^ ^x /^ ^«5 >^ ^3 i Iaud. 2Mndt. 3Mndl. 4Mdt. Fr, E, Fr. («. Fr, C. ,5i, ! l2 — Vierteljährlich 2 5U 4 ^ 5 50 ? — Monatlich . , 1 - I 75 2 50 3 -Ttigli6> — 5 , V. Abonnements-Preise für Auswärtisse 2 Mde. 3 Bände. 4Mnde. U Dände. Fr, L, Fr. E, i?r > <5, Fi. ! C, Jährlich . W — 12 50 ,5 — «8 — Halbjährlich 6— ?— g^. 95l» Vierteljährlich 35« ä25 5— ys — Für Frankatur der Mappen müssen wir unsern auswärtigen Hin. Abonnenten nach dem eibg. ^'osttarif für den ersten und zweiten OlieflreiS fl — 10 Stunden)' b:S zu einem Gewichte von 3 Pfund 15 Cent., für den dritten Brieflreis 3U Cent. berecknen. — Mappen über 3 Pfund schwer zahlen die gewöhnlich« Tare. Den Portobrtrag erlauben wir uns mit der letzten Sendung eines jeweiligen Abonnements nachzunehmen. ' , Petersburg m Bildern« nd Skizzen von I. G. Kohl. „Und doch hoss' ich, wo nicht Allen, „Xb«i M»nchcm zu gefallen." Zweite vermehrte und verbesserte Auslag«. Erster Theil. Mit einem Grundriß von Petersburg. Dresden und Leipzig, in der Nrnoldlslhen Buchhandlung. 1845. Vorwort zur ersten Auslage. „Im Vaterland? „Schreibe, was dir gefällt; „Da sind Liebeöbande, „Da ist deine Welt." ö!)ie Russen pflegen den Auslandern, welche einige Zeit bei ihnen gelebt und, wenn sie in ihr Vaterland zurückgekehret sind, sich über russische Verhältnisse nicht günstig aussprechen, Undankbarkeit vorzuwerfen und zu sprechen: „Wir nahmen euch freundlich auf, ihr ließet es euch bei uns wohlgcfallcn, und zum Lohne schmäht ihr hinterher über uns und hintergeht die Vertraulichkeit, dcrcn wir euch würdigten, indem ihr unsere Geheimnisse ausplaudert." Die Deutschen auf der anderen Seite mißtrauen leicht jedem Lobe, das ihren östlichen Nachbarn gespendet wird. Sie wissen, wie Vieles dort nur glan- IV Vorwort. zendc Außenseite ist, imd da sie noch dazu den Russen deßwegen abhold sind, weil sie ihre Erobenmgspläne fürchten, so sind sie sehr geneigt, so wenig Gutes als möglich von ihnen gelten zu lassen. Sie halten daher Den, der sich wohlwollend ode.r doch nicht feindselig über die Russen ausspricht, selten für einen guten Patrioten und vermuthen bei ihm Abtrünnigkcit von der Sache des Vaterlandes. In der Hhat, wenn man die verschiedenen bei uns über Rußland erschienenen Bücher durchsieht, so kann man wohl nicht umhin, zu gestchen, daß sehr oft sowohl die Russen zu jenen Klagen, als die Deutschen zu diesen Vermuthungen berechtigt sind. Der Verfasser dieser Aufsatze über Petersburg, die hiermit dem deutschen Publicum überreicht werden, glaubt nicht, daß man in seinem Buche Ursache finden werde, ihm zwei so schlimme Vorwürfe zu machen, wie den der Undankbarkeit oder den des Mang« els an Vaterlandsliebe. Allerdings hielt er sich längere Zeit in Nußland auf, allerdings Icrntc er dort manchen hochachtbaren Mann kennen und gewann sich die Zuneigung man< ches Freundes, dem auch er ein stets dankbares Andenken widmet, — allerdings hielt er es daher auch fm seine strenge Pflicht, Alles, was ihm, wmn auch Vorwort. V nur stillschweigcnds, unter dem Siegel der Verschwiegen, heit mitgetheilt wurde, nicht der Deffentlichkeit preiszugeben, — allerdings hat er daher alle Namennenn, ung und alle, selbst die entferntesten — sei es lobenden oder tadelnden — Anspielungen auf Persönlichkeiten sorgfältig vermieden, indcm er nicht das Recht mißachtete, das jeder Privatmann hat, seinen Charakter und seine häuslichen Verhältnisse ausschließlich für sich und seine Familie allein zu haben und sie auf keine Weise, weder im guten, noch im bösen Sinne, den Augen des fremden Publikums bloßgestellt zu sehen. — Allein er glaubt nicht, daß die Rechte der