons-kaja-Gora") stellt sich nicht anders als mit 150 Kirchen und Klöstern geschmückt dar, und jede Kirche muß wenigstens ein Dutzend Kuppeln haben. Der Berg Sinai, wenn er sich prasentirt, sieht immer aus, als hatte man den Offa auf den Pelion und beide auf den Olymp gesetzt. Es ist eine hohe Vergsaule, die mit ihrem äußerst dünn zugespitzten Ende bis zum Sirius reicht und auf der Moses oben darauf steht. Zu den vielen Dingen, die den Fremden in Petersburg interessiren, gehören gewiß auch die Vuchladen, in denen Deutsche, Franzosen und Russen die Früchte ihrer Literatur darbieten. Unter den russischen Buch-handlern ist entschieden Smirdin der erste. Man muß erstaunen über das reiche Sortimentslager, das die russische Literatur ihm bereits zu liefern vermochte, sowie über 174 Industrie. die ungememe Eleganz, mit der jetzt in seiner Offizin gedruckt wirb. Es ist vielleicht zu keiner Zeit in Rußland so schlecht, auf so erbärmlichem Papier, mit so abscheulichen Lettern, mit solchem gränzenlosen Mangel an Geschmack und Accuratcsse gedruckt worden, wie hier und da in Deutschland. Seit dem Anfange dieses Jahrhunderts aber hat sich die russische Kalligraphie, sowie die Kallitypie so ungemein verbessert, daß man hier einzelne Product« sehen kann, die sich mit denen der anderen Lander messen können. In der Negel sind alle russischen Bücher auf einem soliden Papiere mit großm Lettern gedruckt; aber es giebt auch Duodez- und Sedezcditionen, die an Zierlichkeit und Nettigkeit nichts zu wünschen übrig lassen. Der Vortheil, welcher der russischen Literatur aus der Verbesserung dieser ihrer äußeren Erscheinung erwächst, ist nicht gering, die russischen Bücher aus Smirdin's Druckerei dürfen sich jetzt in den Boudoirs der vornehmen Damen neben den zierlichen Ausgaben von Paris und London zeigen, und die Zeit ist jetzt vorüber, wo ein russischer Seigneur in seiner fast ganz französischen Bibliothek auch hier und da in dem Staube der untersten Fächer einige russische Bücher stehen hatte. Die russischen Bücher nehmen jetzt ihre eigenen ihnen zugetheilten Schränke ein. Nicht nur die Größe mancher Sortimentslager in Petersburg und Moskau, von denen einige über 1VU,Wl) Bände zählen sollen, sondern auch die Höhe der den beliebten Schriftstellern zuweilen gezahlten Honorare zeigt, wie bedeutend der Debit von russischen Büchern in neuerer Zeit zugenommen hat. Ich Industrie. . 175 kenne einen russischen Schriftsteller, der bereits ein ganzes, mehre Quadratmeilen umfassendes Gut aus seinem Tintenfasse schupfte» einige bedeutende Personen sollen 50UN bis 7000 Rubel blos dafür, daß sie ihre Namen zu einem beliebten Journale herleihen, erhalten haben; es giebt Zeitschriften, die, wie mir ein Russe sagte, nicht weniger als 20,000 Subscubenten haben'). Die deutsche Literatur befand sich immer in der Klemme zwischen der Begeisterung für die jungen Blüthen der russischen Literatur und der beständigen Vorliebe für die französische, sowie der auch hier an der Newa nachklingenden Anglomanie. Allerdings gab es auch in Petersburg eine Zeit, wo man, und nicht blos innerhalb der Gränzen der deutschen Kolonie, für die Regungen der deutschen Poesie begeistert war, und wo man mit gespannter Aufmerksamkeit jedes neu auftauchende Talent beachtete und mit Sehnsucht im Frühjahre auf das Neu« wartete, was das erste Schiff von Gothe, Schiller, Wieland oder Herder bringen werde. Es gab selbst am Hofs Leute, die beständig diese Namen im Munde führten, und Der-shmvin und andere russische Dichter, von unserer Muse *) In einer, wie es scheint, von einem Buchhändler herrührenden Kritik dicscr Bemerkungen in der „Allgemeinen Preßz^tung" heißt es, daß die beliebteste Zeitschrist in Nußland nur L000 Sub-scribenten hade und alle übrigen darunter ständen. Ich will hier gern meinem deutschen Landsmannc, dessen Vemcrkungen mir, obwohl nicht sehr schicklich abgefaßt, doch fthr lehrreich zu sein schienen, mehr glauben 'als meiner russischen Autorität, und Obiges nur als cin ,,on lli>" gclttn lassen. 176 Industrie. begeistert, übersetzten prompt in's Russische, was bei uns Schönes erschien, und es thut einem Deutschen wohl, noch jetzt Nationalruffen mit Enthusiasmus von jener brillanten Morgenröthe der deutschen Poesie sprechen zu hören. Allerdings hat auch das Studium der deutschen Sprache sogar in der neuesten Zeit in Rußland an Breite gewonnen. Die Abneigung gegen die Franzosen seit 1^12 hat mehr deutsche Lehrer erscheinen lassen, und selbst in den öffentlichen Schulen wird hier und da das Deutsche als ein stehendes Studium betrieben. Auch erfreut es nicht wenig, jetzt in allen öffentlichen und Prwat-Viblio-theken mitten unter den slavischen und lateinischen Lettern auch häufig die lieben deutschen Schriftzüge und Namen zu finden. Allein alle diese Theilnahme hat doch fast nur Bezug auf unsere alte classische Literatur, auf Schiller und Göthe. Von den neueren Blüthen unserer belletristischen Literatur haben die Russen noch wenig oder gar keine Notiz genommen. Auch fördert das nationaldeutsche Publicum Petersburgs selbst nur wenig die Herbei-schassung des Neuen und die rege Verbindung mit dem Vaterlande, denn seine Theilnahme für die deutsche Literatur wirb theils durch das materielle Wohlleben, dessen sich Alle erfreuen, absorbirt, theils durch die Nothwendigkeit geschwächt, sich der russischen Sprache und Literatur zu bemeistern, theils durch die Mode gemindert, mit den Nuffen französisch zu sprechen und französisches Geschreibsel zu studiren. Die Tafel und Küche. „Willst du dich am Ganzen erquicken, „So mußt du das Ganze im Kleinsten erblicken," V3s ist eine ausgemachte Sache, daß der heutige Kre-tenser seine Ziegenbraten noch ganz auf dieselbe Weife zubereitet, wie diejenigen präparirt waren, mit denen der vielduldende Odysseus seine liebe Seele nach einem über-standenen Seesturme erquickte. Der Pillaw, der bekannte, aus gekochtem Reiß und Hammelfleischstückchen zusammengesetzte Thurm, der noch jetzt im ganzen Oriente den Mittelpunkt der Mittagstafel bildet, dampfte schon auf den Tischen der alten Perser und Parther zu der Griechen und Römer Zeiten, und es ist kein Zweifel, daß noch mancher Babylonische Stein- und Marmorthurm sich w den Ländern di.'ser Völker erheben und zerfallen wird, ehe jener, sich alle Tage von Neuem erhebende Neißthurm völlig zerstört sein wird. - Allerdings giebt es viele Pflanzen und Thiere und ebendaher auch 5i" 178 Die Tafel und Küche. viele Gerichte, die sich erst in neueren Zeiten in Ländern, in welchen man sie zuvor nicht fand, verbreitet und dann durch ihre allgemeine Einführung die ganze Küchen- und Speisewirthschaft der diese Länder bewohnenden Völker revolutionier haben. Die Verbreitung des Kaffees, der Kartoffeln und des Mais in Europa und die unserer Rinder in Amerika gehören zu den cclatantesten Beispielen dieser Art. Unter den Getränken sind der Thee, der Wein und der Branntwein ebenso merkwürdig welthistorisch einwirkend aufgetreten. Indessen halten dennoch, im Ganzen genommen, die Völker mit außerordentlicher Ausdauer und Zähigkeit an allen ihren alten Gewohnheiten und somit auch auf eine höchst wunderbare Weise an ihren alten Tisch- und Küchengewohnheiten fest, die von Mutter auf Tochter und von Koch auf Kochjungen, wie die uralten Ammenmährchen, wie die Sagen und Mythen von Geschlecht auf Geschlecht vererben und tradirt werden, ja die, wie die beiden obigen Beispiele zeigen, oft noch viel langer als alle Mythologies« und.Religionssysteme, Staatsuerfassungen und politische Gebräuche dauern. Es liegt in dieser Erscheinung etwas unerklärlich Wunderbares. Allerdings hält die Natur mit ihren ewig gleichen und wenig veränderlichen Gesehen die Völker in engen Schranken. Die meistcn Lander sind unabänderlich auf gewisse Productioncn angewiesen, die sie immer v?N Neuem erzeugen, und da die Sonne in jedem wiederkehrenden Herbste in diesen Acpfel, in jenen Pomeranzen, in den einen Hafer und in den anderen Reiß reifen laßt, so wäimt man auch am Kücbenfeuer immer Die Tafel und Küche. 179 wieder in dem einen Lande Reißpudding, in dem anderen Hafergrütze, und es mögen Völker in das Land einrücken, welche da wollen, es heißt eben bei Allen: „friß, Vogel, oder stirb," und wenn auch sonst nichts Anderes, so sind sie doch gezwungen, wenigstens die Küche der alten Bewohner anzunehmen. Allein hieraus erklärte sich denn doch nur das beständige Gleichbleiben der Substanzen, deren'sich die Kochkunst bedient, weniger aber das noch wunderbarere Gleichbleiben der Zubereitungsweisen. Es qiebt in Deutschland eine Stadt, in welcher an hohen Festtagen ein Gebäck von den Köchinnen bereitet wird, welches sie Krullkuchen nennen. Diese Krullkuchen kommen in den ältesten Chroniken jener Stadt vor, in denen es bei einer Bürgermeisterwahl oder sonst einem ausgezeichneten Ereignisse in altem Plattdeutsch heißt.' „un se slampampten un eeten Krullkoken." Die Stadt war damals katholisch, vor 3W Jahren wurde sie lutherisch und schaffte allen alten Glauben und Aberglauben ab, die Krullkuchen aber behielt sie bei. Man' kleidete sich damals in alte spanische Tracht, diese mußte allmalig der jetzt herrschenden französischen Kleidung weichen, die Krullkuchen aber wichen nicht, und die französisch angethanen Senatoren aßen sie wie die spanisch gekleideten. Später verlor die Stadt ihre alte reichsstadtische Verfassung und wurde dem französischen Reiche einverleibt, und so waren die Menschen von außen und von innen in Sprache, Kleidung und Gesinnung ganz andere Leute geworden, nur in der Küche und auf der Tafel nicht. Denn noch in diesem Augenblicke backen und 180 Die Tafel und Küche. essen sie Krullkuchcn wie ihre uralten Vorfahren, die sie vielleicht außer in den Krullkuchen sonst in gar keinem äußerlichen Anzeichen als ihre Nachkommen wiedererkennen würden. Dieß sind Dinge, die bisher mcbr als andere Phänomene der Beachtung und den Untersuchungen der Philosophen und Denker entgangen zu sein scheinen,, und doch ist kein Zweifel, daß sich hunderttausend ähnliche Beispiele auffinden ließen, die eben so start zum Nachdenken reizen. Zu den sogenannten Krullkuchen nimmt man feines, gebeuteltes Weizenmehl, abgerahmte Milch, so und so viel Ei«, die und die Gewürze, schüttet den Teig in eine eiserne Form und laßt ihn an gelindem Feuer sanft rösten. In dieser Vorschrift scheint viel Willkürliches zu liegen, und man sollte denken, sie müßte alljährigen Aenderungen unterworfen sein. Dagegen steht aber jenes Recept in allen Stürmen der Jahrhunderte wunderbar fest, als wäre es eine Naturnothwenbigkeit, und die oft genannten Kuchen erzeugen sich immer von Neuem auf dieselbe Weise wie die Vergkrystalle und die Pfianzenkeime. Die Zubereitung mancher Speisen ist allerdings von religiösen und politischen Gesetzen festgestellt worden, und sie erlangen daher wie diese und mit diesen eine lange Dauer. Die ungesäuerten Brote der Juden sind noch in diesem Augenblicke in Form, Geschmack und Wesen Dasselbe, was sie zu Moses Zeiten waren. Bei solchen Speisen erklart sich ihre lange Dauer auch wieder leicht. Es giebt abcr sehr viele ebenso dauernde Speisen Die Tafel und Küche. 18 l und Zubereitungsweisen, bei denen man die Sache nur durch die Annahme erklären könnte, daß die Menschen eine Alles überbietende Anhänglichkeit an die gewohnten Nahrungsmittel beseele, und daß sie eher die Kleidung, Denk- und Sinnesweife der Vorfahren als die Speisen fahren ließen. Es werben von Strabo gewisse in Byzanz gefertigte platt gedrückte Schweinesteischwürste als Lieblings-speiss des Volkes erwähnt. Byzanz wurde seit jener Zeit römisch, griechisch, lateinisch und türkisch und ist in Begriff, russisch zu werden, und jene platten Schweinefleischwürste eristiren noch immer in Konstantinopel und gehen von dort aus, wie sonst, in die benachbarten Provinzen. Eben so war es zu Straw's Zeiten in gewissen politischen Provinzen Sitte, das Ochsenfleifch, nicht so das Hammelfleisch, in lange Striemen zu schneiden und dann durch Lufttrocknung zu conserviren. Diese Sitte war durchaus durch keine Naturnothwendigkeit bedingt, denn es gab sehr viele andere Lander, die eben so trocken waren und noch größeren Mangel an Brennmaterial hatten als die bezeichneten und doch ihr Fleisch nicht auf die angegebene Weise behandelten. Dennoch wird in jenen Provinzen noch bis auf diese Stunde das Ochsenfleisch, nicht aber das Hammelfleisch, in lange Striemen geschnitten und getrocknet. So mag die Geschichte aller unserer Würste, Puddings, Kuchen, Gemüse, Ragouts und Suppen bis in's graue Alterthum hinaufreichen, und wenn man diese Geschichte nur schreiben könnte, so würde sie sich reich an den merkwürdigsten Resultaten zeigen. ' Der Charakter der verschiedenen Volker hängt gs« 182 Die Taf«l und Küche. wiß nicht wenig von den verschiedenen eßbaren Stoffen ab, welche das von ihnen bewohnte Land ibnm bietet, und bildet sich nach dem Wesen der Substanzen, deren ihre Kochkünstler habhaft werden können. Die Thran-, die Wein-, die Biervölker, welche Verschiedenheiten! Die Fleischesser und Wanzenverzehrer, die Limonade- und Schnapstrinker, welche Contraste! Es ist kein Zweifel, der gebotene Speisestoff wirkt auf den Charakter. Umgekehrt aber und noch viel starker vielleicht wirkt der Charakter der Nation auf die Speise, auf ihre Auswahl und Zubereitung. Gewisse Abneigungen vor gewissen Speisen und gewisse Sym-pathieen für andere bei gewisscn Nationen gchen durch die ganze Weltgeschichte. So war die Abneigung vor dem Schweinsieische von jeher in Arabien zu Haufe, und von jeher traten unter allen semitischen Nationen Apostel und Propheten auf, die das Schwemfleisch bekämpf« ten und die Leute bei ihrer Abneigung zu erhalten suchten. Man erkennt noch heutigen Tages an dieser auch ihnen eigenen Scheu die Juden als arabischen Stammes. Die germanischen Völker erwiesen sich von jeher den Ochsenbraten hold, und nur bei ihnen weiß man noch heutigen Tages die Ochsenbraten schmackhaft und kräftig zu bereiten. In Deutschland wie in England, in Schweden wie in Norwegen und Dänemark thut sich an diesem untrüglichen Kriterium germanische Weise und Abstammung kund. Die romanischen Nationen, die Franzosen, Italiener und Spanier, haben alle etwas Gemeinschaftliches in ihrer Küche wie in ihrer Sprache und Geschichte, und wie man von einer europaischen Völkerfamilie Die Tafel und Küche. 183 spricht und sie in den slavischen, den germanischen und den romanischen Stamm zerfallen laßt, welche Stamme man wieder in viele Unterabtheilungen bringt, so könnte man auch eben so von einer europäischen Kochweise, von einer germanischen, romanischen und slavischen Küche sprechen und in dieser wieder viele Nuancen und fest geschiedene Unter» abtheilungen, Provinzial- und Stadtküchen, unterscheiden, die in ihren Unterschieden und Aehnlichkeiten ganz und gar mit jenen Nationalunterschieden parallel gehen würden, so daß immer einer mehr oder minder starken Verschiedenheit in Sprache, Gesetzen und Charakter eine auf gleiche Weise mehr oder minder starke Verschiedenheit in Küche, Speise und Trank genau entspräche. Man nehme z. N. den Gerstensaft, eine scheinbar ganz einfache Sache, ein Getränk, das durch Gährung mittels Wasser aus den Gerstenkörnern gewonnen wird. Und doch, welche ungeheuere Verschiedenheiten und welche bunte Classisicirung der vielen Bierarten! Alle europai» sche Nationen wissen aus der Gerste ein Getränk zu be« reiten, aber'das slavische „Piwo", das lithauische „Allus" und das germanische „Vier" scheinen ganz verschiedene Getränke zu sein. Innerhalb der blassen Piwo, Vier und Allus welche verschiedene Generat Z. B. bei der germanischen Classe: deutsches, schwedisches Bier, englisches Ale u. s. w. Unter diesen Genecibus, welche Verschiedenheiten der Familien nach den einzelnen Volksstam-men! Z. V. baierisches Bier, brandenburger. Dünnbier, hannoverischer Bräuhahn u. s. w., dann die einzelnen Arten nach den Städten, Braunschweiger Mumme, Gos- 184 Die Tafel und Küche. larer Gose u. s. w., und nun noch in den Mauern einer Stadt wieder unzählige Ab- und Spielarten! Von noch einfacherer Bereitung als das Vier ist jenes Reißgericht der Orientalen, der Pillaw; er ist blos mit Fleischbrühe angekochter und mit Hammelsieischstück-chen vermischter Reiß. Die turkotatarischen Stamme haben ihn überall mit hingebracht, wohin sie den Mohammedanismus brachten, und ihn über Vyzanz und die ganze griechische Halbinsel, über die Krim und Südrußland, über ganz Kleinasien und das ganze nördliche Afrika, sowie über Ostindien bis China verbreitet. Innerhalb dieses großen geographischen Vcrbreinmgsbezkks aber giebt es bei einer außerordentlich starren und fest bestimmten Gleichheit im Ganzen doch eine ungcmeine Verschiedenheit im Einzelnen, der Art, daß jeder den Pillaw speisende Volksstamm demselben sein eigenthümliches Natio-nalg/präge aufgedrückt hat, und daß es dem Kenner leicht wird, tatarischen, arabischen und türkischen Pillaw an der mehr oder minder großen Trockenheit der Neißkorner, an der Größe der eingemischten Fleischstücke, an der Bauart des daraus verfertigten Thurmes u. s. w. zu unterscheiden, welche Merkmale eben so charakteristisch sind, wie die, woran Kunstkenner die verschiedenen Malerschulen, die römische, toskanische Schule u. s. w., erkennen. Allerdings haben die Weltereignisse der letzten drei Jahrhunderte, die außerordentlichen Entdeckungen neuer großer Lander und der dadurch herbeigeführte Austausch zwischen allen Erdcheilen sehr große Revolutionen in Küche, Keller und Nahrung bewirkt. Jedoch erscheinen Die Tafel und Küche. 135 diese Revolutionen nur groß im Vergleich mit früheren unbedeutenderen Veränderungen, klein aber und unbedeutend im Vergleich mit der Masse des Gebliebenen. Es ist damit ebenso wie mit der gewöhnlich als zu bedeutend ausgegebenen Vermischung der eigenthümlichen Volkscharaktere und eines angeblicher Weise bei allen Nationen verbreiteten Kosmopolitismus. Solche Veränderungen berühren nur die Oberfläche, und das eingefleischte Alte bleibt doch unter allen Färbungen der Oberfläche sitzen. Dazu aber kommt noch, daß auch die verschiedenen, wirklich in Menge aufgetretenen neuen Speisen wiederum von den verschiedenen Nationen auf sehr verschiedene Weise mit geringen ober größeren Veränderungen aufgenommen worden sind. Man erwäge die Nolle, welche der Kaffee bei den Deutschen, der Thee bei den Engländern, die Kartoffeln bei allen Germanen, die Gewürze bei den Briten und der Zucker bei den Franzosen spielen. Die verschiedenen nationellen Sympathieen zeigen sich gleich in Bezug auf jede neu auftretende Speise thätig und bemächtigen sich ihrer auf ihre Weise oder stoßen sie auf ihre Weise ab. Es sind in neuerer Zeit, wo die Ethnographie bedeutende Fortschritte gemacht und angefangen hat, mehr in das Detail der Gegenstände einzudringen, vielfache Forschungen über die Koch- und Speisekunst bei den verschiedenen Nationen angestellt worden. Nicht nur Reise-beschreiber haben genaue Schilderungen der Art und Weise, wie die Nationen, welche sie besuchten, kochen und essen, entworfen, sondern viele geistreiche Männer haben sehr 186 Dle Tafel und Küche. geistvolle und gründliche Bemerkungen über den Geist der verschiedenen Küchen gemacht und nachgewiesen, wie sich auch >n solclxn Dingen wieder das Wesen des Nationalcharakters abspiegele; ja es sind ganze Bücher über Koch- und Eßkunst geschrieben worden; das von Rlunohr und das von Anthus smd nicht die einzigen. Die russische Küche aber ist unter den europäischen im Ganzen noch eine der am wenigsten bekannten, obgleich durchaus nicht eine der uninteressantesten. Es wird daher nicht überflüssig scheinen, daß wir ihrer Betrachtung ein eigenes Capitel in unserem Buche widmeten, welches freilich nur mehre gesammelte Beobachtungen und einzelne Bemerkungen über den so außerordentlich vielseitigen Gegenstand enthalten wird, der in seiner ganzen Tieft nicht so leicht auf wenigen Blattern erschöpft werden könnte. In Petersburg an den Tafeln der Reichen treten allerdings neben den national-russischen Gerichten viele fremde auf, und selbst die einheimischen sind oft so fremdartig maskirt und vermummt, daß man sie kaum wiedererkennt. Dennoch aber ist Petersburg eigentlich der wahre Ort, den Geist der russischen Küche zu studiren. Denn nicht nur ist die Volksmasse, welche den uralten Speisen treu blieb, groß genug, sondern auch bei den Vornehmen kommt von dem Nationalen das sehr tief Wurzelnde immer wieder zum Vorschein, uno selbst das Fremde wird nur auf nationale Weise aufgenommen und muß sich eben so oft wie das Nationale gefallen lassen, ein anderes Gewand anzuziehen. Nicht nur in jVinen Original-Productionen, sondern auck Die Tafcl und Küche. 187 in seinen Copieen und in der Alt und Weise, wie es copirt, ist ein Volk originell, und es ist daher besonders lehrreich, zu bemerken, was es von den Fremden sich aneignet, und auf welche Weise es dasselbe in sich aufnimmt. Um indeß endlich ohne weitere Vorrede uns gleich an das Haupt, und Nationalgericht der russischen Nation zu machen, beginnen wir mit dem „Schtschi," jener, so weit der russische Name geht, gerühmten und viel gelobten Kohlsuppe, die so alt ist als Rußland, und die bisher weder eine politische, noch eine moralische Revolution von der russischen Tafel verdrängen konnte, die sich tagtäglich in der Schüssel des Armen zeigt, wie sie auch beständig neben allen französischen Ragouts und Pasteten auf der Tafel des Reichen erscheint. Kaum wird man es glauben, — wenn man die Russen im Auslande es beklagen hört, daß sie leider hier in der Fremde den „Schtschi" entbehren müßten, und wenn man ihren Patriotismus bei diesem Worte nicht selten zu rührender Beredtsamkeit erwachen sieht, oder wenn man in Riga sich erzählen laßt, daß Tschin, Tschai und Schtschi die drei russischen Hauptgötter seien, — taum, sage ich, wird man es bann glauben können, baß dieser gepriesene Schtschi nichts weiter sci als eine einfache Kohlsuppe. — Es ist aber eine sehr hausig sich aufdringende Bemerkung, daß gerade die einfachsten Nationalgerichte den Nationen am meisten am Herzen liegen, sc dem Italiener seine Nudeln und seine Polenta, dem Engländer fein Roastbeef, dem Wchphalen sein Pumper- 188 Die Tafel und Küche. nickel, dem Deutschen seine Kartoffeln, dem Moldauer seine Mamaliga, dem Polen sein Grütze, so dem Nüssen sein Schtschi, dem denn auch die meisten Russen entschieden den größten Theil ihres körperlichen Daseins verdanken, in der Art, daß ihre Muskeln, Neruen und Knochen eigentlich nur als ein Abstract von Schtschi anzusehen sind. Schtschi und wieder Schtschi ist das Hauptgericht aller Leute, die zwischen Kamtschatka und der preußischen Gränze leben und athmen. Vierzig Millionen Menschen bitten den lieben Gott um ihren täglichen Schtschi. Die ganze russische glorreiche Almee von einer Million wehrhafter Krieger wird hauptsächlich nur mit Schtschi gefüttert, und Schtschi ist das so berühmte und doch von den Historikern so wenig gekannte Gericht, das, in russisches Fleisch und Blut verwandelt, schon seit geraumer Zeit in der Weltgeschichte eine so bedeutende Nolle spielt. Wohin die Russen sich ansiedelnd oder erobernd gekommen sind, in den Ostseeprovinzen, in Finnland, in den ehemals tatarischen Landern und am Kaukasus, am Fuße des Altai und an der chinesischen Mauer, in Europa, Asien und Amerika, überall haben sie gleich ihre Ansiedelungen, so wie die vorgefundenen Orte und Städte der Einheimischen mit einer Menge großer, weitläufiger Kohlgarten umgeben, um in ihnen sich das Material zu dem ihnen so nöthigen Schtschi zu erzielen. Die Vereitungsweise dieses merkwürdigen Gerichtes jst ungemein verschieden, und es giebt vielleicht mehr Arten des Schtschi, als es Kohlvarietatcn giebt. Doch haben alle ihre besonderen Bestimmungen. „Gehackter Die Tafel und Küche. 189 weißer Kohl, tt bis 8 Köpfe, H Pfund Mehlgraupen, ^Pfund Butter, eine Hand voll Salz und 2 Pfund Schaffleisch, in kleine Stücke zerschnitten, dazu ein paar Kannen Kwas," das giebt einen vortrefflichen Schtschi, und zwar den gewöhnlichen alltäglichen Fleischschtschi des russischen Bauers. Bei der Armuth bleiben natürlich einige Ingredienzen, Vuttec und Fleisch, weg, und Alles reducirt sich dann am Ende auf Kohl und Kwas. Umgekehrt in den reicheren Häusern fügt man noch Manches hinzu, was zur Ausschmückung dieser rohen Grundlage dienen könnte, und hat dabei über die schmackhafteste Vereitung sehr streng beachtete Regeln aufgestellt, nimmst Bouillon statt des Kwas, laßt das Fleisch 36 Stun» den gesalzen unter einer Presse liegen, thut es, in kleine Stücke zerschnitten, noch roh in den schon kochenden Kohl, mischt einige in 4 Stücke zerschnittene Artischoken bei, gießt, wenn Alles schon fertig und angerichtet ist, noch 3 Eßlöffel voll dicken kalten Nahms darauf und findet so das Ganze unübertrefflich delicat. Die zweite Hauptart dos Schtschi ist der „sasilnm 8ol,«.«e!n" (der Fasten-Schtschi), der wahrend der Fastenzeit gegessen wird. Bei ihm tritt an die Stelle der Butter Oel, an die des Fleisches Fisch. Die gemeinen Nus-ftn essen ihn gewöhnlich von einer in Nußland weit verbreiteten Art von Fischen, den „Snitkis," die nicht größer als Däumlinge sind und mit Haut und Haar mit dem Kohle zu einem dichten Muße gekocht werden, auf welchen zu noch größerer Appetitlichkeit dickes Oel gegossen wird. — Andere Arten von Schtschi sind der „I.n- 190 Die Tafel und Küche. nivvoi 8cllt,50ki," der „^olonnm ßclll^oln," der grüne Schtschi u. s. w. Es lohnt sich, wenigstens alle diese verschiedenen Schtschi-Arten zu erwähnen, da sie w ganz Rußland nilgemein verbreitet und überall bekannt find, in überaus frappantem Gegensahe zu unserem Deutschland, wo sich sehr wenig allgemein verbreitete Nationalgerichte nennen lassen, desto mehr aber solche, die sich einzig und allein auf die Mauern einer Stadt beschranken. Die Kohlsuppe tritt auch bei anderen slavischen Nationen ebenfalls als Hauptgericht, als Morgen-, Mittag- und Abendschüssel aus. Der tleinrussische „Borschtsch," der bei allen malorosiianischen Kosaken-und Rußniakenstammen zu Hause ist, ist nur eine Varietät des „Schtschi." Er besteht ebenfalls aus Fleisch, das in Krautern gekocht ist. Doch ist das Fleisch nur Lammfleisch, wie in Großrußland meistens Ochsen- und Kalbfleisch, und die Kräuter sind auch verschieden. Unter den Suppen ist der Vorschtfch dem Schtschi in demselben Grade verwandt, wie unter den Völkern die Klcinrussen den Großrussen perwandt und doch von ihnen verschieden sind. Die Polen haben den Borschtsch ebenfalls in ihren Küchen, nur mit wenigen Abänderungen in seiner Zubereitungsart, so wie ihre ganze Lebensweise und Eristenz außerordentlich der der Kleinrussen ähnelt. Die Lithauer, ein von den Slaven ursprünglich stammvttschiedeneS Volk, dessen geselligen Zuständen dennoch aber durch die Slaven, von denen sie zu verschiedenen Zeiten beherrscht wurden, viel Slavisches beigemischt worden ist, haben ebenfalls den Vorschtscb Die Tafcl und Küche. 191 aufgenommen und nennen ihn „Varscht." Doch muß er ihrem Nationalgerichte, dem dicken Grütze, nachstehen und tritt nur als Mithelfer bei der Arbeit der Sättigung auf. Der Schtschi und der Borschtsch, für die deutsch sprechende Zunge zwei wenig liebliche Namen, wie für die speisende zwei wenig reizende Gerichte, es sei denn, daß sie so aufgeputzt wären, wie man sie in den Küchen der Vornehmen würzt, ebenso, wle man in den Tanz-salen der Vornehmen die plumpen und unschönen Nationaltanze zu zauberischen Vallcts auszuschmücken weiß, —- sind eigentlich eine Art von 01!» i»alri n I» inoäl: sind bei ihnen unbekannt. Wenn sie braten, so haben sie nur eine einzige Art von Gebratenem, „Skarkoje," und damit Plmcrum. Desto manchfaltiger aber sind ihre Gebäcke, obgleich Diü Tafel und Küche. 195 sie eben für keine guten Backer gelten können. Das meiste Brot der NussVn ist schlecht ausgebacken, was gewiß nicht wenig charakteristisch ist für das Volk, das ebenfalls mehr unreifes als reifes Obst genießt. Wie leicht wäre es doch, das Vrot etwas langer im Ofen »md die Früchte etwas länger am Baume zu lassen. Dabei ist durchweg alles Brot in Rußland etwas säuerlich, wovon ich die Ursache nicht ausfindig machen konnte. Es ist unglaublich, wie gut das Getreide in diesem Lande ist, und wie schlecht das Vrot ausfallt, welches sich die Menschen daraus bereiten. Zu den gewöhnlichen Formen der russischen Brote gehört zuerst die halbkugelförmige. Diese Form ist die zweckmäßigste für das' gleichmäßige Durchbacken und entsteht auch nach allwaltenden Naturgesetzen mit einer gewissen Nothwendigkeit aus einer Anhäufung des weichm Vrotteiges im Backofen. Alsdann giebt es ringförmige Brote. Diese Form ist für alles trockene und harte Gebäck paffend und sehr zweckmäßig für den Transport. Der Käufer reiht die Ringe auf Schnuren oder steckt sie wie Armbänder über Hände und Arme. Endlich findet man eine Verbindung dieser und jener Form, einen Halbring, als Handhabe -an eine Halbkugel angebacken. Von dieser Art sind ebenfalls viele russische Gebäcke, namentlich die berühmten „Kalatschi," d. h. Weizenbrots, welche die Nltffm sehr gern essen und die am beßten in Moskau gebacken werden. Viele Brotformen sind wahrscheinlich durch die Kirche bestimmt worden, namentlich solche, welche Bezug auf den Gottesdienst haben. Das ungesäuerte Brot, welches 9* 196 Die Taft« und Küche. die Russen beim Abendmahl genießen, hat die Gestalt und Größe einer gefüllten Kaffeetasse mit Untcrsatz. Das Osterbrot, aus einer Menge verschlungener Teigstreifen bestehend, sieht aus wie eine gebackene Dornenkrone*). Manche andere Vrotarten spielen auf das Kreuz an u. s. w. Die angenehme Neberraschung, welche bei den gefüllten Pasteten und farcirten Speisen, in dem unverhofften Gegensatze des Trockenen und Saftigen, des Harten und W«ichen, des Ungesüßten und des Gezuckerten, des Mageren und Fetten liegt, ist den Russen nicht entgangen und daher in ihrer Küche die Anzahl der gefüllten Pasteten erstaunlich groß. Diese Bemerkung ist nicht unwichtig. Bei uns erscheint die gefüllte Pastete nur auf den Tafeln der Cultivirten, und nur alS ein Product der höheren Kochkunst, und ich wüßte außer den Russen kein Volk, bei dem sie ein alltägliches Nationalgericht wäre. Es überrascht den Fremdling nicht wenig, wenn er bei dem gemeinen russischen Vaucr gefüllte Pa» steten in Menge als etwas Gewöhnliches erscheinen sieht. Die Russen nennen die Pasteten im Allgemeinen „Pirogen." (Wir Deutschen kennen die Sache so wenig, daß wir nicht einmal einen einheimischen Namen dafür haben.) Die Gattungen dieser Pirogen sind zahllos. Am häusigsten erscheinen beim gemeinen Manne wohl die Fischpirogen, die meistens in Oel gebacken und mit Fisch gefüllt werden. Ein besonders häufiges Gefüllsel gehen die welchen Rückensehnen des Hausens und an- *) Wenigstens ist dieß in Südrußland der Fall. Die Tafel und Küche. 197 derer großer Fische. Dieselben sind durchsichtig und klar wie Bernstein oder aufgelöste Hausenblase, werden in laut« kleine Würfel zerhackt und geben so, in Kuchenteig geschlagen, ein bei den Russen sehr beliebtes, übrigens mehr hübsch aussehendes als schmackhaftes Gericht. Die kleinen Fischpasteten wissen alle Russen gut zu .bereiten, und es werden bei den Frühstücken, bei'm Imbiß zum Schnaps u. s. w., große Quantitäten davon verzehrt. Uebrigens sieht man sie in keinem Lande außer in Rußland, eben weil sie dort nicht blos wie bei uns Delica-tesse, sondern volksthümliches Gericht sind, zu so ungeheuerer Größe anwachsen. Gewöhnlich wird für die ganze Gesellschaft von mehr als 12 Personen nur eine Pastete ge» backen. Ein anderes Gefüllscl von sehr großer geographischer Verbreitung besteht aus zu einer Art weicher gelblicher Käse geronnener Milch, die in dünnen Kuchenteig geschlagen, in Wasser abgekocht und mit zerlassener Butter genossen wirb. Man nennt diese Pasteten „Waraniki," und sie sind eins der beliebtesten Nationalgerichte der kleinrussischen Hirtenvölker, der Kosaken, der Rußniaken, treten aber auch mit geringen Abweichungen bei den Polen und Lithauern auf. — UebrigenS packen die Nüssen Alles in ihre Pasteten hinein, was sich nur zerhacken läßr, und 'gebrauchen als Farcen bald Fleisch, bald Milch, bald Fisch, bald Gemüse, Früchte, Pilze, Beeren u. s. w.; der Teig ist dabei gewöhnlich das Unerfreulichste. In Deutschland weiß nur Der, welcher bei einem Dresdener Backer in die Schule ging, was „Stollen, Sechserbrödel, Faustmauke, Einback, Vutterzopf, Brezel, 198 Die Hafel und Küche. Martinsbrote, Mundsemmeln oder Hörnchen" sind, und nur Der, welcher ein hungeriger Bremer Schuljunge war, weiß, welche schöne Sachen unter den Namen „Klaben, Kreuz-bröte, Losbröte, Bumbaisches," versteckt sind. Alle solche Dinge sind bei uns nur auf das Weichbild einer Stadt beschrankt, und es ist kaum irgend ein deutscher Gebackname zu nennen, der durch das ganze Land geht. Wie ganz anders ist dieß in Rußland, wo man am Pontus so gut wie an der Küste des Polacmeeres sich auf Pirogen, auf Vlinni, auf Pränniki und Kolibaks, auf Waränniki und Kalatschi versteht. —> Das ist eben auch das Lohnende bci der Schliftstcllerci über die russische Kochkunst, daß man bei der Beschreibung jedes Gerichts gleich einen großen und weiten Verbreitungskreis desselben vor sich hat. Spricht man z. V. von den Vlinni und sagt, daß sie eine Art von Eierkuchen seien, die in der Vutterwoche vor den Fasten mit Kaviar und Portwein gegessen werden, bei'm Frühstücke, wie bei'm Mittagsessen, so lohnt sich dieß zu wissen gleich mehr der Mühe, denn man weiß dann zugleich, daß in jener Woche ein ganzes großes Kaiserreich an Unverdaulichkeiten leidet. Oder wählt man die Pranniki und erwähnt, daß sie mit gezuckerten Früchten gefüllte Honigkuchen sind, so groß wie ein Octavband und mit darauf gedruckten Arabesken und Sprüchen, so lernt man dieß nicht für nichts und wieder nichts, den man findet sie von Polen bis nach China überall in derselben Form wieder, und viele Millionen Kinder bitten an Meß- und Sonntagen ihre Mütter um nichts Anderes als um Prän- Die Tafel und Küche. 199 niki. Der Statistiker und der Staatsmann, wenn sie nicht gerade Stadtchroniken schreiben, können unbeschadet ihrer Wissenschaft die verschiedenen in Deutschland üblichen Gebäcke ignoriren, in Rußland aber ist ihnen die Kenntniß derselben unbedingt nöthig, denn jede Speise greift hier in das Leben des ganzen unermeßlichen Reiches ein, und jede Pasteten- oder Kuchenart hat in Rußland eine Statistik — wie in keinem anderen Lande. Wenn von den gemeinen „Vumbaisches" oder „Hörnchen" jeden Morgen vielleicht 12,000 bis höchstens 15,000 das Licht der Welt erblicken und ihr ephemeres Leben in süßem Kaffee oder Thee und unter den Zahnen der noch schlaftrunkenen Bremer und Dresdener Welt einbüßen, so sieht dagegen von den russischen Bulki, Ka-latschi und Kolibaks Apollo mit Verwunderung taglich zahllose Millionen auf einem Terrain an's Licht treten, das den neunten Theil der Erdoberfläche einnimmt. Wie die Heuschreckenschwarme entsteigen sie den Millionen Backöfen und verschwinden wie sie unter den Bissen der zahllosen Gebisse der Nation. Ueberall sind es Millionen, die sich mit jenen Dingen sättigen, Millionen, die sie verfertigen, und wieder Millionen, die sich mit ihnen den Magen verderben. Natürlich muß eine solche Einförmigkeit der Nahrungsmittel eine große Einförmigkeit der physischen Zustände und der moralischen Dispositionen theils begründen, theils voraussetzen. Wenn sich der innere Charakter und das geheim-nißvolle Wesen der verhüllten Psyche einer Nation nicht weniger deutlich in den Production«« der Küche dieser 200 Die Tafel und Küche. Nation offenbart wie in den Productions irgend einer anderen Kunst, ja wenn die Küche sogar ihren eigenthümlichen Kreis von Offenbarungen hat, so daß man durch sie noch Manches erfahrt, was andere Bestrebungen nicht lehren, so wird die Bemerkung nicht überflüssig sein, daß die Russen, wie sie nach unseren obigen Andeutungen eine große Vorliebe für die gemischten und gehackten Gerichte haben, eben so nicht weniger eine große Neigung zur Production und Consum-tion von gemischten, zerriebenen und zerkleinten Gerichten, von allerlei Mußen, Breien, Pure'es und Gallerten zeigen. Es ist, als wenn die Nüssen die feste Form nicht leiden könnten oder als wenn sie zum Zerkauen zu träge waren. Die zermatschten und breiigen Gerichte sind ungemein zahlreich in ihrer' Küche, und es ist fast kein speisbarer Gegenstand zu nennen, den sie nicht häufig zerhackten und zu Brei zerquetschten. Fleischgehacksel, Aepfel-, Kartoffel- und Wurzelmuß haben sie mit uns gemein, dazu aber kommen zunächst noch manche Fischge-hacksel, die wir nicht kennen, z. B. Haringsmuß, alsdann eine Unzahl von Beeren-, Frucht-, Mehl- und Grützebreien, die kalt und warm auf allen Markten dem Volke feilgeboten werden, und viele verschiedene Arten von „Kissels" und Pastelns." Die Kissels werden von Weizen-, Hafer- und Erbsenmehl gemacht, das mit Kwas vermischt wird und damit ein wenig fermentiren muß. Diese Kissels halten zwischen dem trockenen Zustande des Brotes und dem flüssigen der Suppen die schöne Mitte, welche die russische bequemliche Zunge so sehr liebt. Auf Dte Tafel und Küche. 2t)1 Bretern wie Kuchenteig zurecht gelegt, werden diese Kissels an das Volk verkauft, das sie mit Oel benetzt Feinerer und anderer Art sind die Pastel'is, dicke Teige, ober Muße aus allerlei Früchten. Es sind zerquetschte Aepfel, Birnen oder andere Früchte, die mit Zucker, etwas Mehl und Nosenwasfer gemischt werden und so in allen Krämerbuden fertig zu kaufen sind. Die beßten werden von gequetschten Pfirsichen und Aprikosen gemacht, und sie sehen theils grün, theils roth, theils weiß aus. Das Pfirsichen- und April'osenpastelä erscheint hausig auf den Tafeln der Reichen, in lange Stücke geschnitten und in Papier gewickelt. Als eigenthümliche russische Purees kann man noch die „Zwiebelmuße" und dann die „Pilzpure'es" anführen. Das Zwiebelmuß ist ein Lieblingsgericht der Kleinrussen. Die Pilzpure'es, wobei die zerquetschten Schwämme durch ein Sieb gelassen werden, sind besonders delicat, und es ist unbegreiflich, daß man sie nicht längst in Westeuropa nachgeahmt hat. Ich glaube nicht, daß eine plastischere Nation, als die russische es ist, so viele Formen zerstört und so viele Muße erfunden hätte. Man genießt doppelt, wenn man die Form mitißt, und vön manchen Gegenstanden ist der natürliche innere Zusammenhang der Atome ganz anders als bei dem künstlichen Aggregatzustande im Puree. — Die Russen wollen, daß ihnen Alles im Munde schmelzen und allenfalls von selbst die Wege des inneren Labyrinthes weiter finden soll, eine energische, thatkräftige Nation will beißen und zermalmen! Wozu hätte man sonst die Zahne? Freilich kön- 9.. 202 Die Tascl und Küche. nen die Russen die Götter Griechenlands für sich anführen, denn es ist wohl kein Zweifel, daß die Ambrosia derselben ungefähr die Consistcnz und den Cohäsions-zustand der russischen Kissels und Pasteläs gehabt hat, denn, wenn es sich auf der einen Seite nicht gut denken laßt, daß die Ambrosia eine flüssige Suppe war, die mit den Mund breit öffnenden Löffeln geschlürft werden mußte, so laßt cö sich auf der anderen cben so wenig annehmen, daß sie ein sehr harter und zäher Gegenstand war, der mühsam gekaut werden mußte, da das Kauen tmmer eine sehr unästhetische, ungöttliche Manipulation ist. Als eine Art von Gallert, Gel,-'e ober wcichcm gezuckerten Kuchenteige, der mit der Zunge leicht zerdrückt wurde, die Finger nicht beschmuzte, keine Messer, Löffel und Gabeln nöthig machte, hat man sich ohne Zweifel jene Ambrosia, welche Apollo und Venus im Olymp speis'ten, zu denkcn. An die Breie und Brote schließen sich zunächst die Confitüren, in deren Gebiet wir eigentlich schon mit den Pastells eingetreten sind. Auch hier eröffnet sich wieder ein weites Feld ohne Gränzen. Ich wäre in der That in großer Verlegenheit, wenn ich außer den gewöhnlichen irgend eine besondere eigenthümliche Frucht oder Beere des deutschen Bodens nennen sollte, deren sich der deutsche gemeine Mann zum Nutzen seines Haushaltes bemächtigt hätte und die m.ni durchweg in ganz Deutschland in allen Haushaltungen, nach einer gewissen unveränderlichen Vorschrift bereitet, gezuckert und gewürzt, bei Bürger und Bauer anträfe. Das Zwetschenmuß, Vie Tafel und Küche. 203 die Gurken, Heidel« und Preiselbeeren begründen einige wenige Ausnahmen. Dagegen wäre ich eben so wieder in Verlegenheit, wenn ich alle die Früchte und Veerm nennen sollte, die jede Hausfrau in Nußland nach altherkömmlicher Weise mit Honig oder Zucker zu süßen, einzukochen und zu conservircn versteht. Wahrscheinlich ist eines Theils der große Mangel an wohlschmeckenden, würzigen Früchten und der übergroße Reichthum an Bec-ren hunderterlei Art, die roh eben keine besondere Delicatessen, gezuckert und gekocht aber die vortrefflichsten Safte abgeben, und anderen Theils die Lange des russischen Winters die Ursache von der in Rußland so außerordentlichen Cultivirung dieses Departements dcr Kochkunst. Man sammelt rasch, was die Straucher und Büsche im kurzen Sommer Rothes, Blaues und Schwarzes produciren, und sucht künstlich für die langen Win-termcnate einzumachen. Dabei aber ist auch zu bemerken, daß die Nüssen ein außerordentliches Gelüste nach allem Süßen und Saftigen tragen, daß die gemeinen Leute ihren Honig und die Wohlhabenden die gezuckerten Säfte mit Löffeln essen. In allen Kramerbuben der geringsten Städte werden Confccie und Süßigkeiten in Menge verkauft, und die großen Haushaltungen haben ihre Keller davon so voll wie wir unsere Vorrathskammern voll Bohnen und Schnittkohl. Nicht nur die Aepfel, die Birnen, die Aprikosen, Trauben und Pfirsichen werden gezuckert wie bei uns, sondern auch die Heidelbeeren, die Stachelbeeren, die Johannisbeeren, dann die „Vrusimki, Maroschki, Klukwi, Mamura," für 204 Die Tafel und Küche. die wir nicht einmal einen Namen besitzen, wie wir denn überhaupt diesen ganzen Kunstzweig wohl nur von den Franzosen und Italienern erlernt haben. Denn wir besitzen kaum eine eigene Benennung für den Gegenstand, oder wenn wir sie auch besitzen und ihn „Gezuckertes" oder „Eingemachtes" nennen, so gebrauchen wir doch mehr den ausländischen Ausdruck: „Confect," während die Russen einen allgemein gebräuchlichen und einheimischen Namen dafür haben: „Warenije." — Die Nüssen verstehen sich im Allgemeinen gut auf das Bereiten dieser Warenije, und man muß sie zu denjenigen Dingen zählen, welche in Rußland in vorzüglicher Güte hervorgebracht werden. Die Fabriken einiger Orte, z. B. Moskaus, Kiews, Nieshins, thun sich darin besonders hervor, und der Handel mit diesen Confecten und Saften, die in Gläsern, Fässern und Kisten verschickt werden, ist so bedeutend, daß die Großhändler oft Capitalien von mehren Hunderttausenden blos in solchen Süßigkeiten stecken ha» ben, und daß auf den Messen des Innern immer eine ganze Neihe von Buden und Gewölben erscheint, die nur mit diesen süßen Waaren angefüllt sind. Es ist unglaublich, welche Quantitäten von Confecten, Vonbons, Sweet-meets und Zuckerbackereien auf Ballen und bei anderen Festivitäten in Rußland verzehrt werden; man kauft sie pudweise für eine Tanzgesellschaft ein, und manche rufe sische Kaufmannsfrau, die reich und müssig genug ist, verbringt die halbe Zeit ihres Lebens mit Gezuckertem, welches man sie bestandig beißen, saugen und schlürfen sieht. Die Taf«l und Küche. 205 Von den Saften ist der Uebergang leicht zu den Getränken, deren die Nüssen eine nicht geringere Anzahl als ihnen eigenthümlich aufweisen können. Außer dem Viere und Schnapse haben wir Deutschen, glaube ich, fein einziges nationales Getränk, die Nüssen dagegen zahllose. Unter ihnen ragt vor allen Dingen als das verbreitetste und allgemein verehrteste der „Kwas" hervor, der unter den Getränken ganz dieselbe Stelle einnimmt, die der Schtschi unter den Speisen behauptet. Der Ruffe kann so wenig ohne Kwas leben, wie der Fisch ohne Waffer. Der gemeine Ruffe trinkt fast nie Wasser, sondern immer Kwas, und sogar den größten Theil seiner Suppen und Brühen macht er, wie wir schon oben bemerkten, nicht mit Waffer, sondern mit Kwas an; ja selbst auf den Tafeln der Reichen erscheinen gewöhnlich neben den Weinen und Spirituosen statt der bei uns üblichen Wasserflaschen Karaffen mit Kwas. Kwas ist eigentlich die Basis aller Getränke und Speisen, und in Kwas kommt Alles zu schwimmen und zu stießen. Glücklicherweise tst der Kwas ein sehr gesundes und leichtes Getränk, das auf folgende Weise bereitet wird. In einen irdenen Topf thut man einen Eimer Waffer, schüttet dazu 2 Pfund Gerstenmehl, ^ Pfund Salz und 1^ Pfund Honig. Dieß Gemisch wird des Abends in eine Art von Backofen mit gelindem Feuer gestellt und beständig gerührt, am Morgen laßt man es eine Zeit lang ruhen und abklären und giesit dann die klare Flüssigkeit in Fässer ab, und damit ist der Kwas fertig; doch kann man ihn erst nach ein paar Tagen trinken, und 206 Die Tafel und Küche. nach einer Woche erst erhält er seine größte Schmuck-haftigkeit. So einfach diese Bereitung zu sein scheint, so Mancherlei ist doch dabei zu beobachten, was sich nicht Alles sagen läßt. Weil der Kwas nur dann gut wird, wenn man ihn in kleinen Partieen in kleinen Töpfen be^ reitet, so hat man in den russischen Städten keine großen Kwasfabriken nach der Art unserer Bierbrauereien, sondern jede Haushaltung bereitet sich ikren Bedarf selbst, in großen geschieht es durch einen eigens dazu im Hause angestellten Kwasbereiter. Es ist interessant, diesen alten Kerlen bei ihrer Arbeit zuzusehen, bei der sie den ganzen Tag über etwas zu wirthschaften haben; sie wissen von dem, was bei der Kwasbereitung gut und nicht gut ist, so Vieles zu erzählen, als ware es lauter Zauberei, und in ihre Arbeit so viel Bedeutung hineinzulegen, wie Schiller's Glockenmeister in die seiniqe. Der Kwas ist ein säuerliches, angenehm kühlendes Getränk, das weder berauscht, noch stark nährt, noch den Kopf einnimmt und die Farbe unseres Dünnbieres hat. Die Fremden gewöhnen sich leicht daran und trinken eS dann gern. Es giebt kein besseres Getränk für Leute, die eine sitzende Lebensweise führen und den Kopf frei behalten müssen; es ist besonders heilsam für Hypochondrien. Unsere Aerzte, wenn sie etwas von Rußland kannten, müßten daher solche Kranke lieber zu den KwaS-quellen in Nußland als zu den Bädern in Böhmen schicken. Wenn auch nicht in der Hauptstadt, obgleich auch hier mancher alte russische Fürst an dem alten hertömm-lichen Kwas festhält, wohl aber in dcn Provinzen cr^ Die Tafel und Küche. 207 scheint der. Kwas noch oft bei öffentlichen Diners. Die gemeinen Russen müssen, wie gesagt, immer Kwas haben — denn es giebt kein Volk, welches in dem Grade wie die Russen die von der Natur gebotene klare Welle des Wassers verschmähte — und überall, wohin sie kommen, verschaffen sie sich ein Napfchen mit Honig und ein paar Hände voll Mehl, um ihren Kwas sich zu bereiten. Die Fabrikation des baierischen Vieres hat allerdings in der neueren Zeit bedeutende Fortschritte gemacht, doch ist es keine Frage, daß die Vereitung des Kwas in dem letzten Jahrhundert sich so weit über den Erdboden verbreitet hat, wie das baierische Vier es nie thun wird. Dem Kwas steht als uraltes, nationales Getränk der „Meth" zur Seite, der noch immer wie früher im ganzen Norden vorzüglich gut bereitet wird. Die verschiedenen Verfahrungsarten bei seiner Vereitung und die verschiedenen Sorten des Meths sind so manchfach, daß es unmöglich ist, sie alle herzuzahlen. Doch ist mancher so klar, so geistig und so schön, daß man ihn mitunter gern an die Stelle des Weins treten laßt. Der Mcth, den man richtiger „Möd" schriebe, scheint ein acht slavisches Getränk zu sein, denn in den meisten slavischen Sprachen heißt „Möd" soviel als Honig, welche Substanz die Hauptrolle bei der Vereitung des Meths spielt. — In früherer Zeit war der Meth das einzige spirituöse Getränk der Russen. Spater brachte ihn der Branntwein bei den geringeren Klassen und der Wein bei dcn Vornehmen außer Anwendung. Er erhalt sich jedoch fortwährend bei manchen Volksklassen in Gebrauch, urd 209 Die Tafel und Küche. noch jetzt trinkt der Bauer oder Arbeiter da eine Flasche Meth, wo der Bürger oder Kaufmann sich eine Flasche Wein gestatten würde; auch auf den Hochzeiten der geringen Leute fließt der Meth noch immer wie früher. Es ist bemerkenswert!), daß in allerneuester Zeit der Meth wieder etwas mchr in Aufnahme kommen zu wollen scheint; vielleicht ist das rege Forschen in den alten Annalen Nußlands und die gestiegene Vorliebe für das Na-tionalrussische die Ursache davon. Der Branntwein lst jetzt bei allen slavischen Nationen und namentlich auch bei dcn Russen eine so mächtige Gottheit geworden, daß man in dem Sinne, wie mmi sagt: „Geld beherrscht die Welt," von ihm behaupten kann: „Branntwein beherrscht die Ruffm." Das gewöhnliche Trinkgeld ist in Rußland ein „Rümka Wobki" (Gläschen Branntwein), die gewöhnliche Belohnung, das gewöhnliche Bestechungsmittcl für den gemeinen russischen Mann besteht nicht in Geld, sondern in Branntwein. Es ist bemerkenswerth, daß für Geld die gemeinen Leute gar nicht so dankbar sind wie für Branntwein; kein Fest kein Sonntag, keine Ostern und kcine Weihnachten ohne Branntwein; der Branntwein muß die Krieger zur Schlacht und die tragen Arbeiter zur Thätigkeit reizen. Es ist zum Erstaunen, mit welcher Gier die Russen auf dieses feurige Giftwasser erpicht sind. — Der Branntwein ist ein bei den Russen aus der Fremde eingeführtes Getränk, obgleich sie jetzt auch eigene Namen dafür erfunden h'iben, sie nennen ihn „Wotcka" (das Wässerchen) — man begreift leicht die feinen poetischen Anspielungen Hie Tafel und Küche. 209 welche in dieser Benennung versteckt liegen. — Doch kennt man auch, wie fast überall in der Welt, die deutschen Namen „Branntwein" und „Schnaps" dafür, und es leidet wohl keinen Zweifel, daß durch die Deutschen dieses Getränk auf die Slaven übertragen wurde. Als schon langst unter den Deutschen der Branntwein bekannt war, wußten die Russen noch nichts davon; es ist dieß eine neue, seit den letzten Jahrhunderten erst aufgetretene Plage und Lust des Volkes, eben so wie die Leibeigenschaft, mit deren allmaligem Steigen auch die Branntweinconsumtion so ungeheuer zunahm, daß, wie gesagt, der Branntwein des armen, gemeinen Nüssen hauptsächlichster und fast ausschließlicher Sorgenbrecher geworden ist. — „Wodka! Wook«,! Wodka! Nümka Wodki!" diese Worte müßten in einem russischen Lexikon, welches einen gehörigen Begriff auch von der Häufigkeit des Gebrauchs eines Wortes und seiner Wichtigkeit und Bedeutsamkeit geben wollte, auf jeder Seite zehn Mal vorkommen. — Tausend Leute werben in Nußland durch den ungeheueren Consum von Branntwein reich und Millionen arm. Ein Blatt, das die Statistik und Geschichte des Branntweinconsums in Nußland mit einigen bestimmten und treffenden Zügen darstellte, würde eines der merkwürdigsten Blatter im Buche der Weltgeschichte sein. Wie die Russen von den Beerenfrüchten ihrer Haiden und Walder eine nach der anderen mit Zucker mischen und aus jeder Sorte ein eigenes Conftct bereiten, wie sie beinahe jede Sorte trocknen und mit 210 Die Tafel und Küche. heißem Wasseraufgusse einen Thee davon bereiten, so mischen sie auch jeder Sorte den Branntwein bei und machen daraus eine eigene Art von Liqueur. — Wir haben nur für den reinen Kornbranntwein eigene einheimische Namen, die feineren Sorten solcher Spirituo-sen nennen wir „Liqueure," die Russen aber heißen sie mit einem einheimnischen Namen „Nalifken" (Aufgüsse) und „Nastoikcn" (Abstände). Es wird in allen russischen Haushaltungen ungemein viel Lurus und Leckerei mit diesen Nalifken getrieben, und jede Hausfrau weiß eine ganze Menge von Recepten und Äereitungsweisen verschiedener Nalifken. Wenn wir in der Liste der eigenthümlichen Nationalgetränke fortfahren, so möchte sich hier zunächst der „Kisloi'Schtschi" anschließen, ein in allen Wirthshausern Rußlands verkäufliches, sehr beliebtes Getränk. Es ist eigentlich nur eine andere Art von Kwas, den man mit Rosinen zum Gähren bringt. Man genießt ihn mit Zucker, und er schäumt wie Champagner. Er ist säuerlich und sehr erquicklich, wie denn überhaupt die Reihe der säuerlichen Getränke in Rußland unendlich ist; denn es ist merkwürdig, daß, so sehr die Russen das Süße lieben, doch zugleich in keiner Küche so viel Säuerliches auftritt wie in der ihrigen; wir berührten schon öden ihr säuerliches Brot und mehre säuerliche Suppen. Vielleicht verlangt ihre Natur dieß so zum Gegensatz der vielen genossenen Süßigkeiten. Vielleicht berühren sich diese Extreme so natürlich wie alle anderen, vielleicht ruft auch das viele Oel,, welches sie genießen, Beides, Die Tafel und Küche. 2N die Sucht nach dem Süßen und die mich dem Sauer» lichen, hervor. Unter diesen säuerlichen Getränken steht neben dem „Kisloi-Schtschi" das „Klukwennoi-Mors" obenan. Die Kluckwi sind rothe Beeren, die häusiger als die anderen in Nußüind vorkommen, und deren Samen Noah expreß für Rußland in seiner Arche gerettet zu haben scheint, denn sie kommen im ganzen Lande fort und sind sogar noch im Winter schön und frisch unter dem Schnee zu finden. Man läßt sie gefrieren, und in gefrorenem Zustande erscheinen sie in ungeheueren Quantitäten auf den Märkten. Der ausgepreßte Saft giebt aber obiges Getränk; es wird im Sommer zu Limonaden gebraucht, deren es in Rußland so manchfaltige giebt wie im Oriente Scherbets. Die Gurken, die Aepfel, die Birnen und andere Früchte liefern eine Menge geschmackloser, aber beim Volke beliebter Getränke. Von allen Früchten die delicateste ist die schon erwähnte Ma-mura, die köstlichste Frucht des höchsten Nordens, die bei der Größe und Gestalt der Maulbeere das Aroma der Ananas hat und, mit Champagner und Num vermischt, einen herrlichen Punsch giebt, dem ohne Zweifel ausschließlich alle Punschlieder unserer Dichter gewidmet sein sollten. So ungünstig Nußlands Himmel den Mahlzeiten im Freien zu sein scheint, so wird doch in keinem Lande mehr unter freiem Himmel dinirt als in Nußland. Vielerlei Speisen und Getränke werden bestandig von ambulanten Speisewirthen in den Straßen der Städte 2l2 Die Tafel und Küche. herumgetragen, im Winter heißer Thee, warmer Sbiten, Kartoffeln und heiße Kuchen, wobei alle Gefäße in dicke Tücher eingewickelt sind, um die Warme zusammenzuhalten, im Sommer Gefrorenes, KühleS, Kwas, Kislitschi u, s. w. Der „Chartschewnas" (Garküchen) sind in jeder Stadt unzahlige, und zuweilen ist ein freier Platz oder eine große Halle oder ein offener Schoppen für die Abspeisung des gemeinen Volkes bestimmt, wo der Ethnograph und Beobachter eine eben so reichliche Ernte an Bemerkungen zu machen Gelegenheit findet als der Vauer und Arbeiter an Pirogen, Kwas und Schtschi. Die in den russischen Städten mehr als bei uns stattfindende Zusammen-Häufung so vieler unverheiratheter Leute, die eigentlich nicht in der Stadt zu Hause sind, hat solche Vorrichtungen nöthig gemacht. Man erstaunt über die Menge von Fleisch und nahrhafter Kost, welche hier, namentlich im Süden des Reichs, dem genieinen Mann zu Theil wird. Trotz seiner vielen Fasttage verzehrt der geringe Nnffe mehr Fleisch als der geringe Deutsche. Petersburg übertrifft in der Fleischconsumtion alle übrigen Städte Europas, besonders wenn man die schlecht^ nährte Armee von 6l),0W Mann, welche in der Stadt liegt, bei der Berechnung ausschließt. Die Stadt — mit Ausschluß der Armee — verzehrt jährlich 4 Millio-nen Pud Getreide, es kommen demnach auf den Mann (Kinder, Alte, Kranke u. s. w. eingerechnet) 20U Pfund Getreide, dazu etwa 100,Nl)0 Ochsen, b. h. auf 4z Mann ein ganzer Ochse, wobei die Kühe und Kälber nicht eingerechnet sind. Von Schweinen und Schafen verzehrt man Die Tafel und Küche. 213 etwas weniger als in Paris, sehr bedeutend aber ist die Consumtion der Fische, z. B. der Haringe, denn i. I. 1832 verbrauchte die Stadt 53,000 Tonnen Haringe, auf acht Mann kam also 1 Tonne. Eben so bedeutend ist — wenigstens dem Journale des Ministeriums des Inneren zufolge — die Confumtion des Salzes, es wurden nämlich in genanntem Jahre 500,000 Pud verbraucht, d. h. es kamen 40 Pfund auf den Mann oder 4 Loth auf jeden Menschen dm Tag. — Es möchte wohl kein geringes Interesse haben, in das Detail der Consumtion dieser Stadt näher einzugehen und ihm das Consumtionsdetail von Paris, London oder Wien ge« genüber zu stellen. Angaben genug hatte man allerdings darüber in den verschiedenen russischen Iour< »nalen, doch widersprechen sich bei dem oberflächlichsten Vergleiche diese Angaben auf eine so wenig zu erklärende und so craffe Weise, baß Niemand den Versuch waqen kann, hier Mittelzahlen zu finden und einige Harmonie zu stiften. Die Umgegend von Petersburg ist so steril und an speisbaren Producten so arm, wie die keiner anderen Hauptstadt Europas, selbst Madrid nicht ausgenommen, weßhalb man es auch mit Recht das neue Palmyra genannt hat, d. h. die prachtigste, luxuriöseste und begierdenreichste Stadt mitten in der productenarmsten und unfruchtbarsten Wüstenei. Petersburg muß daher seine Bedürfnisse in einem Gebiete von ungeheuerer Ausdehnung zusammensuchen. Denn Bagatellen ausgenommen, liefert ihm seine Umgegend, mit welcher die Stadt 214 Die Tafel und Küche. nicht, wie unsere Städte, mit tief eindringenden Wurzeln vereinigt ist, sondern üb« welcher sie, von entfernten Landern Nahrung empfangend, mit Aufwendung großer Kosten gleichsam künstlich schwebend gehalten zu werben scheint, nichts; das Brot, welches sie genießt, reift an den Ufern der Wolga und hat manche Flusi-und Kanalsysteme zu passiren, bis es in die Petersburger Backereien gelangt. Das Heu sogar kommt zu Schiffe auf der Newa aus fernen Gegenden Vut Mlnli«/.! Sieh da, das ist der Rechte*), der versteht's, so ein klu-ger, so ein gelehrter Mann! Man muß erstaunen!" Vei dem Bestaunen der Gelehrsamkeit laßt man es indeß bewenden, und im Uebrigen hat man eine gewisse Scheu vor den gelehrten Leuten, weil man sich selber so vielfach von ihnen überblickt glaubt. Man fertigt sie mit dem Bestaunen ab und laßt sie ihre Wege gehen, da man doch sonst sich dem, was man bewundert, zu nahen liebt. Dazu kommt noch, daß das Nachdenken und die Gelehrsamkeit sich gern in sich selbst vertiefen und, die innere Welt suchend, der Außenwelt absterben. „8!iut8olinoi l«ol,e!lo>v«k" (es ist ein trauriger MelancholicuS), heißt es dann, „er sitzt auf seinem Zimmer und studirt und denkt, Gott weiß, was er sich ausdenkt. Er ist eigensinnig und launisch und durchaus nicht umganglich." — Es ist höchst auffallend, daß eben diese letzten Vorwürfe, die wir in der Regel, den Russen zu machen pflegen, gerade von ihnen uns am meisten zurückgegeben werden. Namentlich alle Deutschen stehen bei den Nüssen im Rufe von eigensinnigen und launischen *) ,,M>!lld«L^ heißt eigentlich ei» junger sixer Bursche. „VV^t 1>fa!aI l'imi ist, der ist der wahre Mann für die Russen. Wer ihnen im Whistspicle 5NN Rubel an einem Abende abgewinnt, wer ihnen deutsche Lieder vorsingen kann und im Cotillon hübsche Touren aufzuführen weiß, der ist ihr beßter Hausfreund, ja er ist mehr als dieß, er ist ibr Herr und Gebieter und verfügt nach Gutdünken über ihre Herzen. — Es giebt eine Menge von Auslandern, die sich solche Talente angeeignet haben und durch deren Ausübung in den russischen Familien des Inneren zu bedeutendem Einflüsse gelangt sind, so baß sie oft, wie sonst wol die Jesuiten, als die wahren' Leiter der Familien-Angelegenheiten erscheinen. 230 Pädagogisches. Es wkd ihnen dieß um so leichter, da die Russen sich mit den Ausländern, die sich in dem angedeuteten Sinne nur einigermaßen eomme il saut zeigen, leicht auf einen sehr vertrauten Fuß sehen. Sie haben in ernsten Angelegenheiten mehr Zutrauen zu den Auslandern als zu ihren eigenen Landsleuten und ziehen sie gern in ihre Geheimnisse. Dazu kommt, daß in allen russischen Hausern noch viel patriarchalische Sitte herrscht, und alle Mitglieder des Hauses daher auch als integri-rende Theile des Ganzen angesehen werden und, zumal bei dem geringen Zartgefühle der Russen in Bezug auf Oeburtsunterschiebe, leicht mit der Familie, verschmelzen. Wer alle Gesellschaften, Vergnügungen und Festlichkeiten lustig mitmacht, Alles gehen laßt, wie es geht, auf Selbst-ständigkeit resignirt und sich in den großen Kuchenteig hineinbacken läßt wie eine Rosine, der kaum dann auf eine sehr comfortable äußere Eristenz rechnen und auch das Vergnügen baben, seiner Eitelkeit oft genug geschmei» chelt zu sehen, wenn er nämlich nicht in Anschlag bringt, daß dabei seine Eigenliebe und sein Ehrgefühl gar oft verletzt werben. Außerordentlich sind bekanntlich die Salairs, welche die Russen ihren Erziehern zahlen. Drei- bis viertau« send Rubel jahrlich bilden das Gewöhnliche. Aber es kommen sogar auch sechs- bis zehntausend Rubel vor, besonders wenn man Jemanden in das rauhe Sibirien oder sonst eine entfernte Provinz verlocken will. Gewöhnlich bestimmt man eine Pension nach beendigtem El-ziehungsgeschafte oder auch, was jetzt häufiger zu werden Pädagogisches. 231 beginnt, cine runde Abfindungssumme von dreißig- bis fünfzig tau send Nudeln. Sogar die französischen Gouvernanten erhalten in der Negel Gehalte wie bei uns die Professoren. Dicse Gehalte sind für die Ausländer bei der Spärlichkeit, mit welcher man jetzt russische Pässe ertheilt, eher gestiegen als gefallen. Aber auch selbst für Inlander zahlt man bei dem immer noch steigenden Bedürfnisse von Lehrern und Lehrerinnen außerordentliche Summen. Bei so großen Gehalten ist es natürlich, daß in Rußland sich viele Menschen dem Geschäfte der Privaterziehung widmen, die bei uns eine solche untergeordnete Stellung unter ihrer Würde halten. Man findet zuweilen unter den Lehrern Kaufleute, denen es im Handel nicht glücken wollte und die dann ihre Kenntniß in dieser Speculation verwenden, nicht selten Beamte, die sich bei einem einflußreichen Großen als Lehrer verdangen, um mit dessen erworbener Gunst alsdann ihre Veamten-carri^re anzubahnen, auch Offiziere, die vielleicht Kränklichkeit halber oder aus Liebe zur Nuhe die Waffen mit dem Schultische vertauschten. Dessenungeachtet aber und rotz seiner vielen brillanten Seiten und seiner ursprünglichen hohen inneren Bedeutung bleibt das Geschäft des Erziehers auch in Nußland so wie überall etwas Anrüchiges, besonders für den Mann, welcher dabei auf das Veßte, was er hat, auf seine eigene persönliche Freiheit und auf seinen eigenen Willen Verzicht leisten muß. Die meisten Pädagogen bezieht — „verschreibt sich/' wie dort der Ausdruck lautet, — Rußland wie von je her 232 Pädagogisches. noch jetzt aus Deutschland und Frankreich. Die Teutschen sind meistens für die gcbildeten Osts«provinzen, wo man die Franzosen nicht gern hat, die Franzosen und Schweizer dagegen für das Innere bestimmt. Doch fangen anch hier bei der steigenden Abneigung der Russen gegen die Franzosen und bei der zunehmenden Gründlichkeit der russischen Bildung die Deutschen an, die Oberhand zu gewinnen, besonders auch wohl deßwegen, weil die Deutschen in unseren Tagen bei Weitem nickt mehr so- philiströs sind die vor 2U, 30, 50 Jahren und sich weit mehr als früher etwas von dem beliebten kosmopolitischen Cnmme il saut angeeignet haben. Die deutschen Ostseeprovinzen, wo die einheimischen Candidate« von Auslandern übertroffen werden, schicken ebenfalls eine gute Partie von ihnen in's Innere von Rußland, wo sie selir willkommen sind. Dann aber geben jetzt auch die russischen Universitäten selber schon viel Brauchbares her, und endlich drangen sich in die Häuser der kleinen Familien und der Kaufleute viele Unsiuditte und Unberufene, die ihre Muttersprache zu verstehen und schreiben zu können glauben, Handwerker, Unteroffiziere und sonstige Mißglückte allerlei Art. Von den Gouvernanten kommen die meisten aus der französischen Schweiz, und zwar so viele, daß man fast in jeder emigemiasien bedeutenden russischen Stadt eine kleine dolonie von Laufannerinnen, Genferinmn oder Hielifchatelterinnen findet, die unter einander in Verbindung stehen, in vieler Beziehung kleine, mächtige Komitees bilden und allerlei kleine Intriguen und Pädagogisches. ' 233 Verschwörungen schmieden. Aus Deutschland selbst kommen wenige deutsche Gouvernanten nach Nußland, weil bei ihnen das Französische schlecht bestellt ist, desto mehr aber aus den Ostseeprovinzen und Petersburg. Dicse sind meistens aus den niederen Standen, nur germanisirte Esthinnsn und Lettinnen, deren aufgeschnapptes Deutsch und Französisch aber im Inneren von Rußland mit Golde aufgewogen wird; in die vornehmen Hauser treten jedoch nicht selten junge Damen aus den beßten Familien, eine Menge armer liulandischer und esthlandischer Fräuleins, die nach Rußland wandern, um sich ihren Unterhalt zu verdienen oder ihre verarmten Verwandten unterstützen zu können. In Dorpat traf ich einmal einen russischen Gutsbesitzer, der für sich und seine Freunde nicht weniger als sieben Gouvernanten engagirt und mit ihnen drei Kaleschen angefüllt hatte, mit denen er in's Innere abreiste. Die Bonnen bei den kleinen Kindern in Petersburg sind durchweg Engländerinnen, welche nach der allgemeinen Meinung durchaus unter allcn Nationen dazu dic ^vorzüglichsten sind. Außerordentlich viele Gouvernanten liefern die großen Erziehungsinstitute für junge Madchen in Moskau, Petersburg u. s. w., sowie auch die Findelhauser. Aus diescn Anstalten allein gehen alle Jahre vielleicht 800 bis 1000 Gouvernanten bervcr, die dann im ganzen Reiche die dort empfangenen Kenntnisse weiter tragen. Gewöhnlich haben diese jungen Mädchen eine überfeinerte Bildung erhalten und fühlen sich dann leider in ihren neuen Stellungen, wo 234 Pädagogisches. sie gewöhnlich nicht mit der beßten Cultur zusammenkommen, sehr unglücklich. Es ist natürlich sehr schwer, die Zahl der Gouvernanten und Priuatlehrer in Petersburg zu bestimmen, obgleich jetzt, wo sie alle ein Examen machen müssen und verzeichnet werden, nicht unmöglich. Ein Mann, der damit bekannt sein konnte, behauptete, daß ihrer 6UNl) waren, eine Zahl, die man wohl noch eher als Minimum denn als Maximum gelten lassen k.mn. Nicht nur in jeder einigermaßen bedeutenden adeligen Familie giebt es wenigstens eine Gouvernante, cinen oder zwei Lehrer und eine Bonne, sondern auch die Kaufleute, Prediger, Aerzte, Beamten u. s. w. sind gewöhnlich gezwungen, diesen Luxus mitzumachen, und suchen irgend eines jungen Madchens und eines jungen Mannes zu ihrer Gouvernante oder ihrem Lehrer habhaft zu werden. Die Gouvernanten sindet man in Petersburg fast in jeder Gesellschaft, und von vielen sind sie das besite Salz. Lehrern begegnet man auf allen Spazierwegen und öffentlichen Platzen mit ihren Zöglingen, und sie bilden ein äußerst bemerkbares Element der Bevölkerung der Stadt. Man sieht daraus, daß wir uns mit der Situation einer nicht unbedeutenden Klasse der Bevölkerung beschäftigen. Dazu kommt, daß viele von ihnen weit davon entfernt sind, so unbedeutend und ungebildet zu sein, wie man sich das in Deutschland gewöhnlich denkt. In manchen großen russischen Hausern ist vielmehr die Erziehung der Kinder fthr tüchtigen Leuten anvertraut. Der bekannte Lebrberg, der so äußerst scharfsinnige Abbandlungen Pädagogisches. 235 über Gegenstande der russischen Geschichte geschrieben hat, war sein ganzes Leben hindurch nichts weiter und mehr als Privatlehrer in einem Petersburger Hause. Der bekannte Statistiker Schnitz! er war dasselbe. Der noch berühmtere erste Vater der St. Simonisten war gleichfalls lange Zeit Privatlehrer in russischen Familien, und man tonnte eins Menge noch tüchtigerer Leute citircn, die in diesem Stande lebten und starben. Die Negierung beschäftigt sich fortwahrend so viel mit den Angelegenheiten der Privaterziehung, daß man schon eine Menge von Gesetzen über die Rechte und Pflichten der InMwtour«, rröc^lolir« und In8lilutsiec>« der Familien zählt. Das neueste und merkwürdigste ist das von 1834, in welchem alle Privilegien der exami-nirten Hauslehrer aufgezahlt sind. Sie werden nach diesem Ukase als im Dienste des Staats siehend betrachtet und können dem zufolge die „kleine Uniform" des Ministeriums des öffentlichen Unterrichts tragen. Die Privatlehrer der altadeligen Familien rücken nach zweijährigem Dienste in die vierzehnte Rangklasse, nach dreijährigem Dienste in die der Kaufleute erster Gilde, der Prediger, Priester und der gewöhnlichen Adeligen, nach 5 Jahren in die der Leute ohne Rang und nach 8 Jahren in die der Stande, welche kein Recht haben, in dcn Dienst des Staates zu kommen. Sie rücken alsdann wie alle anderen Bediensteten in den gewöhnlichen Zeiträumen zu Titular-Rathen, Collegien-Asscssoren, Hofrathen u. s. w. hinauf. Es giebt bereits Staatsrathe in Nußland, die nie etwas Anderes betrieben haben als Privatunterricht. 236 Pädagogisches. „Instituteurs" sind die eigentlichen Erzieher, die überall von den „Prccevteurs," den bloßen Stundengebern, einen Schritt voraushaben. Nach fünfzehnjährigem, löblichen Dienste bekommen die Instituteurs der adeligen Häuser das Kreuz des St.-Annenordcns dritter Klasse, die Precepteurs das Kreuz des St. - Stanislausordens vierter Klaffe, die Hauslehrer der übrigen nicht erbadeligen Häuser können nur den St.-Wladimirordm vierter Klaffe nach zwanzig- bis fünfunddreißig^hrigem unradel-haften Dienst erhalten. Wer in 25 Jahren drei Eleven zur Universität vorbereitet hat, bekommt den Titel „Inttti-tulenr emerite." Bei dem Empfange jedes dieser Ehrenzeichen müssen sie 1Ul) Rubel in eine Kasse bezahlen, welche für die Verpflegung der unbemittelten oder erkrankten Hauslehrer bestimmt ist. Wir führen nur diese wenigen charakteristischen Bestimmungen aus jenem, überhaupt für russische Verhältnisse sehr vielfach interessanten und bezeichnenden Gesetze an. — Aehnliche Gesetze giebt es für die Schauspieler, die Fechtmeister, Zeichnenlehrer, Musiklehrer, Künstler u. s. w. Für alle diese Leute hat man aus den Flicken und Resten, die bei der Zel schneidung der Ordensbander der Generale und Marschalle übrig blieben, kleine wunderliche Ehrenzeichen gemacht, deren Glanz und Ehrenantheil sich oft kaum mit dem Mikroskope erkennen laßt. Häuft man aber dadurch nicht mehr Lächerlichkeit als Ehre über die Leute, welche zu einem so bedeutungsvollen Geschäfte, wie die Erzichung es ist, berufen sind?! S ch u l a n st a l t e n. „Da wirb der Geist euch wohl dressirt. ,.Il1 span'sck? Stiefel eingeschnürt, „Daß ihr bedächtiger fortan „Hinwandelt die Gedankendahn," ^ie deutsche Ansicht von der russischen Erziehung und Schulbildung ist ungefähr die, „daß sie einzig und allein darauf hinausgehe, den Zögling mit einem gewissen äußeren Firniß von Bildung zu überziehen, daß der befruchtende Geist überall fehle, daß das Höchste, was gegeben werde, äußere Manieren und todte Kenntniß sei und daß Summa Summarum weder das Princip der Erziehung, noch die Ausführung etwas tauge," So richtig, im Ganzen genommen, diese Ansicht sein mag, so ist es doch unrecht, wenn man sich damit begnügt oder gar mit Widerwillen von diesem Gegenstande sich abwendet und mit dem Bade das Kind verschüttet, das Gute, das dennoch geleistet wird, nicht anerkennt und damit den vielen redlich Strebenden, die auch das große russische Reich enthält, wehe thut. Gewiß verdient die Sache eine nähere Betrachtung. Rußland ist, seitdem Peter der Große es auf die Bahn europaischer Civilisation hinaustrieb, von einem so ungeheueren Enthusiasmus für die Bildung — oder sollen wir sagen, von einem so außerordentlichen Civilisations- 238 Schulanstaltcn. schwindet ergriffen worden, wie man Aehnliches in der Weltgeschichte noch bei keinem Volke erlebte. Aka-demieen, Universitäten, Gymnasien und Volksschulen wuchsen wie mit einem Zauberschlage in dem ganzen Lande heruor und wuchern, noch fortwährend sich zum Erstaunen mehrend, innerhalb der Gränzen des Riesenreichs fort und fort. Schaaren von Franzosen und Deutschen wanderten seit einem Jahrhunderte in das Land ein, um den befruchtenden Samenstaub der west» lichen Bildung barin zu verschleppen. Die Herrscher des Landes haben seit Peter oem Großen die Schulung und Erziehung der Nation zu einer wichtigen Angelegenheit des Staates gemacht. Die Bildung wurde als ein Hauptelement der Macht des Staates anerkannt, und wie für das Heer und die Soldaten, für den Handel, die Finanzen, die Administration, so wurde auch für die Schulen, die Lehrer «und Schüler ein eigenes Ministerium errichtet. Wie die Kaiser sich an die Spitze dcr Civilisation im Allgemeinen stellten, so stellten sich ebenso die Kaiserinnen insbesondere an die Spitze der Civilisation des weiblichen Geschlechts. Eine erstaunliche Menge großartiger, öffentlicher und Privatinstitute für die Bildung der Töchter des Landes ging aus ihren schaffenden Handen hervor, und Nußland hat schon mehr als eine Kaiserin zu nennen, die ihr ganzes Thun und Denken der Verbesserung und Vermehrung dieser Institute widmete. Es ist nicht möglich, daß ein unparteiischer Fremdling die Bestrebungen und Bemühungen, die von oben herab in der genannten Beziehung stattfinden, ohne Be- Schulan stalten. 239 wunderung bemerke. Die Herrscher und Herrscherinnen des Reiches, die ganz und gar hier — wie in jeder anderen Rücksicht —' in die Fußstapfen Peter's des Großen treten, verwenden einen großen Theil ihrer Zeit und ihrer Kräfte auf die Inspicirung und Verbesserung der Schul-institute, und nach ihrem Beispiele handelnd, halten alle Statthalter und Oberen der Provinzen Schulinspectionen eben so für ihre Pflicht wie jedes andere wichtige Vcr-waltungsgeschäft, und sind fortwährend mit ihrer Unter« suchung und Controlimng eben so beschäftigt wie mit der Inspicirung jeder anderen Staatsbehörde. Es wäre unbillig, bei so vieler Mühe, die man sich die Sache in der That kosten läßt, die ganze Angelegenheit schlechtweg zu verachten und als verächtlich keiner Veherzigung würdigen zu wollen, selbst wenn man die Richtung und die Art und Weise jener Thätigkeit nicht billigte. Nicht wenig an Interesse gewinnt die Betrachtung der russischen Schulen und Erziehungsanstalten, wenn man ihre große politische Bedeutung in Erwägung zieht. In wie mel« Länder und Völker hat nicht jetzt der russische Soldat dem russischen Schulmeister Eingang vei-> schasst, und umgekehrt, wie viele Völkerschaften sticht nicht der russische Lehrer dem Staate zu assimiliren, mit dem Staatskörper eng zu verknüpfen und dadurch in dauernder Verbindung mit dem Ganzen zu erhalten! Wohin die russischen Waffen kommen und wo sie erobernd den Frieden stiften, da machen sie sich es alsbald zum Geschäfte, Schulen nach ihrer Weise zu errichten und Lehranstalten zu gründen, indem sie wie die Nömer nicht ver- 24l) Schulanstalttn. kennen, mit wie mächtigen Banden gleiche Sprache und Bildung die Glieder eines Staates an einander ketten. So haben sie bei den Tataren, bei den Finnen, bei den Moldauern und so vielen anderen Völkern ihre Schulen eingeführt, so haben sie sogar ihre Lehrmethode über den Kaukasus getragen und bei den Armeniern und Grusiniern angewendet, so haben sie noch neuerdings in ganz Polen die alten Schulen des Lande« umgestürzt und Bildungsanstalten nach ihrer Weise errichtet, so sind sie in den Ostseeprovinzen sogar mit dem deutschen Schulwesen, das sie doch ursprünglich zum Muster nahmen, in Kampf getreten und suchen ihm ihren Geist einzuathmen, so sind sie überall eifrig beschäftigt, mittels ihrer Schulen alles Fremdartige zu vertilgen und alle Theile des Staats auf ihre Weise zu bilden, zu russificiren, indem sie sich von Deutschlands Gränzen an bis tief in die Mongolei, nach China und Japan hin zu Verfechtern der aus russische Weise modi-sicirten europäischen Cultur gemacht und viele Völkerschaften in die Bewegung und den Gähnmgsproceß ihrer Bildung hineingezogen haben. Die Kinder, welche jetzt die Ruthe des russischen Schulmeisters fühlen, zahlen sich bereits nach Millionen, und es muß daher das Studium dieser Zucht für jeden Staatsmann von Iuteresse sein. Allerdings pficgen unsere Historiker den Satz aufzustellen: was lange währt, wird gut, und es als eine ausgemachte Wahrheit anzunehmen: was langsam vorschreitet, geht auch nur langsam zurück, aber rasch hinauf und rasch hinab! und Schulanstaltcn. 241 demnach pflegen auch wir Deutschen uns in Bezug auf die russische Macht und Cultur damit zu trösten, daß sie nicht lange dauern könne, da sie so schwindelnd emporgestiegen, und kehren der russischen Cultur und Lehrart den Nucken, in der Meinung, daß sie eine Treibhauspflanze sei, die, in ihrem Wachsthums übertrieben, nicht lange blühen werde. Indeß mochten für Rußland unsere bisherigen historischen Erfahrungen doch nicht ausreichen. Es trat bisher noch nie ein so merkwürdiges und eigenthümliches Volk in der Geschichte auf, und wer das Land im Inneren genauer kennt, der wird mit Verwunderung die lange Perspective von Hoffnung und Zukunft, die sich in dem Geiste dieses Volkes offenbart, erkannt haben und wissen, daß die erstaunlichen Hilfsmittel und Massen, welche sich in diesem Lande in Bewegung setzen, ihm eine größere Zukunft versprechen, als wir hoffen zu können uns schmeicheln dürfen, und baß, wenn auch dieses Gebäude natürlich, wie keines, ewig dauern wird, doch noch manches Jahrhundert mit schrecklichen Ereignissen herbcirollen kann, ehe über dem Grabe jenes Niesen Ruhe wird. — Wer weiß, welche Reform unseres Schulwesens und unserer Erziehung einst von Rußland ausgehen wird! Von allen europaischen Nationen ist die russische diejenige, welche am allermeisten Werth auf Acußer-lichkeiten legt und welche am allerwenigsten die Bedeutung des inneren Lebens zu schätzen weiß. Die Russen schwimmen wie die Delphine bestandig auf der Oberfläche und scheuen in allen Stücken die Tiefe. Sie Kohl. Petersburg. II. 11 242 Gchulanstalten. stehen in dieser wie in vieler anderer Hinsicht einzig in Europa da, und alle anderen Nationen, selbst die Franzosen, Italiener und Spanier nicht ausgenommen, erschei« nen mit den Nüssen in so grellem Contraste, daß sie im Vergleiche mit ihnen unter einander fast als Brüder gelten könnten. Keine Nation hat eine solche Scheu vor dem Eingehen in die Tiefen des Gedankenreichs, keine begnügt sich so sehr mit dem äußeren Scheine, und keine sucht so ln allen Stücken die Aeußerlichkeiten zu ordnen wie die Nüssen. Indem sie das Rechte, das Wahre, die Wissenschaft, die Principien nur auf der Oberflache berühren, arbeiten sie die Hülle unqemein in's Kleine und Kleinliche aus, und es giebt vielleicht keinen einzigen Staat in der Welt, wo alle Aeußerlichkeiten so genau und im Detail bestimmt wären wie in Nußland. Es macht sich dieß in ihren Gerichten, wo alle Instanzen gut geordnet sind, wo die Tribunale mit einer ganzen Hierarchie von Präsidenten, Ober-- und Unterrich« tern, Beisitzern, Tischvorstehern u. s. w. besetzt sind, vor denen man aber kein Recht bekommt, bemerklich, — eben so in ihrer Armee, wo die Uniformen, die Rangstufen und Grade genau bestimmt und die Erercir- und die Ma-novrirkunst im glänzendsten Zustande sind, wahrend es an Taktik, Kriegskunst, Gymnastik und Allem, was den Kern bildet, fehlt, — eben so auch in ihrem Handel- und Wandelverkehre, wo alle Etiquetten und Hüllen der Waaren elegant sind, die Aufstellung brillant ist, die Waaren selbst aber nichts taugen, — eben so endlich auch in ihren Schul- und Erziehungsanstalten, wo alle Aeußer» Schulanstalten. 