Gastfreundschaft so weit gehen, daß daraus eine Pflicht für den Gast folge, auf alle freimüthige Aeußerung über das fremde Land zu verzichten und den unbedingten Lobredner desselben zu machen. Denn auf diese Weise würde ja gerade Denen der Mund verschlossen werden, die am meisten als Berichterstatter zum Dienste der historischen und ethnographischen Wissenschaften ber rufen wären, und die Wahrheit über das Wesen de-Völker und Staaten würde am Ende nur noch durch Berrather an der Freundschaft zu erfahren sein. — Er hoffte daher, daß, wenn einigen seiner Freunde in Nußland dieses Buch zu Gesicht kommen sollte, sie es ohne Groll und Zürnen lesen und ihm zugeben wev- VI Vorwort, den, daß, wenn er auf der einen Seite Niemandem schmeichelte, er auf dcr anderen noch weit weniger Jemanden verlaumdcte oder verletzte, und daß er nicht Unrecht that, wenn er sein eigenes Vaterland höher stellte als das ihrige. Eben so hofft er auf der anderen Seite, daß seine lieben Landsleute, wenn er hier und da der Herr-schenden Meinung zuwider manches in Rußland Geschaute loben, ja wenn er sogar hier und da eine gewisse Art von Zuneigung für das russische Volk zeigen sollte, — wer sollte nicht den Gegenstand seiner langjährigen Betrachtung, wer sollte nicht ein Land, worin er nie persönlich unangenehm berührt wurde, und wo cr manchen glücklichen Tag verlebte, lieb gewinnen? — gewinnt doch selbst der Gefangene eine gewisse Vorliebe für seinen Kerker! — er hofft, daß seine Landsleute ihn^ dann eher vielleicht eines Irrthums als einer absichtlichen Entstellung zeihen werden. — Auch die Berührung mancher wenig liebenswürdigen Eigenthümlichkeiten unserer deutschen Nationalitat werden sie ihm zu gute halten und dieselbe, wenn für weiter nichts, doch als eine von einem Deutschen vorgetragene, immer beachtenswerthe Ansicht der Nuffcn, deren Betrachtungsweife des deutschen Wesens allerdings — wer könnte sich bei längcrem Aufenthalte in Vorwort. VlI der Fremde solcher Einflüsse erwehren! — hier und da auf den Verfasser übergegangen sein mag, nicht ohne Interesse aufnehmen. Freilich glauben wir nicht, daß wir mit diesen Erklärungen allen Vorwürfen, die uns von der einen oder andcrm Seite gemacht werden könnten, begegnet sind, hoffen aber, daß die Lecture des Buches wenigstens die Lauterkeit unserer Gesinnung nnd unsere Liebe zur Wahrheit bethätigen werde, und nehmen übrigens für unsere Leistungen selbst die Huld und Nachsicht unserer Leser in Anspruch. Der Verfasser. Vorwort zur zweiten Auflage. -<5ei dieser zweiten Auflage der von mir vor einigen Jahren herausgegebenen Petersburger Skizzen habe ich zur Vervollkommnung des Buches Alles benutzt, was sich mir sowohl in den Kritiken, die darüber erschienen, als in den Werken, die neuerdings über denselben Gegenstand publicirt wurden, darbot. Auch habe ich mir die größtmögliche Mühe gegeben, die Ausdrucksweise und den Styl zu poliren und abzurunden. Und end: Uch habe ich einige neue Skizzen hinzugefügt, welche bisher nur in der Augsburger allgemeinen Zeitung abgedruckt waren. Ich hoffe daher, daß das Werk, so wie es sich jetzt darstellt, dem Leser eine angenehmere und nützlichere Lecture gewahren wird, als dieß bei der ersten Auflage der Fall war. Der Verfasser. Inhaltsverzeichnis. Seite Panorama........... 