243 lichkeiten, die Gebäude, die Ordnung und die Examina, vortrefflich und prächtig sind, wo aber die Schüler, wenn sie auch hier und da sich Kenntnisse sammeln, doch keine beseligenden Ideeen ernten, keinen Nektar der Musen trinken, keinen Lebensbalsam des Braga empfangen. In der That, man muß erstaunen, wenn man die außerordentlichen langen Verzeichnisse von Wissenschaften aller Art sieht, die in den öffentlichen Schulen Nußlands gelehrt werden sollen, die schön gedruckten Schulplane in den Privatinstituten, nach denen jede Stunde des Tages mit einem erhabenen (Gegenstände des Nachdenkens und der geistigen Beschäftigung besetzt erscheint, die langen Prospects und herrlichen Versprechungen, welche jeder Erzieher und Schuldirector macht, um die Aeltern anzulocken, und die ganze außerordentlich glänzende Einrichtung dieser Anstalten nicht nur in den beiden Residenzstädten, sondern auch selbst in vielen Hauptprovinzorten. Selbst die kleinen Provinzstäbte in Rußland ha< ben ihre Privatschulanstalten und sogenannten Pensionen, die im Aeußerm das bei uns Gewöhnliche übertreffen. Die Räume sind überall groß und zweckmäßig, die Speisung der jungen Leute ist im Durchschnitt entschieden besser als bei unS in denselben Anstalten, und da der Staat überall sein Auge hat, so ist es eine Unmöglichkeit, daß solche infame Winkelinstitute aufkommen können, wie z. B. in England cxistircn muffen, wenn auch nur der hundertste Theil von dem wahr ist, was in Dicken's Nillas Nickleby darüber vorkommt. Die formelle Organisation aller Petersburger Pri' 244 Schulanstalten. vat- und Staatsschulen ist vortrefflich, die Eintheilung der Klaffen, Divisionen, Sectionen wie bei der Armee, die Besetzung der Lehrerposten, Directoren und Directri-cen, Oberlehrer, Unterlehrer, Inspectors, Gouvernanten, Klassendamen und Gehilfen ist reichlich. Die Examina, welche häufig angestellt werden, sind wahre Pomp- und Festacte. Die Einladungen der Aeltern zu diesen Acten sind auf das feinste Papier gedruckt, wie die Invitation nen zu Bällen, eben so die über die Fortschritte der Zöglinge ausgestellten Attestate, eben so die Erlaubinsischcine für die Zöglinge zum Verlassen der Anstalt, zu Besuchen bei Verwandten und Bekannten, ebm so die Quittungen für die bezahlten Schulgelder u. s. w. *). Bei den öffentlichen Anstalten ist für alle Schulen, so wie für die Lehrer eine gewisse Uniform festgesetzt, eine Alltags-, eine Sonntags- und eine Staatsuniform für die hohen Feier« und Festtage. Kein Unterricht darf anders als in Uniform gegeben werden, und das stete Ermähnen und Stra« fm in Angelegenheiten der Uniform nimmt eben so viel und mehr Zeit weg als die Kritik und Bestrafung geistiger Fehler. Mit allen diesen höchst unersprießlichen Dingen verschwenden die russischen Lehrer der Jugend so außerordentlich viele Zeit, daß für das Wahre und Hauptsächliche vergleichsweise wenig Kraft übrig bleibt. *) Um «inen Begriff davon zu gcben, wie viel lind scharf die > Directors solcher Petersburger Erziehungsanstalten über die zweckmaßigstc Emncl'tung dieser Dinge nachdenken — cs bcsckäf-tlgt sie das Alles weit mehr als die Verbesserung der Methoden des Unterrichts — und wie gewissenhaft sie dabei, in's Detail gehen, Schulanstaltm. , 245 Es ist durchaus nicht etwa blos das Streben der Negier-unq, welches der Nation diese Richtung aus Aeußerllch-keiten giebt, sondern es ist vielmehr durchaus der unqroß-artige russische Nationalgeist, der von Natur auf Klein« liches gerichtet ist, und in dessen Sinne die Regierung, wie alles Andere, handelt. geben wir hier den Abdruck eines Erlaubnißscheines für einen Zögling ciner Petersburger Pension zum Sonntagsbcsuche bei seinen Acltcrn; man muß sich Alles auf's Prächtigste gedruckt denken, wie eine Banknote unterzeichnet von dem Director und contrasig-nirt von einem stiner Adjuncten. ■n t w ~ Mr. Koch. 5 £ — Pensionat C .... —■ 2. - -----------------------. 1 -» Mois tie Mars 1837 annee. ^1 ^ Pefmis(pour le Dimanclie). — r' I. Division 10 Classe supčrieuro E" w I. Section » ea Sortie. Rontrec. J»ur ..... Saniüdic .lour . . Dimanthe ^ - Quantifcme.....20. Quantif-me . . '21. g ^ Heurc......2. Heure . . . 9Soir ^ h Censure . 207 bonnea notes. § • S Conduite , . . tr^.s-honne. Ob.snrvations. ^ 5 Directcur: C . .. . | Maitre d'ctiules: V .. * 2h e i> ft; Die „gutcn Noten" sind zahllose, kleine Belohnungen für gutes Betragen und Flciß. Mit solchen Papieren glauben die Di-rcctorcn und Lehrer de» Aeltern dic Güte ihrer Anstalten schwarz auf Weiß deutlich zu beweisen, und freilich kommen sie in Rußland ohnr dergleichen Charlatanecie nicht dm ch. 246 Schulanstalten. Die bei den Nüssen übliche Privaterziehung zeigt dieß eben so deutlich; denn sie ist von keinem anderen Geiste beseelt als die öffentliche. Hier wie dort ein stetes Arbeiten und Feilen an der äußeren Erscheinung, ein bestandiges Bekritteln und Tadeln der Kleidung, der Manieren, der Coiffüre, des Teints, des Ganges, des Sprechens, ein angstliches, aber unzweckmäßiges Sorgen für die Gesundheit, ein völliges Uebersehen der geistigen Triebfedern des intellectuellen Lebens, der Moralität und der Wissenschaftlichkeit. Der Glanz des ganzen äußeren Apparats steht dem« nach bei den russischen Schulanstalten in so grellem Con« traste mit ihren eigentlichen Leistungen auf dem Felde der Erziehung und Pädagogie, daß sie sich die Verachtung vieler geistreicher Männer zugezogen haben, die in« deß, wie gesagt, besser thun würden, das wirklich von den Tausenden der russischen Schulen geleistete Gute zuvor dankbar anzuerkennen, deutlich und lobend hervor« zuhcben und dann von einem solchen Standpuncte aus das Zuvie! der Aeußerlichkeit anzugreifen. Es laßt sich nicht leugnen, baß in den russischen Schulanstalten doch Manches gelehrt und gelernt wirb; namentlich wird in den mathematischen Wissenschaften, für welche die Russen eine gewisse Vorliebe haben, nicht Unbedeutendes geleistet, sie sind in allen russischen Schu-len ein Hauptgegenstand des Unterrichts. Vor allen Dingen aber möchte zu loben und als besonders beachtungswerth zu bezeichnen sein, daß die Kenntniß des eigenen Vaterlandes, des großen mächtigen Reiches, in neuerer Schulanstaltm. 247 Zeit zu einem so äußerst wichtigen Gegenstände des Unterrichtes gemacht worden ist. Die Geschichte Rußlands und seine Geographie werden jetzt in allen russischen Schulen on (lölui! gelehrt, und es ist wohl kein Zweifel, daß, im Ganzen genommen, jeder russische Schüler sämmtliche Gouvernements- und Kreisstädte, alle Großfürsten und Zaaren, welche seit Rmik im Lande herrschten, besser und geläufiger herzuncnnen weiß als im Durchschnitt ein Deutscher die Fürsien und Residenzstädte seines eigenen bunten Vaterlandes und die Mitglieder der Hohen-siausischen und Habsburgischen Familien. Die Geschichte und Geographie des ganzen übrigen Europas erscheint den Russen im Vergleich zur vaterlandischen unbedeutend, und so offenbart sich denn auch hierin die immer größer werdende Selbstgenügsamkeit und Insichabschlicßung Rußlands und seine Trennung vom übrigen Europa. Am schwächsten möchte es wohl mit den Naturwissenschaften und mit der Kenntniß des klassischen Alterthums bestellt sein. Lateinisch und Griechisch, Physik, Chemie, Naturgeschichte, lauter Unterrichtsgegenstande, die bei uns als besonders geistbildend und humanisirend betrachtet werden, stehen in Rußland sehr zurück. In Bezug auf die Griechen und Römer möchte dieß noch eher verzeihlich sein, aber in Bezug auf die Naturwissenschaften ist es unbegreiflich, da der Staat ein Land besitzt, dessen Natur noch so wenig erforscht ist und noch so viel Stoff zur Vermehrung der Staatskmfte liefern könnte. Als Ausnahme davon sind indeß die medicinischen Wissenschaften zu betrachten, denn die medicinischen Faculta- 248 Schulanstaltcn. ten möchten wohl auf den russischen Universitäten von allen die beßten sein. Ferner kann gewiß Manches an der Art und Weise der Erziehung, welche die Russen den vielen Völkerschaften zu Theil werben lassen, die sie jetzt in die Schule genommen haben, getadelt werden. Allein es ist doch nicht zu leugnen, daß die Moldauer, Tataren, Finnen u. s. w. noch Vieles von ihnen lernen können und auch wirklich lernen. Mit solchen unbedingten und rücksichtslosen Urtheilen, daß der Plunder nichts werth sei, darf man doch ohne Zweifel alle die Manner, die es sich in Rußland sauer werden lassen, nicht vor den Kopf stoßen, und wer das Unvollkommene aller Schulanstaltcn selbst in den gebildetsten Ländern Europas, ich will nicht sagen, in Frankreich, England und Belgien, sondern sogar in Preußen und Sachsen, einigermaßen erkannt hat, der wird, glaube ich, nicht umhin können, sehr mild in seinem Urtheile über die russischen Schulen zu sein. Ja, wer bann sogar nach Italien und Spanien, nach Ungarn und Illyrim blickt und nachfragt, was hier von Regierung und Privaten für Schule und Erziehung geschieht, dessen Unmuth wird sich noch mehr verlieren, und er wird bemerken, daß die russische Schulthatigkeit und der russische Lern- und Lehreifer auf diese Weise in ein vortheilhafteres Licht kommen. In Petersburg ist nach der Universität, die unseren Anstalten dieser Art in den Hauptzügen zu sehr gleicht und dabei doch zu wenig leistet, um eine besondere Erwähnung zu verdienen, eine der wichtigsten und dabei Schulanstalten. 249 eigenthümlichsten Schulanstalten das sogenannte „pädagogische Institut," welches den Zweck hat, Lehrer aller Art zu bilden, Volksschullehrer, Kreislehrer, Gymnasiallehrer und auch sogar Professoren für die Universitäten. Dasselbe wurde im Jahre 18,12 nach der polnischen Revolution gestiftet. Die Aufhebung oder Neformirung der alten polnischen Schulen, »vobei der Zweck zum Grunde lag, den katholischen Geistlichen und Mönchen den Unterricht der Jugend zu entreißen, machte ein besonderes Bedürfniß nach russischen Lehrern aller Art fühlbar, und besonders um diesem Bedürfnisse abzuhelfen, schuf man jene pädagogische Anstalt, bei der man die, unseren Seminarien zu Grunde liegende Idee einer Formirung der Schüler zu Lehrern auch auf die Gymnasiallehrer und Professoren anwandte*). Das Institut hat fast alle *) Auch in Dorpat cxistirt ein sogenanntes „Proftfforeninsti-tut," wo junge Leute, von vorn herein zu akademischen Lehrern bestimmt, ausgebildet und formirt werden. Theils führten die außer: ordentlich rasch zu befriedigenden Bedürfnisse des großen Reichs, das nicht so lange warten tann, bis die Natur große Geister er< scheinen läßt, oder bis es Einzelnen gefällig ist, sich zu einer ausgezeichneten Stuft der Bildung zu erheben, auf die Erfindung solcher fabrikmäßigen Institute, d,'e doch etwas vorläufig Brauchbares liefern, theils ist es, wie wir schon öfter zu bcmcrkcn Gelegenheit hatten, den Russen überall ^igcn, Alles so viel als möglich fabrikmäßig zu betreiben. Daher ihre vielen Baumpflanzschulen, ihre großen Pflanzentreibhäuser, ihre großen Stiefel- und Kleider-fabrikcn, ihre großen Bäckereien, ihre Vergesellschaftungen zum Transport, zur Jagd u. s. w., und daher tausend Z)inge, die v>,i uns durch vereinzelte Kräfte zum Keimen kommen, bci ihnen aber durch Gesellschaften und fabrikmäßig betrieben werdcn. 250 Cc!,ulat,stalttn. Privilegien und Rechte der Universität und hofft, auck bald das Necht zu erlangen, Doctoren crciren zu dürfen. Es steht unter Leitung eines vortrefflichen deutschen Gelehrten, der mit Hilfe vieler ausgezeichneter Lchrer gewiß so viel leistet, als überhaupt in einer solchen Anstalt geleistet werben kann. Das Institut wird von der Krone erhalten, bewohnt mit der Universität ein und dasselbe Gebäude und kostet jährlich nicht weniger als 250,000 Rubel. Es können hier Kinder von 12 Jahren eintreten. Man nimmt jedes angebotene an, doch muß es sich zuvor, ehe es als völlig berechtigter Zögling des Instituts gelten kann, einer mehrjährigen Prüfung seines Geistes, seiner Talente und moralischen Anlagen unterziehen. Glaubt man, wahrend dieses Noviziats zu erkennen, daß es wohl zu einem Lehrer taugen könne, so beginnt es alsdann seinen Cursus in einer der drei Abtheilungen der Anstalt, von welchen die eine zur Formir-unq von Volksschullehrern, die andere zur Bildung von Gymnasiallehrern und die dritte zur Erziehung von Professoren bestimmt ist. Der Cursus wird im sechsten, achten und neunten Jahre vollendet. Die oberste Abtheilung hat Facultäten, eine juridische, medicinische u. s. w. wie eine Universität. Die ausgezeichnetsten Zöglinge, die man zu Professoren bestimmte, werden mit dem Titel und Range von Titular-Nathen entlassen, bekommen für 400 Rubel Bücher, eine vollständige Toilette, den dritten Theil ihres künftigen Gehalts als Geschenk von der Anstalt vorausbezahlt und bedeutende Reisespescn vom Schulanstalten. 251 Kaiser. Es befinden sich jetzt 160 junge Leute in d.r Anstalt, und ungefähr eben so viele hat man bereits als Lehrer und Professoren entlassen, von denen die meisten nach Polen gingen. Der Zweck des ganzen Unterrichts dieser Anstalt gebt dahin, auf eine sehr praklischs und möglichst rasche Weise die Zöglinge so viele Kenntnisse und so viel Lehrmethode und Uebung erlangen zu lassen, wie sie als Lehrer nöthig haben werden. Man hat daher auf allerlei Erfindungen gesonnen, wie man ihnen schnell die Namen, die Iahrzahlen und Sprachen beibringe. Unter Anderem lobte man uns, als wir diese Anstalt besuchten, als Wunderdinge leistend und als von außerordentlicher Wirkung, eine von einem Russen erfundene Methode, die historischen Zahlen einzuprägen. Die große Schultafel und eben so auch die kleinen Schreibtafeln der Schüler waren mit einem sogenannten chronologischen Netze überzogen, welches für die 2000 Jahre nach Christi Geburt eingerichtet war. Dieses Netz Rechtwinkelig sich durchkreuzender Linien hatte 20 große quadratische Abtheilungen, deren jede einem Jahrhunderte gewidmet war und hundert kleinere Quadrate oder Netzmaschen enthielt, 10 neben einander und 10 unter einander. Jede dieser Maschen bedeutete wieder ein Jahr des Jahrhunderts. Der Lehrer machte nun in verschiedenen dieser Maschen ein Kreuz und ließ die Schüler dann die Begebenheit des so bezeichneten Jahres erzählen, oder er erzählte auch selbst ein historisches Ereigniß, und die Schüler machten dann auf ihren Tafeln das entsprechende Kreuz. Die 252 Cchulansialttn. Schüler sollen bei dem Gebrauche dieses Netzes und durch die damit angestellten Uebungen weit schneller dahin kom-emn, sich in den verschiedenen Regionen der Weltgeschichte zu orientirm, als mittels einer chronologischen Tabelle oder eines anderen Hilfmittels. Besondere Netze gab es wieder für, die russische Geschichte, und ein in unserer Gegenwart angestelltes Examen zeigte, dasi die Schüler darin vortrefflich bewandert waren und alle berühmten Namen am Schnürchen hatten. Die Sprachen werden in dieser Anstalt ebenfalls auf höchst praktischem Wege gelehrt, meistens ohne Grammatik, vier bis fünf zu gleicher Zeit. Die Negierung hat zu diesem Behufe von mehren Classi'kern Polyglot ten machen lassen, und die Schüler mußten in unserer Gegenwart aus dem Griechischen in's Lateinische, aus dem Lateinischen in's Deutsche, Französische oder Russische übersetzen, was ihnen sehr fertig und stink von Statten ging. Zu demselben Behufe ist es in dieser Anstalt eingeführt, daß der ganze Unterricht in fremder Sprache gegeben wird, und die Fragen in der einen Stunde lateinisch, in der anderen deutsch, in der dritten franzosisch an die Schüler gerichtet und ebenso von ihnen beantwortet werden. Die Geographie wird mit der Kreide und dem Griffel in der Hand gelehrt. Die Schüler mußten auf der Stelle an der Schnltafel und auf ihren Schreibtafeln Umrisse von Ländern machen und Karten entwerfen. Der Eine bekam das Küstenstück Europas vom 3(1sten bis zum 40sten Grade zu zeichnen, der Andere das vom Schulanstalten. 253 40sten zum 50sten u. s. w. Eben so mußten sie die Flüsse und Gebirge nicht nur nennen, sondern auch gleich zeichnen. Die verfertigten Zeichnungen waren ganz vorzüglich genau. Auch wußten sie Alle von den meisten Hauptstädten Europas den Langen- und Breitengrad anzugeben, was wir deutschen Examinanten, die wir nach Willkür aufriefen, nicht vermochten. Unsere geographischen Lehrer könnten vielleicht Einiges von diesen russischen Methoden annehmen. Um die Schüler zugleich im Lehren zu üben, wurden, natürlich unter Leitung der dazu angestellten Oberlehrer —> aus allen Klassen die Beßren wieder als Lehrer und Aufseher verwendet, jeder nach seinen Kräften in einem größeren oder kleineren Amte, nach Art der Lan-caster'schm Schulen. Es ist unbegreiflich, daß diese Methode in allen deutschen Schulen nicht mehr Anwendung findet und daß das alte Sprüchwort: „Noeomlu cli-scimu^" so lange eine todte Redensart ohne Früchte blieb. — Ohne Zweifel würde man bei uns mancherlei Schulen durch verstandiges Eingehen auf diese Wahrheit sehr heilsam reformiren können. Auch der Zeichnenunterricht in dem pädagogischen-Institute gefiel uns deßhalb außerordentlich, weil die Schüler nicht blos in sclavischem Nachahmen von Vorlegeblattern, sondern auch in eigener Erfindung von Sujets und in der Ausführung aufgegebener Themas geübt wurden. Einer derselben zeichnete uns ein sehr hübsches Bild an die Tafel von einem Kosaken, der einen Türken erschoß, ein Gegenstand, der also nicht nur die Gedanken der 254 Schulanstallen. russischen Diplomaten, sondern auch die Phantasie der russischen Kinder, wie es scheint, sehr lebhaft beschäftigt. Eine andere neue und ebenso eigenthümliche Schule in Petersburg ist die vom Finanzminister Grafen Kan-krin begründete technologische Schule. Sie besteht erst seit 12 Jahren, ist aber ein großartiges Etablissement und eine Lieblingsanstalt ihres Gründers. Wie jenes pädagogische Institut Lehrer und Professoren der Wissenschaften, so soll dieß technologische Lehrer der Handwerke für Nußland bilden. Es sind 240 Zöglinge darin aufgenommen, die den nöthigen mathematischen und anderweitigen Unterricht erhalten und zugleich im Maschinenbau und in allen möglichen technischen Arbeiten geübt werden. Die Gebäude der Anstalt sind sehr weitläufig und groß, und jede Kunst hat ihre eigene Abtheilung. Mit goldenen Buchstaben liest man an dem einen Gebäude: „Spinnerei," uor dem anderen: „Farberei," oder „Mühlenbau," „Schmiede," „Schlosserei" und dergleichen. Jeder dieser Abtheilungen stehen besondere Meister vor, die durchweg Deutsche sind. — Die Anstalt wird zugleich zur Verfertigung von Modellen zu allerlei neu erfundenen Maschinen benutzt, die man nachher in's Innere dcS Reiches vertheilt. Ein deutscher Meister, der uns herumführte, war sehr mit der Anstelligkeit der Russen zufrieden. Nur, meinte er, würde sie cm einziges böses Wörtchen beständig daran hindern, zur Vollkommenheit zu gelangen, das wäre das Wort: „nitpoliewo" (es ist nichts), welches sich durchaus kein Schulansiatten. 255 Ruffe abgewöhnen tonne. Wenn man bei ihm ein Versehen tadle, so hieße es gleich: „M^Iionc,, es ist nichts! Eine Kleinigkeit! Laßt mich nur machen!" Ncnn es gelte, cine Aufgabe zu lösen, so ware der Russe immer von allen am ersten mit dem Nachdenken fertig: ,,!>'j' tsekewo, es ist nichts; man kann das am beßten so machen," und so hindere ihn denn dieß Nitschewo, mit dem er sich immer ans allen Verlegenheiten zu helfen wüßte, an soliden und dauernden Fortschritten, die immer nur langsam und mit Mühe gemacht werden könnten. — Allerdings hilft auf der anderen Seite in tau? send anderen Fallen, wie man leicht einsieht, dem Nus-fen sein Nitschewo wieder glücklich durch. Die Schulen und Erziehungsanstalten für das weibliche Geschlecht sind in Petersburg fast nicht weniger zahlreich als die für ^das mannliche. ' An der Spitze von allen steht das große Institut von Smolna in dem bereits von uns genannten Kloster. Es werden in diesem merkwürdigen Institute nicht weniger als 3Al junge Mäd-. chen erzogen und im Französischen, im Deutschen, in den schonen Künsten und Wissenschaften unterrichtet. Die meisten sind adelige Frauleins. Die bürgerlichen sind in einem besonderen Gebäude von diesen geschieden und baben andere Kleidung, andere Bedienung, einen anderen Tisch. Es ist dieß Institut nebst den ihm in verschiedenen Gouvernementsstadten nachgebildeten anderen Instituten dieser 'Art für die Töchter des geringeren und minder begüterten Adels ungefähr dasselbe, was die Cadet-tencorps für die Söhne sind. Wenn man mit den Söhnen 256 Schulanstaltcn. zu Hause nicht weiß, wohin, so giebt man sie in die Cadettencorps, eben so die Töchter, wenn man sie nicht zu Hause erziehen kann, in die Institute. Alle begüterten Russen ziehen die Privaterziehunq der Töchter der öffentlichen vor. Die Direktricen dieser Institute und namentlich des genannten Petersburger Instituts sind gewöhnlich sehr vornehme Damen, Generalswittwen u. s. w,, denen man durch ein solches Amt eine schickliche Stellung verschasst. Das Institut von Smolna kostet jährlich über 7W,000 Rubel; zur Erziehung jeder jungen Dame werden also jährlich beinahe K1W Rubel verwendet, wofür man gewiß etwas Brillantes erwarten kann. Allerdings glänzt auch Alles, was hier polirt wurde, nicht wenig. Doch ist es fast lauter Mondscheinglanz, lauter Licht ohne Warme, ein Licht, welches freilich einen gewissen Reiz hat, schwerlich aber eine befruchtende und belebende Kraft, die besonders nötkig ware, da nicht wenige jener jungen Damen dazu bestimmt sind, als Erzieherinnen oder Gouvernanten den Samen der Bildung weiter zu verbreiten. Ueber die interessanten Geschichten und Erzählungen, die dem Fremden aus den Annalen dieser Anstalt hier und da mitgetheilt werden, ließe sich ein eigenes Buch schreiben. Es könnten daraus Madchenkriege, Damenrevolutionen, Serailintriguen, Romane und Novellen die Hülle und Fülle hcrvorgesponnen werden. Leider erscheinen die jungen Damen im Publicum nur^sehr selten. Sie werden sehr klösterlich gehalten. Nur dann Schulanstalten. 257 und wann an hohen Festtagen sieht man eine lange Reihe von sechsspännigen Hofequipagen sich aus den Thoren deS Klosters hervorbewegen, um die hübschen Zimmerblumen einmal an die frische Luft zu bringen. Außer diesen öffentlichen kaiserlichen Instituten giebt es in jeder russischen Stadt und natürlich besonders cmch in Petersburg noch eine Menge von Privat-Erziehungs-anstalten, in denen die Sache ganz fabrikmäßig abgemacht wird. Es ist sehr gewöhnlich, daß die Mütter ihre Töchter dahin geben rmt der Bedingung, in zwei ober drei Jahren müsse die Erziehung vollendet sein, alsdann muffe das junge Mädchen französisch sprechen und eine Symphonie von Beethoven vorspielen können. Je kürzer der Zeitraum ist, auf den das Institut sich einlaßt, desto größeren pecuniären Vortheil gesteht man ihm zu. Die Examina in solchen Instituten sind die merkwürdigsten pädagogischen Festins, die man sehen kann. Zwei Wochen vorher wird zu einem solchen Examen, das gewöhnlich um Ostern stattfindet, das Institut gereinigt, po« lirt und geschmückt, und zwei Monate vorher ist Alles fleißig und unermüdlich im Auswendiglernen und Studiren, damit am bestimmten Tage Alles nach der Schnur gehe. Die Mütter, Schwestern und Tanten werden dazu eingeladen wie zu einem großen Banquet und fahren in vollem Staate ini vierspännigen Carrossen heran, um ihre Töchter, Schwestern oder Nichten glänzen zu sehen. Nach dem wissenschaftlichen Examen wird ein Concert gegeben, m dem die Schülerinnen vorspielen, dann ein Ballet, in welchem sie ihre Tanzkünste produciren. Darnach sin- 258 Schulanstalten. bet unter Pauken- und Trompetenschall die Vertheilunq der Prämien statt, und das Ganze schließt ein Souper und ein brillanter Ball, worauf die Aeltern. entzückt über die geistige Bildung ihrer Kinder, nach Haust fahren. Die Dienerschaft. ,,Vitl Köche verdriden ben Vrel, „Vewahr' uns, Gott, vor vieler Dienerei.' (3^elt uralten Zeiten, seit der Entstehung der Lebensverhältnisse der Bauern, bei drnen wahrscheinlich normannisch-germanische Institutionen zu Vorbildern dienten, theilten die russischen Lehnsherren die Leibeigenen ihrer Güter in zwei Klaffen, in die eigentlichen Ackerbauern, die, auf ihren Vauerhöfen lebend, den eigenen ihnen zugetheilten Acker zu threm Unterhalte und den des Herrn bauen, und in dle sogenannten „Dwornije Ljudi"*) (Hofeleute), die der Herr als die beßten zu seinem und seiner Familie persönlichen Dienste auswählt und in die Residenz seiner Herrschaft, in seine Nähe als Diener, Gärtner, Kutscher u. s. w. ausnimmt. Diese Hofeleute haben nun *) Gs tst bemerkenswerth, daß das alte germanische Wort „Liubi" (Leute) ln'ö Russische übergegangen ist- 260 Die Dienerschaft. als solche mancherlei Begünstigungen, werden nicht zum Ackerbaue verwendet und auch nicht zum Soldatendienste abgegeben. Da sie am Hofe nicht bessere Nahrung bekommen als zu Hause, ihr Brot und ihren Kwas sich selbst schaffen müssen und übrigens sich von den Ueberbleibseln der Herrentafel nähren, die meisten von ihnen auch keine andere Kleidung bekommen als die, welche sie auf ihren vaterlichen Misthaufen trugen, so kostet natürlich eine solche Dienerschaft wenig, und die Herren nehmen daher leicht ganze Compagnieen von Stallburschen, Ofenheizern, Küchenjungen, Lampenputzern, Hauscourieren, Stubenmädchen und Tafeldeckern zu sich. Diese alte achtrussische Dienerschaft, die mit ihren Schuhen von Lindenbast und ihren Schafspelzen einen merkwürdigen Contrast zu den Palasten bildet, in denen sie mit der Herrschaft lebt und in denen sie gelegentlich auf den Ofenbänken der Küchen oder auf den Stühlen oder dem Parquet der Säle ohne Bett und eigenes Zimmer schlaft, lebt und speis't, ist noch in allen Landhäusern des Inneren gewöhnlich und macht sich auch selbst noch in vielen Moskau'schen und Petersburg'schen Hausern, besonders den ärmeren und altfränkischen, stark bemerkbar, und namentlich sind noch viele geringere Chargen der Haushaltungen mit solchen leibeigenen Hofeleuten befetzt, die man vom Acker nimmt, allenfalls mit Stiefeln und besserem Kaftan versieht, in der Küche und im Stalle eine Zeit lang gebraucht und dann gelegentlich wieder zum> Acker zurückschickt. Sie bleiben gewohnlich nicht lange in ihren neuen Chargen und sind im Ganzen zu wenig von den eigentlichen Bauern Die Dienerschaft. 261 verschieden, um eine eigene Klaffe der Gesellschaft zu bilden und sich unter dem Namen der dienenden Klasse von den übrigen Leibeigenen abzusondern. Die Bemerkung, welche die russischen Herren machten, daß die eigenhörigen Leibeigenen viel träger, langsamer und sogar auch eigensinniger und widerspanstiger im Dienste seien als die für Lohn dienenden, alsdann die Vermehrung der Bedürfnisse in der neuen cwilisirten Residenz und der mit dem Eindringen der Cultur und mit der Zunahme der Rcichsmacht übermäßig gestiegene und entwickelte Lurus haben in Petersburg und durch dessen Vermittelung auch im ganzen übrigen Reiche eine äußerst zahlreiche Klaffe dienender Geister geschaffen, welche aus Mitgliedern aller Nationen und der verschiedensten Lebensuerhaltniffe besteht, und deren Studium für den Ethnographen und Psychologen gcwiß ein interessantes ist. Wir wollen es versuchen, diese merkwürdige Mcn-schenklasse einigermaßen zu charakterisiren und in ihren verschiedenen Branchen und Unterabtheiluna/n darzustellen, und zwar betrachten wir zunächst die Elemente, aus denen sie sich in Petersburg zusammensetzt*). Zunächst — und dieses Ursprungs mögen wohl die meisten Diener in der Stadt sein — entlassen die „Pa-maschtschiks"(Grundherren) viele ihrer industriösen Bauern, — jüngere Söhne der Bauerhöft, überzahlige Seelen, denen sie keine Landbauarbeit auf dem Gute anweisen *) Gs sollen den statistischen Angaben zufolge nicht wcnigcr als 65,000 dienende (Bister in Pcttrsburg scin. 262 Die Dienerschaft. konnten u. s. w. — zur Betreibung freier Gewerbe in die Städte. Sie stellen ihnen einen Paß aus, worin es heißt: „Diesen meinen „Krepostnoi tschelowek" (leibeigenen Menschen) Iephim entlasse ich gegen die Entrichtung eines jährlichen „Obcoks" von 60 (70 bis 84 u. s. w.) Rubeln, den er mir halbjährig einzusenden hat, frei in alle Städte und Dörfer des russischen Reichs, daß er auf irgend eine Art in ihnen seinen Unterhalt suche, auf so viele Jahre und so lange, bis es mir gefallen wird, ihn wieder auf mein Gut Zk., wo er angeschrieben ist, zurückzurufen." Die auf diese Weise nur zeitweilig freigelassenen Leute kommen nun in die Städte und vermiethen sich daselbst in hundertlei Diensten, in den Kaffeehäusern, m den Wirthshäusern, in den Fabriken und auch in den vornehmen Privathäusern, obgleich man hier die völlig Freien natürlich vorzieht, weil jene doch immer noch von einer zweiten Herrschaft abhängen, die sie jeden Augenblick wieder anderweitig in Anspruch nehmen kann. Es ist interessant, zu sehen, mit welcher unglaublichen Schnelligkeit diese dem Pfluge entnommenen Leute sich in ihre neue Situation in der Residenz zu finden und zu formm wissen. Sie kommen hier oft noch so roh und unfayonnk't an, wie sie aus ihrem Schafstalle hervorgingen; sie glitschen anfangs auf dem Parquet der Herrensäle aus und wissen nicht einmal einen Tisch an die Wand zu stellen, es dauert aber nur wenige Monate, so coqucttiren sie in der elegantesten Uniform und tanzen auf dem glattesten Tanzboden mit der Kammerjungfer, duften nach Odeurs und wissen ihrer Herrschaft Die Dienerschaft. 263 so manierlich in die Kutsche zu helfen, als hätten sie es im Pagcncorps gelernt. Die völlig freigelassenen und freien Leute sind als Diener am gesuchtesten, und in der „euen Zeit haben viele vornehme Familien ihre Häuser blos mit ihnen montirt, weil sie wohl einsehen, wie viel eifriger ein unabhängiger Mensch im Dienste ist, der selbstständig dasteht und daher, wenn er sich schlecht beträgt, keinen Rückbalt an feinem ihm angeborenen Herrn findet, der auf der anderen Seite aber auch, wenn er sich Mühe giebt, die Flüchte seines Fleißes allein genießt. Eine erstaunliche Mcnge von Dienern liefert die Armee in ihren alten ausgedienten Soldaten. Diese armen Leute haben während der 20 oder 25i Leidensjahre ihres Soldatenlebcns gewöhnlich alle anderen Künste und Handwerke, durch die sie ihr Leben fristen könnten, verlernt und, da sie durch den Kaiserdienst von d« Leibeigen' schaft befreit wurden, ihre früheren Brotherren eingebüßt, so wie durch den Tod meistens ihre Verwandten verloren, dagegen aber als „Dentschuks" (Diener) so mancher Offiziere vortrefflich das Gehorchen und Dienen gelernt, und sie suchen daher gewöhnlich wieder als Diener bei Militärs oder einzelnen Herren als Portiers und als Voten oder Hofwächter in den öffentlichen Anstalten unterzukommen. Bei den letzteren werden sie gewöhnlich allen Anderen vorgezogen, weßhalb man denn in allen Hospitälern, Armenhäusern, an den Theatern, Börsen u. s. w., sogar auch in den Schulen, überall als Aufwärter, Thürsteher und Marqueure alte Solda- 264 Die Dienerschaft. ten in abgeschabten Nocken findet, deren Brust mit emer ganzen Reihe von Kreuzen und Medaillen bedeckt ist. Wenn sich irgend ein Herr und Gebieter ein Wesen wünscht, welches alles eigenen Willens entbehrt, das nach Abthuung der letzten Spur von Egoismus im Stande ist, sich mit seiner ganzen Aufmerksamkeit dem leiblichen und geistigen Dienste eines Anderen mit allen seinen Kräften zu widmen, das nachgiebig, ergeben und geduldig genug ist, um alle Launen und Verstimmungen, ja sogar allen Zorn und Unmuth des Meisters ohne Murren zu ertragen, mit einem Worte, wenn Jemand ein Ideal von Diener sucht, das ihn auf den Händen trägt, das für ihn, ohne zu klagen, durch Waffer und Feuer läuft, das nicht wacht und nicht schlaft ohne Erlaubniß, und ohne Befehl nicht ißt und trinkt, das auf alle Aufträge und Gebote keine einzige andere Erwiderung hat als: „ich gehorche" (tilu^ni), so verschreibe er sich einen solchen russischen „ Dentschuk," der, nachdem er die Feuer, probe eines zwanzigjährigen russischen Soldatendienstes bestanden, nachdem er durch unzahlige Bestrafungen Geschmeidigkeit gelernt hat, einen Dienst sucht, welchen er nun immer, er sei auch noch so hart, milde und freundlich gegen den Soldatendienst finden wird. Es ist nicht möglich, daß ein herrischer Geist sich weicher polstern könne, als wenn er sich eines solchen Dentschuks als Stütze bedient, der so bereitwillig, so unermüdlich, so aufmerksam, so geschmeidig ist, wie man es sonst bei Menschen nicht mehr findet und wie man es anderswo nur haben könnte, wenn man es vermöchte, seinen treuen Phylax zu ent- Die Dienerschaft. 265 thieren und seine crgcbcne Seele einem sprechenden, menschlichen Körper einzuhauchen. — In Amerika kann bekanntlich kein europäischer Herr es aushalten, denn die dortigen Diener dünken sich selbst Herren zu sein, empfangen von ihren Herrschaften Lohn und leisten ihnen dafür aus Gegengcfalligkcit allerlei Dienste, die aber so viele Lücken in der Bedienung lassen, daß die Herrschaft sich nicht viel besser vorkommt als ihre eigenen Diener. In England wissen die Leute schon besser aufzuwarten, und noch mehr nach Osten zu, in unserem lieben Deutschland, giebt es bekanntlich schon vicle wahrhaft „gehorsame Diener"; im russischen Orient allein aber lebt das wahre Ideal aller Diener, der Dentschuk, der das Unglaublichste leistet und bei dessen Bedienung, wenn sich ein Herr ihr über-qiebt, sich auch nicht einmal der kleine Finger der Herrschaft über Mangel an Aufwartung beklagen wird. Neben diesen drei Klassen der Russen mögen wohl die Deutschen die zahlreichsten Diener in Petersburg sein, so^wie alsdann die Finnen, Esthland« und Letten. Die Franzosen und Tataren kommen nur in gewissen Chargen vor, in diesen aber, welche wir gleich unten erwähnen werden, fast immer. Die Englander sind wohl die seltensten in diesen Standesverhaltnifsen, doch haben auch sie, wenn sie erscheinen, nur gewisse Posten inne. Um die Vertheilung dieser Posten nach den Nationen bezeichnen zu können, ist es jedoch zuvor nöthig, die verschiedenen Chargen und Aemter, die in den großen Petersburger Haufern vorkommen, naher anzugeben. Eine Revue derselben ist wohl nicht wenig geeignet, Blicke in Kohl. Petersburg, II. ?2 266 Die Dienerschaft. das innere Leben der Russen zu verstatten, da sie nicht nur jene sonst so wenig beachtete Menschenklasse, die Diener, sondern auch ihre so vielfach mit ihnen in Berührung kommenden Herrschaften mit charakterifirt. Em völlig montittes Haus in Petersburg vom ersten Range hat außer den ihm einverleibten Verwandten, alten Tanten, Cousinen, angenommenen Kindern u. s. w. und außer dem Lehrerpersonale, den deutschen, französischen und russischen Erziehern, Lehrern, Gouvernanten, dem Hausärzte, den ausländischen Musikern oder Gesellschafterinnen u. s. w., die wir als m^'unm, ßl:n. lium hier billig ausschließen, so erstaunlich vicle Char-girte und Bedienstete, wie man sie so zahlreich nur noch im Oriente wiederfindet. Als stehende Figuren und überall erscheinende Posten sind folgende zu nennen: der Vorsteher der Privatcanzlei, die Schreiber oder Se-cretare, der „Dworezki" oder Haushofmeister, die Kammerdiener des Herrn, russisch „Kammerdir" genannt, die Kammerdiener der Herrin, der „Djätka" oder Aufseher der Kinder, die Lakaien, der „Buffetschik"*) und seine ihm Beigeqebenen, der „Meblmüster" (Möbelmeister) und seine Adjuncten, die Tafeldecker, der „Schtallmelster" (Stallmeister), die Kutscher und Vorreiter des Herrn, die Kutscher und Vorreiter der Herrin, die Diener und Kammerdiener der Söhne, Lehrer u. s. w. des Hauses, 5) Die meisten Nam«n der russischen Diener sind corrum-pirtt deutsche ober französische Wörter, so Buffttschik von d«m französischen Buffet. Die Dienesfchaft. 267 der Portier, der Oberkoch, die Köche und Kochjuna.cn, der Bäcker und der „Kanditer" (Consiseur), das Corps der „Mushiks" (dienenden Geister mmimili-om Zenlium), Ofenhcizer, Kwasbraucr, Stalljungen u. f. w., die Ober-kammeriungfer bcr Dame, die Kammerjungfern der Herrin, der Tochter, der Gouvernanten vom Hause, die Ammen jn und außer Dienst, die Sousbounen der kleinen Kinder und endlich, wenn, wie dieß zuweilen vorkommt, eine Kapelle gehalten wirb, der russische Kapellmeister und die russischen Musiker. Wenn alle diese Stellen, wie dieß nach dem oben Gesagten denn jetzt gewöhnlich ist, mit freien Leuten besetzt sind, so kann man sich denken, daß bei den hohen Salairen in Petersburg die Unterhaltung eines solchen Hauses nicht wenig kostet. Die Bedienten ersten Ranges, der Haushofmeister, der Kammerdiener, der Möbelmeister, der Konfiseur u. s. w., erhalten oft 1W0 Rubel jahrliche Gage, der Koch, wcnn er ein Franzose ist, 2000 Rubel und mehr, die Lakaien und Kutscher 40 bis 50 Nudel monatlich, die ausländischen Kammerjungfem 6l) bis ^l) Rubel monatlich und selbst noch di? geringsten unter den Hausleuten 20 bis 3<» Rubel monatlich, lauter Appoints-ments, die bei uns unerhört sind. Manche dieser Posten finden sich auf den Gütern, welche die Familie unter uerschicdcnen Meridianen und P.nalleltreisen besitzt, mit eben der Vollständigkeit wieder, wo dann noch das He« der Oekonomen, Oekonomieärzte, deutschen Gärtner, sächsischen Schafereiinspectoren, Bergwcrksbeamten, Commissionäre, pensiomrten Diener u. s. w. hinzukommt, die. 12* 268 Die Dienerschaft. alle von Petersburg, der Hauptresidenz der Familie, aus dmgirt, gagirt und beaufsichtigt werden müssen. Zum Empfange und Absenden der Gelder, zur Führung der Correspondent zur Einreichung der eingehenden Privat-bittschriften u. s. w. haben daher die Petersburgischen großen Herren eigene Privatcanzleien und Comptoire errichtet, die oft denen der Kaufleute an Großartigkeit und Gefchäftstreiben nichts nachgeben. — Aus diesen Comp-toiren empfangen alle Diener ihre Besoldung, an sie erhalten die Armen, die man beschenken will, ihre Anweisungen, und von ihnen läßt die Herrschaft sich selbst das ihr nöthige Taschen- und Nadelgeld geben. Der Vorsteher des Comptoirs, der zuweilen ein naher Verwandter oder Hausfreund ist, legt dann zu Zeiten Rechenschaft ab über die Hunderttausende, welche er aus dem Gold- und Platinabergwerke des UralS, von den Mos-kowitischen Getreidefeldern, aus den krim'schen und kaukasischen Weingärten empfing, und aus der Wolle und dem Talge der Steppenheerden oder aus den Salzwerken Viarmiens löste, und über die anderen Hunderttausend«, die er für Sterlets und Ananas, für Bonnen, Lakaien und Kammerkätzchen verausgabte. Der Haushofmeister, der als der Vorsteher der ganzen Dienerschaft betrachtet wird und als dicke, ansehnliche Figur gewöhnlich das vollste Vertrauen seiner Herrschaft besitzt, ist meistens ein Ruffe, der als kleiner Bauernjunge schon in Dienst kam und über verschiedene Stufen sich endlich zu diesem wichtigen Posten erhob. Er ist bei allen Domestiken hoch angesehen, und da er manche Die Dienelschast. 2G9 von ihnen nach Belieben entlassen und einsetzen kann und die Hauptschlüssel zu allen Schränken des Hauses führt, so machen ihm Alle den Hof, und selbst die ausländischen Kammerjungftrn dürfen nicht versäumen, ibm zu Ostern: „Okriswl,« >v0«kl-L8s" zu wünschen und den üblichen Kuß dabei zu geben. Die Kammerdiener und Lakaien tragen Kleider nach französischem Schnitte und darauf die Farben des Hauses. Es giebt ihrer oft 12 bis 20 in einem Hause. Da sie sich am meisten uor den Augen der Wclt prodncirm, so sucht man natürlich immer die hübschesten und jüngsten Leute aus und beschäftigt sich angelegentlich mit der zwecke mäßigen Anordnung und geschmackvollen Umänderung ihrer Uniform, fügt ihnen bald hier eine Litze zu, nimmt ihnen bald dort einen Besatz weg, oder laßt den ganzen Schnitt ändem. Sie sind in der Negel die gewandtesten Kerle von der Welt, wahre geborene Figaros, und ihre artigen Manieren, ihr höfliches und tanzmeisterliches Benehmen läßt Alles hinter sich zurück, was unsere Lakaien in dieser Hinsicht zu produciren wissen. Sie treiben noch allerlei Künste nebenher, sind durchgängig geübte Damen- und Schachspieler und sammeln von ihrem Solde kleine Capitale, mit denen sie innerhalb der Mauern des Hauses selbst, wo es alle Augenblicke hier und da an Geld fehlt, zu speculiren und zu wuchern Gelegenheit genug finden. Kammerjäger und Kammerhusarcn, die man bei unseren Vornehmen findet, kennt man in Petersburg nicht. Dagegen aber hat man häusig Kammerkosakcn 270 Die Dienerschaft. nnd Kammertscherkeffen in ihrer Nationaltracht. ?luch erscheinen mitunter Serbier, Armenier, Albanesen und andere orientalische Nationen in ihren reichen Kostümen in den russischen Häusern. Ja auch an Negerdienern hat diese völkcrwimmclnde Hauptstadt keinen Mangel. — Der „Djatka" bei den kleinen Söhnen der Familie ist eine stehende Figur in den russischen Hausern. Häusig ist cr ein alter ausgedienter Soldat, der in's Fach der Erziehung pfuscht. Oft aber, weil diese Stelle zuweilen recht gut bezahlt wild, geben sich auch bessere Leute dazu her. Er ist Dasselbe, was die Vonne oder Kindcrwar-terin bei den Madchen. Er muß die Kinder spazieren fuhren, herumtragen, in Krankheiten warten u. s. w., und es ist bewundernswürdig, was sich diese alten, gutmüthigen, kinderliebenden Soldaten Alles von ihren ausgelassenen Zöglingen geduldig gefallen lassen. — Der „Vuffetschik" hat das Silberzeug und die Tisch- und Theescrvice unter seiner Aufsicht, muß mit den Tafeldeckern dem Koche in die Hand arbeiten und dafür sorgen, daß dessen Speisen auch geschmackvoll servirt erscheinen. Bei Bällen, Diners und Festins hat man oft Gelegenheit, den guten Geschmack dicscr Leute in Ausschmückung und Decourung der Zimmer zu bewundern. Sie wissen nach den Winken, die sie von ihrer Herrschaft empfangen, genau zu unterscheiden, was cine bloße psiichtmaßige Abfütterung ist, und wo es darauf ankommt, alle Minen springen zu lassen, UM den Glanz des Hauses zu zeigen, und verstehen es, wie alle Russen, eine Wüstenei auf Augenblicke in einen Zaub.'rg^rten umzuschafjvn. Die Dienerschaft. 