1 — 19 Der Admiralitütsthurm. — Die Adels-, Hand, werter- und Armenquartiere. — Sackgäßchen. — Die Handelsstadt. — Die Basiüuö- und Peters« inscl. — Zukunft. Bauart...........20 — 46 Riesengcbälide. — Häuserpreise. — Granitbldcke. — Der architektonische Luxus. — Säulcnfülle. — Pflaster. — Straßenbeleuchtung und Finsterniß. — Häuseraufschriftcn. Die Newa..........47—81 Vorzeit. — Dic Flußarme und der Inselarchipel. — Der Wafferbecher des Fcstungscommandantm. — Das Newacis. — Die Eisgangswcttcn. — Der Eisverbrauch. — Die Brücken. — Die Wasser-siuthen. — Die Wäscherinnen. — Die Fischbuden. —'DieGondelfahrtcn in den hellen Sommernächten. Straßenleben........82 — 117 Asiens und Europens Völkerschaften. — Heiden, Juden, Christen und Mohammedaner. — Die Fa. X Inhaltsverzeichniß. Seite. shionablcs in dcr Perspective. — Tscherkessen. — Uniform und Frack. — Ander Wetter, andere Leute. — SchdneMänner. — Der Petersburger Jungfern» stieg. — Die Jugend im Sommergarttn. — Die Brautwahl. — Sprachenverwirrung. — Dcr pro-menircnde Kaiser. — Straßenpolizei. — Die Raben und Tauben. Die Iswoschtschiks......118 — 136 Hamaxobiten. — Droschken. — Angespann. — „Nun ai lljnozjclltljcinlt!" — Die verschiedenen Nationalitäten auf dem Bocke. — Peitschenhiebe! — Sibirien l — Wettrennen der Wagen. Der Winter.........137—153 Klimatisches. — Heizung. — Vcrmummung. — Straßengetümmel. — Historische Ofengabel. — Winterkleid der Stadt. Marktplätze......... 154 — 190 Marktwefcn in Rußland. — Der Petersburger Go-stinnoi-Dwor.— Die Krämer. — Das russische Sanssouci. — Der Tschukin-Dwor und Trödelmarkt.—DerVogelmarkt. — DerWildpretshandel. Das schwarze Volk......191—248 Der Hcuplatz. — Gefrorenes Fleisch. — Russische Pferde. — Der Fleischmarkt um Weihnachten. — Dcr russische Proteus. — Höflichkeit des gemeinen Mannes. — Vetterchen, Brüderchen, Väterchen, Großoatcrchcn. — Bonhommie, Ehrlichkeit und Schelmerei. — Das Allerbeßte. — Die Saufwuth. — Branntwcinuerbrauch. — Russischer Rausch. — Prostaja Nodota. — Der Ausländer-----Russische Bonmots. — Kruilow's Fabeln. Inhaltsverzeichnis XI Seite Die Kirchen.........249 — 278 ,,N,om« tktllre!" — Die Toleranzstraße. — Die Ifaakskathedrall. — Das Pantheon. — Die Trophäen in den Tempeln. — Bie Kaisergruft. — Neue und alte Kirchenmalerei. — Die Lawrcn. — Silbermasscn. — Persischer Perlentribut. — cili^ —- „l'Qrtlier! s^rtller! Vuui ^»^est^!'^ — Die heilige Zwemmgkeit. — Die deutschen Kirchen. Die Begräbnisse und Kirchhöfe . 279—295 Aus den Augen, aus dem Sinn. — Beerdigungs-ceremoniccn.— Todtenklagen. — Grabmonumcnte. — Die Gräber der Großen. — Der Leichcnstcin Suwarow's. Die Monumente.......296 — 310 Bescheidenheit der russischen Kaiser. — Kritik der Reiterstatue Peter's des Großen. — Der Riß in der Rllrandersäule. — Den Siegen Rumantzow's. — Die Triumphbogen. Die Arsenale........311 — 326 Das Nolimctangere. — Die Strelizenfahne. — Das Kabriolet Peter's des Großen. — Paul'S Schaukelpferd. — Japanische und chinesische Soldaten. — Fcstungsschlüssel. — Die russischen Ka« noncn. — Kricgsgetümmel. Die Kaiserpaläste.......327 — 346 Das alte Michailow'sche Schloß. — Das schönste Haus im Norden. — Die Wohnzimmer der kaiser« lichen Pferde. — Das Exercicrhaus. — Der tau» rischc Palast. — Der Schloßbrand. — Das Marmorhaus. XII Inhaltsverzeichniß. Seit^ Die Eremitage . ......347 — 372 Katharinens <2our ä'nmour et äe« ^lu««».— Van der Neer'scher Mondschein. — Claude's Tages, zelten. — Paul Potter, Pordenon. — Wynant'ö Hühner und Enten. — Die Wouvermalin'schen Plünkler. — Rembrandt.. >— Die Antiquitäten der bosporanischen Könige. —- Intaglios. — Heems»«, kerk's Kohlkipfe. — Die Kronjuwelen. — Vol« taire's Bibliothek. — Lappländische Niederlassungen. Panoram a »Be, jcbem Schiitt, „Wohin du gehst, geh'n die Paläste mit.' oü3enn in unseren alten Städten mit ihren engen Straßen und winkeligen Hausern die Gebäude zu Thürmen auf-getrieben und die Menschen wie in Bienenzellen angehäuft wurden, so wurde dagegen in Petersburg Alles überflüssig bequem und weitläufig, die Straßen breit, die Plätze regelmäßig, die Gehöfte groß, die Häuser geräumig. Bei uns taxirt und mißt man die Bauplätze nach dem Zollstabe. Die 80 Quadratwerste, welche Petersburg für sich nahm, erlaubten, freigebiger zu verfahre», und wenn in Wien oder Dresden selbst die Königs-paläste so sehr mit den übrigen Gcbaudemaffen verschmelzen, daß sie kaum als sclbststandige Ganze zu erkennen sind, so nimmt dagegen in Petersburg jedes PrivathauS mit seinen Höfen ein Stück Boden ein, das hinreichend groß ist, um nach allen Seiten die Architektur deS Kohl, Petersburg. I. 1 2 Panorama. Hauses zu zeigen. Bei uns erscheint selbst das größte Gebäude nur als ein Thcilchen des ganzen dichten Stadtgewächses, während in Petersburg sich jeder Theil als ein Ganzes prasentitt, und jeder Vaum im großen Hauserwalde seine individuelle malerische Wirkung nicht verfehlt. Dennoch aber, oder vielmehr ebendeßhalb, — denn wo das Einzelne sich breit macht, verliert natürlich das Ganze an Einheit — ist Petersburg nichts weniger als eine malerische Stadt. Alles ist so luftig und licht. Es fehlt in den Straßen so sehr an kraftigen Schatten, an hell durchbrechenden Strahlen, an ManclMtigkeit der Lichttöne, es ist Alles so bequem, so schön, so neu, daß ein Canaletto schwerlich auch nur eine solche poetische Ansicht darin für die Leinwand gewinnen würde, wie er in unseren an Contrasten, Erinnerungen und buntem Leben so reichen Städten deren an allen Straßenecken finden mag. Die Gaffen sind so breit, die Platze so groß und wüste, die Flußarme in der Stadt so mächtig, daß die Hauser, so gewaltige Massen sie auch an und für sich bilden, ihrer nicht leicht Herr werden können und gegen diese Riesenmäßigkeit des Plans verschwinden. Dazu kommt, daß das Terrain der Stadt so äußerst eben ist, daß sich nirgends Eins über das Andere erlabt. Alle diese schmucken Gebäude liegen, in unabsehbare Reihen geordnet, auf der platten Erde, wie v«koi Ostrom) ihr« schöne Börse, die Akademie der Künste, die Universität bar. Nach Norden droht die „Petersburger Seite" (soloi-s-bur^KHu 8wronn) mit ihrer in die Newa hineinragenden Festung, und nach Osten hin tauchen dle Caser-nm und Fabrikgebäude der „Niborg'schen Seite" ^) auf. Es sind dieß die vier Hauptmassen, in welche die Stadt durch die große und kleine Newa und durch dle große Ncwka zerfallt. Die bei Weitem alle anderen überwiegende ist aber „die große Seite," die vom Hofe und von der einflußreichsten Hälfte der Einwohnerschaft be- ^) Wahrscheinlich nannte man die verschiedenen Stadtthcile Petersburgs „Ecitcn," indcm man dabei scmcn Stcmdplmct auf der Newa nahm und, u»,'n ihr ausgehend, nun von rcchtcr und linker, kleiner und großcr Seite sprach. „Die große Seite" bekam diesen Namcn, weil an ihr dic Hauptmasse der Stadt sich hin erstlttlt, die „Wiborg'sche Scite," weil der Weg nach Wiborg durch sie hinführt, die „Vasiliuö-Insel" von dcm Kapitän „Va-silüis,^ der bei der Anlegung der Stadt die Arbeiter in biestm Stadtthcile commandirtc, und die „Pctersburgischc Seite," wcil zu ihr die eigentliche Burg Peter's, die Festung, gchötte. Panorama. 