271. Nun kommen der „Schtallmeister" und die Kutscher. Wenn unter den vorigen Dienerklassen nicht blos Russen, sondern auch Polen, zuweilen sogar polnische „Schlach-titzen" (Edelleute), Deutsche, S6)weden und andere Nationen waren, — manche Hauser setzen etwas darein, von oben bis unten mit französischen Dienern montirt zu sein, manche haben alle Hauptposten der Dienerschaft mit Edelleuten besetzt — wenn die vorigen Diener sich durchweg glatt rasirten, sich in französische Rocke und Pan-talons kleideten, so ist dagegen im Stalle und bei den Pferden Alles national-russisch, orientalisch, antikbartig. Die einzige nichtrussische Nation, die mit den eigent-lichen slavischen Russen in Besetzung der Kutschcrstellen concurrirt, ist die tatarische. Man hält in Petersburg viel auf einen schlanken tatarischen Kutscher. Es erklart sich dieß leicht daraus, daß das ganze russische Equipagen-wesen ursprünglich mongolisch-tatarisch ist, wie dieß noch die vielen dabei vorkommenden tatarischen Worte bezeugen: „<;l>l,mul." ^. „lo.^I.lU" u. s. w. Das russische oder besser also oas mongolisch-russische Angespann ist nach der Meinung der Russen so zweckmäßig, daß sie es mit keinem anderen gern haben vertauschen wollen, ja ist auch in der That so allgemein wohlgefällig, daß in Petersburg sogar alle Nationen mit Ausnahme der Englander es angenommen haben, wahrend in fast allen anderen Stücken die Nüssen der Fremden Wcise annehmen. Nur die deutschen und französischen Wagenformen, die Cbmsen, Kutschen, Phaötons, Cabriolets, sind überge-tragen, obgleich daneben auch die, mancherlei Vottheile 272 Die Dienerschaft. gewährenden, alten russischen Formen, die kasan'schen Schlitten, die Droschken, Britschken, Tarantassen, in Geltimg blieben. Die russischen Kutscher kleiden sich daher, und zwar nicht zu ihrem Nachtheile, in die alte russische Nationaltracht. Ein blauer, feintuchener Kaftan, mit drei silbernen Knöpfen untcr dem linken Arme- zugeknöpft und durch einen buntseidenen Gürtel in der Mitte des Leibes zusammengehalten, hüllt die oberen Glieder, die Arme und Brust, knapp und eng em, läßt ohne entstellenden Kragen den edeln Nacken frei und fällt unten über die Beine in langen reichen Falten herab. Eine hohe vierkantige, mit kostbaren Thierfcllen besetzt« Mütze deckt das Haupt, und ein schöner buschiger Bart fallt wie eine reiche Pelz-verbramung auf die Brust herab. Die Haltung der russischen Kutscher entspricht ihrer malerischen Kleidung, und man sieht es ihnen wie ihren Pferden an, daß sie wissen, wie sehr sie gefallen. Sonderbar ist es, daß das deutsche Wort „Kutscher," welches man bis China und Kamtschatka vernimmt, auf sie übergegangen ist. Die „Vorreiter" — auch dieses Wort kam von den Deutschen zu den Russen —> sind eben so gekleidet wie die Kutscher. Es werden immer hübsche kleine Bursche von 12 bis 14 Jahren dazu ausgesucht. Man ist sehr eigen damit, und auf den vorderen Pferden einen jungen Menschen von 16 oder gar 18 Jahren zu sehen, würde das Auge jedes Nüssen beleidigen. — Da man —- d. h. das „Man," das einigermaßen mitgerechnet sein will, — in den meisten russischen Städten nicht anders als Di« Dienerschaft. 273 mit 4 oder 6 Pferden fährt, da nicht nur die Frau vom Hause eben so wie der Herr, ihre eigenen Kutscher, Vorreiter und Vierspänner hat, sondern auch in manchen Häusern die Ordnung herrscht, daß die Kinder ihre eigenen Wagen und Pferde besitzen, baß z. B. die Söhne mit dem fünfzehnten Jahre ihre eigenen Kutscher, Zweispänner und Reitpferde, und mit dem zwanzigsten Jahre oder, wenn sie den ersten Nang sich erworben, einen eigenen Vierspänner erhallen, so kann man sich denken, welche Menge von Kutschern, Pferden u. s. w. in manchen Pri-vatstallungen gefunden wird. Der berühmteste russische Kutscher, der, obgleich ein gemeiner Bartrusse, fast eine historische Person geworden ist, war der Kutscher des Kaisers Alexander, Namens „Ilia." Er diente seinem Herrn treu wie sein Schatten 39 Jahre lang und war ihm lieb durch seine Erfahrung und Originalität; er begleitete den Kaiser auf allen seinen Reisen und ist daher nicht nur auf sämmtlichen hunderttausend russischen Poststationen, sondern auch in allen europaischen Hauptstädten eine wohlbekannte Person. Er verließ ihn auch im Tode nicht und schlief, in seinen Pelz gehüllt, auf der ganzen Trau«rreise der Leiche von Taganrog nach Petersburg unter dem Leichenwagen, damit auch im Tode seinen Herrn nichts Widerwärtiges treffen möchte. Da er bei Lebzeiten des Kaisers oft mit ihm allein war, so waren Ilia's vom Bocke in den Wagen hcrabgcsprochene Worte oft nicht unwichtig, und mancher Höfling buhlte auf nicht eben uer^ steckte Weise um des witzigen Kutschers Gunst. Jetzt lebt 12" 274 Die Dienerschaft. er, mit Ehren und dem Range emcs Staatsrathes belohnt, zurückgezogen und ruhig in einem Palais Petersburgs, wo er seinen Verwandten und Bekannten Feste qiebt und Anekdoten vom entschlafenen Kaiser Alexander erzählt. Die Köche, die Ober- und Unterköche, die Küchenjungen, Kwasbereiter, Backer, Consiseurs u. s. w., ein Departement des Hauswesens, das nirgends in der Nelt eine geringe Stelle einnimmt, spielen in Rußland eine sehr bedeutende Rolle. Wenn im Stalle Alles national-russisch und tatarisch war, so ist nun in der Küche Alles — mit einigen Ausnahmen — französisch oder franz^sirt. Die meisten vornehmen Russen sind glücklich, wenn sie einen Franzosen finden, der die Güte haben will, von ihnen einen jährlichen Gehalt von 20U0 bis 3000 Rubeln anzunehmen, und dessen Launen und Einfallen sie sich dafür unterwerfen. — „Wir armen Leute," sagte mir ein russischer Koch, „wenn wir unserer Herrschaft etwas nicht recht machen, so heißt es gleich: ,,n' police!" (auf die Polizei!) — „>v' 5^i!^ir!" (nach Sibirien!) — „pulivi nlldu!" (es sind Schlage nöthig!) — Wenn sie aber einen französischen Koch schelten wollen, weil er ein Gericht verdorben, so antwortet er, man solle sich nicht scheuen, davon zu speisen, es sei wohl schlecht, aber es sei gesund." Es giebt Hauser in Petersburg, denen ihre Tafel allein einige hunderttausend Rubel kostet. Es werden von den Köchen, die gar vornehme Herren sind und nie anders als in eleganten Equipagen zu ihren Einkaufen Dic Dienerschaft. 275 auf den Markt fahren, unglaubliche Rechnungen eingereicht. Manche Herren haben sich daher mit ihren Köchen so gesetzt, daß sie sich bei ihnen in Kost geben und z. B. für jedes Convert, welches bei einem Diner vorkommt, einen gewissen Preis bezahlen; 5 bis 1l) Rubel ist das Gewöhnliche. Bei außergewöhnlichen Gelegenheiten tommt aber das Couvert auf 50, 1W, ja mehre hundert Rubel zu stehen. Die große Gastfreiheit in solchen Hausern, in denen jeden Tag viele fremde und unbekannte Leute ihre Converts seruirt finden, ist also nicht sehr wohlfeil. In Petersburg befinden sich die hohen Scwl-len für alle Köche des Reiches. Jeder Seigneur im Inneren hat immer eine Partie junger Burschen in den vornehmsten Petersburger Küchen in Pension, um sie von daher als gelernte Köche zurückzuempfangen, und tommt einmal ein Petersburger HauS mit seinem fran^ zösirten Vediententroß in's Innere, so finden sich gleich in seiner Küche einige Candidate« ein, die sich bestreben, neue piquante Mischungen der speisbaren Elemente von den Eingeweihten zu erfahren, obgleich man es im Inneren mit den Candidate» nicht so buchstäblich nebmm darf, denn wenn sie auch von oben bis unten weiß gekleidet sind, so verleugnet doch oft kein Theil ihrer Kleidung ihre Beschäftigung, und überhaupt, glaube ich, würde ein englischer Koch oder eine Hollandische Köchin, wenn sie aus ihrer spiegelblanken Küche in ein russisches Braten-und Saucen-Laboratorium träte, manche Gelegenheit zu Aergerniß finden. Es eristiren allerdings bereits russische Bücher über 276 Die Dienerschaft. die Kochkunst, doch werden sie in den Küchen wenig angewandt. Denn auch hier hat der Russe Allcs mehr durch Praxis als durch Theorie. Hat der Herrschaft ein Gericht gefallen, so schickt sie ihren Koch, damit er es nachmachen lerne, in die Küche, aus der es hervorging. Sie giebt ihm einen selbsterfundenen Namen, unter dem es nachher auf dem Küchenzettel erscheint. Dieser Küchenzettel wird an jedem Abende für den folgenden Tag von dem Koche, der sich dabei nach den Hilfsmitteln richtet, die ihm gerade jetzt der Markt bietet, mit Sorgfalt entworfen, der Herrschaft, gewöhnlicher dem Herrn als der Dame vom Hause, vorgelegt und, nachdem diese darin ausgestrichen, bestätigt und zugesetzt, wie es ihr gefallen, in der Küche angeheftet, wo alsdann ,,p« uku^om" (nach dem Küchen-Mas) gearbeitet wird. Obgleich die Nüssen sich rühmen, französische Küche zu haben, und viel von den ,,dorreui>" sprechen, „qn'un mun^u on ^llomnßno," so können sie doch nicht unterlassen, den zarten französischen Ragouts immer ihre schweren russischen Gerichte einzumischen und auch beständig mit ihrer eigenen Phantasie der des Kochs nachzuhelfen, dessen Kunst, wie alle anderen in Rußland, sich russi-siciren und namentlich schon der Fastenzeit wegen sich eigenthümlich nach Sitte, Geschmack, Vorurtheil und Launen der Herrschaft fügen muß. Sie nehmen daher neben ihrem französischen Koche auch noch gern achtrussische in ihren Dienst, vorzüglich solche, welche früher bei reichen russischen Kaufleuten, die sich auf alleS Aechtrus-sische gut verstehen, lernten, und halten außerdem mit- Di« Dienerschaft. 277 unter noch ihre eigenen Bäcker und Konfiseurs im Hause, welche bestandig zur Hand sind, die dem Hause so nöthigen Confitüren in hinreichender Masse zu fabriciren. — So findet man denn auch in den meisten Häusern für das bei Vornehm und Gering mit Recht so beliebte Getränk des Kwas einen Menschen angestellt, der in einem F>auswinkcl beständig mit seinen gährenden Honigtöpfen beschäftigt ist. Obgleich man in Petersburg auch schon eine Stadt-post eingerichtet hat und überhaupt die meisten gemeinnützigen, dem Einwohner Wege sparenden Einrichtungen unserer Städte kennt, so bleiben doch in jedem Hause noch so viele Commissionen, die nicht gerade der Küche oder dem Kammerdiener oder sonst einem anderen Departement anheimfallen, daß man einen besonderen „Hauscourier" unterhalt, der am Morgen, Mittag und Abend immer zu gewissen Zeiten ausfährt, um alle zur Besorgung in der Stadt ihm übergebenen Briefe, Paquete u. s. w. zu befördern. Die Kaufleute auf Wasstli-Ostrow haben für das Geldschleppen, Brieftragen u. s. w. einen ähnlichen Figuranten in ihrem Hause, den sie „Artelsch« tschik" nennen. Es ist gewöhnlich ein „Bartkerl" und kraft seines Bartes ein zuverlässiger Mann, dem oft Hunderttausende zum Herumtragen anvertraut werden, ohne daß man deßwegen besorgt ist. Nimmt man nun noch zu allen diesen höheren Chargirten und Dienern das ganze Heer der bärtigen und schafpelzigen Ofenheizer, Stalljungcn, Laufburschen und Dienersdiener und erwagt man, baß uiele von jenen Obengenannten vecheirathet smo 278 Die Dicnersckaft. und mit ihrer ganzen Sippschaft im Hause wobnen, so kann man sich eine Idee davon machen, wie cm russi. fches Haus von dienenden Geistern vollsteckt, und wie es hier von Dienerschaft in allen Winkeln nistet und brü-tct. Gewöhnlich ist den Leuten das ganze Souterrain preisgegeben, in dem sich ein Jedes in einem Raume, den es sich zueignet, mit seinen Kisten und Kasten, mit seinen selostgefertigten Möbeln und Utensilien und besonders mit seinen Heiligenbildern und ewigen Lampen so gut und bequem einrichtet, als es geht. In manchen Hausern sind der Diener so viele, daß z. B. bei Bällen oft auf jeder Treppenstufe zu beiden Seiten abwechselnd ein Blumentopf und ein reich galon-nirter Lakai steht. Wie jede Thür sich auf eigenen Angeln dreht, so wird sie auch von besonderen Portiers oe-dient. Bei solchen außerordentlichen Gelegenheiten wird man dann aus dem Wagen gehoben, entpelzt, entman-telt, abgestaubt, die Treppe hinaufgetragen und durch die von selbst sich öffnenden Thüren der Säle geleitet, als wenn auf jedem Schritte die Luft uncher sich zu einem dienstbaren Geiste condensire. So ist es, wie gesagt, an Festtagen. Es ist aber eine bekannte Sache, daß die russischen Herren dennoch trotz ihrer vielen Diener oder vielmehr eben wegen deren Menge gewöhnlich sehr schlecht bedient sind. Weil Jeder sich scheut, das zu thun, was nicht seines Amtes ist, so gehen die Auftrage durch eine lauge Ncihe von Händen, ehe sie zur Ausführung kommen. Man trägt dem Kammerdiener auf, ein Glas Wasser zu bringen. Dieser sagt dem Lakaien, er solle Die Dienerschaft. 279 zum Küchenjungen laufen. Wenn dieser irgendwo schlafend gefunden worden ist, suckt er lange vergebens nach der Karaffe und läuft zum Brunnen, so daß das Wasser oft erst dann ankommt, wenn dem Herrn der Durst schon langst vergangn ist. W^il ihrer so viele sind, so verlaßt sich der Eine auf den Anderen. Man ruft zur Thür hinaus: „l>!»ssl>! paslm'^clli!" (He, Diener, höre, h^e!) — „8-
  • ^a! pnsimt'-oln!" — ,,f?5«:i t.^oliusi! l^oi l»ckn.> Er sprach dieß mit Thränen der Rührung in den Augen, wischte sie sich aber schnell ab, als er seinen Namen rufen hörte, und sprang davon. Die Russen sind so leichtsinnig, daß sie sich eben so leicht die drohendste Zukunft als die brillanteste Vergangenheit aus dem Sinne schlagen. (Daher, nebenhin gesagt, auch die philosophische Resignation, mit der viels Glücksritter, wie deren die russische Geschichte sehr viele zeigt, ihren plötzlichen Sturz, ihre Verbannung nach Sibirien u. s. w. ertrugen). Pawl Wassiliewitsch z. V., ein hagerer Mann von 45 Jahren, der in Kerholm, einem 13' 292 Dle Dienerschaft. kleinen Stadtchen am Ladoga-See, einem finnischen Bauermädchen und einem Herrn von N. aus altem schwedischen Geschlechte sein Dasein verdankte, kam schon als fünfjähriger Knabe nach Petersburg, wo er Kwas herumtrug und Pastetchen verkaufte. Da er hübsch und wohlgefällig war, so nahm ihn im fünfzehnten Iabre ein Seigneur auf Fürsprache seiner Gemahlin in feme Dienste, und er reiste mit seiner Herrschaft in ganz Europa umher. Da der mannliche Theil derselben aber eine am Ende zu stark hervortretende Hinneigung des weiblichen Theils zu dem jungen hübschen Bedienten bemerkte, so wurde Letzterer mit Schimpf und Schande aus dem Dienste gejagt. Doch bekam er bald wieber einen anderen Herrn, dessen rechte Hand und Factotum er wurde und bei dem er sich acht Jahre lang musterhaft betrug, bis ihn der Teufel der Habsucht — die russischen Teufel nisten sich oft ganz plötzlich ein — zu plagen anfing und er sich die Gelegenheit ersah, sich 15,009 Ru» belchen in Bankoscheinen von dem Ueberflufse seines neuen Herrn zuzueignen, mit denen er sich empfahl und in die Steppen bei Odessa begab, wo damals allen Entlaufenen ein Asyl eröffnet war und wo er sich mit einem verfälschten Passe als Edelmann gerirte. Da er sehr flott lebte, so warf eine ledige, wohlhabende Besitzerin ein Auge auf ihn, er heirathete sie und zog sich mit ihr auf ib,r Landgütchen in den Steppen zurück, wo er friedlichen Ackerbau betrieb, zu seinem Unglücke aber auch einen Krug an der Landstraße anlegte, in welchem ein Wirth in seinem Namen den stationirendcn Fremden Branntwein und Die Dienerschaft. 293 Thee verabreichte. In diesem Kruge mußte er durch ein unseliges Mißgeschick eines Tages mit seinem ehemaligen bestohlenen Herrn zusammentreffen, nachdem seine Frau bereits gestorben und er alleiniger Besitzer ihrer Hinter-lassenschaft geworden war. Der Herr, der ihn auf der Stelle erkannte, nahm ihn auf die Seite, und erbleichend gestand sein ehemaliger Diener ihm die ganze Geschichte. Es wurde ihm die Wahl gelassen zwischen Sibirien nebst Knute und der Rückkehr in semen vorigen Dienst nach vorgangiger Rückzahlung des Gestohlenen und nach freiwillig, durch singirten Kauf bewirkter Ueberlassung des Vesitz-thums seiner Frau, wogegen ihm aber Stillschweigen gelobt wurde. Pawl wählte natürlich das Letztere und lebte seitdem still und zufrieden schon lange Jahre lils treuer Kamnierdiener seines Herrn, mit dem er sich gut vertrug, weil Beide gegenseitig bei ihrem Stillschweigen und Frieden ihren Gewinn sahen. — Von fast jedem Petersburger Figaro ließe sich eine solche Lebensgeschichte erzählen, und nicht selten eine noch viel buntere. Das ganze Geschlecht dieser rasirten, französirten und cultivirten Lakaien ist daher auch nicht im beßten Rufe. Manche Deutsche, die sich für Kenner des russischen Volkes halten, glauben, daß der Russe allemal mit dem Barte auch alle Ehrlichkeit und Sittsamkeit abstreife, und daß nur die ächten, alten russischen Bartkerle etwas werth seien. Die Vutterw oche. «Doch sagt, warum in diesen Tagen, ,,No wir der Sorgen uns entsMigen „Und Heit'res nur genießen wolltcn, „Warum wir uns rathschlagend quälen sollten? ^?on allen den Ereignissen aus dem Leben unseres Heilandes, welche die christliche Kirche als für sie denkwürdig feiert, ist keine in dem Grade wichtig und bedeutungsvoll wie die Kreuzigung und Auferstehung Christi. Sie ist die Krone des ganzen Lebens Jesu und die wahre Consummation seiner Sendung, die Grundsteinlegung zu seinem neuen Neligionsgebaude. Die Vergießung seines Blutes ist die Besiedlung aller seiner Lehren und Thaten, so wie seine Auserstehung das Unterpfand für seine göttliche Herkunft, Beides das Zeichen zum Zusammentritt seiner Schüler und zur Begründung der Gemeinde. In Rußland wird dieß Alles — freilich, wie wir nachher zeigen werden, unter einigen Beschränkungen — Die Butterwoche. 295 anerkannt und das Osterfest daher als das vornehmste Fest der griechisch-russischen Kirche betrachtet, welches, sowohl in Bezug auf die Dauer als auch in Bezug auf die damit verbundenen Festlichkeiten alle anderen Feste übertrifft. Wie dem Früblinqe vor seiner endlichen persönlichen Ankunft viele schöne Tage bis tief in den Februar hinein als Vorlaufer vorausgehen, so geht auch dem großen Osterfeste oder dem „Feste," wie die Russen es auch wohl vorzugsweise nennen, eine ganze Procession von Feiertagen vorher, wie ihnen ebenfalls ein langer Epilog von Feiertagen nachfolgt, und es erstreckt sich daher diese Feier mit allen ihren Zuthaten über einen nicht unbedeutenden Theil des Jahres, nämlich fast übcr zwei Monate. Bedenkt man nun, baß, wie sich leicht berechnen läßt, darnach die Lebensweise eines Russen während eines ganzen Scchstbeils seines Lebens vom Osterfeste bedingt wird, und daß alle Leiden, Freuden, Genüsse, Entbehrungen, Geschäfte, Spiele und Beschäftigungen des russischen Volks wahrend eines so bedeutenden Zeitabschnittes dadurch bestimmt werden, so sieht man, daß es sich der Mühe lohnt, dieses wichtige Fest und den Einfluß seiner Feier in nähere Erwägung zu ziehen. Das Osterfest selbst beginnt in der Mitte der Nacht vom heiligen Sonnabend auf den Osiersonntag. Von da an dauert der Nachhall der Freude noch acht Tage. Diesem eigentlichen Mittelpunkte des Festes geht aber ein siebenwöchentliches Fasten voraus, nachdem man sich auf dieses durch ein achttägiges 299 Die Butterwoche. Jubeln vorbereitet hat. Wir können daher alle diese zusammenhängenden Frühlingsfestivitäten leicht in drei auf einander folgenden Abtheilungen überschauen, welche sind: erstlich achttägiger Saus und Braus, von den Nüssen „Maßlänitza" (Butterwochs) genannt, zweitens siebenwöchentliches Fasten, zum Unterschiebe von anderen Fasttagen, ,,>vclikoi posä" (das große Fasten) genannt, und drittens das Osterfest selbst mit seinem Schweife. In der vornehmen Welt Petersburgs giebt sich das Herannahen der großen Fasten schon im Januar und zu Anfang Februars durch eine erhöhte Lebens-thatigkeit, d. h. durch immer dichter fallende Balle und Gesellschaften kund. Im Ganzen aber und namentlich für's Volk drängen sich die Vergnügungen, mit denen man von den guten Tagen Abschied nimmt, sehr bestimmt in die eine Woche zusammen, welche m^n die Maßlä-uitza nennt, ^und die dem Gesagten zufolge gewöhnlich um die Mitte oder zu Ende des Monats Februar einfallt. Die sieben Tage der Butterwoche enthalten, so zu sagen, die Quintessenz aller russischen Iahresfreuden, und es giebt außer der Osterwoche keine Woche im Jahre, die einem Petersburger so viel irdisches Glück bieten könnte als sie. Zuerst und vor allen Dingen enthalt sie, wie auch schon ihr Name andeutet, Butter, statt deren die folgenden dürren Fastenwochcn nur Oel gewahren, ein » Die Buttenvuche. 297 Umstand, der sogleich den «MM Uebersiuß der buttertrie-senden Maßlanitza treffend bezeichnet. An die Butter der Maßlanitza schließen sich auf eine ganz natürliche Weise die in Butter gebackenen Blinni. Diese von In- und Ausländern so sehr geschätzten Blinni sind eine Art von Eierkuchen, die man mit geschmolzener Butter übergießt und mit Kaviar verspeist. Sie gehören der Butterwoche ganz eigenthümlich cm und werden' zu anderen Zeiten des Jahres nicht gebacken, bilden aber in jener Zeit alle Tage den wohlgefälligen Mittelpunct des Frühstücks. In Petersburg genießt man sie am beßten auf der Newskischen Perspective in dem russischen Kaffeehause des Herrn....., leider habe ich undankbarer Weise dieses Ehrenmannes Namen, wenn auch nicht seine Blinni vergessen. Die Katscheli. „Im ganzen Reich gar wohl bekannt „Ist der Ort, Plundersw^ilen genannt, „Und seines Jahrmarkts Lärm und Lust „Viel groß und kleinem Volk bewußt." Nach einem reichlichen Butterwochen-Frühstück von Blinni ist nichts angenehmer als ein Spaziergang zu den „Katscheli" (Schaukeln), und dieß ist denn auch das gewöhnliche Vergnügen, welches man in der Buc-terwoche zwischen Frühstück und Mittagsessen genießt. Dabei ist es das Einzige, an dem alle Klassen der Gesellschaft in Gemeinschaft Theil nehmen. 298 Die Buttenvochc. So wenig die Russen für diejenigen körperlichen Bewegungen eingenommen sind, bei denen man die Muskeln und Glieder stark anstrengen muß, so große und leidenschaftliche Freunde sind sie von allen den Bewegungen, bei denen die Glieder ruhen und das Ganze nur mittels einer Maschine den Ort verändert. Alle Arten des Rutschens, Schaukelns und Schwingens sind ihnen daher sehr erwünscht. Fahren, auf Schlitten dahin gleiten, auf schwankenden elastischm Vierern auf- und nieder« hüpfen, auf hängenden Bänken hin- und herschaute!«, an Windmühlenflügeln sich durch die Lüfte führen lassen, das sind Vergnügungen, denen sich die Russen mit großem Behagen hingeben und an denen der Vornehmste wie der Geringste den lebhaftesten Antheil nimmt. Die Faser des Muskelsystems der Russen ist schlaff und unelastisch, und die Gymnastik daher auch nirgends in so vernachlässigtem Zustande wie bei ihnen. Ihr Blut dagegen ist üppig, ihr Nervensystem empfanglich und reizbar, dieß sinnliche Schaukeln und Gaukeln, dieß anstrengungslose Fliegen und Schweben also ganz in ihrem Geschmacke. In keinem Lande ist daher das Rutsch- und Schaukelwesen so ausgebildet wie in Rußland, und man sieht Instrumente der verschiedensten Form und Einrichtung, um dem Körper Bewegungen dieser Art mitzutheilen, so z. B. Breter, die, auf einem hoch unterstützten Mittelpuncte ruhend, sich mit ihren Enden auf- und niederbewegen, — andere Vreter, deren Enden befestigt sind und die in der Mitte elastisch wie eine Saite vibrirm, Lehnstühle, große Bänke, die an langen Seilen wie Pendel Die Vutterwoche. 299 in Kreissegmenten sich aus- und niederschwingen, wieder andere, die, den ganzen Kreis vollendend, sich um und um drehen. Daher ebenfalls die 1'n8 .<, daher die Nucschberge, daher das häufige Fahren, daher die „Gu-lanien"^), daher mit einem Worte Alles, was den Mit-telpunct aller russischen Volksvergnügungen ausmacht, unb was man in dem einzigen so beliebten Worte „Katscheli" zusammenfaßt, worin denn auch alle anderen Vergnügungen, die sich noch neben den Schaukeln etablut haben"), mit inbvqriffen werden. Für die Einrichtung der Katscheli der Butterwoche wählt man immer einen großen, besonders recht langen Platz, an dem es bei den weitläufigen russischen Städten nie fehlt. In Moskau nahm man dazu den *) „Spazierfahrten." S. unten. ^) Wenn die russischen Familien im Sommer auf's Land ziehen, so ist ohne Zweifel das Orste, was zur Vergnügung der Gesellschaft vorgenommen wird, die Reparatur d«r alten und die Einrichtung ncucr Schaukeln. — Kaum bricht der FvürMg an, so gehen die Bauern in den Birkenwald und bicgen und schlingen hie elastischen Zweige dieser Bäume zu Schautcln zusammm, in dencn dann Mädchen und Burschen die Festtage singcnd unk schwingend »N'hrmgm. — I«de russische Stadt hat, wenn auch weittr keinen hfWttichm Mrgnügungsplatz, doch rin freies Fclo in ihrer Mhe, das mit Schaukcln und besonders mit drehmdm Mühlmschaukeln besetzt ist, und in einigen Vegmden sicht man auch in jcdcm Dorfe solche öffentliche Schaukeln, die sowohl die Altcn, welche nicht gern spazieren, als auch die Knaben, di« nicht so viele Lauf- und Kriegerspiele, Wettrennen u. f. w. wie die unsrigen kennen, fleißig benutzen. 300 Die Butterwoche. langen Plah „Podnowinskim," in Petersburg früher das Eispsiaster der 9cewa selbst, jetzt aber, seitdem vor mehren Jahren die Newa einmal voreilig und neugierig unter ihrem plötzlich zerreißenden Eismantel nach dem Menschengetümmel hervorguckte und grausam dabei viele der lustigen Schaufler in den Wellen begrub, den Platz der Admiralität. Nirgends in Rußland erscheinen natürlich diese Volksbelustigungen großartiger als auf diesem langen und prächtigen Platze, gegen den der Moskauer Podno-lvinskim weit zurücksteht. Schon viele Tage vorher bereitet sich der Admirali-tätsplatz zum Anfange der Butterwoche vor. Lange Reihen von Schlitten, mit Bretern und Balken beladen, bewegen sich zu ihm hin, und unter den Schlägen des gewandten russischen Beils erwachst bald mitten zwischen den mächtigen Palästen des Kriegsministeriums, des Generalstabs, des Hofes, der Admiralität, des Synods und Senats eine Neihe von Buden, Conditoreien, Theatern und sonstigen Holzbauten, die, wie es scheint, den Palasten wieder in Erinnerung bringen wollen, welches Petersburg vor 140 Jahren hier stand. Diese Buden sind alle sehr nett und ordentlich in einer langen Reihe aufgebaut, und es sind darunter Theater, die mehre tausend Menschen fassen und die, in ihrem ephemeren Bestehen, die steinernen Gebäude nachäffend, mit Galerieen, Säulen, Balcons, hölzernen Dachurnen und anderen architektonischen Zierathen geschmückt sind. Bei einem dieser Theater waren mehre Hunderte von Händen mit Hämmern, Sagcn und Spalten wie Ameisen geschäftig und Die Butterwoche. 3U1 ssewährten bereits ein Schauspiel, als noch nicht einmal die Bühne für ihre Vorstellungen beendigt war. — Das Neueste bei diesen Vorbereitungen sind dem Fremden die Eisberge und ihre Fabrication. Ihre Einrichtung ist diese. Ein schmales, langbeiniges Gerüst erhebt sich 15 bis 20 Ellen hoch und tragt oben eine kleine Galerie, zu der man auf hölzernen Treppen auf der einen Seite emporsteigt, während auf der anderen die Rutschbahn anfangs sehr steil, dann immer allmäliger hinabgeht, indem sie sich mit dem Boden zuletzt ganz unmerklich ausgleicht und vereint. Die Bahn, welche aus an einander gefügten Bohlen besteht, wird ebenfalls von hölzernen Pfeilern getragen und mit großen, regelmäßig zugehauenen Eisquadern bis oben zur Spitze hin belegt. Es ist höchst unterhaltend, der Bearbeitung des schönen, soliden Kcy-siallkörpers zuzusehen, wie er so leicht sich unter dem Beile gestaltet. Ueber das Ganze schüttet man dann noch zu Zeiten Wasser, das die einzelnen Schollen verkittet und die Solidität der Bahn vollendet. Diese Mühe giebt man sich jedoch nur da, wo die Bahn geneigt ist; wo sie sich aber mit dem Boden völlig ausgleicht, wirft man zu ihrer Fortsetzung auf der Ebene hin nur zu beiden Seiten Damme von Schnee auf, deren Zwischenräume mit Wasser ausgefüllt werden, das dann alsbald spiegelglatt gefriert. Das Ganze sieht sehr leicht und luftig aus, um so mehr, da die Arbeiter zuletzt oben auf noch eine Fahne stccken, die hoch in den Lüften flattert. Es stehen sich immer zwei solche Eisberge gegenüber, der Art, daß ihre Bahnen, durch Schnccdämme H02 Die Butte,woche. getrennt, neben einander hinlaufen und die Wirkung der einen da aufhört, wo man die Schwungkraft der anderen zur Rückfahrt benutzen kann. Die Engländer rühmen sich, daß einige ihrer Landsleute diese Eisberge erfunden hatten. Es kann sein, daß die Englander an dem Mechanischen des Gerüstcs, so »vie es auf dem Admiralitätsplatze erscheint, Einiges gebessert haben, die Eisberge im Allgemeinen aber sind ein altes nationalrussisches Mobiliar und hier, Wie die Sitte, auf ihnen zu rutschen, in ganz Nußland verbreitet. In dem Hofe vieler Hauser Petersburgs werden den Kindern solche Eisberge errichtet, und selbst zu noch größerer Erleichterung dcs Rutschgenusses in den Sälen der Reichen höchst elegante Rutschberge aufgestellt, nur mit dem Unterschiede, daß hier die Bahn nicht durch Eis, sondern durch polirtes Mahagoni- oder anderes glattes Holz dargestellt wird, auf dem man dann ebenfalls auf lleinen Schlitten hinabgleitet. Auch im Palais des Kaisers findet sich sie hatten sich einen Schneeberg bis zum Rande des Daches errichtet, und nach wenigen Augenblicken rutschte die ganze Gesellschaft auf einer großen Strohmatte, welche die Stelle des Schlittens vertrat, jubelnd den Berg hinunter. Sind nun alle Buden, Berge und Schaukeln auf dem Admiralitatsplatze schnell und fest gegründet, — fest, d. h, für Petersburger Temperatur, denn die meisten Pfeiler stehen nur in Erblöchern, die man mit Schnee und Waffer ausfüllt, was ungemein gut halt, so lange der Petersburger Februar seine Natur nicht verlaug--net, so kann am ersten Sonntage der Butterwochs der Jubel angehen, dieß Kutschen und Rutschen, dieß Musiciren und Schaukeln, dieß Theetrinken und Nuß- 304 Die Buttelw^che. knacken, was ?llles zusammen die Russen „Maßlänitza" nennen. Ich sage Hheetrinken und Nußknacken, denn von allen Dingen, die sich essen und trinken lassen, sind keine hänsiger auf den russischen Katscheli als Nüsse und Thee. Die Theeverkäufer stehen mit ihren Tischen überall an den Thüren der Theater- und Bajazzobuden; sie haben sich hier eben so arrangirt, wie man sie in allen russischen Städten an den Ecken der Straßen aufgestellt findet. In der Mitte ihres Tisches steht ein qroßes „Ssamowar" (Theemaschine), das bestandig und von Morgens früh bis Abends spat den Dampf um seinen langen Schornstein wie eine Fahne spielen laßt. Dabei haben sie eine ganze Reihe von Theetöpfen, nach ihrer Größe arrangirt, auf dem Tische stehen, in denen man sogleich doppelte oder einfache, halbe oder Viertelportionen empfangen kann. Gewöhnlich fordern aber die Leute nur ein „Ktnlinn l,«l)1i»i" (ein Glas Thee), und der Theever-kaufer bietet daher auch immer nur ein „Glas Thee" an. Hinter seinem Tische stehend und mit Fußtrampeln und Handschlägen sich gegen die Kalte wehrend, ruft er unermüdlich in den Haufen der Vorübergehenden hinein: ,,Meine Herren, ist nicht ein warmes Glaschen Thee gefällig?" —' Dabei nimmt er vor Jedem, der ihn anguckt, seinen Hut ab, und indem er oft schon im Voraus annimmt, daß man Thee wolle und nur noch zweifle, wie man ihn nehmen solle, beginnt er schon das Glas zu füllen und fragt nur: „Befehlen Sie mit Rahm, mein Herr?" (gewöhnlich trinken die Nussm nämlich den Thee Die Butterwoche. 305 nur mit einem Citroncnschnittchen) oder: „wünschen Sk' ihn auf Zubiß oder mit Zucker?"^) (die ächten Russen beißen nämlich den Zucker nur stückweise zum Thee, und nur die, welche fremde Sitte angenommen haben, lassen lhn gleich in den Thee geben und zerschmelzen). Eben so zahlreich wie die Theeverkäufer sind die Nuß Händler. Diese haben ihre großen, mit Zelten überdeckten Tische in langen Reihen aufgestellt, und man kann nichts in seiner Art Einladenderes sehen; denn Ueber fiuß, Auswahl und Nettigkeit machen hier Alles appetit> lich. Der große Tisch hat seine Tischplatte wie ein Schreibepult etwas nach der Straße hin geneigt und bietet oben viele gleichgroße offene Kasten oder Abtheilungen, die nur mit Nüssen der verschiedensten Art und Größe gefüllt sind, so unter anderen mit „Orüoln" (Haselnüssen), „>VnI-lo^KI" und ,,6M5el!e!ck! 0ru<:1il" (wälschen und griechischen Nüssen), „IIIii-uinM Oi-üLlii" (ukrainischen Nüssen) und „?unäukl" (Haselnüssen der größten Art, so groß wie Taubeneier). Die Nußhändler haben große blanke Handschaufeln von Messing, mit denen sie beständig in den Nußkasten herumschaufeln und bald aus diesem, bald aus jenem Proben herausholen, die sie den Vorübergehenden präsentiren, indem sie rufen: „Nicht gefällig die aller-delicatessen krim'schen Funduki?" So viele dieser Kaufleute auch sind, so machen sie doch während der Vurter-woche die beßten Geschäfte und legen selten ihre Schaufel und Wagschale aus den Händen, denn es finden *) >,^V prikul'liuli >>> »' -j«licllnrc»m?" 306 Die Butterwochc. sich so viele Liebhaber zu »Kren Nüssen, daß nach ein paar Tagen der Schneeboden des Admiralitätsplatzes wie mit Nußschalen gepflastert ist, und daß es den Anschein hat, als habe eine Armee von Nußknackern auf ihm campirt. — Uebcrhaupt werden bei den Russen viele Sämereien und harte Vackwerke verkauft, die weiter keinen besonderen Wohlgeschmack aMahren können, sondern einzig und allein auf Zähnereiz berechnet zu sein scheinen. Diese Nusihänbler und bann die Vonbon- und Ho-nigkuchenverkäufer sind freilich die Einzigen, die auf dem eleganten Admiralitätsplatze Genießbares feüokten, und sonstige Branntwein-, Wein« und Speisehauser u. s. w. werden dort nicht geduldet, weil sie zu unangenehmen Scenen Anlaß geben würden. Ein Honigkuchen läßt sich mit Anstand verzehren, und ein Bonbon, wenn man es dem Liebchen in den Mund steckt, sogar mit Anmuth genießen, ja selbst eine Nuß läßt sich, wenn man nur den Eichhörnchen nachahmt und mehr die Vorder- als die Backenzähne braucht, ohne Nußknackerfrahcn verspeisen. Wurst, Schinken und fette Brühen verspeist man wM mit Appetit, aber für den Zuschauer bilden die Fleisch-fresser einen begoutanten Anblick. Wein, Bier und Branntwein locken die feurigen Vardulfsnasen herbei und haben lärmende Bacchanten in ihrem Gefolge, mit einem Worte, naschen und Thee nippen kann man öffentlich auf der Straße, aber den Hunger und Durst befriedige jedes Tbier in seiner Höhle. Vonbons lieben die schönen Mädchen, Honigkuchen die hübschen Kinder, und wer Thee trinkt, Die Buttelwoche. 307 ist kein Säufer; alle diese Dinge bringen daher nichts Unartiges zu Tage. Die Carrousels für die Kinder haben die Russen wohl den Deutschen nachgeahmt, doch ist die Sache bei ihnen noch bunter. Die galoppirenden Pferdchen sind immer mit vielfarbigen Bandern und Glöck-chen hübsch verziert, welche den Glocken der russischen Postwagen nachahmen. Einige Carrousels haben Schlitten, die sie auf einer mit Wafferaufglisi hergestellten Eisbahn umherschleudern, andere haben kleine Droschken und sonstige aus dem Leben gegriffene Wagelchen, manche sogar spannen noch ausgestopfte Pferde vor die Droschken. Da setzen sich denn die Schwestern in den Wagen, und der Bruder steigt vorn auf's Pferd und spielt den Vorreiter. Andere wiederum haben ihre Pferde mit Schiffen untermischt, mit Masten und Segeln, die mit den Farben aller Nationen flaggen. Der Kleine nun, der in der Marine dienen will, stellt sich in's Schiff und segelt umher, und die, welche sich für die Cavalerie entschieden haben, schwingen sich auf's Nosi. Man muß dabei wissen, daß die kleinen russischen Knaben beständig diese Fragen unter einander erörtern: „Willst Du studiren oder dienen?" „Willst Du in die Marine treten oder in das Landheer?" „Willst Du in der Lavalene dienen ober in der Infanterie?" Einmal sah ich sogar einen phantasiereichen Carrouselbesitzer, der an seinem Gerüste ein Pferd, ein Ka-meel, einen Löwen, ein Schaf und andere Thiere aus der Arche Noah's vorgespannt hatte. Um das Ganze stellt man dann Tannenbäume in den Schnee, damit die Kleinen 308 Die Nuttcrwoche. sich einbilden können, in einem Walde zu fahren. Ich begreife nicht, warum nicht auch unsere Marktleute auf diese Weise mehr in den Gcist der Kinder eingehen. Auch muß man den russischen Carrouselbesitzern die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sie höflich genug mit ihren jungen Herren umgehen. Es ist das Hübscheste, was man sehen kann, wenn so ein alter dick-bartiger Russe mit einem ganz kleinen sechsjährigen, gut oder schlecht gekleideten — denn hier gelten alle, die ihren Kopeken in der Tasche haben, gleich viel — Bübchen sich herumcomplimentirt, vor ihm die Mütze abnimmt, ihn „linrin" (gnädiger Herr!) nennt, ihm die Steigbügel bei'm Aufsteigen halt, des Pferdes Mahnen streichelt und mit hundert sämmtlich mit einem einzigen Kopeken bezahlten Scherzen seine Zufriedenheit zu erlangen sucht. Etwas Besonderes aber ist es, dasi diese Leute, in einer ewigen Einladcrede begriffen, auch Erwachsene, Herren und Damen und Alles, was vorbeigeht, zu ihren Pferdchen invitiren. Es ist mir überhaupt in Nujjland auffallend gewesen, daß diese Straßenausnifer immer Allen, die da kommen, Alles anbieten, was sie haben*). Es *) Tauftudmal sind mir „Gräschnewiki" (eine Art ekelhafter Fastcnkuchcn) mit stinkendem Ocl und andere widerliche Dinge angeboten wordcn, mit dcm Ruft: „I^ßullin, j'5'?" „Nicht gefäuig, mein Herr? di« alttrschönstm Kuchen!" wo ich dann immer hätte antworten mbgm: „Du bummer Kell, siehst Du denn nicht, daß ich ein anständig gekleideter Mann bin und solches Zeugs nicht fr...?" gewöhnlich aber doch, wenn ich in das schlaue, lächelnde Gesicht mit höflich abgenommenem Hute, das dann noch cinen Die Butterwoche. 309 scheint dieß darauf hinzudeuten, dasi entweder elegante Leute auch zuweilen viele wunderliche Dinge kaufen, oder daß die Verkäufer, von der Güte ihrer Waaren zu sehr eingenommen und noch mehr von dem Wunsche nach ein paar Kopeken beseelt, auch selbst da anfragn, wo sie offenbar keine Aussicht haben, einen Käufer zu finden. Von Schaukeln steht immer auf den Katscheli der Butterwoche ein ganzes Regiment der verschiedensten Arten aufgestellt, dcch ist die herrschende jene russische Wind-mühlenschaukcl, die in Petersburg mit einer kleinen Maschinerie leicl't, in den Provinzen mit dem Aufwande vieler Hände schwerfällig in Bewegung gesetzt wirb. So viele ihrer auch sind, so sind sie doch fast nie müssig und drehen sich den ganzen Tag wie das Heer jener Windmühlenriesen, die Don Quixote sah. Sie versehen die Jungen und Alten, welche die hangenden Sessel füllen, in die deßte Laune und.ertönen beständig von dem Ehor-gesanqe der Mädchen und der Musik der Burschen, die eine Flore, Clarinette oder einen Dudelsack mit kinauf nehmen. Was die Bajazzos und Policinellos der russischen Katscheli betrifft, so ist es mir immer unerklärlich gewesen, daß die Russen deren so wenige haben, oder vielmehr eine derartige Figur in dem öffentlichen Scherz dabci machte, blickte, nur sagen konnte: „Ich danke Dir, mcin Ueber Freund, für Dünen Witz und bitte Dich, Deine Raritäten für Dich zu dchaltcn." 