7 völkert ist; die unbedeutendste ist die „Wiborger Seite," welche Gärtner, Soldaten und Fabrikanten nährt und noch eine größere Bebauung erwartet, mit welcher man jetzt eifriger als mit der irgend eines anderen StadtthcileS beschäftigt ist. Auf der Basilius - Insel, die auf allen Seiten von den tiefsten Newa-Armen umflossen lst und dem Meere sich zuwendet, hat bcr Handel seinen Sitz aufgeschlagen, und die Musen, die Freunde Mercur's, haben sich ihm angeschlossen. Die „Petersburger Seit.'," auf der theils niedrige, unbewohnte Sumpfinseln, tl).'ils die Festung mit ihrem Rayon die Gebäude vom Fluß-user entfernt halten, ist von vielen ärmeren Classen der Einwohnerschaft besetzt und hat schon größtentheils den Charakter einer Petersburger Vorstadt. Die dichten Hausermasscn der großen Seite, dicht im Vergleich zu den Verhältnissen der übrigen Stadt-theile, werden von den in Halbkreisen sie umschlingenden drei Canälen, der Moika, der Fontanka und dem Ka-tharmen-Canale, in die drei um die Admiralität herum sich legenden Halbringe „des ersten, zweiten und dritten A'dmiralitäts-StMtheils" concentrisch zerschnitten und bann wieber radial durchbrochen durch die drei von dem Admiralitätsthurme ausgehenden Perspective«''), „die große oder Newaische Perspective" (ko>v>ckul lso^'oi^!), „die Erbsenstraße" (ttorovlww^'» Vlttan) und „die Auf-erstehungs-Perspective" (>Vosno«on8lloi kro^e«»). *) Alle langen Straßen erster Größe Petersburgs, die ei«e lmcndlich« Aussicht in's Weite gewähren, heißen „Perspective«." 8 Panorama. Vom Abmiralitatsthurme aus, der allen jenen Straßen als pault llo vue dient, folgt das Auge der langen Reihe von Palästen, die sich an ihnen in weite Ferne hinzieht, und mit einem guten Fernrohre entdeckt man mittels dieser Durchbrüche leicht, was sich in den entlegensten Quartieren ereignet und bewegt. Die drei ersten Admiralitätsstadttheile enthalten Alles, was der Stadt das Wichtigste ist, die merkwürdigsten öffentlichen Gebäude, die vornehmsten Magazine, Vasare und Märkte, die größte Masse der Beamtenwelt, die beßten Handwerker und Künstler, die Creme des Adels, von allen Classen Nr. 0. — Dem Geiste schwindelt, wenn er die erstaunliche Menge lebendiger Creaturen und geformter und geordneter Massen, die hier das Zauberwort eines gewaltigen Machthabers in's Leben rief und ansammelte, in detaillirende Untersuchung zu ziehen beginnt. Mit einem Blicke überschaut hier das Auge Werke, zu deren Vollendung Millionen von Handen anderthalb Jahrhunderte lang sich regten. Der Tribut von hundert Völkern und der Schweiß zahlloser Sklaven erscheint hier in magnifiken Palästen an den Ufern der Newa aufgestapelt. Es ist das brillante Resultat aller Kriege und Siege des russischen Adlers und das Erzeugnis) seines merkwürdigen Wachsthums. Vyzanz und Babylon, Samarkand und Peking mußten zollen, um das Palmyra der nordischen Wüsten zu bauen, die Tataren und Kau» kasier, die Polen und Finnen mußten bluten, damit dieß Babylon bestehe, frei athme und lebe. Der Nobben-thran der Eskimos und Samojeden duftet nach tausend- Panorama. 9 fachen Metamorphosen als Odeur und Parfum in den Sälen dieser Gebäude, und was die Natur in den Eingeweiden des Urals und Altai unter dem Schutze der golbhütenden Greifen langsam schuf, die Edelsteine, das Gold und Silber, die Pelze, mit denen sie die Thiere der sibirischen Walder schmückte, die Theeblume, die sie an Chinas Standen erblühen ließ, die Gewürze, die sie an Arabiens Sonne kochte, dieß AlleS ist hier an's helle Tageslicht der Residenz hervorgegangen, und alle Säfte und Kräfte, die irgendwo auf dem großen Areal des Riesenreichs spärlich tröpfelten und keimten, fließen unter diesen Dachern in Strömen, und indem sich Tropfen zu Tropfen und Körnchen zu Körnchen fügte, wuchs hier Alles zu rlesenmäßiger Größe heran. Dieses Silber der Altare und dieses Gold dcr Kirchenkreuze wurde erkauft mit dem Leben vieler tausend Krieger. Eine einzige Gesellschaft, wie sich deren unter diesen Dachern taglich Hunderte versammeln, ist das Product von langjährigen pädagogischen und belehrenden Bemühungen und von unzähligen aus englischen, französischen, deutschen und russischen Lippen hervorgegangenen Ermahnungen. Die Richtung der drei Perspective«, die unter Winkeln von etwa 4l) Graden auseinander laufen, und der Lauf der drei Canale bestimmen die Direction der übrigen radialen und concenttischcn Straßen der drei Admiralitäts-Stadttheile. Die berühmtesten unter ihnen sind die große und kleine „Morskaja," die große „Millionawa," die „Meschrschanskaja" und die „Ssadowaja" (Gartenstraße). 