310 Die Butterwoche. Volksleben der Russen eigentlich ganz fehlt, da es dock) sonst im Privatleben ihnen durchaus nicht an Talent zur Possenrcißerei und Harlequinade zu mangeln scheint, — da sie besonders stark sind in Stichelreden und feinen Neckereien, so wie im Auffassen und Nachäffen der sonderbaren Seiten und Sitten Anderer. Die geringste Erzählung eines gemeinen Russen wird nicht ohne die leb: haftcstc Mimik und Beredrsamkeit vorgetragen, und bei tausend Gelegenheiten zeigt er sich als ein wahrer Schau» spieler und Redner. — Dennoch ist es ein Factum, daß die meisten Harlequins und Possenreißer, die auf den russischen Märkten herumziehen, Ausländer sind, besonders Deutsche und Italiener! Doch dreschen diese guten Leute so viel taubes Stroh und sind so arm an Körnern, wie manche Journalisten, die alle Tage cx prol^o geistreich fein müssen. Dennoch drängt sich die Menge, die immer den Narren nachlauft, lautlachend dahin, wo eben auf dem Balcon eines Theaters ^die Musik einen solchen ankündigt. Da übrigens diese Neapolitaner und Hamburger das Russische gewaltig radcbrccbcn, so kommt schon wider ihren Willen manches Komische zum Vorschein, und die Russen lachen dann wenigstens über die Verstöße gegen ihre Grammatik. Unter den Petersburger Bajazzos fand ich jedoch einen, der eine ungemeine Suade hatte und mein Liebling wurde, imd dieß war gerade ein Russe. Deßwegen will ich ein Pröbchen von seinen Scenen geben, die er darzustellen pflegte. Eines Morgens fand ich seine Vorstellung besonders gut. Er kam heraus, gähnte und Die Butterwoche. 3l1 wünschte der vor seiner Vude harrenden Mcn^e cin^n guten Morten. Dann warf er sich vornehm auf ftine breterne Bank, als wäre sie ein gepolstertes Kanapee, und sagte, weil er ein großer Herr sei, so sei er sehr übler Laune und wisse nicht, was er anfangen solle. Glücklicher Weise fiel ihm indeß bald bei, daß er sich ja Musik machen lassen könne, und da der Zufall ihn mm eben eine Bands nmsicirender Juden entdecken ließ, die aber schon lange bei ihm auf dem Balcon standen, so lud er sie zu sich herein und forderte sie auf, ihre Künste hören zu lassen. Der erste brachte ein großes Bret herbei, das «r mit Ankertauen bespannt hatte, und sagte, das ware sein.» „Skniibta" (Violine). Er woli.' sie mit dem Besenstiele zur Rührung des Herzens seines Herrn spielen. Der erste Strich, den er zur Probe darauf that, fiel aber so unglücklich aus, daß das Instrument zwar gar nicht, desto mehr aber des Grand-Seigneurs Nase davon litt, über welche der ganze Strich hinging. Der vornehm? Patron war anfangs außer sich über die Ungeschicklichkeit seines ersten Violinisten. Als dieser ihm jedoch ein großes Pflaster auf die Nase l^te, und d.'r Trompeter ihm ein beruhigendes Fortissimo in die Ohren blies, so gab er sich zufrieden und versprach Beiden tausend Rubel Belohnung. Darauf prasentirte sich ein dritter Musiker mit einer dicken Trommel und versicherte, daß, was Rührung und Gefühl betreffe, er darin den Violinisten noch zu übertreffen denke, und dabci schlug er einen so donnernden Triller auf seiner Trommel, baß das g Auf ahnliche genereuse Weise nahm er auch die übrigen Musiker in seinen Dienst und ließ sie dann alle lustig darauf losmusiciren, wobei er in sehr komische Entzückungen verfiel. Als aber am Ende des Concerts die Musikanten kamen und ihr Geld verlangten, erklärte er, daß er nicht einen Kopeken habe, und machte sehr große Augen, als diese unzufrieden wurden. Er fragte sie verwundert, ob denn seine Versprechungen nicht brillant genug gewesen wären. Jedoch wollte er, wenn sie es wünschten, ihnen noch bessere Versprechungen machen, — darauf komme es ihm gar nicht an. Er wolle z. B. der ganzen Gesellschaft in Bausch und Bogen eine jährliche Rente von einer halben Million verschreiben; dieß sei gewiß anständig, und in dieß Versprechen konn^ ten sie sich bann theilen. Die Musikanten erklärten indeß, daß sie keinen Spaß verständen, riefen einen Ge-richtsdi dann ein Gesandter von Frankreich oder Neapel, in Gedanken über nordische Sitten und ihre steigende Macht vertieft, — ferner zwanzig Wagen, alle mit Sechsen bespannt, lauter Hofkaleschen und mit jungen Madchen, den Damen aus dem Smolnoi-Kloster, gefüllt — englische Kaufleute, deutsche Aerzte, französische Künstler, schwedische Gelehrte, Türken, Perser, Tataren, ja Chinesen — und zuletzt gar ein Kaiser und sein ganzer Hofstaat! Was hat man da nicht Alles zu überdenken! Die Wagen müssen natürlich immer eine gewisse Ordnung halten, um Störung und Unglück zu vermeiden. Es sind dazu zahlreiche, berittene Gensd'armen aufgestellt, um die Waa/nftuth in den gehörigen regelmäßigen Fluß zu versetzen und darin zu erhalten. Im Anfange der Gulanie, wo die Equipagen noch nicht zahlreich sind und die Kette noch nicht geschloffen ist, geht es einfach vor den Vuden auf und ab in einer Reihe herfahrender und einer Reihe rückkehrender Wagen. Wenn aber das Gedränge sich mehrt, dann wird eine drei- und vierfache Neihe gebildet; dabei muffen die Reihen immer mehr verlängert werden und greifen wachsend wohl end' Die Butterwoche. 3l? lich so weit hinaus, daß, während die einen auf dem Petersplatze den Felsen Peter's des Großen umkreisen, die anderen auf dem Schloßplätze am Fuße der Aleran-dersäule herumfahren, welche beide Monumente eine eng» tische Meile weit auseinander liegen. So kann es kommen, daß jeder Wagen eine Stunde zu fahren hat, ehe er einmal nahe bei der Barriere der Buden vorüber passirt. Oft suchen die Wagen daher ihre Neihe zu verlassen und sich in einen vortheilhafteren Platz emzuschleichen. Die armen, geplagten Gmsd'armen werden dadurch immer in Athem gehalten, sie passen aber im Ganzen sehr gut auf und sehen nicht auf Rang und Ansehen. Ich sah einmal, wie ein gemeiner Nüsse sich mit einem der ersten russischen Staatsmanner sehr komisch herumstritt, weil er nicht zulassen wollte, daß dieser aus der Neihe führe. Der große Vierspänner siegte aber doch über den Soldaten, der allein war, und drang durch. Da der Gensd'arm sah, daß er hier nichts mehr ändern könne, schüttelte er mißbilligend den Kops und rief dem Minister nach: „Schämt Euch, schämt Euch, mein Herr, daß Ihr so verfahrt! Dieß ist schon das zweite Mal, baß Ihr heute Störung macht. Schämt Euch! Schämt Euch!" Mit diesen Vergnügungen der Katscheli begnügen sich im Ganzen die geringen Volksklassen, außerdem daß sie noch gelegentlich hier und da ein wenig poculiren. Denn was dieß betrifft, so erlaubt es sich in der Butterwecke fast Jedermann, und die Worte: „Verzeiht mir! es ist ja heute die Vutterwoche!" dienen so ziemlich einer jeden Unmaßigkeit zur Entschuldigung. — „Ach, mein Herr, 318 Die Butterwoche. sehen Sie sich das Bild doch nicht so lange an, es ist ja heute der letzte Tag in der Vutterwoche," platzte endlich der Soldat hinter mir los, der mir die Thür zu Brülow's Bilde geöffnet hatte. Er war schon ziemlich geisterfüllt, versicherte mir aber, daß ihm noch einige Glaser fehlten, um sich mit gutem Gewissen einem siebenwöchentlichen Fasten überlassen zu können. — Trotz dem musi man der Polizei von Petersburg die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß durch bacchantische oder brutal« Scenen die Straßcnordnuna, nie gestört wird; freilich kommt ihr dabei die Art des russischen Rausches stbr zu Hilfe. — Ein russischer Kutscher ist oft nicht nüchterner als eine gefüllte Schnapssiasche, und man merkt es ihm doch nicht eher an, als bis er vom Bocke herabfallt. Das brennende Theater. ,,Wi« ist denn wohl eln Theaterbau? „Ich weiß es wirtlich fehl genau. —> „Man pfercht das Vrennlickste zusammen, „Da steht's denn alsobald in Flammen." Die Eisberge, deren Errichtung wir oben beschrieben ha« ben, gewähren indeß dem Fremden das interessanteste Schau» spiel, so wie dem Volke das meiste Vergnügen. Die Varriiiren, welche sich an ihren Bahnen hinziehen, sind stets von dichten Zuschauerhaufen beseht, wie die Bah, nen selbst von Acteurs. Am Fuße des Gerüstes lauern viele Leute mit kleinen, niedrigen Schlitten ohne Lehne, die sie, zu einer Fahrt einladend, den Vorüber- Die Buttenvochc. IHD gehenden fast unter die Füße schieben. So wie du nur Einem einen beifalligen Wink giebst, springt cr mit dir die Treppe hinauf, und du arrangirst dich auf dem schmalen Schlittchen, so gut du kannst. Der Schlitten-führer schwingt sich hinten auf, und sausend stürzt sich der Schlitten die Höhe hinab. Der Schwung, den man vom ersten steilen Absturz erhält, wirkt so stark nach, baß man in's Unendliche stiegen würde, wenn nicht am Ende der Bahn Sand gestreut ware, welcher cnt-lich den Schlitten völlig hemmt. Die Schlittenführer haben starke, lederne Handschuhe an den Handen, die sie über den Boden hinschleifen lassen und mit denen sie bald rechts, bald links andrücken, um den Lauf des Schlittens zu leiten und kleine Unregelmäßigkeiten zu cor-ttgiren. Um Mittag, wenn der Zudrang recht groß ist, geht es wie aus einem Leuchtkugeltopfe, ein Schlitten zischt hinter dem anderen her. Dabei können nicht alle kleinen Malheurs vermieden werden, selten passirt jedoch ein großes, und jene, wahrend sie für eine Person nur wenig ärgerlich sind, werden für Tausende sehr amüsant. Der mit einer dicken russischen Kanfmannsfrau belaoene Schlitten schießt natürlich etwas schneller hinab als der, auf dem nur des Versuchs wegen ein mageres, elegantes Männchen rutscht. Da giebt es denn oft sehr spaßhafte Enterungen, besonders am Ende der Bahn im Sande. Ein junges Mädchen, das heute zum ersten Male fuhr, kann sich, halbtodt vor Schrecken, nicht soqlcich erheben, und schon kommt ein flinker, flotter Bursche mit gespreizten Beinen angesegelt, und so puselt 320 Die Butterwoche. manchmal ein ganzer Knäuel von Menschen und Schlitten in den Schnee. Equilibristische Künste auf der Bahn zu zeigen, ist eigentlich verboten, und die Polizei sieht darauf wegen der damit verbundenen Gefahr, daß man nur auf den gewöhnlichen Schlitten und mit den bestellten Schlittenführern hinabgleite. Allein zuweilen wissen doch tolle Bursche, die Geschmack am Halsbrechen finden, sich durchzuschleichen und irgend ein Kunststück aus« zuführen; Einer legt sich, so lang er ist, auf den Schlitten, schließt die Augen und fahrt mit verschränkten Ar-men so nonchalant in die Tiefe, als thäte er's im Schlafe; ein Anderer legt sich mit dem Kopfe nach vorn, schneidet den Zuschauern ein Gesicht und stürzt sich hinunter, als ging's kopfüber. Zuweilen sogar fahren Einige stehend auf Schlittschuhen hinab, kommen wie Pfeile an dem Ende der Bahn an und haben sich längst unter der Menge verloren, wahrend die lahme Polizei ihnen noch nachlauft. So äußecst amüsant es ist, auf diesem Theater der Katscheli, wo ein so bequemer Platz wie der Adnmalitats-platz die Bühne, wo Palaste wie das Winterpalais, der Senat, das Kriegsminisicrium u. s. w. die Coulissen und die vielen taufend Mitglieder des Petersburger Publicums die Schauspieler bilden, an einem heiteren schönen Mittage — cin Bißchen Kalte ist dabei nicht unangenehm und sogar nothwendig, weil viele Vergnügungen darauf berechnet sind, — ein wenig umherzuflanquiren, so höchst schmerzlich ist doch die Idee, daß selbst diese Scenen ausgelassenster Lustigkeit nicht ohne Intermezzos höchst Die Vuttcnvochc. 321 tragischer Natur waren. — Die Katscheli der Butter-woche zählen blos in der neuesten Zeit zwei der betrüb-testen Vorfälle, welche ihre Freude störten; der eine ist der, wo das Wasser dazwischen trat und manchen Ba-iazzo zu den Fischen gesellte, der andere der, wo die auf's Land sich Rettenden dem Vulcan in den Weg liefen, der mit seinem flammenden Anhauche Hunderte auf einmal zum Erebos sandte. Was die Newa verschlang, ist schon seit längerer Zeit begraben und vergessen, das Andenken des brennenden Holztheaters aber noch frisch und wird bei jedem Katscheli durch schreckliche Erzählungen wieder erneuert. Ich muß gestehen, daß mich diese Erzählungen immer mit besonderem Schauder erfüllten. Auf dem Kampfplatze mögen Tausende sterben, wir betrauern sie, aber ihr Tod erregt uns kein Grausen, denn sie haben Ruhm davon und sielen ehrlich. Auf dem Krankenbette mögen Hunderte enden, wir beweinen sie, doch es ist dieß der Lauf der Natur. Aber daß Hunderte von Menschen so im Vorbeigehen, gelegentlich, bei'm Scherze, mitten im tollsten Narrenspiele, in einer erbärmlichen, hölzernen Bude wie Nahen und Mäuse ihre irdische Existenz, diese ganze schöne Welt und alle ihre Pläne und Hoffnungen einbüßen, — das ist schrecklich und erinnert allzu craß an die erstaunlich schwachen Fundamente, auf die unser Dasein gestützt ist. Die hölzernen Theater der Katscheli sind zum Theil sehr groß. Eines davon, das mehre tausend Menschen faßte, sing bei Gelegenheit einer Feuerwerk- und Bc-leuchtungsscene Feuer. Im ersten Augenblicke des Feuer- 14" 522 Die Vuttmv<)chc. fangens hatten die hinter der Scene Befindlichen dem Publicum nichts gesagt, weil sie hofften, die Flamme wieber zu ersticken, und als diese starker wurde, hielten die Zuschauer dic Beleuchtung für prachtig und beklatschten die Illumination. Da stürzte mit allen Anzeichen des Schreckens der Bajazzo hervor und rief: „wir brennen! wir brennen! rette sich, wer kann!" Das Publi-cum lachte laut auf über den vom Bajazzo, wie es meinte, tresslich singirten Schrecken. Darauf ließ der Theater-director, weil Niemand mehr in den jubelnden Lärm hin-einsprechen konnte, rasch den Vorhang des Hintergrundes aufziehen, bannt Jeder die Größe der Gefahr ermessen könne, und dicker Rauch und Feuerarme schlugen dem Publicum entgegen. Da wandte sich plötzlich das Lachen in erblassenden Schrecken, und ein Schrei des Entsetzens entfuhr der Brust von Tausenden, die soeben noch von Fröhlichkeit bewegt waren. Krampfhaft ergriff Jeder, was er in der Menge liebte, und Alles stürzte den Ausgängen zu. Dieser aber waren für die Größe des Theaters nur sehr wenige, und nur äußerst langsam machten die Vordermanner den Hintermannern Platz. Desto rascher aber griffen die Flammen in den harzigen Tannenbretern um sich, schwangen sich schnell von Coulisse zu Coulisse und leckten bald in den noch mit Menschen gefüllten Theaterraum hinein. Ein unglücklicher Zufall, dessen Vermeidung vielen Kindern ihre Vater und Brüder erhalten hätte, war es, baß einer der großen Thürflügel des Einganges, die nach innen zu aufgingen, in dem Gedränge unvorsichtig zugeschlagen worden war und weder Die ButtcrlvoHe. N3 nach außen hin, noch nach innen zu weichen wollte. Es konnte daher in der ganzen Zeit der Noth nur die eine Hälfte der Hauptthüre zur Rettung benutzt werden, und der Zug der Geborgenen sich nur sehr langsam hervorbewegen. Draußen lief man auch mehr zusammen, um die brennende Vreterbude zum Spaße anzusehen, als um zu retten, und der Rettungseiser war anfangs lau. Denn wer versieht sich gleich aus dem Platze der Lustigkeit eines so argen Strafgerichtes. Man läuft rasch in eine solche Bude hinein. Was ist's? Wenn sie brennt, so lauft man rasch wieder hinaus! Der wahre Schrecken über-siel die anderen Leute erst, als sie das Resultat dieses Spaßes erfuhren. Die drinnen verlebten unterdessen, Brust an Brust gepreßt, einige Momente, die so mit Angst gefüllt waren, wie sonst Jahre kaum, vergebens schrieen die Hmtcrmanner den Vorderen ihr wahnsinniges „Vorwärts!" zu. Das Ganze stockte und stickte, und die Flamme zuckte schon drohend über ihren Hauptern, nur schwache dünne Vreter trennten sie von den heiteren freien Räumen, wo die Lust noch lebendig thronte, — nur noch ein paar Minuten Zeit, so könnten sie ihren schwachen Kerker wohl mit Handen und Zahnen zerreißen. Die Phantasie wagt nicht, zur lebendigen Anschauung der Jammer- und Grauelscenen, die in diesen wenigen Minuten mitten unter diesen tausend stickenden und mit dem Tode kampfenden Menschen in raschen Tempos auf einander folgen mußten, sich zu erheben, und nur eine Feder, die aus dem Aschenhaufen erstände, vermöchte treu die Begebenheiten zu schildern, bei denen 324 Die Vutterwcche. so viele Lebenssaiten, aus der größten Schlaffheit der Ausgelassenheit plötzlich zum höchsten Grade der Angst und des Entsetzens gespannt, mit einem Male zerrissen. Die Geschichte meldet uns zwar das Hinsterben vieler Menschen in belagerten Schlöffern oder in brennenden Kirchen, in die sich eine geanqstigte Menge uor dem Feinde flüchtete, aber hier war es doch, außerdem daß ein gehöriger haltbarer Grund zum Tode vorhanden, noch möglich, daß die Sterbenden in ihren letzten Momenten zu dem Schöpfer aller WejVn ihre Hände erheben und mit einem, der Wichtigkeit des Augenblickes angemessenen Ernste von dieser Wclt Abschied nehmen konnten, und so wurde ihnen denn doch noch ein tröstlicher Tod. Allein es ist wohl wahrscheinlich, daß unter jenen, auf dem Admiralitatsplatze nach Luft und Leben vergebens ringenden armen Seelen dieser Trost des Gedankens an eine höhere Leitung, der alle, selbst die schlimmsten Uebel leicht ertragen läßt, und dessen Mangel selbst die geringsten unerträglich macht, nur in Wenige sich herabgelassen. Wie fern ist nicht der Gedanke an Gott in einer Narrenbude! Viele mögen es für eine Sünde gehalten haben, in diesem Falle Gott anzustehen. Die Polizei wollte anfangs keine Privatleute zum Retten zulassen, um selbst die Leitung zu übernehmen, dennoch gelang es, als die Flammen überHand nahmen, einem Kaufmanne, mit einer aufgegriffenen Hacke trotz der abwehrenden Polizei auf der einen Seite des Theaters ein Vret loszubrechen und durch die Oessmmg noch 60 Halberstickte aus dieser Harlequinshölle hervorzuholen, Die Butterwochc. 325 was er mit großer, eigener Gefahr bewerkstelligte. Der Ehrenmann wurde für diese, eines Bürgers würdige That auf eine eines Kaisers würdige Weise von Nikolaus belobnt, er bekam einen Orden und, da er arm war, eine Pension. Man kann sich denken, daß indeß doch auch die draußen auf den Straßen allmalig inne wurden, daß die Sache kein Scherz sei. Die Schreckenspost lief bald durch die Stadt, das Lehmann'sche Theater brenne, und Tausende von Menschen seien darinnen mit dem Tode im Kampfe. Da ergriff alle Leute die Angst, es könne «in theueres Haupt unter den Unglücklichen sein. Man muß sick) in den Familien die Scenen des Entsetzens und des rührenden Wieoersindens oder der schrecklichen Verzweiflung beschreiben lassen, um zu begreifen, in welche Verwirrung das Publicum gerieth. Da der Kaiser auf die erste Kunde des Brandes alsbald von seinem gegew überliegenden Winterpalais herbeieilte, liefen ihm Frauen entgegen und schrieen! „Herr, rette, rette! Mein Sohn ist darunter! Mein Mann ging auch hinein! Ach, mein Bruder kam noch nicht heraus!" — „Kinder," antwortete der Kaiser, „ich werde retten, was ich vermag." Als der Brand vorbei war, die Flamme und daS Leben drinnen ruhte, und Alles in einem Haufen da lag, machte man sich an das betrübte Geschäft, die Todten hervorzuziehen. Der Anblick soll über alle Begriffe traurig und schreckhaft gewesen sein, als sich nach Weq-raumung der zusammengestürzten Balken und Baume allmalig die Haufen der Erstickten zeigten, die man mit langen Haken hervorzog, wie die Brote aus einem Vack^ 326 Die Butterwoche. ofen. Einige Leichname waren ganz verkohlt, einige mir angebrannt wie Kastanien, viele nur mit versengtem Haupthaare, viele bei gebrochenem Auge, bei abgesengt ten Locken und schwarzem, verbranntem Angesichts mit den bunten Tüchern und Kleidern des Festtages geschmückt, welche die Flamme des dichten Gedränges wegen verschont hatte. Diese gewährten einen weit erschütternderen Am blick als die ganz verbrannten. Da, wo ein Theil des Gebäudes noch aufrecht stand, fand man auch die dichtgedrängten Haufen der Todten noch aufrcchr ncbcn cin-ander stehen, wie ein Heer von Schatten aus der Unterwelt. Ein Frauenzimmer fand sich mit dem Haupte über die Galerie geneigt, Hand und Taschentuch vor dem Gesichte. Ein Herr, der diese Todtenausräumunq mit angesehen, sagte mir, er habe drei Tage hindurch keine Speist mehr anrühren können, so grauliche Bilder hat> ten ihn nachher verfolgt, und eine Dame, die von Weitem einen Blick hineingethan hatte, wäre bald über die ungeheuere Gemüthsbewegung, die ihr der Anblick zugezogen, wahnsinnig geworden; sie redete noch mehre Tage nachher im Schlafen und Wachen irre. Die Zahl der Umgekommenen wurde spater offlciel zu 300 angegeben, doch sagte mir Jemand, er habe mit seinen eigenen Augen 50 Wagen gezahlt, von denen jeder mit 10 bis 1"' Leichnamen beladen gewesen. Leute, die gut Bescheid-wissen wollten, gaben mir die Zahl so hoch an, daß ich sie kaum wieberholen mag, um nicht eine Summe zu nennen, welche Andere unwahrscheinlich finden werden. Viele brachte man zwar wieder m's Leben zurück,, Die Vuttcrwochc. 327 doch starben auch noch Manche in den Hospitälern. Einen kleinen Jungen fand m,in ganz frisch und gesund unter einer Bank fitzen, unter die er sich verkrochen hatte, als die zusammenstürzenden Brennstoffe ansingen, auf die Köpfe der Eingeschlossenen herabMröpfeln wie eine Taufe mit Feuer und Flammen. Die über die Bank hinfallenden Leichen und Balken legten sich so geschickt zusammen, daß sie ein schützendes Dach bildeten, durch welches weder Rauch, noch Feuer drang, und unter dem der Kleine es still abwartete, bis man ihn hervorzog. — Am folgenden Tage laS man für die armen, abgeschiedenen Seelen, welche nicht mehr hatten beten können, auf dem Platze dieser Gr^uelscene ein öffentliches Gebet. Der Maskenball. „Euch so beisammen hier zu finden, ,,Ist mir die größte Lust, »Ich nur, ich weiß euch zu verbinden, /.Deß bin ich mir bewußt." Die vornehmen Klaffen der Gesellschaft nehmen zwar, wie wir sahen, auch an jenen Gaukeleien der Katscheli Antheil, doch füllen sie ihnen nur einige Stunden um Mittag aus, und sie haben daher noch eine Menge anderer Vergnügungen, in denen sie sich auf ihre Weise berauschen. Zu diesen gehören zunächst die Theater. So viel ihrer sind in Petersburg, fetzen sich doch alle in der Buttcrwoche in Gang, und die armen Schauspieler be- 328 Die Butterwoche. kommen in dieser ganzen Zeit keine Ruhe. Zulcht wird sogar zwei Mal taqlich gespielt, — Morgens und Abends, — französisch, deutsch, russisch, italienisch. — Im gro-ßen Theater (llolsrlwi Ilieuloi ) findet wahretld der Butterwoche auch ein großer Maskenball statt, der ebenfalls eine Art von Volksvergnügen zu nennen ist, insofern einem jeden Anstandigqekleideten, wesi Ranges er auch sei, daran Theil zu nehmen vergönnt ist und insofern auch der Kaiser diesem V»ille persönlich beiwohnt. Ich nabm an diesem Vergnügen im Jahre 1837 Theil. Das Merkwürdigste dabei war für mich die Decorirung des Theaters als Ballsaal. Um 11 Uhr sollte der Ball beginnen, und bis geqen halb zehn Uhr dauerte das Schauspiel. — Ich war begierig, zu sehen, wie die Nuffen hier mit ihrer gerühmten Schnelligkeit aus dem Theater einen Vallsaal machen würden, und war erstaunt, wie rasch Alles vor sich ging und um keine Minute verspätet wurde. — Sowie die letzten Zuschauer hinaus waren, — ich war der einzige, der zurückblieb und, an den Pfeiler der kaiserlichen Loge gelehnt, dem Dinge zusah — ging der Kronleuchter in die Höhe, und Finsterniß fiel in die großen Naume. — Nach und nach erschienen aber einige hundert Arbeiter mit Kerzen, und wabrend ein Theil anfing, das Orchester und^ Parterre auszuräumen, kamen andere, ihnen nachdringend, mit Vretern und Balken über die Vühne und begannen mit Aexten und Sagen einen Lärm, der nur dann und wann die Stimmen der Anführer und Ordner des Ganzen durchdringen ließ. — Diese gro- Die Butterwoche. 329 ßen dunkeln Raume, dieß Arbeiten der Sägen, dieß Poltern der Stühle, dieß Zimmern, Wirthschaften, Zurufen, Befehlen und Antworten, es war, als hätte ich das Chaos unter mir, aus dem sich eine große Geburt hervorarbeiten sollte. Mit Schnelligkeit rückte die von der Bühne herangebaute Brücke vor, und wie den Ausräumern die Zimmerleute, so folgte diesen eine Schaar von schwatzenden Frauen, die sogleich Alles kehrten und die Hobelspäne und den Staub zur Seite fegten. -^-Auf der Bühne des Theaters schien sich aus der Luft eine Wolke herabzulassen. Es waren Massen von seidenen und wollenen Stoffen, die unten sogleich von ordnenden Händen empfangen wurden. Sie gestalteten daraus alsbald, drapircnd und nahend, die Bühne zu einem hübschen türkischen Zelte um, das nach vorn geöffnet war. Im Hintergrunde des Zeltes erhob sich dann eben so schnell eine Galerie für die Musiker, wie zu den Seiten Vanke für die Zuschauer. — Indeß hatten die Arbeiter vorn ihre Brücke beendigt und ließen nun zu den Seitenlogen der kaiserlichen Hauptloge Treppen hinaufsteigen, indem iene durch Hinwegnahme der Thüren, Sitze und Gelander in bloße Durchgange verwandelt wurden. Die Uhr hatte in schnellen Tempos zehn, ein Vier' tel auf elf, halb elf geschlag.'N, aber in eben so schnellen Tempos hatten auch die Arbeiter die einzelnen Tbeile ihres Werks vollendet, und als es drei Viertel schlug, w,iren schon die letzten Töne dcr Hammer und Sagen verhallt. Der Voden war geschaffen, die Festen waren 330 Die Butterwoche. gegründet, die Staubwolken hatten sich verzogen, die Arbeiter verlaufen, und nun öffnete sich der Himmel und gab die prächtige Sonne des Kronleuchters von sich, welche mitten durch die Raume herabschwebte und, sich dieser schönen Ordnung freuend, über die junge Schöpfung des geputzten Vallsaals ihre Lichter ergoß. — In derselben Zeit entzündeten sich auch rund herum an den Gelandern der Logen die vielen tausend Sterne der Wachskerzen. — Unten schritt nun über den Boden ein Lakai, welcher Wohlqeruchwolken aus einer Pfanne in die Lüfte schwenkte, als wäre er der erste Mensch, welcher, der Sonne huldigend, die junge Welt betrate. Eben so schnell, wie sie entstanden war, bevölkerte sich auch diese Schöpfung. Die Menschenkinder zogen gegen 11 Uhr von allen Seiten heran. Auch Thiere kamen herzu, Fröscke und Vögel, und es fehlte, wie es auf einem Maskenbälle zu sein pflegt, an keinem Charakter. — Auch der Staat war bald gefunden. Denn schon um halb zwölf Uhr trat der Kaiser ein, und plötzlich donnerte die erste Musik los. Es war ein Chorgefang mit der Begleitung des ganzen Orchesters. Es ist gewöhnlich in Rußland, öffentliche Valle mit einem solchen Gesänge, wobei das Orchester dasselbe spielt, was die Sänger singen, zu eröffnen. Meistens ist es die russische Nationalhymne i „Für den Kaiser und das heilige Rußland lc.", die den Anfang macht. — Sobald der Kaiser eingetreten, war es mit meinen Chaos-und Schöpfunqsgedauken vorbei, und ich hatte nichts mehr im Auge und Sinn als diesen Repräsentanten einer unum- Die Butterwoche. H21 schränkten Macht, die auf dem Erdboden ihres Gleichen nicht hat, und die in seiner persönlichen Gegenwart jede Phantasie mit so unversiegbarer Kraft zur Uebung an dem unerschöpflichen Stoff elektrisiren muß, daß ich es nicht begreifen würde, wenn es nicht jedem denkenden Kopfe oder vernünftigen Manne ebm so gehen müßte wie mir. — Mit dem Ballpublicum schien dieß freilich auch der Fall zu sein. Denn wo der Kaisess sich einen Aligenblick hinstellte, da ordnete er gleich durch unsichtbare Kraft die Menschen um sich her, wie ein starker Magnet die Eisenfeile. Ueberall bildete sich dann weit von ihm entfernt ein respectvoller Kreis von Gaffern, die ihn — wie durch eine unsichtbare Barriere zurückgehalten — von Weitem anguckten. — Doch wo er nur konnte, mischte sich der Kaiser immer mitten darunter und stieg fleißig Treppe auf, Treppe ab. -^ Die jungen Damen in Dominos machten sich eifrig zu ihm heran. Er nahm sie immer freundlich an den Arm und spazierte mit ihnen im Saale umher, sie zu Scherzen reizend. — Manche Damen, die sonst nicht an ihn kommen können, besuchen blos diesen Masken-Hall, um ein Mal an des Kaisers Arme gegangen zu sein. — Der Kaiser blieb keine Antwort schuldig und wußte immer etwas ;u erwidern. Als ich einmal bei ibm vorüberging, sagte die Damenmaske, die er am 3Crm« 1)0tte, ju i()m: „Ali! cominc in us bcuu." — „Oli! oui!" antroovtttte bcc Ä\iis«, „ah, ct si tu mirnis vu, comment jc Tclais autrcfois." — Q\ne cinbett $)fo§U sitgttf- iljm: „II y n jicu !io ^elito clou« iwm-toi." — Dieser Herr führte sie eine Zeit lang im Saale herum, ließ sie gelegentlich fahren, und ich fühlte mich' an der Stelle der armen Schönen recht glücklich, daß sie so dicht maskirt war. Lady Morgan beschreibt in iluvn Reisen bei Gelegenheit eines Balles, dem sie beigewohnt, die sonder-baren Gruppirungen, welche wabrend der ganzen Ball-nacht vorkamen. Auch auf diesem Petersburger Maskenbälle, wo außer dem Kaiser noch mehre deutsche Prinzen und viele russische Große zugegen waren, fügte der Zufall zuweilen wunderbare Gegensatze zu einer Gruppe zusammen, wie z. V. ,,den Erben eines deutschen Königreichs und den präsumtiven Erben einer Kramerei auf der Perspective," — „den Kaiser aller Neußen und eine französische Gouvernante," — „den Minister der Finanzen eines Reichs von 66 Millionen Einwohnern und den Eommis eines Handelshauses, als Frosch gekleidet", — dann wieder zuweilen in einem Winkel des Hauses ein Gedränge von Ambassabeurs und Generalen, Eingeborenen von der ewig grünen Insel Albion oder aus dem Lande der südlichen Scythen und von den Gipfeln des Kaukasus, und mitten unter ihnen Arm in Arm Studmten, woblgekleidete Handwerker und türkische Kaufleute. Die Butterwoche. 3^3 Was übriams, um doch noch einen Blick auf sie zu werfen, die Masken betrifft, so verstehen sich eigentlich nur die gemeinen Leute in Rußland auf's Maskiren. Russische Bauern, Bedienten u. s. w. liabe ich oft die unterhaltendsten und komischesten Maskeraden improvisuen sehen. — Aber den Vornehmen mundet es nicht so recht. Die meisten waren in gewöhnlichem schwarzen Frack, und selbst Dominos waren selten. Sie, welche die eigentlichen tollen Herren spielen sollten, schienen sich zwischen all den vernünftigen unmaskirten Lenten sehr gedrückt zu fühlen und wie die Narren hier vorzukommen, und di«? Unmaskirten blickten zuweilen recht verächtlich auf die Harlekinsjacken Jener herab, recht närrisch stolz auf ihre vernünftige Erscheinung einherschreitend. Die vornehme Welt nimmt auch eigentlich nicht an diesem Maskenbälle Theil, der Kaiser nur des Pub-licums wegen, und die Minister, Generale u. s. w. nur des Dienstes und des Kaisers wegen. Nur die Logen sieht man hier und da von einigen der ersten Familien beseht, die indeß nur c» i'ul^lmt erscheinen, um auf dem eleganten Priuaiballe, zu dem sie sich noch später verfügen, etwas Neues erzählen zu können. Von diesen Ballen, die sich die vornehme Welt freilich mit Ausnahme der Fastenzeit den ganzen Win« ter hindurch giebt, pflegt in die Buttenvoche gewöhnlich der brillanteste zu fallen, von dessen Glänze alsdann während der ganzen Fasten, wo man Athem genug hat, die athemlosen Feste der Maßlänitza zu kritisiren, gesprochen wird In dem Winter 1637 wurde einstimmig 334 Die Butterwoche. einem Balle des Grafen Br. die Siegespalme zuerkannt, als dem glänzendsten Feste, das dieß Mal die Butterwoche gesehen. Denn es war dabei nicht nur Altes zugegen gewesen, was Petersburg an königlichen und kaiserlichen Personen zu geben vermochte, sondern auch Alles aufgewandt worden, was die Handelsverbindungen unseres Erdkreises gewahren konnten. Wenn ein russischer Großer ein Fest geben will, welches Eclat machen soll, so sucht er sick) vor allen Dingen die Zusage des Kaisers und der Kaiserin, als Gäste an seinem Feste erscheinen zu wollen, zu verschaffen. Denn es stcht Jedem frei, seinen Kaiser emzukdm, der auch keinen Anstand nimmt, die Feste seiner Unterthanen zu besuchen, was das Ceremonie! so manches anderen Hofes wohl nicht so oft gestatten würde. — Der Gastgeber wirft sich zu dem Ende in seine Galakleidung und fahrt zu Hofe, wo er dem Oberceremonienmeister zu erkennen giebt, er wolle, „wenn es dem Kaiser und der Kaiserin gefalle, mit ihrer Gegenwart das Fest zu verherrlichen, einen Ball geben," indem er zugleich die Liste der einzuladenden Gaste überreicht, um deren Genehmigung zu erlangen. — Gewöhnlich wird diese Gasteliste ohne weitere Bemerkung angenommen. Doch kommt es zuweilen vor, daß Jemand gestrichen wirb, oder daß der Kaiser sich alle Fremden verbittet, weil er einmal ganz allein unter seinen Unterthanen sein will. — Ein Hauptlurusartikel der Großen besieht an einem solchen Abende in der Entwickelung einer zahlreichen Dienerschaft. Bei dem Feste jenes Grafen Br. Die Butterwochr. 335 z. B. waren hundert Lakaien allein für die prächtige Treppe verwendet worden. Die Diener des Hauses reichen dazu nicht aus, und man zahlt für eine hübsche Figur zu diesem Zwecke für den Abend zehn Rubel. Dabei ist die Livree der Lakaien, versteht sich, jedes Mal neu und eigens zu diesem Feste angeschasst worden. FünfM jener Treppenlakaien waren in violetten Sammet gekleidet mit silberner Bordirung und fünfzig in Purpnrsammet mit Gold, jenes die Farben des Herrn, dieses die der Frau vom Hause. Auf einer Stufe der Treppe stand immer ein Orangen- oder Citronenbaum, auf der ander, n ein solcher sammetner Bedienter, mit denen, eben so »vie mit der südlichen Vegetation, auch außerdem noch die Hans- und Saalthüren befetzt waren. — Jene Orangenbäume miethet man gleichfalls von öffentlichen Gärtnern, und auserlesene kosten gegen 1t) Rubel den Abend. Rechnet man nun die Livree eines Lakaien, insofern sie doch auch noch nach dem Feste einigen Werth behält, für den Abend nur zu 1A) Rubeln und nimmt man nur 1W Orangenbaume an, so kann die bloße Decoration der Thüre und Treppe an 12,l)l)0 Rubel gekostet haben, die Illumination nicht einmal gerechnet, die aber auch mit in Anschlag gebracht werden muß, da es Sitte ist, bei solcher Gelegenheit die ganze Straßenfronte des Hauses von oben bis unten zu illumimren. Die jetzige Kaiserin ist eine große Vlumenliebhaberin, und insbesondere hat sie sich die Rose zu ihrem Lieblinge erkoren. Die jetzigen Bälle Petersburgs schwelgen daher immer in einer großen Fülle 339 Die Butterwoche. von Blumen. Gewöhnlich ist ein eigener Saal als Wintergarten arrangirt, und Rosengebüsche und Rosen-lauben beschatten die einladenden Erholungsplatze. So reich also nach dem Allen der ganze russische Carneval cm Vergnügungen für alle Klaffen ist, so steigert sich die Lustigkeit der letzten Tage der Butter-woche doch noch zum Doppelten und Dreifachen, weil sie ihren nahen Tod in den bald folgenden Fasten voraussieht. Die letzten drei oder vier Tage der Maßlanitza sind wahre Fest- und Iubettage, wo alle Geschäfte enden und aller Ernst aus Rand und Band geht. Die Schulen hören auf, die Bureaus der Behörden werden geschloffen, die grosien Theuter geben Morgens und Abends eine Aufführung, und die zwölf Bajazzos auf den Katscheli kündigen alle fünf Minuten eine neue Darstellung an, die Reichen geben Mittags um 12 Uhr (l^'oünl'üj cliinsimls, die um 5 oder 6 Uhr Abends endigen, gestatten sich kaum einige Stunden zur Ruhe und zum Anlegen einer noch brillanteren Toilette, worauf sie um 11 Uhr Abends zum zweiten Balle des Tages fahren. Bei den geringen Leuten schließt sich an die Trunkenheit des Abends die Entnüchterung des Morgens, das Publicum ist überall, wo es zuschauend erscheint, auf's Beßte gelaunt und klatscht Allem Beifall zu. — Es erscheint endlich selbst der Kaiser, der Hof und mit ihm Alles, was sonst noch Großes da' ist, in eleganten Equipagen bei der Gulanie, und selbst die 2W jungen Damen aus dem Smolnoi-Kloster, die man sonst nie öffentlich sieht, nehmen an der Lustfahrt in Die Butterwoche. 337 vierzig bis fünfzig glanzenden Sechsspännern des Hofes Theil. Auf den Eisbergen schurrt es Schuß auf Schuß hinab, die Schaukeln fliegen und drehen sich so geschäftig, als gelte es, die Passagiere mit der Schnelligkeit des Dampfwagens an Ort und Stelle zu bringen, die Glöckchen, der Carrouselpserde hören keinen Augenblick zu klingeln cms, und da Bajazzo zu Zeiten auf die Uhr sieht und von Stunde zu Stunde verkündet, wie viel Minuten noch die Maßlanitza dauern wird, so plappert der Thier-wärter, der die Löwen und die Voa zeigt, seine Lection wie an einer Haspel herunter und spedirt seine Besucher so geschwind als möglich, um wicder neue aufzunehmen, — kurz alle Lebenspulse schlagen in einem rascheren Tempo, und Alles trinkt immer begieriger aus dem Becher der Freude, als gelte es, die letzten Tropfen zu erHaschen, bis -- auf ein Mal die Mittcrnachtstunde, die den Anfang der Fasten verkündigt, alle tanzenden Paare zum Stillstande bringt, und Alles nach Hause schleicht, um sich mit Erinnerungen an die Lustigkeit d,«r letzten Hage die Langweiligkeit der Fasten zu versüßen. Kohl, Petersburg II. 15 Die großen F a ft e n. ..So wild die Seit in Fröhlichkeit verthan, „Und ganz verwünscht kommt Aschermittwoch an." ^5enn man so Tag aus, Tag ein, wie wir anderen Christen es thun, Braten, Fleischsuppen, Milch und Eier genießt, so erfährt man nur wenig, welche Schmack-haftigkeit, Würze und Kraft das Thierreich unseren Speisen ertheilt. Nur die russischen Fasten können es deutlich lehren, wie äußerst matt, saft- und haltlos das Pflanzenreich ohne Verbindung mit dem Thierreiche dasteht und welche nüchterne und secundare Rolle es in den Küchen und auf unseren Tafeln spielt. Die volle Strenge der russischen Fastengesetze in Bezug auf die Küche verbannt nämlich nicht nur, wie die katholische Kirche eS thut, alles Fleisch der Quadrupeds« und Vögel, sondern auch sonst noch alles Andere, was nur irgend Genießbares aus dem Thierreiche kommen konnte, als z. B. Milch, Eier, Butter u. s. w. Nun entziehe Die großen Fasten. 339 man ben Mehlspeisen die Eier, den Kartoffeln und Fischen die Butter, den Suppen und Saucen die Fleischbrühe, dem Kaffee und Thee den Nahm, und man wird sich einen Begriff machen können von der Nüchternheit einer russischen Fastenmahlzeit, besonders wenn man bedenkt, daß selbst der Zucker daraus verbannt wird wegen der feinen animalischen Partikeln, die er noch von dem Ochsenblute enthalten könnte, das man bei seiner Reinigung anwandte. — Das Thierreich bildet eigentlich die Basis unserer ganzen Küche, und das Pflanzenreich kann nur in seiner Begleitung würdig und mit Anstand auftreten wie die Frau in Begleitung des Mannes. Kartoffeln, mit Waffer gekocht, Suppen von Kwas mit Schwammen, Fische und Kuchen mit Oel, Thee und Kaffee mit Mandelmilch, Pilze und Pilze und wieder Pilze nebst Essiggurken, das sind die traurigen Herrlichkeiten, die nach den fetten Vlinni, den duftigen Fleisch-pirogen, der Vutterkuchcn- und Vratenfülle der Maßlä-nitza die Fastentische zieren. Da nach der Strenge Fer Gesetze auch Wein und überhaupt alles Geistige ausgeschlossen ist, so kann sich der Koch auch des WcineS nicht bedienen, um den pilzigen, fischigen und öligen Fastensauccn etwas Geist zu geben, und der Theetrinker nicht des Rums, um feine flauen Getränke in Etwas zu beleben. Am meisten kommen unter den russischen Fastenspeisen Kräutersuppen vor und große Gebäcke, mit Pilzen und Fischragouts gefüllt. Eine sehr beliebte Fastenspeise bildet eine Act großer dicker Rüben (Uruknu) 15* 340 Die großen Fasten. welche, wie sie auf dem Felde wachsen, im Ofen gebacken und ohne Zuthat verspeist werden. Das Beßce auf der Fastentafel sind gewisse Fischsuppen, die, wie alle ächtrussische Nationalgerichte, in ihrer größten Vollkommenheit nur bei den russischen Kaufleuten bereitet und genoffen werden, wozu die weise Hausfrau selbst den von der Muttcr überkommenen Traditionen gemäß die Ingredienzien mischt und mit erfahrener Hand das Feuer schürt. Die Leute niederen Standes schließen in der et? sten und letzten Woche der Fasten sogar den Fisch und den Kaviar aus; dasselbe thun sie an der Mittwoche und am Freitag der fünf übrigen Wochen. An der Mittwoche und am Freitag — diese beiden Tage müssen immer vor den übrigen einen Pas voraushaben — der ersten und letzten Woche essen sie dann gar nichts. Recht strenge Altgläubige und Fromme verleben aber alle sieben Wochen so, wie die minder Strengen die erste und letzte, mit der Verstärkung jedoch, daß sie in. den drei letzten Tagen der Woche vor Ostern gar nichts zu sich nehmen. Auch die Vornehmen der russischen Kirche halten weit mehr auf die Fasten als die in katholischen Ländern. Gewöhnlich fasten sie streng in den letzten und ersten Fastenwochen und an der Mittwoche und am Freitag aller übrigen. Am meisten wird von den geringen Leuten gegen das Verbot des Vranntweintrinkens gesündigt, obgleich gerade dieß das allerwohlthatigste von allen sein könnte. — Mancher trinkt wahrend der Fasten eben so viel Branntwein wie sonst, doch nennt er zu Di» großen Fasten. 341 dieser Zeit die Sache nicht mit ihrem wahren Namen, son« dern hat allerlei euphemistische Umschreibungen dafür. Merkwürdig ist es, wie streng die Russen, wenn sie einmal einen Tag zum Fasten sich festgesetzt haben, dann auch darauf halten, daß nichts Fleischliches ihren Gaumen passire. Man sieht oft die jungen Mädchen in Verbruß und Kummer ihre Tasse Thee in den Spülkrug schütten, wenn sie rochen, daß die französische Gouvernante ihnen an einer Fastenmittwoche aus Versehen Nahm statt Mandelmilch hineingoß. Doch dis« pensiren zuweilen die Mütter selbst ihre Kinder vom Fasten. „Annuschka," heißt es, „meine gute Kleine, Du bist nicht wohl. Ich sehe es Dir an, ich werde Dir heute Fleischspeisen bestellen, Du brauchst nicht zu fasten." — „Werdet Ihr fasten in der ersten Woche?" fragen sich die jungen Leute unter einander. „Nein, Tante hat gesagt, es sei mit der letzten genug." — — „Juchhe! wir werden nicht fasten, Monsieur Pou-lin!" jauchzen sie ihrem Lehrer zu, „Tante hat es gesagt. Das ist auch recht gut! Es kommt doch m>hts dabei heraus, man kommt nur dabei herunter. Ach, Sie können gar nicht glauben, wie das Fasten anstrengt. Vorige Ostern nahm ich das Abendmahl, da bekam ich vierzehn Tage hindurch nichts zu essen als Oel, Mehl und Fisch und mußte alle Tage drei Mal in die Kirche, Morgens, Mittags und Abends. — Und dabei nun dieß ewige Stehen, Kreuzschlagen und Niederknieen, Sie haben keinen Begriff davon, wie mich das angriff! Aber bei der Nachtmahlzeit zu Ostern bei meinem 342 Die großen Fasten. Onkel Kyryll Maximowitsch war ich daher Hintennach auch nicht faul!" Nach einem nüchternen, allerlei betrübte Gedan« ken nährenden Fastenfrühstücke ist ein Spaziergang am ersten Fastenmontage zu dem schönen Admiralitatsplatze, wohin man nach alter Gewohnheit seine Schritte leitet, wahrhaft niederschlagend. Der ganze schöne Platz sieht aus wie ein Tanzsaal am Morgen nach dem Vall-abende. Alles ist mit Vudenruinen, die schnell wie der Schnee verschwinden, erfüllt, der Boden mit ungeheueren Quantitäten von Nuß- und Orangenschalen gepflastert. Die hundert kleinen Pferde, welche acht Tage lang unermüdlich dahin galoppirten, strecken alle vier Füße von stch, um in die Rumpelkammer geworfen zu werden; die geschmückten Schisse und Schaukeln, die gewandten Luftsegler, liegen gescheitert und zerschellt in großen Haufen, wie Brennholz über einander gepackt; die Eisenbahnen werden mit eisernen Stangen zerbrochen und poltern zersplitternd aus den Boden herab, und der lustsge Bajazzo! was ist denn dem passlrt? Ganze Tage lang machte er ja Scherze, als wäre seine Laune unerschöpflich, und nun sieht er zum Erschrecken vernünftig aus, schwitzt und keucht unter den weggeschleppten Vre-tern seines abgebrochenen Narrenpalastcs. Die Stimmen der so gefällig anbietenden Ausschreier sind stumm, sie überzahlen ihren Gewinn und berechnen sich mit ihren Lieferanten. Die Iswoschtschiks kommen auch noch aus alter Gewohnheit, die ihnen so viel Geld einbrachte, die Erbsen- Die großen Fasten. 343 straße und den Newskischen Prospect zum AdmiralitätS-platze heruntergefahren, stutzen aber übcr den grausiger Ruin und kehren um, in entfernten Stadtthcilen ihn Glück zu suchen. Alles schleicht, gähnt und zittert vor der Freudelosigkeit der sieben langen Fastenwochen. Die meisten der öffentlichen Vergnügungen, vor Allem Tanz und Schauspiel, sind innerhalb dieser Zeit völlig verpönt oder doch gezwungen, einen anderen Charakter anzunehmen. Assembleeen und Soireeen ohne Tanz und Maskerade treten an die Stelle der rauschenden Balle, und so wie die Kuhmilch in Mandelmilch, die Butter in Oel, die Braten in Fische sich verwandeln, so verwandeln sich die Schauspiele in öffentliche Decla-mationen und Improvisatorien, die Opern in Concerte, die Ballete in lMv^ux vivantg, die man dann hausig im Theater sieht. Die sieben Fastenwochen sind für den Vergnügungslustigen eine lange Nacht, in der nur die bescheidenen Sterne und der Mond leise schimmern dürfen, bis denn auf ein Mal aus dieser Nacht, gleichwie Apollo mit dem Viergespann, die helle Sonnender freudigen Ostertage hervorbricht. Die brillantesten Diademe auf dem Haupte, das welße Atlaskleid mit Rosen besetzt, derm jede einen schönen Diamanten wie einen Thautropfen im Kelche trug, die Finger von glühenden und glanzenden Steinen blitzend wie die der rosensingerigen Eos und die Handgelenke von goldenen Fesseln klirrend, orientalische Granaten, Weltaugen und große Diamanten auf den Gürtelbändern, so gingen die Petersburger Damen auf die Bälle der 344 Die großen Fasten. Butterwoche. Jetzt in den Fasten, wo die strahlenden Brillanten zu anspruchsvoll sind, schlingt sich nur ein« einfache Schnur ächter Perlen durch die Haare, beschei« dene himmelblaue Türkise verstecken sich hier und da im Schmuck der Vergißmeinnicht und Veilchen, und kunstvoll gearbeiteter, aber anspruchsloser Korallenschmuck ziert Arme und Hals bei den eleganten Soireeen, in denen Conversation und Gesang an die Stelle der Polonaisen und Contretanze treten. Die musicl ».enden Künstler haben dann ihre goldene Zett, und jeden Abend kündigt sich ein neuer Sänger oder Violinspieler mit Empfehlungen aus Wien oder Paris an. Im Theater übernimmt oft ein einziger Flötist oder Cellist, das zu thun, was früher hundert Priester der Thalia nicht vermochten, — das Petersburger Publicum zu amusiren. Ein angenehmes Vergnügen in der Fastenzeit sind in Petersburg die hübschen tndlLnux vivnnts, die man in den Theatern darstellt. Ich begreife nicht, warum man nicht auch außer der"Fasienzeit zu dieser vortrefflichen Unterhaltung greift, denn alle Wochen ein Mal gute lebendige Bilder zu sehen, müßte für Leute von Geschmack ein großcr Genuß und für die, welche dieß gern werden möchten, eine sehr nützliche Schule ftin. Die lebendige Bilder haben vor den Bildsäulen dasselbe voraus, was die Gemälde vor diesen, und vor den Gemälde» das, was die Bildsäulen vor jenen. Sie vereinigen die Lebendigkeit der Farben mit der Fülle der Formen und haben wieder vor den Pantomimen den Vorzug, daß sie, eine Idee Die großen Fasten. 345 festhaltend, ein tieferes Eingehen und eine größere Innigkeit des Genusses gestatten. Dabei ist es ergreifend, daß die Bilder wirklich auch selbst das Leben haben, welches sie erdichten. Es ist gerade so, als wenn Jupiter des Künstlers Gebot um Leben und Athem für sein Gebilde erhört hatte, und die Figuren eben im Begriffe waren, so schön, wie sie sind, in die Welt hin-einzutreten. In dem Letzten besonders liegt eben der ganz eigenthümliche Reiz, den die lebendigen Bilder auf den Beschauer ausüben, das heißt, vollkommen dargestellte, denn der geringste Fehler in der Beleuchtung oder Haltung macht hier natürlich leichter als sonst irgendwo den Zauber schwinden, der eben, weil er viel zauberischer als bei'm Schauspiele, bei den Pantomimen u. s. w., auch zerstörbarer ist. Dazu endlich trägt auch die Musik noch das Ihre bei, die Darstellungen zu verherrlichen und zu interpretiren. Die Einförmigkeit der Fasten wird nur dann und wann durch die Feier eines Heiligen, dessen Namenstag in diese Zeit fallt, unterbrochen. Glücklich der Heilige, dessen Tag in die Fasten fallt l Er kann an seinem Tage immer aus zahlreichen Besuch rechnen, doch darf er sich nicht zu viel darauf einbilden, denn man kommt zum Theil doch nur zu ihm, weil man eben keine andere Ressource kennt. Glücklich auch das Kind, das wahrend der Fasten geboren wird, denn es kann darauf zählen, daß sein Geburtstag bis in sein achtzigstes I'chr mit Glanz und zahlreicher Versammlung gefeiert wird, anfangs von den Aettern, dann von den Ge- 15'* 346 Die großcn Fastcn. schwistern und Schwägern und nachher von den Kindern und Enkeln, denn da die Familienfeste etwas Unschuldiges sind, das zum Ernste der Fasten paßt, so widmet man sich ihnen zu jener Zeit ganz besonders und sucht sie so glänzend als möglich zu machen. Der Palmenmarkt. ,,Llebe Kinblein, ' „Kaufet ein! ,,Hier ein Hündlein, ,,Hier ein Schwein, „Tr»!umel imd Schlegel, „Cin Reitpferd und Nägel, ,.Kugeln und Kegel, „Kästchen und Pfeif«, „Kutscher und Läufer, „Ist Alles diein. „Kindlein, kauft ein!" Die größte und erwünschteste Unterbrechung erfahrt aber die Eintönigkeit der Fasten durch den Palmensonntag und die Tage, die ihm unmittelbar vorausgehen. Die hübschen Feste und Veschenkungen der Kinder nämlich, die wir mit der Weihnachtsfeier verbinden, haben die Russen — nur auf etwas andere Weise — mit dem Palmensonntage verknüpft. Wie man beim Weihnachtsfeste darauf kam, am Geburtstage des schönsten und reinsten der Kinder diesen eine Freude und sie selbst zum Mittelpuntte des Festes zu machen, ist leicht begreiflich. Vei'm Palm«,so,mtage hangt die Sache vielleicht so zusammen. Um die Vorfälle bei'm Einzüge Christi in Die großen Fastm. 34? Jerusalem, bei dem ikm das Volk mit Palmen entgegenkam, in recht lebendigem Andenken zu erhalten, stellte man diesen Zltg selbst in einer Procession dar, bei der man statt der Palmenzweige solcher Ruthen und Zweige sich bediente, die das Land bot. Die Palmen waren freilich bei dem Einzüge Christi nur ein Nebending und ein bloßes Zeichen der Freude des Volks über Christi Ankunft, allein die späteren Christen nahmen ja oft bei solchen Gelegenheiten daS Zeichen der Sache für die Sache selbst, nannten den Sonntag nicht, wie es hatte vernünftiger Weise sein sollen, „den Sonntag des freudigen Einzuges," sondern „^Voi-Imo^« VVo^Ki-««««»!^' (Ruthen- oder Zweigesonntag). Das Volk fand eine Freude daran, sich mit Zweigen zu schmücken, und fing an, nach und nach Spielerei mit ihnen zu treiben, und besonders thaten dieß die Kinder, denen man auch wohl ein Mal einen Scherz mit den Ruthen gestatten mochte, welche so oft sonst Ernst mit ihnen machen. Hierzu kam, daß die Zweige, welche die nordische Natur in dieser Jahreszeit bot, sehr wenig den grünen frischen Palmen« zweigen gleichen, mit welchen daS Volk Jerusalems bei seiner Procession sick) schmücken konnte. Es mischte sich daher die Phantasie hinein und suchte der Dürftigkeit der Natur durch Kunst nachzuhelfen, schuf künstliche Palmenzweige, Blatter und Blüthen, und dieser bemächtigten sich insbesondere die Kinder. Es wurde ihnen dann noch manches andere niedliche Geschenk beigefügt, und so wurde aus dem Palmensonntage ein großes Zweige-, Blumen-, Blüthen- und Kinderfest. 348 Die großen Fasten. Schon mehre Tage vor dem Palmensonntage ist daher in Petersburg Alks, was Phantasie und kein Geld hat, beschäftigt, niedliche Geschenke zu ersinnen und zu verfertigen, die Kindern, welche Geld haben, gefallen könnten, und am Donnerstage vor jenem Sonntage beginnt alsdann die heitere und belebte Blumen- und Spielsachenausstellung selbst. Der Schauplatz dieses reizenden Fastenjahrmarkts sind die Arkaden des großen Gostinnoi-Dwors (Ba» sars) an der Newskischen und Gartenstraße, sowie auch diese Straßen selbst. Hier wird nun Alles in großer Fülle aufgestellt, was dem Auge von Kindern gefallen und nur auf irgend eine Weise mit den Ruthen, mit dem Palmensonntage oder mit Ostern in Verbindung gebracht werden kann, zuerst und vor allen Dingen die Ruthen selbst, welche die Bauern in großen Quantitäten, in Bündel gebunden, zur Stadt führen. Es giebt große, machtige Ruthen, fast wie junge Baume, und ganz kleine, deren hundert in ein Bündel gehen, auf die verschiedenen Grade der Frömmigkeit berechnet; denn wenn der alte, streng rechtgläubige Vater einen ganzen Baum kauft, den er in der Kirche einsegnen laßt und nachher hin« ter seinem Heiligenbilde aufpflanzt, so nimmt sein mo-dernlsirter Sohn nur ein schwaches Neislein, das ihm nachher beim Spiele wie eine Reitpeitsche zerknickt An diese natürlichen Zweige schließen sich zunächst die künstlichen Palmen, welche die Kunst, um der Armuth des nordischen Aprils zu Hilfe zu kom< men, mit einem Rcichthume ausgeschmückt hat, wie wohl Die großen Fasten. 349 keine Natur, selbst nicht die des üppigsten Südens, es vermöchte. Den kahlen Zweigen sind große und kleine Blätter aus Papier angefügt, und aus dem Grün derselben blühen prunkende Blumen hervor, theils nach der Natur copirt, theils von glühender Phantasie ersonnen. So stellt sich ein Zweig als Lilienstengel, ein anderer als gigantisches Tulpendouquet, ein dritter wieder als Ricsenhyacinthe dar. Viele auch bilden Fruchtzweige, an denen alle schönen Früchte der Levante, aus Wachs bossi'rt, hängen. Oben auf dm SpilM der Zweige sitzen meistens ein paar kleine Vögel «nis Wachs, und ein wächsernes Engelchcn ist gewühlich mir einem seidenen Vande an den Stamm gebunden; auch sind sie sonst noch geschmückt und behängen wie unsere Weihnachtsbaume. Solche Zweige kaufen sich nun die Kinder, die in ihren zierlichen Pelzen oder in silberbordirter Tscherkessenkleibung mit ihren Bonnen, Aeltern, Lehrern und Bedienten unter den Arkaden herumspazieren. An die gemachten Blumen schließen sich die natürlichen, die, aus den reichen Gewachshäusern Petersburgs herbeigeschleppt, in großer Menge dargeboten werden. Man sieht hier Zentifolien, Moosrosen, Veilchen, Hyacinthen, Orangen- und Citronenbaume und Bouquets aller möglichen Blüthen; denn während die Klcinen sich mit den großen Palmenzweigen schleppen, wollen doch die älteren Schwestern und die französische Gouvernante auch nicht leer ausgehen und kaufen sich lieber ein Sträußchen, welches duftet und ihnen gleicht. Doch mit Blumen allein speist man die Jugend 350 Die großen Fasten. nicht ab, und es bedarf mehr, um ihr ein F^st zu bereiten. Daher stellen sich denn auch, zwischen den Blumenhändlern zerstreut, noch viele Spielwaarenuerkaufer auf, welche die ganze grosie Welt der Häuser, Paläste und häuslichen Geräthschaften in künstlichem Mikrokosmos feilbieten, so z. B. Wagenhändler mit allen Equipagen der russischen Remisen, auf's Treueste — bis zur genauesten Copirung jedes Nagels und jeder Kette — in Holz und Eisenblech nachgebildet, welche die Droschken, Vritsch-ken und dreschen der Reichen wie die PawoSken der Fuhrleute ausbietcn, Glasarbeiter, die in Glas und Porzellan alle Gefäße der russischen Hauswirthschaft für die Mädchen feil haben. — Die Leute gehen weit für's Geld und machen selbst von Diminutiven Diminution, denn in der nachgebildeten kleinen Stube, in der die Mutter am Bureau schreibt, sitzt selbst auch die kleine Tochcer am Ofen und spielt mit ihrem niedlichen Spielzeuge, der neugeschcnkten Stube. Die Russen haben «in ganz besonderes Talent, kleine possierliche Dinge, die weiter keinen Werth haben, zusammenzustücken. Hausig sieht man die russischen Bedienten und Kochjungen schnitzeln und hämmern und irgend ein kleines unbrauchbares, aber ergötzliches Mascnin-chen verfertigen. Aus den erbärmlichsten Materialien dcr Welt, aus Stroh, Holzschnihelchen, Eis, Kuchenteig, wissen sie gleich etwas, zu gestalten. So sieht man denn auch auf dcm Palmenmarkte alte Soldaten mit allerlei Mühlen- und Klapperwerken, die bei dcr Umdrehung der Nader sich in die lebendigste Bewegung setzen, her- Die großen Fasten. Z5I umziehen. Ein alter verabschiedeter Marinesoldat trug eine vollständige Fregatte auf dem Kopfe; sie hatte ausgespannte Segel und war so groß, daß es aussah, als segelte sie mit ihm am Schlepptau fort. Ein anderer ausgedienter Soldat schien weniger seine kriegerischen als seine noch alteren friedlichen Erinnerungen aus der Jugendzeit von seines Vaters Hause her zu lieben, denn er hatte einen ganzen russischen Bauernhof mit allem Zubehör aus Holz und Stroh nachgebildet. Auf dem Hofe arbeitete ein Mann an ein^m Schlitten, vielleicht sein alter Vater, vor der Thüre stand eine alte Frau, wahrscheinlich seine Mutter, mit dem Wassereimec zum Brunnen zielend, und unter den Kühen im Stalle saß ein junges Mädchen, sicherlich seine Schwester. Sehr gewöhnlich bemühen sich diese Leute auch, die Kirchen darzustellen mit allen den Kuppeln, Thürmchen, Kreuzen und Ketten,' welche dem Aeußeren einer russischen Kirche eigen sind. Die Kirchen beschäftigen überhaupt die Phantasie des religiösen Russen fast bestandig, und wenn wir vielleicht müssig mit einem Stückchen Krewe einen Namenszug oder sonst einen Schnörkel an die Wand malen, so zeichnet der Russe eine Kirche. Man sieht ganz Jerusalem, mit Palmenhaincn umgeben, künstlich dargestellt, und dazu die einziehende, mit Palmen geschmückte Volksmenge. In den Familien erfinden die Diener mancherlei Dinge in dicsem (^eme und verehren sie ihrer jungen Herrschaft, und was der geschickte Lakai in Pappe macht, das führt der Koch in Zucker aus. Die reichen Onkel und Pathen ftnde» zu diesem Feste ihren Niöcen 352 ^ Die großen Fasten. und Taufkindern zuweilen Palmenzweige, die so brillant ausgeschmückt sind, daß sie mehre hundert Thaler an Werth haben. An solchen Zweigen erscheinen dann die Wachsengel golden, die Blätter silbern und die sonst hohlen Früchte mit Geschenken angefüllt. Die Arkaden des Petersburger Vasars sind groß und geräumig, und daher finden noch manche andere Verkaufer hier Platz, Conditoren, Kuchenbäcker, Galanterieladen, Heiligenbiloewertauscher*) u. s. w. Letztere habeN eine Menge von Amuleten, Gemälden und Kreuzchen in allen nur erdenklichen Größen, Formen und Stoffen, und wenn Einer auch kein gewichtigeres Kreuz auf sich nimmt, so steckt er sich doch ein Honigkuchenkreuz ein, das er aufspeisen kaun, wenn es ihm zu schwer wird. Orientalen und Griechen giebt es in Menge, die orientalische Scherbets und Constantinopolitanische Confecte feil haben. Der Gypssigurenhandler kommen hier mehr zusammen als auf den Markten ihres italienischen Vaterlandes. Vei einem derselben sah ich eines Morgens ein höchst sonderbares Rencontre. E« sprachen zwei Bediente zusammen, der eine hatte einen Korb mit Papierschnitzeln, aus denen ein Gypsfigur herausguckte, es war eine Nachbildung der Rauch'schen Vüste von Göthe mit den Handen auf dem Nucken; der andere Bediente hatte eben für seine, Herrschaft einen Napoleon in Gyps gekauft — nebenbei *) Die Heiligenbilder dürfen die Russen bekanntlich nicht verkaufen, sondern blos vertauschen, aber auch gegen Geld. Die großen Fasten. 35g gesagt, eine bis an die Gränzen Chinas, durch ganz Kau-kasien und Sibirien hindurch sehr fashionable Figur, die bei den russischen Offizieren den beßten Absatz findet. Da der Bediente seinen Napoleon im Arme hielt und, wie denn selbst die geringen Russen stets voll Compliments aeaen einander sind, einen Bückling über den anderen machte, die natürlich auch der Napoleon mitmachen mußte, so sah eS gerade so aus, als wenn Napoleon den Göthe becomplimentirte, der sich vor ihm in den Papierschnitzeln bis an das Kinn versteckte. Für Napoleon war es wohl gut, daß er auf dem Palmenmarkte nur in Gyps er» schien, denn er hätte sich sonst gewiß entschieden gelangweilt; aber Göthen hatte ich dieß Schauspiel einmal bei seinen Lebzeiten gewünscht, er würde sich in Mitten dieses bunten Allerlei recht behaglich gefunden haben und hatte gewiß in seinem Reiseberichte ein reizendes Bild davon gegeben. Manche Buden waren blos den Engeln gewidmet» ich sah z. V. eine, die einen ganzen Himmel voll Engel, aus Wachs bossirt, enthielt, in deren Attitüden und verschiedenartigen Beschäftigungen sich sehr viel Phantasie aussprach. Einige ruhten auf wächsernen Wolken, an--dere scherzten unter Gebüsch, und ein drittes Pärchen lag friedlich in der Wiege. Außer Göthe sah ich keine Dichter, aber außer Napoleon noch einen Kaiser. Denn der Palmenmarkt ist wiederum ein solches Volksfest, an dem alle Klaffen der Gesellschaft Petersburgs Theil nehmen und das daher auch der Kaiser durch seine Gegenwart zu verherr- 354 Die großen Fasten. lichen für Pflicht hält. Er erscheint, wie alle seine Unterthanen, mit seiner Familie auf dem Palmenmarkte und führt seine Sohns und Töchter selbst darauf herum. — Denkt man sich nun einen schönen, heiteren Tag, wie selbst der Petersburger April sie doch auch schon zu Zeiten herbeiführt, über all diesen geschmackvollen Tand und über diese große Versammlung gewichtvoller und unwichtiger Personen aufgehen, so muß man gestehen, daß ein solcher Spaziergang zu den angenehmsten Genüssen dieser Art gehört, und daß unter allen d«n Gestirnen, die am Petersburger Freudenhimmel Jahr aus, Jahr ein ihren Kreislauf vollenden, dieser Palmennuirkt eines der heitersten und freundlichsten ist, der eigentliche Mond der Fastennacht. Nie übrigens das ganze Osterfest nicht blos als Denkfest an die Auferstehung des Heilands, sondern auch als großes Frühlingsfest nach Beendigung des Winters zu betrachten ist, eben so giebt auch dem Palmensonnwge der Ruffe, wenigstens der Bauer, noch eine besondere Bedeutung, indem er die Einsegnung der Zweige gleichsam als Einweihung seiner Baume betrachtet, in denen nun schon wieder der Saft arbeitet und die Gewürze der Früchte sich vorbereiten. Am „Werbnoja-Subdota" (dem Palmensonnabend) wird nun zur Nachahmung des Einzuges Christi ein großer Umzug gehalten, und alles Volk, mit den gekauften oder selbst geschnittenen, nackten oder geschmückten Zweigen in der Hand, strömt unter Gesängen nach. In der Kirche werden dann alle Zweige geweiht, d. h. Die großen Fasten. 355 die Priester bespritzen Zweige und Zweigträger mit geweihtem Wasser und sprechen den Segen dazu, die Meisten nehmen ihre Zweige alsdann wieder zurück, und bis spat am Abende sieht man noch die Leute mit den Palmen umherspazieren, ganze bezweigte Gruppen; Vater, Mütter und Kinder tragen alle geweihte Zweige in der Hand, sowie die Lakaien, die hinten gehen, ja selbst dem Säuglinge auf den Armen der Amme wird ein geweihtes Reislein in die Hände gegeben. Die Buben aber kommen aus den Kirchen heraus und wissen mit ihren Ruthen natürlich nichts Anderes anzufangen, als sich tüchtig damit herumzuprügeln. Viele Frommen lassen aber ihre Zweige noch bis zum Sonntag Morgen in der Kirche, wo sie dieselben dann vor ihren Heiligenbildern aufstellen. Viele befestigen sie auch zu Häupten ihrer Betten und ruhen eine Zeit lang die Nachte im Schatten der geweihten, blattlosen Palmen, denen sie allerlei heilsamen Einfluß zuschreiben. So die Frommen. Die schlimmen Kinder dagegen legen ihre Ruthen sorgsam zu sich in's Schlafzimmer und freuen sich schon im Stillen auf den Gebrauch, den sie am morgenden Tage, dem Patmensonntage, davon machen werden, an dem es eine allgemeine russische Sitte ist, die Langschläfer mit den Ruthen zu bestrafen. Die Knaben und Madchen sind so gespannt, daß sie die Hälfte der Nacht nicht schlafen, um sich gegenseitig früh Morgens, so wie der Tag graut, zu überraschen; sie rotten sich in kleinen Banden zusammen und schleichen in ihren Moc-genklcidern durch das Haus, und wen sie im Bette 356 Die großen Fasten. finden, den schlagen sie unter Scherzen und singen dabei den Vers: „Werkn, Iilttt! „Mol lla lUil»! (Die Ruths schlägt, schlagt zu Thränen! — Ich schlag' Dich nicht! Die Ruthe schlagt!) Diese Sitte des Ruthen-gebens ist in ganz Rußland gang und gäbe, und die kleinen Prinzen im kaiserlichen Palais l>,lten darauf eben so streng wie die Söhne der Unterthanen. Am Morgen des Palmensomttags ist eine Messe, die im Ganzen wenige Leute besuchen, weil sie dieselbe gewöhnlich verschlafen. Jene sonderbare Anwendung der Palmenruthen soll man nur dazu in Schwung gebracht haben, um die zu bestrafen, welche diese Messe versäumten. Die Ostereier. „Unter Schneegestöbers Flocken. „Wuchst du mir was Hübsches auf." Die Eier spielen bei'm russischen Osterfeste eine sehr bedeutende Rolle; man beschenkt sich damit gegenseitig, man ißt sie fleißig und stellt Spiele mit ihnen an. Solche Städte wie Moskau und Petersburg verbrauchen daher ungeheuere Quantitäten von Eiern. Moskau versorgt sich damit aus seiner bevölkerten und hühnerreichen Umgegend. Petersburg, das in einer menschen- Die großen Fasten. I57 und hühnerloscn Einöde liegt, muß sich dm größten Theil seiner Eier aus weiter Ferne verschaffen und unterhält namentlich mit Moskau «inen lebhaften Eierhandel, der ihm besonders zu seinen Osterbedürfnissen große Sendungen überliefert. Man kocht die Eier hatt ab und färbt si« in der Regel roth; alle Buden sind mit großen Quantitäten solcher Eier gefüllt, deren Verschleif sehr bedeutend ist. Nach einer sehr mäßigen Berechnung werden in den letzten Tagen der Fasten in Petersburg wenigstens drei Millionen Eier verkauft, und für den ganzen Oster-verbrauch der Sladt lassen sich zehn Millionen als Minimum nachweisen. Da es Sitte ist, um Ostern jedem Bekannten bei'm Gruße ein Ei in die Hand zu drücken, so verbraucht mancher Einzelne zuweilen ein paar hundert Eier. Nichts ist amüsanter, als in der Fastenzeit zu den verschiedenen Markten und Buden zu gehen, wo alle die hübsche, bemalte Waare verkauft wirb. Die Nüssen haben eine große Uebung darin, sie geschmackvoll zu verzieren; sie versehen die rothen Eier mit vielen weißen Schattirungen nach hundert verschiedenen Mustern und schreiben auch Verschen darauf, meistens freilich nur einfach die große Oster-Nedensart: „ck,-i5w1,8 nolskrols!" (Christ ist erstanden!), aber auch andere, z. B.: „Dieß Prasentchen gebe ich Dem, welchen ich liebe," oder: „Nimm, iß und denk' an mich," und bergl. mehr. Natürlich sind die Reichen nicht bei diesen einfachen, mit Vcasilienholz gefärbten Hühnereiern stehen geblieben, sondern sie haben sich dieser hübschen Idee des Eier- 358 Die großen Fasten. schenkens bemächtigt und zum Theil Zierlichkeit damit verbunden, zum Theil eine gewisse Bedeutsamkeit hineinzulegen versucht. So ist denn jetzt fast kein Stoff zu nennen, aus dem man in Petersburg nicht geschmückte Ostereier darstellte. In der kaiserlichen Glasschleifer« fanden wir in der Fastenzeit zwei Säle mit Arbeitern ausschließlich damit beschäftigt, hübsche Blumen und Figuren in krystallene, gefärbt« und ungefärbte Glaseier einzuschleifen. Diese zum Theil prachtvollen Krystalleier sind für den Hof bestimmt, wo der Kaiser und die Kaiserin damit Geschenke an die Großen machen. Da diese oft viele solche Eier bekommen, so verschenken sie dieselben wieder an Lieblinge und Hausfreunde, die sie nächste Ostern gelegentlich wieder irgendwo anders ver-ehren, und so wandern denn diese Eier oft wunderlich umher. Mir ist die Geschichte eines solchen Eies speciell bekannt, das aus dem Inneren des kaiserlichen Palastes durch hohe und niedere Hände endlich bis an's schwarze Meer verschlagen ward, wo es der letzte Besitzer (ich selbst) auf einen Stein fallen ließ und die Scherben in's Meer warf. Die Petersburger Porzellanfabrik bleibt im Eierlegen nicht hinter der Glasschleiferei zurück und produ-cirt eine Menge großer und kleiner Eier, die mit Gemälden, Vergoldungen und zierlichen Bandschleifen, damit der glückliche Beschenkte sie zum Andenken in seinem Zimmer aufhängen könne, versehen und an Jedermann verkauft werden. Besonders nett ist die Arbeit der Wachsbossirer Die großen Fasten. ZÜ9 und Conbitoren, welche die Idee des Eies zu erschöpfen suchen, und in hübschen Kästchen an einander gereiht, sieht man in der ganzen Fastenzeit bei jhnen wächserne und weißzuckerne Eier in allen Größen, vom kleinsten Nachtigallenei an über das Tauben- und Hühnerei hinaus bis zu den Eiern der Schwane und Strauße hin. Die Bemalungen und Verzierungen dieser delicate« Eier sind äußerst manchfaltig, und die Verkäufer überbieten sich gegenseitig in hübschen Einfällen, um dem Publi-cum zu schmeicheln. Manche Eier erscheinen in Dosen« form als Vonbonii'ren oder Behälter sonstiger Geschenke. Es werden bei dieser Gelegenheit oft sehr reiche Geschenke in schlichter Eierschale verborgen, und bei vielen dachte ich an die delicaten drei Goldeier, die in dem Musaus'schen Märchen der Adlerprinz dem Wunderkinde Reinhold hinterließ. Manche sind durchsichtig und lassen als Dotter ein niedliches Vlumenbouquet durchschimmern, wieder andere sind vorn bei der einen Oeffnung mit einem Vergrößerungsglase versehen und zeigen alle die kleinen Hauserchen und Baumchen, die sie, aus Wachs bossirt, enthalten, in wunderbarer Vergrößerung; viele enthalten Heiligenbilder, andere bilden Wiegen, in denen kleine Engel auf zierlichen Rosen schlafen. Vei den Papparbeitern bestellt man grosie Riesencier aus Goldpapier und überschickt sie, mit ganzen Ladungen von Confitüren gefüllt, den Freunden und besonders wohl den Freundmnen. Von Petersburg aus wird in der Fastenzeit ein großer Handel mit diesen geschmackvollen Eiern nach dem Innern getrieben, und während es die 360 Die großen Fasten. rohen Geburten des Huhnes von dorther bekommt, giebt es zum Ersatz die feinen Products der Zuckerbackereien u. s. w. zurück. Die drei letzten Tage der Charwoche. .6 „Ich sehe schon, wie sie sich schaaren, „Sich singend sondern, betend paaren, „Vertraulich schließt sich Chor an Chor „Herein, hinaus, stets unverdrossen." Die besonderen Feierlichkeiten des russischen Grün« donnerstages bestehen nur darin, daß am Abend nach der Messe aus den vier Evangelien die Ereignisse des Tages vorgelesen werden. Der vorlesende Priester steht dabei m der Mitte der Kirche bei einem Pulte, an dem drei Lichter brennen. Die Kirchen sind gewöhnlich gedrangt voll, und alle Mitglieder der Gemeinde haben brennende Wachskerzen in der Hand, weßhalb denn die Kirchen ungemcin heiter aussehen. Bei diesen Kerzen sparen die Armen keine Kosten, sie sehen etwas darein, sich recht dicke zu kaufen, und man sieht ganz arme Burschen oft mit zierlich vergoldeten Wachskerzen, für die sie einen, auch zwei Rubel bezahlt haben, und die sie dann mit einer gewissen Selbstgenugthuung vor sich hinhalten. Diese Lichter brennen den ganzen Grünbonnerstag Abend, am Charfreitage aber werden sie aus» gelöscht und dann erst wieder in der Mitternachtstunde der frohen Osternacht angezündet. Die Straßen der Städte und Dörfer, die an anderen Tagen sonst gewöhnlich keine Erleuchtung haben, sind dann von allen D,'e großen Fasten. 361 den vielen umherirrenden Lichtern, die von einer Kirche zur anderen eilen, recht unterhaltend illliminirt, und damit die Lichter unterwegs nicht verlöschen, was als ein schlimmer Unfall betrachtet werden würde, so machen die Leuts sehr geschickt kleine Papiertaternen um die Kerzen. Dm Charfreitag, an welchem wir doch mit Recht durch den feierlichsten Ernst und die andächtigste Stille in die Wichtigkeit der Ereignisse dieses Tages tief einzugehen suchen, und für den wir besonders erhebende Gesänge und einen völligen Stillstand aller weltlichen Geschäfte herbeiführen, feiern die Russen noch weniger als die Katholiken. Die russische Kirche wirft sich wie die katholische mit allen ihren Feierlichkeiten und symbolischen Handlungen auf den Ostersonntag, wo dann die Auferstehung als die Hauptsache betrachtet wird, wahrend für den denkenden Christen wohl ohne Zweifel der Charfreitag höher stehen sollte, da es eben an diesem Tage war, wo Christus durch seine größten Leiden und seinen Tod die Herrlichkeit seiner Lehre bethätigte, der Sache des Christenthums hie größte Weihe gab und dieser Religion ihren ganzen eigenthümlichen Charakter des Entsagens, Duldens und Märtyrerthumes aufdrückte. Die Nüssen übersehen dieß, und man karoßt in Petersburg am Charfrei-tage eben so lebendig umher wie an anderen Tagen, ja jener oben beschriebene Blumenmarkt zeigt eben an diesem Tage vorzugsweise das munterste Treiben. In der Kirche geht weiter nichts vor ^ils die Errichtung eines Tabernakels, welches in der Negel ein Kohl. Petersburg. II. 16 362 Die großen Fasten. bloßer Kasten ist, der auf ein Postament gestellt und mit Teppichen bedeckt wird; auf der oberen Seite des Tuchs ist der Leichnam des Erlösers eingewirkt, gestickt, gemalt oder mittels einer halb erhabenen Polsterung bar-gestellt. Dieses Tabernakel steht nun den Freitag und ganzen Sonnabend hindurch bis zur Ostermitternacht da, es brennen dabei nur so viele Kerzen in den Kirchen, als eben nöthig sind, damit man sich darin zurecht finden könne. Die Thüren der Kirchen stehen immer offen, und eS gehen nun die Frommen ein und aus, um die Wunden des Leichnames zu küssen. Die geringen Leute verrichten das Kreuzschlagen, Niederwerfen und Küssen mit großer Andacht und unter beständigen Seufzern aus tiefer Brust, und man müßte an die schandlichste Heuchelei und Verstellung glauben, wenn man dieß Alles für Schein und Gaukelspiel halten wollte. Gewiß nehmen Viele den innigsten Antheil an den Lei' den, die der Heiland für sie gelitten, und sind von der tiefsten Betrübniß über seinen Tod ergriffen. Kein Priester hat ihnen gelehrt, so betrübte Gesichter anzunehmen, so die Mienen zu andachtigem Ernste zu falten und so aus tief verwundeter Brust zu seufzen. So rührend bei den Armen zuweilen diese untrüglichen Zeichen der Frömmigkeit sind, so komisch und naiv erscheinen oft die Andachtsübungen der vornehmen Damen, insbesondere derjenigen aus der unteren vornehmen Klasse, denn die Anderen haben zu viel Welt und Tact, um komisch zu sein. Jene Damen, die Frauen reicher Kaufleute oder Gutsbesitzer aus der Pro- Dle großen Fasten. 363 vmz, fahren den ganzen Sonnabend in hübschen Equipagen von einer Kirche zur anderen, um in ihnen mit derselben Selbstzufriedenheit ihre Visiten zu machen, wie sie dieselben 24 Stunden spater am Ostermorgen in den Palasten machen werden. „^Ulonclex, mn okör«!" sagen sie zu ihrer Gesellschafterin, die in einiger Entfernung stehen bleibt und in ihrem französischen Köpfchen ihre besonderen Gedanken hat, wenn sie nun sieht, mit wie wohlgefälligem Lächeln sich ihre Patronin dem Tabernakel nähert und sehr höflich, artig und freundlich unter Beistand des Lakaien ihre Verbeugungen und Küsse vollendet. Sie macht so die Runde bei allen Kirchen, bekommt es aber doch nach einiger Zeit überdrüssig, sagt: „3kul8cl>n<>!" ses ist langweilig!) und fahrt nach Hause, um für die große Morgen- oder Mitternachtsmahlzeit, die in der Osternacht in ihrem Hause statthaben wird, die nöthigen Vorkehrungen zu treffen. Denn, Gott sei Dank, die öligen Fischfasten sind nun vorbei, und es duftet und dampft schon wieder in oer Küche von allerlei lieblichen Fleischgerüchen, die ein frohes Osterfest ahnen lassen. 165 Das O st e r f e ft. „Reber sonnt sich heute so gern, ,,Sie feiern die Auferstehung des Herrn, „Denn sie sind selber auferstanden ,,Aus niedriger Häufer dumpfen Gemächern, „Aus Handwerks- und Gewerbesbanden, „Aus dei Straßen quetschender Enge, „Aus der Kirchen «hlwürdigem Btrahl." Die Dsternacht. c>)n den letzten Tagen der Fasten wurden die Erwart» ungen auf's Höchste gespannt. Am Sonnabend vor Ostern fallt das Thermometer religiöser Begeisterung unter Null. Gesänge, Illumination, Glocken und alle übrige Pracht des Gottesdienstes ruhen. Die Menschen sind völlig matt und entnervt von dem vielen Niederknieen und dem Anhören der langen Vorlesungen *). 5) In den russischen Kirchen, sowohl in den öffentlichen, als auch in den Privatkapttlen, befinden sich nirgend Stühle oder Bänke zum Sitzen, und der ganze Gottesdienst wird Das Osterfest. 365 Viele haben in den drei letzten Tagen keinen Bissen zu sich genommen und sind halb verhungert. Die Kirchen sind dunkel wie die Gräber. Den ganzen Sonnabend Abend dauert noch jenes Herumwandern von einer Kirche zur anderen fort. Priester zeigen sich an diesem Abende vor Mitternacht gar nicht. Cs ist Sitte, daß Einer aus dem Publicum das Vorlesen aus dem Evangelium selber übernimmt. Zu diesem Behufe ist ein Pult mit einer aufgeschlagenen Bibel mitten in der Kirche aufgestellt. Da treten nun Leute aus dem geringen Volke heran, die slavonisch buchstabiren können, leuchten sich, «ine brennende Wachskerze in der Hand, selber zum Lesen und tragen so lange aus der Bibel allen Denen, die zuhören wollen und sich um sie herumstellen, vor, bis sich ein Anderer meldet, der sie ablösen will. Ich muß gestehen, daß apßer dem schönen Kkchengesange diese Lectüre des Ostersonnabends derjenige Gebrauch der russischen Kirche war, der mich vor allen anderen am meisten erbaute und wahrhaft ergriff. Als ich am Ostersonnabend 1^37 meine Tour durch die Kirchen der Residenzstadt machte, fand ich in der Kirche Spaß--Preobrajenskoi einen alten nar- immer stehend oder kmceno angehört. Nur sehr selten erlaubt sich einmal eine vornehme ältere Dame, genen Pnoatkapelle einen Stuhl hersetzen zu lassen. Selbst der Kaiser hdrt den Gottesdienst stehend an. 38kl Tas Osterfest. bigen Soldaten in seinem grauen Kittel bei'm Pulte stehen, seine Wachskerze in der Hand und laut das Evangelium vorlesend. Rund um ihn herum standen viele Kinder, die ihn unverwandt anblickten und eben so andachtig mit gefalteten Handen zuhörten wie die Erwachsenen.— In der Panteleimons-Kirche fand ich einen eben so frommen Kreis um die einsame Wachskerze eines langdartigen ehrwürdigen Alten versammelt, der sich die beßte Mühe gab und mit zitternder Stimme, schwachem Tone, aber mit großer Aufmerksamkeit und Andacht die Geschichte der Leiden des Erlösers vortrug. Alte Frauen, junge Mädchen, Kinder und Burschen standen in den theilnehmendsten Gruppen um ihn herum, während weder sie, noch er sich irre machen ließen durch die vielen zum Kuß des Leichnams Aus- und Einziehenden. — Ich konnte mich nicht sattschen an diesen pittoresken Scenen und fand sie in allen Kirchen gleich erbaulich und zum Herzen sprechend. Es ist nur Schade, daß die Priester nicht öfter daS Heft aus den Händen geben und nicht hausiger das Wort Gottes von den einfachen frommen Mitgliedern der Gemeinde verwalten lassen. Die Religiosität könnte dabei nur gewinnen. Alle Priester ohne Ausnahme erlangen durch die tag» liche Uebung derselben Dinge eine große handwerksmäßige Geschicklichkeit, mit der sie dann den Dienst Gottes verwalten, und verrichten selbst das Wenige, was mm bei ihren gottcsdienstlichen Handlungen zum Herzen dringen könnte, mit einer so gleichgiltigen Gewandtheit, daß ihm dadurch alle Wirkung genommen wird. Das Osterfest. 367 Dagegen ist die Rührung und Theilnahme des Vorlesers aus dem Volke bei dem, was er liest, sichtbar und ungeheuchelt, und die frommen Sprüche und Lehren gehen unmittelbar in die Herzen über, da sie unmittelbar aus ihnen kommen. Selbst der Umstand, daß nicht gewandt und fertig gelesen wird, ist nicht störend, vielmebr im Gegentheil noch die Andacht fördernd. Wenn der alte ehrwürdige Vorleser bei einem Worte anhält, das Auge und das Licht näher bringt, so horchen auch die Zuhörer, ihre Aufmerksamkeit scharfend, gespannter auf, und kommt bann das richtige Wort stark betont hervor, so verfehlt si8lo!l3 nulskrels" wiederholen. Eben so begrüßen sie die einzelnen Gruppen der Andachtigen, nur statt der Verbeugung den Segen gebend. Diese sind sich unterdessen in die Arme gefallen, und Altes, was sich nur im Entferntesten kennt, schüttelt sich die Hand und küßt sich den Mund. „c!,i-i-8!ul>» ^o^icrc^!" sagt dabei der Eine, und „^Vui'ztinno >vulljlirols!" (Er ist wirklich und wahrhaftig auftrstan- 16" 970 Das Osterfest. den!) antwortet der Andere. Diese letzte Redensart scheint buchstäblich die Worte zu enthalten, die ohne Zweifel vor 2000 Jahren die zu Christi leerem Grabe eilenden Jünger sprachen, und führt lebhaft die Verwunderung und den Aufruhr der ersten Christen vor Augen, von denen sie unmittelbar übertragen worden ist. Die Gesänge der Priester und ihre Functions« dauern indeß noch fort. Sie haben sich auf ihrer Bühne auf dieselbe Weise wie das Publicum umarmt, und nun stellt sich der Bischof, Metropolit oder sonstige erste Priester der Kirche mitten vor dcm Ikonostase an die Galerie desselben und giebt allen Mitgliedern der Gemeinde, die nun eines nach dem anderen nahen, einen Kuß und seinen Segen mit dcn obigen Worten.