1" 10 Panorama. Alle Straßen Petersburgs ohne Ausnahme sind breit und bequem, und Winkel- und Sackgäsichen sind hier durchaus unbekannt. Allerdings theilt man sie ein in drei Classen, in „Prospecte" (lange Straßen erster Größe), „Ulitzen" (gewöhnliche Straßen) und „Pereuloks" (Ver-bindungsstraßcn, Quergassen). Doch sind diese Quergaffen meistens noch so breit und groß, daß sie in jeder anderen Stadt von minder kolossalen Verhaltnissen für Hauptstraßen gelten könnten. Die Straßen haben meistens zwei Namen, einen russischen und einen deutschen, der aus dem Russischen überseht ist. Außer den Deutschen, die ihre deutschen Namcn gebrauchen, bedienen sich alle anderen Nationen, die nicht so zahlreich vorhanden sind, dcr russischen Benennungen. Jenseits der „Fontanka," die, mit den schönsten Häuserreihen an ihren Ufern besetzt, den letzten Admiralitäts-stadttheil umschließt, dehnen sich alsdann noch breit umher die übrigen Stadttheile aus und legen sich in mächtigen Ringen um den inneren Kern, und endlich weit hinten aus der Ferne, an die Wüsteneien der ingermanländischen Sümpfe gränzend, dammern in mattem Lichte und in den Nebel des Horizonts verloren die Vorstädte an dem „Ligow'schen" und dem „Zagorodno-Canal" und die von Arbeitern und Handlangern bewohnten Stadtdörfer „Klein- und Groß-Ochta" hervor. Auch diese Stadttheile, die von den „Iämschschicks" (Fuhrleuten), „Plot-niks" (Zimmerleuten) und „Mushiks" (Bauern) bewohnt werden, gleichen in nichts unseren Armenviertcln. Es giebt in Paris und London Quartiere, welche die wahre Re< Panorama. 11 sidenz des Hungers und Elendes zu sein schienen, in denen sich cine schmuzige, zerlumpte, sittenlose und freche Menschemace bewegt, in denen die Häuser eben das zerfallene und kümmerliche Ansehen ihrer Bewohner haben, und worin Noth, Kummer nnd Entsittigung in tausend gräßlichen Gestalten auf den schmuzigen Straßen schleichen. Dieß ist in Petersburg nicht so. Lumpensammler, elende halbnackte Krüppel, zudringliche Bettler, einen frechen Pöbel kennt diese vornehme Residenz kaum. Ja ganz Rußland hat in keiner seiner Städte eine Straßenbevöl-kerung der beschriebenen Art. Nußland ist dafür der Leibeigenschaft der niederen Volksklassen verpflichtet. Mit dem Triebe zur Freiheit wurde ihnen auch der Zahn der Frechheit «usgerisfen, und da die Kleinen sich alle an die Großen lehnen, so kann keiner so tief sinken, wie bei uns, wo Alles auf eigenen Füßen stehen will. Was man daher von den russischen Städten bei uns sagt, daß darin neben den traurigen Hütten die schönsten Paläste ständen, ist, scheint es mir, mißverstanden. Es giebt bort keine so schneidende Contraste zwischen Elend und Luxus, obgleich allerdings die Verschiedenheiten zwi-schen der rohen Einfachheit der Einen und dem Ueber-flusse der Anderen groß genug sind. Der böse Geist der Gier nach den von Anderen in Besitz genommenen Gütern ist noch nicht in dem gemeinen russischen Volke erwacht. Sie haben nach ihrer Art zu essen, wenn auch nur rohen Kohl und grobes Brot, und kleiden sich vollständig, wenn auch nur in Sackleinwand und