- Christ ist erstanden! u. s. w. In demselben Momente, wo im Inneren der Kirche der Gesang: „(üiriljtollg ^vols-Krels" ertönt und die tausend Lichter der Gemeinde sich entzünden, werden die Kirche und die Thüren von außen eben so illummirt, und die Glocken der ganzen Stadt ertönen aus ein Mal. Sie werden in dieser Nacht, so wie während der ganzen darauf folgenden Dsterwoche nicht von Kirchendienern, sondern von Leuten aus dem Volke selbst in Bewegung gesetzt, die sich auf den' Glockcnthürmen drangen und einander ablösen, sobald einem Liebhaber die Kraft ober die Lust dazu ausgeht. In Petersburg werden dabei auch die Straßen der Stadt und ebenso noch manche andere öf-entliche Gebäude illummirt. Während das illmninirte Ninterpalais und die auf der Spitze der Vasiliusinsel Das Osterfest. 371 liegende Börse und ihre col„»mli« rnsli-ntau in der herrlichen Newa sich spiegen, rauschen von der gegenüber liegenden Fcstung Raketen zum Himmel empor, und ihre Kanonen, im Tacte einfallend, donnern in abgemessenen Tempos in alle diese aufgeregten Stimmen und Glocken hinein, die von allen Seiten her über diebreiten Newaarme herübertönen. Nachdem man wahrend alles dieses Larmens, Läu-tens und SitMNs, die Priesterschaft an der Spitze, mit Fackeln und Wachskerzen noch einen Umzug um die Kirchen gemacht hat, nähert man sich ungefähr gegen 2 oder 3 Uhr den letzten Ceremonieen dieser Nacht, der Einweihung der Speisen. Nach beendigtem Gottesdienste nämlich eilen die Meisten keineswegs zu Bette, sondern vielmehr zunächst zur Mahlzeit, die nun wieder mit allen beliebigen Kraftsaucen und Braten ungeschmälert verzehrt werden kann, wie sie vor sieben Wochen in der Maßlänitza genossen wurde. Wenn man gegen 2 oder 3 Uhr Morgens durch die Straßen der Stadt eilt, so sieht man in allen Wirthshausern für die aus der Kirche bald zurückkehrenden Gäste die Tische mit weißen Tüchern gebeckt und erleuchtet. In den Palästen der Großen erblickt man durch die Fenster hübsche Zimmer mit Blumen und Gewächsen verziert und die Bedienten darin um die gedeckte und silberreiche Tafel stehen, ihre Herrschaft erwartend. Die Vornehmen, welchen die Quellen aller Weihe, nämlich Priester, gleich zur Hand sind, haben nicht nöthig, die Speisen zur Einweihung in die Kirche 372 Das Osterfest. zu bringen, wie die Armen dieß thun. Zuweilen begnügen sie sich auch blos mit der Weihe, die der Koch den Speisen verliehen. Diese russischen Ostermorgen - Mahlzeiten, die an der Gränze der langen Fasten stehen, gehören wohl ohne Zweifel mit zu den eigenthümlichsten Mahlzeiten, denen man beiwohnen kann, zunächst was ihre Zeit von 3 oder 4 Uhr Morgens, — ja auf den Nachtisch scheint oft die Morgensonne — dann was die Menschen betrifft. Da kommen ganze Collegien und Corporations« in Gala angezogen und machen wahrend der Mahlzeit dem Mächtigen ihre Aufwartung, gratu-liren zu Ostern mit Kuß, Ollritilu1»s wolskrei's u. s. w., speisen ein wenig und ziehen wieder ab. So erscheinen bei'm Curator der Universität die Professoren, so bei'm Präsidenten eines Gerichtshofes die Richter, Secretary Schreiber, Cancellisten u. s. w., so bei einem Gouverneur nach einander alle Collegien, Gerichtshöfe und Beamten seiner Residenzstadt. Das ist ein Küssen, Bücken, Glückwünschen ohne Ende. Vei Privatpersonen bleibt natürlich Alles ruhiger,, und man macht es in der Familie ab. Endlich sind auch die Speisen merkwürdig. Von diesen sind sehr viele eigenthümlich und blos bei dieser Ostermahlzeit üblich. Auch geben die Köche sich Mühe, Anspielungen auf die Kirche und aus Ostern bei ihren Braten und Confitüren anzubringen. Sehr qewöhnlich verfertigen sie z. V. kleine Lammer aus Butter, demn sie eine künstliche Vuttecwolle auf den Leib zu spinnen wissen, andere aus Zucker mit Fahnchen Das Osterfest. 373 und Kreuzchen. Diese Lämmer paradiren mitten auf dem Tische. Besonders nehmen viele Speisen die Form der Eier an, die fast als eine geheiligte erscheint. Manche Gerichte werden in Eiern servirt, und dcr Con-ditor hat viele seiner Süßigkeiten in einem eiförmigen Backwerke verborgen. Ja vor einigen Jahren gab eine vornehme Dame der kaiserlichen Familie ein solches Oster-dt'ieün<5, in welchem sämmtliche Speisen bei Tische in Eiern der verschiedensten Größe und Form aufgetragen wurden. Die Suppe dampfte in riesengroßen Strau-ßeneiern, die wie die meisten übrigen Eier für die war» men Speisen in der Porzellanfabrik gemacht worden waren. Hier gebaren die Eier gleich ausgewachsene und gebratene Hühner, und manche gar auf monströse Weise kleine Spanferkel. Die Kartoffeln schälte man, statt aus einer Kartoffelschale, aus einem Ei von trockenem Mehlteig. Bald war es eine Schnepfe, bald eine Pastete, bald ein Pudding, bald eine Crüme, wodurch man bei'm Oeffnen des Eies überrascht wurde. Die süßen Safte und Früchte schimmerten durch krystallene Eier, und zuletzt wurden sogar große Eier auS Goldpapier herbeigetragen, welche Rosinen, Mandeln und Bonbons zur Welt brachten. Sollen diese Osterd<>jeün«s ganz national sein, so dürfen zwei Gerichte dabei nicht fehlen, nämlich geronnene Milch ('ln ui-ok) *) und das Osterbrot (kulilsok). Die geronnene Milch schlägt man -' *) Dieß Gericht nennen auch Manche wohl „?»««>>»" (das Ostcrlamm). 874 Das Osterfest. fest zusammen und stellt sic in große Pyramiden geformt auf. Das „Kulitsch" ist ein dickes rundes cylinderförmiges Weißbrot. Man macht dieses Kulitsch sehr verschieden. In der Regel sieht es aus, als wenn man lange Teigstreifen zu dieser dicken cylinderarti-gen Dornenkrone von Brot zusammengeflochten hatte. Der Bäcker bringt darauf auch noch andere kleine Verzierungen an. Gewöhnlich z. B. bäckt er noch kleine Kulitsch und kleine Kringel darauf, die, wie die kleinen Austern an der Mutter, außen daran sitzen. Auch werden da Pflaumen eingesteckt, wo die Streifen des geflochtenen Brotes sich kreuzen, und endlich werden noch eiuige kleine geweihte Zweige vom Palmensonntag eingebacken, die vorn etwas zur Seite herausgucken müssen, damit man sich von ihrem Dasein überzeugen kann. Man sieht auf dem Markte solche Brote von ungeheuerer Größe bis zu zwei Rubeln das Stück feil geboten. Beide, das Osterbrot und die geronnene Milch, werden, unten mir Blumen und Lichtern hübsch verziert, auf den Tisch gesetzt, und bei'm Verspeisen schmiert man sich den weichen Käse oder die Milch auf das weiße Brod und taucht dazu ein hart gekochtes Ei in's Salz. Trinkt man bann noch einen Schnaps darauf und ißt man nun nichts weiter, so hat man gerade das Frühstück genoffen, welches den gemeine Mann m Rußland am Morgen dcs Ostersonntags gemeiniglich zu sich nimmt. Erst nachdem man auf diese Weise die Fasten geschlossen und die liebe gewohnte Reihe der angenehmen Braten- und Buttertage Das Osterfest. 375 wieber eröffnet hat, kann man sich mit gutcm Gewissen noch einige Stunden schlafen legen, um damit die Feier des Ostersonntages einzuleiten. Jedoch, wie gesagt, die Geringen glauben, ihr Osterfrühstück nicht eher genießen zu können, als bis es von den Priestern eingeweiht und gesegnet worden jst. Vielleicht haben sie eine Ahnung davon, wie schlecht es ihrem durch's Fasten geschwächten Magen bekommen könnte. Genug, sie bieten mit ihren Speisen in der Kirche ein höchst sonderbares Schauspiel dar. Gegen Ende der Nachtceremonie schleppen sie ihre Sachen auf Tellern, die sie in Tüchern tragen, heran. Gewöhnlich sind es jene drei oben genannten Hauptgerichte, Two» rok, Kulitsch und gefärbte Eier. Sie stellen diese Sa« chen mitten in der Kirche hin und formiren davon einen langen Gang von zwei Reihen, Teller bei Teller, durch die ganze Kirche hindurch, indem sie soviel Platz zwischen den Reihen lassen, als die Priester zum bequemen Durchgehen nöthig haben. Durch beständig Hinzutretende wächst dieser Gang nun immer mehr und geht endlich zur Kirche hinaus und, indem sich immer Neue an die Letzten anschließen, noch ein gutes Stück um die Kirche herum. Die großen, wunderlichen Vrot-formen der Kulitsche, die mit Blumen rund umher besteckt sind, die hohen Thürme des weißen Käses, die, ich weiß nicht, mit welchem farbigen Gewürzblatte durchknetet und getigert erscheinen und in deren Spitze brennende Wachskerzchen gesteckt sind, dazwischen die Haufen von rothgcfärbten Eiern und gelegentlich auch 376 Das Osterfest. noch andere Gerichte, mit denen Jemand sein Frühstück ergänzen will, Zuckerstücke, ein Topf mit Honig, eine Assiette mit eingemachten Früchten, — alle diese illu-minirten, gefärbten, speisbaren Dinge, in großer Menge an einander gereiht, machen mitten in der Kirche in der so bedeutungsvollen Osternacht einen so seltsamen Eindruck, daß man nicht anders meint, als die hochwichtige Ceremonie solle auf ein Mal mit einem hübschen Kinderspäße endigen, und daß man unwillkürlich den alten Mütterchen und den weißbärtigen Vaterchen in's Gesicht sieht, um zu erfahren, ob sie nicht selbst nur maskirte Kinder seien, die nun bald ihre Maske abwerfen und etwa der Flora oder Pomona zu Ehren um diese Speisen, Früchte und Blumen gleich einen hübschen Tanz aufführen werden. Man braucht indeß diese guten Leute nicht lange zu beobachten, um zu erkennen, wie ehrlich und fromm sie es meinen. Wenn der Priester kommt und mit einem kleinen Quast zur Rechten und Linken Wasser spendet, indem seine Begleiter singen und er bestandig Segenssprüche spricht, drangen sie sich dichter heran, bekreuzen sich fortwahrend und haben wohl Acht, ob ihre Blumen und Spei» sen auch mit einigen Tropfen des wohlthatigen Waffers genaßt wurden. „Lutm»«-!»^!," heißt es hier und da, „8vol8-krels und die O st e r k ü s s e. „Einen Kuß in Ehren „Kann Niemand wehren." Diese letzteren könnten freilich einiges Interesse erregen, wenn immer reizende Schönen dabei in's Spiel kämen. Am folgenden Tage aber und überhaupt im Lause der ganzen nachfolgenden Osterwoche hat man aber doch Gelegenheit, hier und da im Umfange der russischen Monarchie einige beneidenswerthe Umarmungen an-zusehen. Denn in der That bleibt der Kuß die domi-nirende Action dieser nationalen Festlichkeiten und jeden-falls immer die interessanteste. Man urtheile selber über den ungeheueren Verbrauch dieses süßen Artikels, von dessen Bedeutsamkeit wir jetzt einen einigermaßen richtigen Begriff zu geben suchen wollen. Zunächst küssen sich gegenseitig alle Familienmit-glieber unter einander. Besteht nun eine Familie auch nur aus zehn Theilnehmern, so giebt dieß allein schon s?8 3as Osterfest. neunzig Küffe für eine solche Familie. Alsdann küs» sen sich alle Bekannten unter einander, sowie sie sich innerhalb der Osterwoche zum ersten Male begegnen. Darunter sind nicht etwa blos die nahen Bekannten verstanden, sondern auch selbst ziemlich entfernte. „Der Teufel hole Dich, Maxim," hörte ich einmal eine alte Frau einem jungen Kerle zurufe»:, „kannst Du mir nicht: Christ ist erstanden, sagen und mich küssen?" Nimmt man nun an, daß m Petersburg ein Jeder im Durchschnitt hundert nahe und ferne Bekannte habe, — was ohne Zweifel doch wohl eine schr geringe Annahme ist — so folgt daraus allein für Petersburg zu etwa einer halben Million Einwohnern eine Summe von fünfzig Millionen Osterumarmungen. Allein man höre, was ein;elne Personen hier in jenem Artikel für ungeheuere Geschäfte machen. — In der Armee muß jeder Commandeur, General eines Corps (von WM)0 Mann), alle Offiziere desselben küssen, eben so jeder Regimentscommandeur alle Offiziere seines Regiments und noch eine Pottion auserwahlter Soldaten dazu. Der Capitan küßt einzeln alle Soldaten seiner Compagnie, welche zu diesem Zwecke zusammen-berufen wird. —- Im Civilfache gilt dieselbe Disciplin, daß der Cyef alle die ihm Untergeordneten küssen muß, die am Ostersonntagmorgen in ihren Staatsuniformen zu ihm zur Visite eilen *). — Da kann denn bei der ansehnlichen Besatzung der russischen Bureaus und Canz- " *) In der Nacht wurden doch im Ganzen nur wenige Das Osterfest. 3/9 leien ein Bureauchef oft nicht Weniges in den folgenden Tagen an Lippenpommaoe verbrauchen, denn, so viel ich bemerkt habe, sind diese Küsse in der Regel nicht solche oberflächliche, wie sie etwa die Schauspieler sich auf der Bühne geben, sondern ganz ehrlich gemeinte, die schmacke» und schnalzen, als gälte es der Geliebten. Ein Untergeordneter hat dabei schon viel zu thun, denn er hat oft ein Dutzend Etagen unmittelbarer und mittelbarer Vorgesetzten über sich. Aber nun gar die armen Oberen, von denen die langen Ketten der Untergeordneten in unzähligen Gliedern hinabgehen! Natürlich, wie in allen Stücken, so fallen auch hierin auf den Kaiser selbst die meisten Pflichten und Geschäfte. Man denke sich seine große Familie, seinen ungeheueren Hofstaat, die zahllosen Aufwartungen, die er am Oster-Sonntagmorgen annimmt, die sämmtlichen Großen, die er persönlich näher kennt und die er bei zufälligen Begegnungen mit seinem Gruße beehrt. Allein dabei bleibt es nicht, die geringsten Schildwachen in seinem Plaste, an denen er um Ostern vorübergeht, begrüßt er mit Kuß und „^lli-islo!,» »-«lsksels." Ja, auf der Parade am Ostersonntage küßt er eben so daS ganze versammelte Offiziercorps und eine nicht unbedeutende Anzahl von Gemeinen, die, dazu auser-wählt, vortreten. Da diese Küsse unter Lachen und Handeschütteln Visiten gemacht, ober ?s werden auch wohl die dort gege-denen Küsse am Morgen noch feierlicher wiederholt. 380 Das Osterfest. gegeben werden, als hätte man sich lange nicht gesehen oder als gratulire man sich nach Ucberstehung einer langen, schweren Unglückspcriode dazu, sich im heiteren Sonnenscheine beS Osterglücks so froh und munter wiederzusehen, so kann man sich denken, mit wie lustigen Scenen die Straßen und Häuser erfüllt sind. „l^i-i-5l8 vol'sk^l«, ^llm 8lei>nnan'il8cll!" (Christ ist erstanden, Euphem Stephan's Sohn!) rufen sich die Bartkerle schon von Weitem zu, „>V<>»z>linn<» wol'», krsls!" (er ist wahrhaftig erstanden). Dann ergreifen sie ihre Hände, küssen sich und ,.iui«^<»m ^v'K«,I»l,k Ix-ul!" (gehen wir in die Schenke, Bruder!) heißt es weiter, und damit schlendern sie zum Branntwein, dessen Quellen nun wieder so reichlich sprudeln wie die klaren Was-serfontainen in Mohammed's Paradiese. Bei den Vornehmen ist es fast dasselbe, doch heißt es hier: „uHuns cleMnor." — Es versteht sich, daß bei allen diesen Küssen auch manches hübsche Mädchen selbst wider ihren Willen hier und da «inen Kuß mit auf den Weg bekommt, dm sie nicht wieder wegwischen kann, obgleich es übertrieben ist, wenn einige Reisende glauben machen wollen, daß nun jeder Fremde jeder unbekannten Schönen unter dem Schilde des ,,^!nl,»lull8 w^lo-cl'^ um den Hals fallen könne. Jedoch sieht man allerdings zuweilen einen lüsternen Alten, selbst in gebildeten Grkeln, einer hübschen jungen Dame einen Kuß appliciren, den diese nicht übel nehmen darf. Der Alte freut sich noch lange nachher darüber, und die junge Dame hat darüber Neckereien zu dulden. Die hübschen Das Osterfest. 381 Bauermadchen aber nehmen jeden Kuß ohne Ziererei in Empfang. — Ich sah einmal in einer Provinzstadt Rußlands einen Wächter am Thore jedes Bauermad« chen, dessen Körbe und Wagen er zu untersuchen hatte, mit dem größten Ernste begrüßen und küssen. Er sagte mir, er thats dieß die ganze Osterwoche hindurch. — Eln anderes Mal überraschte ich den dicken Haushofmeister eines vornehmen Hauses, wie er sich mit gespreizten Beinen mitten in's Zimmer stellte und von allen Kammerjungfern und Dienstmädchen verlangte, daß sie ihn begrüßten und küßten, w.is sie denn auch, da sie seine Gnade nlcht verlieren wollten, unter Schcrzen lind Zieren thaten. Auch dic Kutscher, Bedienten und Lakaien machen am Ostersonntage die Reihe im Hause, stecken die Taschen voll bemalte Eier und schenken Jedem eins, von dem sie einen Kuß und ein kleines Douceur erwarten können. Die Kinder ihrer Herrschaft küssen sie ohne Weiteres, den erwachsenen Töchtern nur die Hand. Auch die unbedeutenden Clienten und Schühlinge des Hauses küssen der Herrschaft und den Töchtern nur die Hand. Daß indeß nicht alle Scenen um Ostern so freundlich sind, kann man schon daraus schließen, daß dem bösen Lebenswasser, das besser Todeswasser genannt würde, allzu sehr gehuldigt wird. Um Ostern berauscht zu sein, findet überall Entschuldigung-, die Trunkenheit ist an diesem Feste so groß, daß man besonders in Kleinrußland die Bewohner ganzer Dorfschaften betrunken finden kann. Das führt denn natürlich viele Scandale herbei, Hörige laufen um Ostern ihrsm Herrn weg, Diener werden uom 352 Das Osterfest. Hause vertrieben wegen der Unarten, die sie um Ostern begingen. Besonders die deutschen Herrschaften haben dann Kummer und Noth in ihrem Hause und bleiben zu Ostern, wo sich kein Russe zügeln läßt, mitunter ganz ohne Bedienung. — Bei einem so allgemeinen Taumel würden indeß in manchem anderen Lande noch mehr Scandals und Verbrechen in's Leben treten. — Ein russisches Ostern, in England oder Italien aufgeführt, würde ein wahrer Mord- und Vluttag werden; es ist allein der dem russischen Volkscharakter eigenthümlichen Glttmüthigkeit zuzuschreiben, daß doch im Ganzen weit mehr komische, und allenfalls nur widerliche, als scandalöse und blutige Scenen vorfallen. In dieser Beziehung noch einige von meinen Straßenbeobachtungen. In der Hauptstadt der Ukraine ging ich einmal am zweiten Ostertage vor's Thor, durch welches viele Leute, Weiber und Männer, alle wankend und trunken hereinströmten*). Als ich nun so stehen blieb und ihnen kopfschüttelnd und bewundernd nachblickte, trat der Letzte, der eben so wankte wie die Vorigen, zu mir heran und sagte, indem er seinen Hut abnahm: „Besoffene Leute, mein Herr! Es ist heute Feiertag, entschuldigen Sie sie! entschuldigen Sie sie! Ach, ich bitte Sie, mein Herr, seien Sie nicht böse! Entschuldigen Sie sie, Gott gab uns ja heute einen Feiertag!" — Es half nichts, ich mußte ihm die Hand geben und versprechen, daß ich verzeihen wollte, *) Sie trinken auf dem Lande den Branntwein billiger als in der Stadt, weil der Städteschank Monopol ist. Daß Osterfest. 383 was ich als Fremdling in Nichts übelnehmen oder bestrafen konnte. Ein anderes Mal sah ich in einer anderen Stadt, wie vor dem Gouverneur auf dem öffentlichen Platze der Osterbelustigungen ein Besoffener, eben so den Hut abnehmend, auf die Kniee niederfiel und, seine Hand ergreifend, sagte: „Ach, ich bin besoffen, Ew. Excellenz! Es ist heute Feiertag, aber ich bitte Sie, lassen Sie mich prügeln. Ich habe zu viel getrunken, ich bitte Sie, Ew. Exc.llenz, lassen Sie mich bestrafen!" Der Gouverneur hatte nicht eher Ruhe, als bis er ihm einige Vorwürfe gemacht hatte. Doch genug von diesen undelicaten Dingen; es giebt um Ostern auch viel Delicates und Elegantes in Petersburg, namentlich in den schönen Equipagen, die, mit Herren und Damen gefüllt, zu der großen Hof-cour dcs Ostcr-Sonntagmorgens fahren. Der Ostersonntag ist so wie der NmjalMag ein großer Tag der Gnade, und an ihm wird eine ungeheuere Menge von Ernennungen, Beförderungen, Ordensertheilungen und Gnadenbezeigungen bekannt gemacht. In der vornehmen Welt schlagen daher viele Herzen erwartungsvoll diesem Tage entgegen, und es ist schon ein interessantes Schauspiel, das hastige Getümmel der Carrossen in den Straßen zu beobachten. — In den Hauptstraßen wimmelt es von durch einander rauschenden Equipagen aller Art. Das Geschrei der Kutscher, die sich gegenseitig und den Fußgängern zurufen, nimmt kein Ende und platzt wie ein unaufhörliches Lauffeuer auf allen Seiten 384 Das Osterfest. los. Die Damen mit ihren brillanten Kokoschnlks (der Nationalhaube, eigentlich einer Art von Diadem), die zu Hofe fahren, möchten fliegen und vier geflügelte Pegasus vorgespannt haben. Man steht es ihren begierigen Augen an, die nur eines unter allen den Häusern suchen — — das kaiserliche Palais. — Die Generale selbst helfen ihren Kutschern und schreien laut über die Straße den Voranfahrenden zu: ^iinne^'o, ^ji^«^«!" (schneller, schneller!). Von den 1UM0 Droschken, die sich auf den Petersburger Straßen herumtreiben, feiert keine, Alles eilt, Alles fliegt, Alles rennt zu Visiten, zur Cour, zu Küssen, zu den Kirchen, zu D^jeünes oder auch zu dcn Katscheli. Ja auch zu den Katscheli! Denn, Dank sei es dem schönen Osterfeste, auch die Schaukeln der Butterwoche hat es wieder zurückgeführt mit allem ihren amüsanten Beiwerke. Das Nußknacken, das Drehen, das Schaukeln und Gnlanien beginnt mit frischer Lust von vorn. Freilich fehlen manche BltttmvoclMvergnügen, die um Ostern gewöhnlich die Jahreszeit nicht mehr gestattet, z. B. die Eisberge, die Schlittenfahrt, doch tritt dafür auch mancher Genuß wieder auf, den der beginnende Frühling herbeiführt, und manches Spiel, zu dem das Osterfest selbst Veranlassung giebt. Iu jenen Genüssen rechne ich vor Allem einen, den der Süden dem Norden in goldener Schale übersendet, und einen zweiten, den der Norden dem Süden gern zuweilen zum Danke überlassen möchte, wenn seine vergängliche Natur eine Versendung gestattete. Ich würde diese beiden Das Osterfest. IM. Dinge nicht erwähnen, wenn sie nicht eben zu Ostern in so großer Fülle auf den russischen Schaukelplätzen erschienen, daß sie neben den Eiern von Men Speiseartikeln am meisten in dieß festliche Treiben eingreifen, nämlich die Orangen und Glaces. In der That, wenn man die Masse von Orangen erwägt, die schon zu Ostern auf jenen Plätzen aufgehäuft liegen und vom Volke verzehrt werden, fo möchte man glauben, daß die Gärten der Hesperiben ganz nahe vor den Thoren von Petersburg wären, oder baß die so schöne Frucht in Rußland auf den Birken und Tannenbäume wüchse. — Ich erinnere mich aus meiner Jugend, daß mir Jemand als etwas recht Ve« sonders von dem Lande, wo die Citronen blühen, erzählte, wenn man bort einem armen Bettelbuben ein Stück Brot gäbe, so ginge er hin und speiste ein paar Apfelsinen dazu. In Rußland würde man hiervon weiter kein Aufhebens machen, denn man sieht alle Augenblicke, daß ein dicker, langhaariger, unftisirter Vartkerl in eine schöne goldene Orange beißt. Wo diese Orangen so billig herkommen, weiß ich eben so wenig, als woher all der Champagner nach Rußland kommt, den man dort so trinkt, als wenn die Champagne schon langst eine Provinz des großen Kaiserreichs gewesen wäre. Ausgemacht bleibt eS aber, daß in ganz Rußland bis nach Sibiriens Gränzen um Ostern schon in der Regel alle Schaukelplahe mit Orangen und Citronen wie überschwemmt sind. Für den Süden Rußlands sorgen Odessa und Ta- Kohl, Petersburg, II. 17 386 Das Osterfest. ganrog, aber für den Norden und überhaupt, was sonderbar ist, für den bei Weitem größten Theil Mittelrußlands die nordischen Häfen. Das erste Schiff mit Orangen, Citronen u. s. w. kreuzt schon lange vorher, im Monat Februar in der Ostsee umher, den ersten offenen Hafen erspähend. Da dieß gewöhnlich Libau und Neval ist, so landet es hier gegen Ende Februars oder im März, und seine saftige Ladung wird alsdann von dort aus durch begierige Aufkaufer mit einer um gemeinen Rapidität nach der Hauptstadt und in's Innere vertheilt. Petersburg sendet diese südliche Waare auf dem sonderbaren Wege von Norden nach Süden bis Charkow, und die dortigen Apfelsinenverkäufer, die sie auf Vretern zu hohen Pyramiden aufgethürmt auf dem Kopfe umhertragen, schreien daher, auf diese Sonderbarkeit anspielend: .,I.imonm. ^»l'ulzmni, nliljU^uscllllzclii 8«nkl pvlei-sliurxglü to^ur!" (Wer kauft Citronen, Apfel' sinen, achte Petersburger Waare!) Die Eisver kaufer. ,,So war mil's, als ich wundersam „Dieß Wort in fremder Sprache vernahm," Den zweiten der genannten Artikel, die gefrorenen Fruchtsafte, kann man freilich den ganzen Winter über auch bei den ausländischen Conditoren sich bereiten lassen. Als russische Nationalconsiturm treten sie aber erst mit dem ersten Osterwge auf.. Von Daß Osterfest. 387 diesem Tage an wird das Eis zuerst dem Volke aus öffentlichen Plätzen und Straßen von Herumträgern feil geboten. Es ist dieß eine Sitte, die wir nicht kennen und welche die Wohlfeilheit des Eises und der gesüßten Fruchtsäfte in Rußland sehr befördert. AlS wären es schöne Schmetterlinge, die aus den garstigen Puppen hervorgeflattert, sieht man auf ein Mal mit dem ersten Ostersonntage viele junge Kerle, ihres schmierige»» Winter-pelzes entäußert und in farbige Sommertracht gekleidet, in den Straßen umherflanquirm und hört sie mit lauter Stimme ausrufen.' .Mni-nsrllnnic!! INni-uk-ciml^L!" sGe-ftorenes! Gefrorenes!), ein Wort, das man den ganzen Winter nicht hört. Diese Eisverkanfer sind zum Theil dieselben Leute, die noch am Tage zuvor in den Fasten, in ölige Schafspelze gehüllt und mit dicken Fausthandschuhen versehen, ölige Fastengebäcke verkauften; jetzt kaben sie eine rothgeblümte Blouse von dünnem Baumwollenzcuge an, die über die schwarzsammetne Hose herabfällt. Beides, Hose und Hemd, hält ein einfacher Gürtel, auf den sie nicht viel Schmuck verwenden, zusammen. Desto mehr ziert diese Burschen das lange, weiße, mit rothen Faden ausgestickte und gefranste Handtuch, das sie über Brust und Schultern wie ein Ordensband tragen und das sie über der linken Hüfte zusammenknüpfen. Die langen rothgefranzten Zipfel flattern im Winde. Sie schwenken damit ihre Eisgläser aus. In diesem Kostüme sieht man sie vom ersten Ostertage an in Petersburg, in Moskau, in Odessa und überhaupt in jeder russischen Stadt, besonders an Festtagen. In einem höl- 17' 389 Daß Osterfest. zernen Bottiche haben sie ihr künstliches Eis in zwei zinnernen Flaschen, die bis zum Halse mit Natureis umhüllt sind. Das Geschäft, das wir betreiben, bedingt immer, wie bekannt, in einem hohen Grade unser Wesen und unseren Charakter. So geht es auch mit diesen Leuten. Dieselben Burschen, die ich in den Fasten höchst einsilbig und eintönig bei ihren Fastenölkuchen fand, sah ich am Ostermorgen höchst lebendig und beredt in ihrem Baumwollenkostüme bei dem zartrothen, schneeweißen, kaffeebraunen Eise, das zu so vielen Anspielungen erweckte, wieder, und als wahre Bajazzos und Schauspieler, die ihre Waare mit so vieler Gewandtheit und solchen Redekünsten an den Mann brachten, als wären sie lauter Schüler des Komikers Ball mann in Leipzig. In Petersburg hatte ich einen von ihnen zu meinem besonderen Freunde, dessen Standort auf dem Schaukelplahc ich oft besuchte, um seinen Vorstellungen beizuwohnen. Er hatte sich ein kleines Zelt gebaut, unter dem er feine Waare aufstellte. Es ist unmöglich, alle die tausend Späße wiederzugeben, die dieser flotte Bursche anwandte, um Käufer anzulocken. Doch schrieb ich mir eines Morgens, um ein achtes und nicht durch Zusätze verfälschtes Stück von russischer Volksberedtsamkeit zu haben. Alles genau auf, was er in kurzer Zeit vorbrachte. „Mn^o pot8ol»l«!" (meine Empfehlung!) Das Ostcrfest. 3ß9 einiger Entfernung Vorübergehenden zu, der ihn anfangs gar nicht beachtete und auch nicht an Eis dachte. — „Sie befehlen Eis?! Sogleich werde ich es Ihnen bereiten. O es ist sehr heiß heute. Man muß sich abkühlen. Sie wünschen Vanille? — Wie? nichts, gar nichts? O das thut mir leid." — „Nliroselwu^ ! )lo-rascinw^o ! lsunn^u l'8>vii8el»^«!" (Eis! Eis! das aller-frischeste, das allcrkühlste!) Chokolate-, Vanille-, Kaffee-, Rosen-Eis und, was das allerbeßte ist, „Blumen blühn!" Wer will kosten mein schönes Eis: „Blumen blühen!" (Den Namen hatte er selbst erfunden für eine seiner Eissorten). „Ja, mein Eis blüht wie eine Mohnblume, kommen Sie, mein schönstes Madchen, wollen Sie mohn-blumigeS Eis?" (Die russischen Madchen tragen im Frühlinge viele prunkende Mohnblumen in den Haaren). „Hier, genießen Sie! Es wird Ihnen besser schmecken als der Kuß Ihres Bräutigams. Sie wollen lieber Gemischtes i Gut, meine Beßte! Ich will es mischen aus Weiß und Roth, wie Ihre Wangen gemischt sind. Belieben Sie gefälligst!" — Und damit hat er auch schon Weiß und Roth in einem Glase gemischt, über welches die beiden lockenden Farben in einem zierlich gedrehten Thürmchen hervorstehen. Das Madchen wird verlegen, muß zugreifen und sich des hölzernen Löffelchens bedienen, das er ihr in die Rechte prakticirt. — „Xvvüwl xvv«tut! Blumen blühen! Mohnblumen blühen! Vanille blüht! Kaffee blüht, Chocolate blüht! Wer will mein schönes Eis? Seht, Vaterchen, rosiges, roth wie Nosen, gelbes, gelb wie Gold! Narrchen, kauft doch mein Gold für 39dem ersten Eierpaare, das zwei Gegner mit einander wechseln, werden immer die meisten Umstände gemacht. Hat aber einmal Einer eins verloren, so wird er ärgerlich auf den Anderen und zerschlüge ihm auch gern eins. Bei dem zweiten geht es also schon rascher, und bei'm dritten und vierten u. s. w. kommen sie dann nach und nach in eine wahr« Eier-Schlagwuth und treiben sich schlagend auf dem ganzen Platze herum. Sehr viel muß dabei von der Geschicklichkeit des Schlägers abhängen. Denn einmal sah ich, wie ein pfiffiger kleiner Junge einem Erwachsenen zwanzig Eier der Reihe nach zerschlug, der dadurch natürlich nicht wenig ^aufgebracht wurde. Eben so sehr wie dieß Eierschlagen ist ein anderes Spiel beliebt, nämlich das Honigkuchen-schlagen, das ebenfalls auf den Osterschaukelplatzen viel geübt wird. — Wenn sich zwei Burschen zu diesem Spiele entschlossen haben, so nehmen sie aus dem Kasten eines Verkäufers zwei Pranniki (so heißen diese Homg- 17" 694 ?as Osterfest. kuchen), die ein sehr dünnes, dichtes und hartes Gcba'ck sind. Der Eine der Spielenden legt sie genau über einander und prasentirt sie so seinem Gegner. Hat dieser Alles gut befunden, so schlagt er damlt auf den scharfen Rand des Honigkuchcnkastens. Er darf nicht zu stark und nicht zu schwach schlagen, sondern gerade so, daß nur der untere Kuchen zerbricht, der obere aber ganz bleibt, denn ln beiden Fallen, sowohl wenn beide brechen, als wenn beide ganz bleiben, hat er die Kuchen dem Verkäufer zu zahlen und dem Gegner abzutreten. Die Jungen kommen dabei so in Eifer, daß oft der ganze Voden mit zersplitterten Kuchenscherben bedeckt wird. Die Honigkuchenverkäufer sehen diesen Elfer gern und schüren das Feuer, weil sie dabei verdienen Die Polizei aber sieht das Spiel nicht gern und verfolgt es, wo sie kann. Wenn die Leute schon im Februar, wie wir oben sagten, wahrend der Vutterwoche auf den Schaukelplatzen musicirten und sangen, so kann man sich denken, daß jetzt im Beginnen des Frühlings, wo die rauhe Kalte nicht mehr die Lippen verschließt, noch weit mehr Gesang und Spiel ertönt. — In der That erklingt um Ostern auf den Katscheli, wenn das Ding so recht ivo wird von der Kirche für einen einzigen großen Feiertag angesehen, und zwar für den größten und wichtigsten des Jahres. Es stehen daher wahrend dieser ganzen Zeit nicht nur bestandig die Thüren aller Kirchen offen, sondern auch selbst die kaiserlichen Thüren der Ikonostase'*), die sonst das ganze Jahr hindurch geschlossen warm und nur bei gewissen Momenten des Gottesdienstes sich öffneten. Natürlich wird das feierliche Ansehen der Kirchen dadurch bedeutend erhöht, baß selbst das Allerheiligste, das doch sonst nur in gewissen Momenten geöffnet wird, nun Aller Blicken beständig sich darbietet. Die Andächtigen gehen daher auch die ganze Woche über in den Kirchen aus und ein und versäumen es gewöhnlich nicht, jeden Morgen eine lange griechisch-russische Messe mit anzuhören, bevor sie zu den beliebten Katscheli und Gulanien eilen. Am Sonntage nach Ostern macht endlich die Kirche den Osterfestivitäten ein Ende mit einer Schlußmesse, die unter dem auch noch an diesem Tage fortwahrend ertönenden Gesänge: „Christ ist erstanden von den Todten" abgehalten wird. Am Ende dieser Messe findet noch schließlich eine Brotuertheilung statt, deren Be-deutung ich leider nicht erfahren habe. Ich glaube, *) Die goldene» Psorttn des Allerheiligsten. Das Ostcrftst. 397 es ist wohl nur eine Art von Viaticum oder Souvenir an Ostern, das die Priester den Gläubigen noch mit nach Hause geben. Sie lassen nämlich Brote backen deren Aeußeres mit rother Farbe bemalt ist, auf der alsdann mit goldenen Buchstaben die Worte: „^Ili-islulls ^ulskroll, il»5 moNvvliilili" (Christ ist von den Todten erstanden) stehen. Diese Brote zerschneiden sie in eine Menge kleiner Stücke, treten mit gefüllten Körben zur Galerie des Altars hinan und vertheilen von da herab die Brotstückchem an die Gemeindeglieder, die sich mit hundert ausgestreckten Händen herandrangen, als sollten sie das Brot des Heils empfangen. Begierig sehen sie immer auf ihr Stückchen, ob sie auch etwa ein paar Buchstaben jener Umschrift empfangen haben. Ist dieß der Fall und sind es Buchstaben der ersten Worte, so halten sie es für ein besonderes Glück. Ist ihnen aber ein Buchstabe vom letzten Worte „moNwuiLli" (den Todten) zugefallen, so sind sie sehr betrübt und halten dieß für eine sehr schlimme Vorbedeutung. Man wird dieß sehr natürlich finden. Ich muß gestehen, daß ich äußerst froh war, als ich auch einst mit zugriff und die beiden ersten Buchstaben von „^vos-jkl-Ll'li" (auferstanden) und den dritten halb empfing. Ich ware untröstlich gewesen, wenn mir etwas von dem Worte „mul'l«moll" zu Theil geworden ware. Dieß kleine Brotstückchen legen sie nun, wie die Ruthen des Palmensomttags auf den Tisch oder das Bret, wo ihr Hausheiliger steht, in dessen Ecke überhaupt alle solche geweiht« und geheiligte Kleinigkeiten zu liegen kommen. Das Ostcrftst. Der E r i n n c r u n g s m o n t a g. „Der sagt gar wunderliche Dinge! „Besckaut sie nur, s>? sind geringe. „Nird Vers und Reim denn angeklagt, „Nenn Leben und Prosa das Tollste sagt?" Mit jener Ceremonie, wie gesagt, ist nun eigentlich das Osterfest zu Ende. Indeß jedes Dim; hat ja einen Schluß, dann ein Ende und zuletzt noch eine vollkommene Adchuung. So hinkt denn unmittelbar hinter dem russischen Osterfeste noch ein Feiertag her, der als der eigentliche Thorschließer angeschen und daher hier noch gleich mit erwähnt werden kann. Dieß ist der Montag nach dem Schlußsoimtage, den die Russen den „kmninnlolnui nono Ilu, l8>vol!^!" (belieben Sie, Väterchen, belieben Sie!). — Mit der Nacht erst haben die Todten Ruhe auf dem Kirchhofe, und mancher — ja leider mehr noch als mancher Lebendige begiebt sich in einem Zustande nach Hause, der diesen, das Osterfest beschließenden Erinnerungstag zu einem Tage des vollständigen VergesfenS werden laßt. Die große Unmaßigkeit der Leute an den Oster-feiertagen und dem Erinnerungsmontage, die um so weniger an der Zeit ist, da durch die unmittelbar vorhergehenden, äußerst mageren Zeiten das ganze Verdauungssystem in sehr heradgestimmtem Zustande war, veranlassen viele Krankheiten unter den geringen Russen, so daß für Viele die Feiertage von sehr üblen Folgen werden. Die Hospitaler sind nie gefüllter als 4U4 Das Ostechst. nach Ostern, und nach dem, was mir ein Arzt darüber sagte, müssen selbst die Statistiker bei den Sterbe-listen der verschiedenen Monate das Osterfest als einen Moment mit in Anschlag bringen, um sich die große Sterblichkeit im Monat April erklären zu können. Die Deutschen. „So laff' mir doch auch dies» gelten, „Nist ja im Urtheil sonst gelinb«." oIn keinem Lande Europas erfreuen sich di« Deutschen eines größeren Ansehens, in keinem anderen finden sie ein leichteres Fortkommen und gelangen sie zu so bedeutenden Stellungen im Staate und in der Gesellschaft als in Rußland. — Ihr Einfluß datirt hier — wenn wir von Dem absehen, was schon in uralten Zeiten waragisch-germanische Stämme und später han-seatische Kaufleute thaten, — von den Regierungen der Iwan Wassiliewitsch, die nicht nur viele deutsche Kriegsgefangene aus Livlanb in's Innere von Rußland versetzten, sondern auch schon die Einwanderungen aus Deutschland selbst begünstigten. Seit diesen Zeiten gab es in Moskau ein eigenes, für die „Njemtzi," die Stummen — so nennen uns die Russen, weil sie unsere 406 Die Deutschen. Sprache nicht verstehen *) — bestimmtes Stadlquartier, die „deutsche Slobode," unter dem gemeinen russischen Volke auch „Guckguck" genannt, weil, wenn ein lang-bärtiger Russe durä) die Häuserreihen der Deutschen hindmchschritt, die Madchen, mi's Fenster tretend, immer „Guck! guck!" schrieen. — Auch in den anderen, bedeutenderen Städten des Landes bildeten sich bald ähnliche Kolonieen fleißiger und kunstreicher Deutschen. Je mehr sich das Reich der Moskowiter nach außen verbreitete und nach innen entwickelte, desto mehr deutsche Elemente nahm es in sich alls; es verb.md endlich ganze, von Deutschen bevölkerte Provinzen mit seinem Gebiete, bevölkerte wüste Landstriche mit deutschen Kolonieen und berief Deutsche als Lehrer, Feldherren und Staatsmänner, —- ja, man kann sagen, daß, trotz vielfachen Gegen-strebens der altrussischen Partei gegen den Einfluß der Njemtzi und trotz mancher dann und wann von der gesetzgebenden Gewalt versuchten Beschränkungen dieses Einflusses, derselbe doch bis in die allerneueste Zeit immer noch gestiegen ist. *) Sonderbar ist es, daß von allen den verschiedenen Nationen, mit denen die Russen in Berührung kommen, gerade blos bei den Deutschen dieser Titel zum Volksnamen wurde. Uebrigens hcißen wir bei allen slawischen Stämmen „die Stummen," selbst bei den Moldauern u»d Nulga« ren. Auch ist dieser Name durch Vcnnittclung der Slawen bei den Türken für uns angenommen worden, unser Vaterland hcißt „Njtmetzkaja Semlja" (das Land der stummen) oder auch „Germanija." Die Dcutschcn. 407 Es mögen sich jetzt nahe an 400,000 Deutsche in Rußland befinden, die aus den verschiedensten Stämmen und Ständen der Deutschen zusammengesetzt sind, größrentheils aber ihren Ursprung aus Norddeutschland, auS Preußen, Sachsen, den Hansestädten, Westphalen u. s. w. herleiten. Von diesen 400,000 mögen etwa 100,000 auf die Ostseeprouinzen fallen, 250,000 auf die in Rußland zerstreuten deutschen, Ackerbau treibenden Kolonieen und nahe an 50,000 auf die in allen Städten ansässigen deutschen Künstler, Handwerker u. s. w. — Betrachten wir diese Zahlen und ihre Ver-theilung etwas näher, so nwgen sich die 100,000 in den Ostseeprovinzen etwa so vertheilen: Kurland zählt 20,000 Deutsche, wovon 2000 dem Adel und die übrigen der Kaufmannschaft und Bürgerschaft der Städte angehören. Livland besitzt 65,000 Deutsche, wovon 4000 Adelige und die übrigen Prediger, Gelehrte, Kaufleute und Künstler. Esthland hat 15,000 Deutsche, wovon 1500 zum Adel zu rechnen. Ingermanland, Karelien (das jetzige Gouvernement Petersburg) zahlt etwa 45,000 Deutsche, von denen die meisten in der Stadt Petersburg leben. Altfinnland *), d. h. das Gouvernement Wiburg *) Man nennt diesen Theil von Finnland, der schon seit längerer Zeit, d. h. früher als das westliche Finnland, russisch ist, auch „Dcutschsinnland." 408 Die Deutschen. und St. Michel, hat etwa 8000 Deutsche, die ebenfalls hier, wie in Livland und Kurland, als Herren des Bodens, als Prediger und Staolebewohner leben. Der ganze, für Rußland so äußerst merkwürdige und so ungemein einflußreiche deutsche Adel der Ostsee-provinzen bildet demnach nur eine kleine Bevölkerung von etwa 8000 Seelen. Von den 250,000 deutschen Kolonisten — Men-noniten (aus Preußen), Schwaben, Elsaffern, Rheinländern, Hessen u. f. w. — sitzt die Hauptmaffe, über 100,000 Seelen zahlend, an der mittleren Wolga im Saratow'schen; eine zweite bedeutende Partie mit mehr als 80,000 lebt in Neurußland, Beßarabien und der Krim, die übrigen sind in kleineren Partieen in den kaukasischen Provinzen, in Polen und in den nordischen Gouvernements zerstreut. Im inneren Kerne Nußlands, im eigentlichen stark bevölkerten Moskowiterlande, giebt es gar keine Deutschen dieser Klasse. Von den 50,000, welche wir als in den verschiedenen russischen Städten zerstreut annelnnen, hat natürlich Moskau die bedeutendste Anzahl, nahe an 6000. — Uebrigens hat auch jede russische Stadt bis an die chinesische Gränze und nach Kamtschatka hin ihr Anhängsel von deutschen Kolonieen zu 400, 500, (»00 Seelen u. s. w.'). *) Genau lassen sich diese Zahlen gar nicht angeben, weil die russischen Gouvernemcntsberichte alle russischen Unterthanen als Russen ausführen, ohne auf ihre Nationalität Die Deutschen. 409 Die Deutschen sind wohl ohne Zweifel dasjenige europäische Volk, das sich der allgemeinsten Bildung erfreut und das, ohne sich einer Richtung des menschlichen Strebens entschieden hinzugeben, in allen Zweigen oeS Könnens und Wissens tüchtige Manner liefern kann. Als Ackerbauer übertreffen sie vielleicht alle übrige Nationen, als Künstler, Handwerker und Fabrikanten sind sie fleißig und erfindungsreich, als Gelehrte und Staatsmänner sind sie ausgezeichnet, zum Kriegsdienste haben sie entschiedene Neigung, und als Kaufleute erfreuen sie sich des solidesten Credits. Während daher andere Nationen in dem alleS Fremde sich leicht afsimilirenden Nußland nur vorzugsweise in gewissen Branchen menschlicher Thätigkeit gefunden werden, Engländer in der Marine und unter den Kaufleuten und Fabrikanten des Nordens, Griechen in der Marine und der Kaufmannschaft des Südens, Franzosen in dem Landheere und im Corps der Hofmeister und Erzieher, Spanier im Landheere, Italiener unter den Künstlern u. s. W., ist fast keine Privatbeschäftigung und kein öffentlicher Dienst zu nennen, in denen nicht Deutsche thatig waren und eine bedeutende Rolle spielten. — Sie fügen sich in Rücksicht zu nchmen und die Zahlungen der deutschen Kirchen nur ihre Pfarrkinder in Anschlag bringen, ohne die viclen Nichtcingepfantcn zu berücksichtigen. Alle die von uns an-gegebenen Zahlen sind natürlich nur runde Zahlen, wie sic uns hier nöthig waren. Die Gründe, warum wir sie etwas höher stellten, als sie ,'n den russischen Berichten erscheinen, konnten wir ndthigenfalls näher auseinandersetzen. Kohl, Petersburg. II. 18 419 Die Deutschen. Alles, sie schicken sich zu Allem und sind Jedermann willkommen. Wollen wir diese von unseren lieben Stammesgc-nossm in jenem großm Reiche gespielte Rolle im Allgemeinen etwas näher in Erwägung ziehen, bevor wir uns zu den Petersburger Deutschen insbesondere wenden, so wird es passend sein, dabei die verschiedenen Branchen der Beschäftigungen einigermaßen zu sondern, und wir werden daher zunächst 1) die Deutschen im russischen Staatsdienste, alsdann 2) als Kaufleute, Handwerker und Künstler, 3) als Gelehrte, Lehrer u. s. w. und 4) als Ackerbauer, Arbeiter u. s. w. betrachten. Man kann sagen, daß Rußlands Entwickelung als europäischer Staat, wie dieselbe seit Peter's des Großen Zeit fortgeschritten ist, sich eigentlich hauptsächlich von Deutschland aus und unter deutschen Auspicien gemacht habe. Die Organisirung des russischen Heeres, die Ausbildung der Gesetzgebung, die Zoll- und Steuereinrichtung, die Rangordnung der Beamten und ihrer Titel, ja die Regeln für die Hofetiquette, dieß Alles wurde aus Deutschland übertragen, oder es wurden doch deutsche Verhältnisse dabei zu Mustern genommen. Die russischen Herrscher reisten hausig nach Deutschland, um die Institutionen seiner Staaten an Ort und Stelle kennen zu lernen. Deutsche Fürsten sogar bestiegen den russischen Thron, und seit 1W Jahren vermahlten sich alle Prinzen des russischen Kaiserhauses nur mit deutschen Prinzessinnen, die in ibrcn weiten Wirkungskrei- Die Deutschen. 411 sen vielfach deutschen Geist walten ließen. So geschah es, daß im Militär-, wie im Civildienste Deutsche die an der Spitze stehenden Reformatoren und Leiter wurden und es noch in diesem Augenblicke sind. Nach dem Petersburger Staats kalender vom Jahre 1837 finden sich unter den 690 höchsten Chargen des Reichs, von den Ministern und Feldmarschallen an, nicht weniger als 1W deutsche Namen *), so daß also hier das deutsche Element zum russischen in einem Verhältnisse von 1 i 4^. stebt. Es geben mithin jene 400,t)W in Rußland lebenden Deutschen, wenn man die Bevölkerung des ganzen Staates zu 62 Millionen rechnet, dem Staate eben so viele höchste Beamte als 14 Millionen Nichtdeutsche. Im Senate saßen in demselben Jahre 10 Deutsche, unter 300 bei Hofe als Staatsdamen, Hoffräulein u. f. w. angestellten Damen fanden sich 4U deutsche Familiennamen; unter den Damen war also das Verhältniß für die Deutschen etwas ungünstiger wie 1 : 7A — Keinem Zweige des Staatsdienstes geben die Deutschen mehr hervorstechende Talente als dem Militär, und fast die Hälfte aller ausgezeichneten höheren russischen Generale bilden Deutsche. Ware es den Deutschen nicht so leicht, ihre National-interefsen zu vergessen, sich ihrer Nationalitat zu entkleiden, das Wesen der fremden Nation sich anzueignen und in dem Geiste derselben zu verfahren, so könnte *) Unter dm übrigen 470 sind nur wenige Engländer, Franzosen, Italiener und Spanier. 18" 412 Die Deutschen. man sagen, Deutsche gouvernirten das Land. Wie wäre es, wenn jene 130 hohen Beamten Engländer wären? Keine der deutschen Provinzen Nußlands giebt dem Staate mehr ausgezeichnete Diener, insbesondere Militärs, als Esthland. Der Adel dieses Ländchens ist arm, dabei sind, wie man behauptet, seine Familien immer sehr groß und kinderreich. Die Söhne widmen sich daher meistens dem Staatsdienste; die Nähe der Hauptstadt mag auch das Ihre dazu beitragen. Kurland zeichnet sich in dieser Hinsicht am wenigsten aus. Es ist eine der jüngsten Acquisitions« Rußlands und erst seit 59 Jahren mit ihm vereinigt. Dabei herrscht noch viel Wohlhabenheit unter seinem Adel und ein gewisser damit verbundener unabhängiger Sinn, der die Kurländer vom Staatsdienste fern hält und sie das freie, ungebundene Leben auf ihren Gütern im Kreise ihrer Familien vorziehen laßt. Livland steht zwischen Kurland und Esthland in der Mitte. Wenn auch seine Adeligen sich nicht so entschieden dem Staatsdienste weihen wie die Esthlands, so glänzen doch auch die meisten seiner ausgezeichneten Namen in den höchsten Chargen. Es ist freilich der Adel dieser Provinzen, der vorzugsweise zu den höchsten, namentlich militärischen und diplomatischen Chargen gelangt; doch ist er es keineswegs ausschließlich, vielmehr wetteifern mit ihm die Söhne der Prediger und Kaufleute in der Erlangung hoher Ehrenstellen. Barclay be Tolly war nicht der Die Deutschen. 413 cinziae Niga'sche Kaufmanns söhn und der ausgezeichnete (5orpsgcneral Grabbe nicht der einzige liuländische Pastorensohn, so wie Nüdiger nicht der Einzige aus dem Aduocatenstande, die auf dieser Bahn weit gelangten. Es ist kein zweites Land in Europa, das mit Rücksicht auf seine bisherigen Zustande so viel Neues schafft und in so fortschreitender Ausbildung begriffen ist wie Rußland. Es bedarf daher der klugen Köpfe und thätigen Arme in hohem Grabe, und Jeder, der Hand anlegen kann, ist ihm willkommen. Hierzu kommt, daß die Russen, die unter sich nur Adel und Bauern kennen, den gebildeten Deutschen, den sie doch unmöglich zu den Letzteren rechnen können, fast durchweg als zum Adel gehörig ansehen, er mag nun von Geburt ihm angehören oder nicht. Aus beiden Ursachm wird nach der Geburt des Deutschen und nach den Ahnen, die seine Vorhallen zieren, wenig gefragt, vielmehr werden nur seine eigenen Talente in die Wagschale gelegt. Da ferner die Facheintheilung der Geschäfte in Rußland eben so wenig scharf ist als die Sonderling der Stande, und dort vielmehr ein Uebergehen aus der Cavalerie zur Infanterie, aus der Artillerie zur Garde, aus dem Militär zum Eivil, aus dem Administrativfache zur Gesetzgebung, aus dem Forstfache in's Bergwerk sehr leicht ist, so ist es auch ziemlich einerlei, nicht nur wer, sondern auch wo man die Stufenleiter der Ehren zu erklimmen beginnt. Man widmet sich nur im Allgemeinen dem Dienste, tritt ein, wo man die nächste Gelegenheit findet, schreitet vor und vor, und hat man 414 Die Deutschen. Talent, Energie und Regsamkeit, so kann man darauf rechnen, sich emporzuschwingen und zu hohen Würben zu gelangen. Die zunächst aus dem Auslande eingewanderten Deutschen haben freilich anfangs mit gar mancherlei Hindernissen zu kämpfen, mit der Acclimatisirung dcs Körpers und Geistes, mit der Erlernung der Sprache u. s. w., um vorwärts zu gelangen. Aber wenn sie sich durch ihre Tüchtigkeit einigermaßen Nuf und Freundschaft erworben haben, so werden gewiß dermaleinst ihre Sohne, denen sie mit Rath zur Snte gchen können und die mit der besseren Kenntniß Rußlands den Vortheil verbinden, einem tüchtigen deutschen Vater nahe gestanden zu haben, es weit bringen. Die Söhne aus Deutschland eingewanderter ausgezeichneter Aerzte, Professoren, Ingenieure ober Bergleute haben immer mit ziemlicher Sicherheit auf eine glanzende Zu-l'lmft zu zahlen. In Deutschland seufzt wohl mancher arme gedrückte Geist am niedrigen Schreibcrtische, manches ausgezeichnete Talent quält sich auf der dornigen, engen Felsenbahn vergebens. Der tüchtigen Menschen sind so viele, und der Eine hindert den Anderen. In Rußland dagegen sieht sich der Deutsche aufgesucht, man bedarf feiner, Alles ordnet sich ihm leicht unter. Sein Deutsch-thum allein schon giebt ihm ein Gewicht, das er in seinem Vaterland?, wo alles Nichtdeutsche mehr gilt, nicht in sich fühlte, und so kommt er rascher weiter. Wenn etwas bcs Deutschen eigenthümliches Fach Die Deutschen. 4!5 ist so ist es die Wissenschaft. Es ist daher natürlich, daß er diese in Nußland, wo man so leicht des Deutschen Verdienste anerkennt, vor allen Dingen geltend mache. Vor den Kenntnissen und der Gelehrsamkeit eines Deutschen hat daher jeder Russe durchweg eins solche Achtung, daß er gleich von vorn herein ohne Weiteres die Segel vor ihm streicht, und wenn gleich in neuerer Zeit, wo auch unter den Russen nicht wenige Forscher und Gelehrte sich hervorzuthun angefangen haben, diese gute Meinung vom Deutschen etwas vermindert zu sein scheint, ja wenn die Russen im freudigen Bewußtsein, auch etwas geleistet zu haben, scbon hier und da anfangen, sich auf's hohe Pferd zu setzen und auf ihre bisherigen Lehrmeister herabzusehen, so dauert dieß doch nur so lange, als sie unter sich sind, und dem Deutschen gegenüber nehmen sie gern Hut und Maske ab. Die beiden, in der Achtung des einheimischen wie auswärtigen Publicums am meisten hochgestellten, gelehrten Institute Nußl.inds sind die Dorpater Universität und die Petersburger Akademie. Beide sind ganz auf deutschem Fuße eingerichtet und von deutschen Gelehrten geleitet. An der Universität zu Dorpat sind sämmtliche Professoren — mit einer einzigen Ausnahme — Deutsche, und bei der Akademie gehören ebenfalls die ausgezeichnetsten Namen unserer Nationalität an. Auch auf den übrigen fünf russischen Universitäten findet man neben den russischen wenigstens einige deutsche Professoren, und auch bei ihnen gehen gewöhnlich 416 Die Deutschen. die ausgezeichnetsten Leistungen von einem deutschen Namen aus. Die Universität Dorpat hat von allen diesen wissenschaftlichen Instituten wohl entschieden den ausgedehntesten Wirkungskreis. Ein Dorpater Professor ist in ganz Rußlano ein Wesen, dem man den größten Respect erweist und bei dessen Namen und Titel man sich an Alles, was der Parnaß Glanzendes und Blendendes hat, zu erinnern scheint. Es ist überall eine Empfehlung, in „Dörpt"*) studirt zu h^ben, und jahrlich sendet diese Universität eine große Partie geschulter Leute, Aerzte, Prediger, Lehrer und Professoren aus, die sich in dem großen Reiche vertheilen. Vor allen Dingen ist die Universität Dorpat die Pflanzschule und das Treibhaus für die russischen Professoren. Nicht nur werden hausig junge Privatdocenten und außerordentliche Professoren von dort nach russischen Universitäten in's Innere als ordentliche Professoren versetzt, sondern es existirt hier auch ein eigenes sogenanntes Professorenmstltut, in welchem junge Leute gleich von vorn herein planmäßig zu akademischen Lehrern ausgebildet werden. Fast noch wichtiger aber erscheint sie als Vildungs-schule der Aerzte, mit denen sie ganz Nusiland versieht. Jährlich liefert Dorpat viele junge deutsche Mediciner, die sich in den Städten des Inneren oder als Hausarzte bei russischen Großen niederlassen. Die vornehm- ^) Russischer Name für Dorpat. Die Deutschen. 417 sten Aerzte in allen größeren Städten sind durchweg Deutsche, entweder von Dorpat oder aus Deutschland eingewanderte; auch die Leibärzte des Kaisers und der kaiserlichen Familie sind größtentheils Deutsche. Die Prediger und Theologen, die von Dorpat, für das Innere von Rußland bestimmt, kommen, sind natürlich zunächst nur dazu berufen, die dort befindlichen deutschen Gemeinden als Seelenhirten zu leiten. DaS Vertrauen aber, das der Ruffe dem Deutschen schenkt, führt ihn überall über seinen nächsten Wirkungskreis hinaus, und so insbesondere den lutherischen Prediger, der natürlich schon vermöge seiner Stellung vorzügliche Hochachtung genießt. Die deutschen Prediger im Inneren Rußlands kommen daher mit so mancherlei Menschen in Verbindung, erhalten so vielfache Aufträge und G.'schafte, die zu ihrem Amte gar keine Beziehung haben, daß ihre Stellung dadurch eine ganz eigenthüm« liche und in vieler Hinsicht bedeutungsvolle wird. Im Lehrfache und als Hofmeister hatten früher die Franzosen vor den Deutschen den Vorrang, allcin jetzt sind die deutschen Lehrer und Erzieher mehr gesucht als die franzosischen. Im Inneren Rußlands findet man jetzt entschieden mehr Deutsche an der Spitze uon Privatschulen und Erziehungsanstalten als Franzosen, und in den meisten Haufern der russischen Großen ist einem Deutschen die Leitung der Kindererziehung übertragen, wahrend oft ein Franzose nur noch als Ge-bilfe erscheint. An der Spitze fast aller von der Kaiserin Maria in den Haupt' und Gouvttnementsstädten 413 Die Deutschen. gestifteten und für die Bildung der russischen Frauen so äußerst thätigen sogenannten FrauleininstiNtte (m8!i> Wl8 l1l0«) stehen deutsä)e Damen, in der Regel unterrichtete und gebildete Frauen aus liv-ländisä)en adeligen Familien. Eben so findet man an den russischen Gymnasien und Lyceen weit häufiger Lehrer deutscher Zunge als von irgend einer anderen nicht-russischen Nationalität. Wie viel Bedrücktes, Schiffbrüchiges und Aussichtsloses hat sich nicht schon in Lübeck eingeschifft und, unter Furcht und Hoffnung schwebend, die Ostsee durchkreuzt und ist in Rußland ;u Brot und Ehren gelangt! Schneider, Schuster, Maurer, Weber, Maler und Musiker stranden alle Jahre in Menge in Petersburg, und sieht man sich nach einiger Zeit nach ihnen um, so findet man sie hier oder dort an der Wolga oder am schwarzen Meere, in Sibirien oder am Kaukasus wohlbestallt, satt, rund und zufrieden wieder. — Wie manches Kleeblatt deutscher Lumpaci - Vagabunden überschritt schon die russische Gränze und bekleidete und begraste sich nachher hier so, daß es, des Vaterlandes uneingedenk, sich lm Lande der Lothophagen dünkte. Deutsche Waare und deutsche Arbeit stehen in Nußland in so hohem Ansehen, baß ein deutscher Handwerker gewiß schon ein äußerst arger Pfuscher sein muß, wenn es mit ihm nicht vorwärts geht. Unser Schneidermeister wird dort zum luüwu,-mul-o^nncl, unser Müh-lenb.mer macht sich zum Mechanics, und unser Tisch- Di« Deutschen. 419 ler etablirt alsbald ein elegantes Möbelmagazin, wabrend der deutsche Tuchscheerer nicht lange säumt, eine Tuchfabrik zu errichten und mit seinen eigenen Waaren die Messen zu beziehen. Es giebt in Petersburg Tischler, die sich Millionen zusammenhobelten, Schneider, die sich Palaste zusammennahten, Klavierbauer, die ihre Töchter an russische Gardeofsiziere verheiratheten, und Schuster, deren Luxus den Neid manches deutschen Barons erregen könnte. — Anfangs arbeiten diese Leute selbst; haben sie aber erst etwas Eavital, so nehmen sie Russen in ihren Sold, die ihnen billige Dienste leisten, und leiten bann nur als Fabrikherren deren Beschäl tigungen. — Wie in Petersburg, eben so ist es auch in den größeren Städten der Provinzen. Auch hier fühlen und benutzen die deutschen Handwerker ihre große Ueberlegenheit über die Russen, werden wohlhabend, leben im Ueberflusse, kommen vermöge der guten Meinung, die man von ihnen hegt, und der Bildung und Redlichkeit, die man bei ihnen voraussetzt, mit Klassen der Gesellschaft in Berührung, denen ihre Stellung in Deutschland sie nie nahe brachte, und sehen sich in Kreise gezogen, die ihnen in ihrem Vaterlande fern waren. Die Deutschen halten sich für ein Metall von edlerem Schlage als die Russen, und diese bestärken sie durch vielfache Anerkennung in diesem Glauben. Eine junge, gebildete, deutsche Handwerkerstochter im Inneren Nußlands wirft schon ihre Augen auf Orden und Epauletten, die ihr in Deutschland ganz unerreichbare Sterne waren. Nichts ist häufiger als Heimthen zwischen ar- 42l) Die Deutschen. men Deutschen und reichen Russen, und man fmdet manchen Herrn Meyer oder Müller, dessen Frau eine geborene Fürstin von G. ober K. ist, und manche Fürstin X. oder Z., die bei der Nadel ihres deutschen Vaters aufwuchs. Gewöhnlich trauen die Nüssen dem Deutschen viel mehr zu als ihren eigenen Brüdern, und wenn ein Russe bei Jemandem etwas recht Gewichtiges und Werthvolles zu deponiren hat oder wenn er eines aufrichtigen und intimen Freundes Nath bedarf, so wählt er gewiß eher einen Deutschen zu seinem Vertrauten als einen Nussm. Wo daher im Innerm Nußlands ein Deutscher sich ansässig macht, den seine Vermögensumstande und Geschäfte ein wenig unter die Menschen bringen, da sieht er sich bald zum leitenden Mittelpuncte einer Menge von Angelegenheiten und Geschäften erhoben und tritt oft als Adelsmarschall an die Spitze der umwohnenden Gutsbesitzer oder wird doch als geistreicher Gesellschafter, als talentvoller Sanger und Whistspieler die Zierde und der Tonangeber in seinen geselligen Kreisen. Ein Deutscher kann in Nußland in Bezug auf seinen rechtlichen Zustand unter dreierlei verschiedenen Verhaltnissen leben. Erstlich als russischer Unterthan, als welcher er dann ganz wie ein Nüsse behandelt wird und Alles zu leisten und zu entrichten hat, was dieser leistet; dann als Aus lander (Inostranez); als solcher ist er ein sehr privilegirter Bürger, genießt alle oommvlln des Staates mit Vermeidung einer Menge Die Deutschen. 421 von inoommaäi»'"'), stellt keine Soldaten, etablirt sich, wo und wie er Lust hat, treibt, was er will, wird nicht zu den Lasten und Aemtern der Commune gezogen und verbleibt in diesem Zustande so lange, als es angeht, sucht ihn auch noch, wo möglich, auf seine Kinder zu vererben, die er ebenfalls als Auslander anschreiben läßt, indem er dabei die dann und wann erscheinenden Befehle, daß alle Auslander den Unterthaneneid leisten sollen, auf verschiedene Weise zu umgehen sucht. — Endlich drittens als Kolonist. Die fremden Kolonisten, die unter Katharina und besonders unter Alexander in's Land gerufen wurden, machen einen ganz eigenthümlichen Stand im Reiche aus, der freilich etwas weniger privilcgirt ist als der der Auslander, aber doch immer noch viele Vortheile und Vorzüge vor den übrigen Unterthanen voraus hat, z. B. weniger Abgaben, keine Conscription, eigene Gerichte, gesonderte Verwaltung u. s. w. Entschieden die meisten dieser deutschen Kolonieen sind ackerbauend. Nur sehr wenige wurden zur Hebung oder Begründung gewisser Manufacturzweige, z. B. der Tuchweberei, des Seidenbaues u. f. w., angelegt. Rechnet man alle deutschen Ackerbauer in Rußland zu- *) Zum Theil mag wohl die große den Russen so ei, genthümliche Gastfreiheit Ursache davon sein, daß die Auslän« der bci ihncn so hoch angeschrieben stehen. „On In««t,rnn«2^ (er ist ein Ausländer), das klingt in den Ohren eines Russen schon immer halb und halb so,^ als wie ,,«r ist ein Odrl-mann." 422 Die Deutschen. sammen, so geben sie ungefabr eine Bevölkerung, die der des Großherzogtbumes Weimar gleichkommt, dabei besitzen sie aber soviel Grund und Boden, daß seine Ausdehnung der Oberstäche des Königreichs Hannover nichts nachgiebt. So sehr dem Allen nach das ganze große russische Reich bls an seine äußersten Gränzen mit deutschen Elementen geschwängert ist, so ist doch keine seiner Städte in dem Grade verdeutscht wie die Hauptstadt des Ganzen selbst. Schon der deutsche Name, den diese Stadt bekam, zeigte, welcher Nationalität sie vorzüglich anheim fallen sollte. Und nicht nur Petersburg selbst tauften die Deutschen, sondern auch bei den meisten neuen Kolonieen seiner Umgebung, Kronstadt, Peterhof, Oranienbaum, Schlüffelburg, Katharinenhof, Kronschlott, Riesbank, Insterburg*), standen sie zu Gevatter. — Und dieß allein maq schon genügend ihren bedeutenden Einfluß auf ihre Taufkinder bezeichnen, der aber in seiner vollen Bedeutung erscheint, wenn man bedenkt, daß die Deutschen hier eine Masse von fast 40,000 Menschen bilden, die fast alle den gebildeteren Klassen der Gesellschaft angehören und als Offiziere, Beamte, Kaufherren, Fabrikanten, Künstler ic. *) Die einzigen Veränderungen, welche die Russen sich bei biestn deutschen Namen erlaubten, bestehen in Kleinigkeiten, hauptsächlich nur in Umsetzung des Accents. — Jene deutschen Namen lauten im Mund« dcr Russen: K,-c,n5l:!nä-um — i5«l»lü««elI)l!lAk, — kaUiilriuongöll' etc. Die Deutschen. 423 neben und oft über den Russen an der Spitze der Geschäfte stehen. Was wir oben in Bezug auf die Herkunft der deutschen Kaufmannschaft in Petersburg bemerkten, läßt sich auch in Bezug auf die Quellen, aus denen diese ganze Kolonie Zusammenstoß, als geltend annehmen. — Die Meisten kamen wohl entschieden aus den baltischen Hafenplatzen Riga, Reval, Narwa, Wiburg, Königsberg, Danzig, Lübeck ?c., und Petersburg kann in dieser Hinsicht unter diesen deutschen Ostseestädten in der Reihe mit gerechnet werden. Indeß steuerten auch die übrigen deutschen Länder, vor allen jedoch immer die protestantischen, dazu bei. — Für einzelne Spaltungen der Gesellschaft lassen sich besondere Lander aufführen. So z. B. ist der deutsche Adel Petersburgs fast ausschließlich aus den deutschen Ostseeprovinzen Nußlands, aus Kur-, Liv- und Esthland. Die Kaufleute sind mehr aus den benachbarten und den hanseatischen Hafenplatzen, die Mechaniker und Künstler aus Sachsen, Preußen und Würtemberg. Was d!e ?lrt des Eingreifens dieser Deutschen in das Petersburger Leben betrifft, so ist vor allen Dingen das ganze Corps der Petersburger Mechaniker und Künstler, der Maler, Tischler, Posamentirer, Goldschmiede, Uhrmacher, Insirumentenmacher ic. fast ausschließlich deutsch. Wenn man dieß Capitel in dem Petersburger Adreßkalender *) durchläuft, so entdeckt man un- *) In neuester Zeit ist, so viel ich weiß, kein solches 424 Die Deutschen. ter allen den deutschen Namen Frank, Franz und Frenzel, Redlich, Gut und Groß, Kaiser, König und Prinz, Koch und Knock), Knaut und Knauff nur selten ein Mal einen Franzosen Dufaur, oder Dufour, oder einen Italiener Nospini und Bandini, — häusiger wohl einen Schweden aus dem benachbarten Stockholm, Ackerblom und Adlerblom, Eckström und Viberström, Lundholm und Lundeberg, — nie einen Engländer, —-im ganzen Buchstaben S nur zwei Russen, Striwowsky und Subkowsky, und im ganzen Buchstaben B nur einen, Buschlowsky. Eben so pravaliren die Deutschen in der Klaffe der Aerzte, Apotheker und Chirurgen. Die entschiedene Mehrzahl der Apotheker und Aerzte Petersburgs sind Deutsche. Selten gewinnt einmal ein französischer oder englischer Arzt das Vertrauen des Petersburger Publicums. — Einzig und allein in der Chirurgie laufen die Russen in Petersburg den Deutschen und anderen Nationen den Vorrang ab. Unter 7V Chirurgen Petersburgs waren nach dem Reimers'schen Adreßkalen-der nicht weniger als 40 Russen und nur 30 Deutsche und Nichtdeutsche, wahrend unter den 120 Aerzten nur etwa ein Dutzend Russen waren *). für Petersburg so wichtiges Buch angefertigt worden. Der neueste Abreßkalcnder, der uns vorkam, war der uon Herrn v. Reimers. — Keine Stadt in Europa bittet solche Schwierigkeiten für die Fortführung eines guten Adreßkalendcrs wie Petersburg. *) Auch an der Universität Dorpat macht sich dieß spe- Die Deutschen. 425 An der Spitze der Petersburger Akademie standen, so lange sie eristirt, von ihrem ersten, noch von Peter dem Großen eingesetzten Präsidenten Vlumentrost an, deutsche Namen, und auch jetzt sind es wie von jeher nur deutsche Gelehrte, die hier vorzugsweise thätig sind. Mehre unserer beliebtesten Schriftsteller und Denker waren Mitglieder dieser Akademie, z. B. Pallas, Müller, Euler, Schlözer, Stritter, Klinger, Schubert, und auch jetzt sind die bedeutendsten Männer trotz der vielen eingemischten Russen noch Deutsche, z. V. Struve, Bahr, Krug, Frähn, Fuß, Aoelung ?c. Die Rolle, welche die Deutschen als Kaufleute und dann als Lehrer in Petersburg spielen, bezeichneten wir schon oben naher. Endlich befinden sich in Petersburg viele Deutsche im Staatsdienste, und zwar in allen Branchen desselben, im Militär sowohl wie im Civil, in der Marine wie bei den Landtruppen, bei der Administration wie bei,der Gesetzgebung. Die Polizeimeister und Generalgouverneure von Petersburg und sie-nem Gouvernement waren gewöhnlich Deutsche, wie in den anderen Ostseeprovinzen Kur-, Liv- und Esthland fast immer. Von allen diesen Petersburger Deutschen bewahrt am meisten Deutsches natürlich das Corps der Gelehr- cielle Talent der Russen für chirurgische Operationen bemerkbar. Gs ist dort für jene Kunst und Nissenschaft cin Russe angestellt. 426 Die Deutschen. ten, Künstler, Kaufleute und Handwerker. Sie sind in den Kreisen ihrer Thätigkeit ausschließlich die Chorführer, kommen mit den Russen am wenigsten in Berührung und bewahren daher Sprache, Sitten u. s. w. am gctreuesten. Wenn man daher von den Petersburger Deutschen spricht, so meint man auch vorzugsweise jene Künstler -, Kaufleute - und Handwerkerkolonie. Die Mitglieder dieser Kolonie sind, im Ganzen genommen, die glücklichsten nnd unabhängigsten Leute in Petersburg. Sie amüsiren sich in ihren Kreisen, sich ihrer Wohlhabenheit freuend, vortrefflich, besuchen ihre Kaffeegartcn auf Petrowsky, haben ihr deutsches Theater, geben im Winter ihre „Ausländer-Bälle", vereinigen sich in Clubs und Gesellschaften und laden den Iwan Iwannowitsch und Maxim Michailo-witsch *), besonders wenn er einige Ordenskreuze hat, zuweilen bei sich zu Gaste, um mit ihm in gutem Vernehmen zu bleiben. Es ist nicht wenig interessant zu beobachten, wie schnell diese Deutschen hier in Rußland ihr Glück zu machm wissen. Sie leben sich gar rasch bei den Russen ein und vergessen ihr Vaterland bei dem leicht gewonnenen Reichthums bald. Viele von ihnen machen ein großes Halls und sehen brillante Gesellschaften um ihre Whisttische vereinigt, wie dieß ihnen, wären sie zu Hause geblieben, nie möglich gewesen ware. — Die russischen Schriftsteller benutzen diese Deutschen, ihre *) Gewöhnliche Namen der Russen. Die Deutschen. 427 Sitten, Lebensweise u. s. w. häusig in ihren Probuctio-nen, um ihre Charakterzeichnmigen zu variiren. Ein Deutscher, der das Russische auf eine dem Russen so komische Weise rabebrecht, ist eine sehr gewöhnliche Person in ihren Lustspielen, worin dann auch nebenher die deutsche Pedanterie, die deutsche Gutmüthigkeit, die deutsche Kleinlichkeit abgestraft wird. In den historischen und dramatisch-tragischen Dichtungen der Russen spielen die deutschen Trabanten und die deutschen Hauptleute im Dienste der Zaaren eben so wichtige, gewöhnlich für sie sehr ehrenvolle Rollen, und vergißt doch selbst Puschkin bei der Schilderung des Morgens in Petersburg in seinem Onägin nicht den deutschen Handwerker, indem er sagt.- „Die Stadt der Newa weckt der Trommelschall. „Mil Krugen läuft die Dirn', es kracht „Der Frühschnee unter ihren Füßen. — „Des Morgens heit'rer Lärm erwacht! „Die Laden öffnen sich, cs schießen „Gmpor des Schornsteins blaue Säulen. — „In Zipfelmütz — mit Scclcnruh, „ Der bcutsche Bäcker macht zmreilen „Sein Schiebefenster auf und zu." — Diese deutschen Handwerker wohnen natürlich, wie das ihr Gewerbe auch mit sich bringt, in ganz Petersburg zerstreut. Die Meisten aber halten sich im westlichen Ende des zweiten und dritten Admiralitatstheiles zusammen, wo schon die Namen der Straßen an deutsches Bürgerthum erinnern, z. V.' „ Meschtschanskaja, 428 Die Deutschen. die Vürgerstraße, Stolernaja, die Tischlerstraße. Hier hat der reiche Wagenbauer Frobelius sein großes Haus und der Instrumentenmacher Tischn« seinen vierstöckigen und 1W Ellen langen Palast erbaut. In dieser Gegend hat jedes Handwerk seine Matadore, seine Millionare. Hier hobelt man sich Salons znrecht, in denen der Punsch nie kalt wird. Hier braut man Champagner aus Gerstenmalz und fischt feingepragte Goldstücke aus den Scifenkesseln. Hier erbalten gemalte Früchte und Blumen durch allerlei zauberische Umwandlungen Saft, Dltft und Geschmack, und Steine verwandeln bei den deutschen Architekten sich in reichliches Vrot. Aus der groben Schmiede der Vater gehen elegante Töchter hervor, und Sarge zimmert man den Todten so lange, bis man reichlich zu leben hat. Vor allen Dingen werden hier denn auch die deutschen Handwerker, welche aus Deutschland kommen und die in diese glanzende Hauptstadt oft so unerfahren und ungeschickt hineintreten wie etwa ein Erdbewohner, wenn er in der Sonne anlangt, geschult und znrecht gestutzt, damit der Stamm der deutschen Kolonie nicht aussterbe und man sich einen würdigen Nachfolger in den Geschäften der Nadel, des Hammers, der Sage und des Meißels schasse. — Der Petersburger Deutsche, obgleich vom Vater her bald Schwabe, bald Baier, bald Preuße oder Sachse, ist doch mit der Zeit ein Deutscher von ganz eigenthümlichem Schlage g.-wordcn. Die meisten ihn anzeichnenden Eigenschaften erlangt er dadlirch, daß er mit so vielerlei Leuten in Berührung kommt. Wah- Die Deutschen. 429 rend seine Tochter hofft, einen russischen Gardeoffizier zu bethörm, und wahrend sein Sohn in dem Hause des Fürstcn N. mit Klavierspiel und Gesang sich angenehm macht, ist auch dem Vater selbst so viel vornehme Manier und Sitte angeflogen, daß er an seinem Bruder aus Deutschland herzlich viel zu bessern und zu tadeln findet. Von dem nordischen Ernste, von dcm russischen 8l>vm>- l'üii'e, von dem Petersburger ^amm« il t'lnil, von der residenzstädtischen Grandezza haben die hiesigen deutschen Handwerker so viel angenommen, daß sie gegen einen deutschen Handwerker aus Deutschland alle als halbe Grandseigneurs erscheinen. Ihre Töchter und Söhne haben sich ganz und gar dieses eigenthümliche nordische stille Wesen angeeignet, das wir Kalte nennen, welches sie aber für Anmuth, Zurückhaltung und Würde halten, und das wohl ein Product von beiden ist. Auch der Dialekt dieser Petersburger Deutschen ist etwas ganz Eigenthümliches geworden. Trotz dem, daß viele schwäbische, baierische und sächsische Idiotismen dem Gemengsel beigemischt wurden, ist doch aus dem Ganzen ein ganz besonderes Gebilde hervorgegangen. Am meisten ähnelt wohl hier der deutsche Dialekt seinen Nachbardialekten, dem der Esth- und Livlander. Hier wie dort finden wir dasselbe eigenthümliche Scharfen und Ziehen des E, dieselbe Deutlichkeit und Ausgeprägtheit der Aussprache, dieselbe Necipirung und Einbürgerung russischer Worte, als: Gulaien, Katschaien, Mushik, dieselben sonst in Deutschland nirgend gebräuchlichen In- 430 Die Deutschen. terjectionen.- „Puh! Weih! Pfui!" — „Puh! wie lächerlich!" —„Pfui! wie das hübsch ist!" — „Weih! wie sehen Sie verschlafen aus!" Die Gebildetsten und Reichsten der Petersburger Deutschen, die Akademiker, Gelehrten, Kaufleute u. s. w. wohnen auf Wassili-Ostrow, das beinahe ganz, wenigstens vorherrschend deutsch ist. Man hat überall Gelegenheit gehabt, zu bemerken, daß die Menschen wie manche Pflanzen, von dem beimischen Boden auf fremdes Erdreich versetzt, sich schöner entfalten. — Der Franzose, wenn er in Deutschland N'ist und weilt, wird gewiß nur nach Frankreich zurückkehren, nachdem er manches Gute gelernt; der Englander aus der englischen Kolonie in Paris wird sicherlich, wenn er in London erscheint, angenehm auffallen. — In der Heimath blühen allerdings die eigen-tbümlichen alten, nationalen Tugenden, aber eben so nisten daselbst auch dicht und starr die eigenthümlichen alten, nationalen Fekler und Vorurteile. Es laßt sich dieß Alles vor allen Dingen auch auf die Petersburger Deutschen appliliren. In der Nähe des großen Kaiserthrones ist dem Deutschen, der zu Hause oft zu einer kleinen einheimischen Herzogsburg als dem Gipfel des Glanzes und der Macht aufblickte, der Horizont erweitert. Zu seiner ihm im deutschen Vlute wurzelnden Humanität bat er das hinzu gelernt, was dem Deutschen zu Hause am meisten feblt, Umgangssitte, 8nvui!- lmro und Tour-nure. — In der That, wenn man aufWassili-Ostrow Dic Deutschen. 431 eine Zeit lang sich bewegt hat, so ist man nahe daran, mit dem eifrigstm Petersburger Patrioten den Petersburger Deutschen für den angenehmsten Deutschen unter der Sonne zu erklären, — wenn nur nicht auch so manches Aber dabei war«! Das reichliche Geld, das sie hier verdienen, wird auf die coulantcste Weise wieder in Cours gesetzt, und man pflegt auf Wassili-Ostrvw einer Geselligkeit, die ihre entschiedensten Reize hat. Die gastfreie und segensreiche russische Tafel wird hier durch Beimischung von einer hübschen Portion deutscher Bildung, Aesthetik und Belesenheit gewürzt. Die ocutschen Gelegenheitsgedichte, die Reden, Toaste, die die Russen nicht kennen, sind nicht ganz verbannt, aber um eine Elle gekürzt und haben so eine maßige und wohlgefällige Lange bekommen. Ich muß gestchen, daß mir sonst selten irgendwo die geselligen Formen und Gesetze einen gastfreieren Zuschnitt zu haben schienen als auf der deutschen Va-siliusinsel Petersburgs. Man lebt hier und laßt auch leben. Vei uns lebt man gewöhnlich nur für sich, und nur dann und wann, wenn man es durchaus für Pflicht halt, giebt man den Freunden ein Fest, für welches sich dann die Gaste bei'm splendiden Wirthe ergebenst bedanken. — „ Wir haben gegen unsere Freunde so manche Verpflichtung," spricht bei uns der Mann zu seiner Gemahlin, „Liebe, wir müssen nun endlich einmal einen Thee geben," und wenn nickt mit Widerwillen, doch mit vieler Mühe 432 Die Deutschen. und Umständlichkeit unterzieht sich die Hausfrau der Last des Arrangements. Die Gaste werden fetirt, und man freut sich hinterher, wenn man die Möbeln wieder an ihre alte Stelle bringen kann und am anderen Morgen die Visiles do i-omorciments empfangt. In Petersburg ist die Thür dem anpochenden Freunde taglich und stündlich geöffnet; bleibt er zu Tische, so legt man ein Couvert mehr auf, und er nimmt fürlieb mit dem, was er findet; gewöhnlich findet er auch ein paar Gäste, die, wie er, zufällig hier sitzen blieben. Wünscht er abcr ein splendides Diner, eine große Gesellschaft, so weiß er den Tag, wo sein Freund regelmäßig zu Hause ist und allen seinen Freunden offen Haus kalt. — Jedes wohlhabende Haus bat einen solchen Tag in der Woche, wo ein für alle Mal alle freunde erwartet werden. Je öfter man kommt, desto beliebter ist man, und indem man es sich gefallen laßt, zu empfangen, scheint man nur zu gewähren und erhält noch Dank für den G.'nnß dcr Wohlthaten der Gastfreiheit. Es ist unbegreiflich, daß man diese gesellige Sitte nicht überall eingeführt hat, denn sie ist doch für Gaste wie für Wirthe gleich angenehm; dem Wirthe erspart sie die Mühe, sich immer auf Gäste gefaßt zu machen, und dem Gaste gewahrt sie die Gewißheit, jedenfalls willkommen zu sein. Auch das ist eme angenehme Sitte der Petersburger Deutschen, die sie entweder von den alten Hellenen oder den Engländern entlehnt haben, daß sie die Geschäfte deS Tages nicht in der Mitte durch ein Diner unterbre- Die Deutschen. 433 chen, sondern gewöhnlich erst um 5 oder 6 Uhr zu Mittag speisen. Eine Einladung zum Mittag ist daher auch fast immer zugleich eine Einladung für bey Abend. Man bleibt nach Tische, gegen 8 Uhr Abends tritt der Nachtisch ein, noch zusammen bis 11 oder 12 Uhr des Nachts und «erbringt den Rest bei Thee, Tanz und Spiel. Der Tag zerfallt so auf eine sehr paßliche Weise in zwei Hälften, von denen die größere den Geschäften und die kleinere der Freude und den Freunden gewidmet ist. Auch fallt auf diese Weise der langweilige Nachmittag völlig weg, und der ganze Tag besteht eigentlich nur aus Vormittag und Abend. Obgleich, wie gesagt, der Petersburger Deutsche eine gewisse Fa^on, einen eigenen Schnitt, ein gewisses Wesen, eine besondere Sprache und Lebensweise, die eigenthümlich Petersburgisch und ihnen allen auf gleiche Weise eigenthümlich ist, angenommen haben, und obgleich allerdings keine Atmosphäre geeigneter ist, Alles auf gleiche Weise zu moduliren und zu poliren, alle National-, Standes- und Stammunterschiede zu zerstören und in demselben Facit aufgehen zu lassen, als die russische, in der das Wort: „Gleich und Gleich gesellt sich gern," weniger als irgendwo wahr ist, in der vielmehr Ungleich und Ungleich sich beständig mischt, so lassen sich doch natürlich, da Verwandtschaftsbande, heimathliche Verbindungen und gesellige Beziehungen die Leute immer mehr oder weniger zusammenhalten, mancherlei Schattirungen nicht verkennen, und man kann daher, wenn man die Gesellschaft ganz Peters- Kohl, Petersburg. II. 19 434 Dic Deutsche». burgs in die russischen, englischen, fla>izösischm und deutschen Kreise und Coterieen-) zerfallen läßt, auch wieder unter den Deutschen die hanseatischen, die liv, ländischen, lurlandischen und esthnischen Zirkel, die Gelehrten- und Beamtengesellschaften, die Adels-, Vürger-und Kaufleute-Cliquen sondern. Die wichtigste und zugleich am meisten von den übrigen sich sondernde dieser Spaltungen der deutschen Gesellschaften ist wohl die der in russischen Staatsdienst getretenen Deutschen, des hohen Adcls, der deutschen Generale ln russischem Dienste, der deutschen Minister, der deutschen Senatoren, der deutschen Geheimen- und Staatsrathe. Obgleich diese Herren die machtigsten Repräsentanten des Deutschthums find, so sind sie doch häufig auch die am wenigsten patriotischen. Sie amalgamiren sich fast alle mehr oder weniger mit dem großen russischen Adel, mit dem sie auf derselben Bahn des Ruhmes und der Ehren emporklimmen. Sie verschwistern und verzweigen sich mit den großen russischen Familien und haben in vie-lm Stücken seine französisch - russischen Sitten angenommen. Viele entsagen dem Deutschthmne ganz und gar, sprechen kaum im vertrautesten Kreise ihre Muttersprache, und Manche, scheint es, machen sich ein Verbrechen daraus, in deutscher Sprache zu denken. *) Ja es giebt hier auch polnische, spanische, schwedische, dänische, italünische, tatarische, ja sogar arabische, sinnische, türkische, tschclkessische Zirkel u»d Clubs. Di« Deutschen. 43.'» Ich glaube, — schrecklich genug, daß man zu solchem Glauben gekommen ist, — daß keine Nation so viele Verräther an ihrer Nationalitat hat als die deutsche; man findet sie in Petersburg wie in Paris und London zu Haufen, und hauptsächlich ist der Mangel an äußerer Haltung daran Schuld, der es den Deutschen nöthig macht, sich immer an Fremde zu lehnen, und der sie so leicht zu Bewunderern von denen macht, die äußerlich so viel zu bedeuten scheinen. Die meisten dieser in Petersburg machtigen Deutschen sind, wie wir schon oben andeuteten, aus den Osiseeprovmzen. Ihre Familienverbindungen sind daher uerhaltnißmaßig so klein wie diese Provinzen selbst, und so hoch sie auch oft gestellt sind, so können sie nicht in dem Sinne russische Große genannt werden wie die nationalrussi^'chen Vornehmen, deren Familienverbindungen sich in dem ganzen russischen Reiche verzweigen, und deren Namen seit Jahrhunderten in den weiten Nau-men dieses Reiches wiederhallen. Daher trat auch gewöhnlich trotz dem, daß so viele russische Generale und Feldherren Deutsche sind und waren, doch da, wo es darauf ankam, die ganze Macht des Reiches aufzubieten, ein russischer Name an die Spitze. So machte im Jahre 1812 der Ri-gensische Deutsche Barclay de Tolly, der vor Napoleon wich, dem alten Nüssen Kutusow Platz, der, alle Kräfte der Nation erregend, die Franzosen aus dem Lande tticb. So folgte 1832 bei'm Aufstande Polens 19 * 436 Die Deutschen. dem Deutschen Diebitsch der alte Nüsse P.iskewitsch, unter dessen Anführung die Russen Warschau stürmten, und so waren denn alle die gepriesenen sogenannten Helden des Volks, die Orlows, Smvarows, Fiermo-lows u. s. w., achte Russen. Ende des zweiten Theiles. Truck der Tcubner'schen Ofsim« in Leipzig.