Schafsfelle. Die Vorstädte der Arbciter und die Quartiere 12 Panorama. des „schwarzen Volks" in Petersburg sind daher durch nichts anstößig und verletzend, obgleich allerdings wüste, öde und unschön, und also auch durch nichts wohlgefal' lend. Da in ganz Petersburg, wie überhaupt in ganz Rußland, die hohen thurmartigen Dächer unserer Städte fehlen, da man dort glücklicher Weise durchweg mit mehr ober weniger platten Dächern baut, so fehlt damit auch die ganze bei uns so zahlreiche Dachbeuölkerung. Ein Dachstübchen giebt es wohl in Petersburg kaum, und so auch nicht die Dachpoeten, nicht die im höchsten Stocke wohnenden Gelehrten und Schriftsteller, und nicht alle die übrigen bei uns unter den Schindeln und neben den Schornsteinen hausenden Gefangenen und Kummervollen. Die kleineren Hauser in Petersburg sind fast durchweg nur ein- und zweistöckig, besonders in den äußeren Ningen der Stadt, aber auch m den inneren selbst finden sich nicht wenige einstöckige, und nur in den drei Ab-miralitatsstadttheilen erheben sie sich zu drei und vier Stockwerken, und zwar hier m neuerer Zeit immer häufiger. Fünfstöckige giebt es kaum ein halbes Dutzend, wahrend man bei uns sehr hausig zu sechs-, sieben und achtstöckigen aufsteigt. Es macht sich jetzt, da die Naume am Boden theurer zu werden beginnen, und die Stadt nicht mehr so bedeutend und zerstreuend um sich greift, sondern sich mehr in sich selbst ausbaut, ein bedeutendes Streben in die Höhe geltend. Die neuen Hauser werden höher gebaut, und auf den alten ein- und zweistöckigen werden neue Etagen aufgesetzt. Wahrend meiner Anwesenheit in Petersburg hätte man leicht ein paar Panorama. 13 Hundert solcher Hauser zählen können, deren Dächer man abgedeckt hatte, um neue Etagen aufzusetzen. Wie nach Süden vom Admiralitatsthurme die drei Perspectiven, so gehen nach Norden und Westen die Flußarme auseinander, und wenn auf jenen das Treiben und Jagen der Equipagen das Fernrohr ergötzte, so ist es hier das noch interessantere Schaukeln der Boote und Schiffe. Der Brücken über die Newa sind nur wenige, und man ware daher in viclcn Fallen gezwungen, große Umwege von mehren Wersten zu machen, wenn nicht an zahlreichen Puncten des Users Boots bereit ständen, die für wenige Kopeken auf die andere Seite führen. Die gewöhnlichen Petersburgischen Ueberfahrboote sind unbedeckt und mit einem Nuderer versehen. Doch giebt es auch bedeckte und sehr große zu tt, 10 und 12 Ruderern, die mit großer Geschicklichkeit ihr Handwerk treiben und ihre Paffagiere gewöhnlich auch noch mit Gesang und Musik unterhalten. Die großen Herren, der Hof, die verschiedenen Ministerien und viele öffentliche Anstalten haben ihre besonderen Gondeln, die oft sehr reich geziert sind und von uniformirten Gondoliere« geführt werden. Alle Canale und Flußarme Petersburgs sind von ihnen cben so belebt, wie die Straßen von den Droschken. An Festtagen gleiten sie in großen Flottillen den zauberischen Inseln, dm beliebtesten Lustortcn der Petersburger, zu. In Hamburg, Odessa, Rotterdam und vielen ande« ren Seehandelsplatzen, wo nur ein enger Hafen zur Aufnahme der Schiffe bereit ist, liegen alle Schiffe zu 14 Panorama. einem dichten Haufen vereinigt. In Petersburg, wo die beiden Arme der Newa in ihrer ganzen Länge als Hafen dienen, vertheilt sich Alles mehr, und es bilden sich an den Quais hin und auf der Mitte des Flusses verschiedene Gruppen von Schiffen. Hier sieht man eine kleine Flotille armirter „Kriegsmänner," dort einen Haufen friedlicher Kauffahrteifahrer ober eine Versammlung von allezeit segelfertigen Dampfbooten. Wie sich auf der Wasserseite die Schiffe am Ufer hinreihen, so auf der Landscite die Prachtgebaude des englischen und des Hof-Quais, und ihnen gegenüber die endlose Reihe der Hauser des Wassili-Ostrow'schen Quais, die Börse, die Akademie der Wissenschaften, die Universität, das erste Kadettencorps*), die Akademie der Künste, das Corps der Bcrgcadetten, sämmtlich am schönen südlichen Ufer der Insel hingelagert. Alle diese Gebäude sind von außerordentlichem Umfangs. Die letzten erkennt das Auge schon kaum mehr, und noch immer dammern neue und neue Gruppen von Palasten hinter ihnen auf, wie hinter einander lagernde und in blaue Ferne sich verlierende Vergzüge. Das nördliche Ufer von Wassili-Ostrow ist nicht so brillant, lveil es der wüsteren PeterS-burgischen Insel zugewendet ist. Mit Bedacht macht Wassili-Ostrow gegen die große Newa Front und zeigt seine Lichtseite den Palasten der Admiralitatsstadttheile. *) „Kudetskoi Korpus." Dle Russen nenne« lncht nur lie Gesellschaften der Kadetten u. s. w., sondern auch die v.'N chncn eingenommenen Gebäude „Corps" (Ko,'l",,''). — Panorama. 55 Peter der Große, der schon vom Anfange herein Wassili-Ostrow zum Sihe des Handels auserwählte, und dem Amsterdam als Muster einer gut eingerichteten Handelsstadt vorschwebte, wollte diese Insel nach Art jener Stadt mit Canälen durchschneiden, auf denen dann die Waaren auf die bequemste Weise zu den Magazinen gelangen sollten. Einige von diesen Canalen wurden auch ausgeführt, später aber ward der Plan aufgegeben und Alles wieder verschüttet. So sieht denn jetzt Wassili-Ostrolv in keinem Stücke seinem ursprünglichen Vorbilde, Amsterdam, ähnlich. In Amsterdam, wie in allen anderen holländischen Handelsstädten und auch in den meisten unserer Seeplatze, bleibt Einem kein Zweifel darüber, baß man unter Kaufleuten sei. Auch zeigt der Geruch von Käse, Häringcn, Tabak und Gewürzen, der aus jedem Hause haucht, dem Vorübergehenden deutlich genug die Waare an, mit welcher das Haus verkehrt. Waarenballen liegen in den Haussturen und vor den Thüren angehäuft, und unter allen den Weinfässern und Kassecsacken lassen sich kaum die Wohnzimmer des Kaufmanns auffinden. Schwer bcladene Wagen rasseln auf den Straßen, und die alten Hauser beben. Comptoiri-sten zeigen sich mit den Federn hinter den Ohren vor den Packhäusern, mit Zählen, Notiren, Marken und In-spiciren beschäftigt. Wie ganz anders ist es hier auf dem Petersburgischen Wassili-Ostrow, wo die eleganten Häuser in langen Reihen, geputzt und mifmarschirt wie Garbejunker, stehen, wo sich kein Handels-Commis mit bestecktem Arbeitsrocke unter freiem Himmel zeigt, ja 16 Panorama. kaum anders als nach sorgfältiger Toilette in's Comptoir geht, wo Niemand auf dem Trottoir den Anderen auf den Straßen umlennt, vielmehr Alles sich hoflich und mit millo oxouiles neben einander hinbewegt, meistens in eleganten Equipagen, wo keine Spur von Kasegeruch zu finden, wo Alles glauben machen konnte, daß hier nur Fürsten und Herren den Handel trieben. Die Waarenmagazine der Kaufleute liegen theils in Kronstadt, theils außerhalb der Linien dec Wohngcbäude, theils find sie eben so elegant wie diese und von ihnen kaum zu unterscheiden. Wassili-Ostrow zerfallt durch seine sich rechtwinkelig schneidenden Straßen in eine Menge von Quarr^s oder „Kwartals," wie die Russen sie nennen. Die Straßen, welche der Lange der Insel nachgehen, heißen Prospecte, wie alle langen Straßen; bei den quer über die Insel hinlaufenden findet aber eine eigenthümliche Vencmmngs-weise statt. Die Straßen selber haben eigentlich gar keine Namen, sondern nur die an ihnen liegenden Häuserreihen. Es werden dieselben nämlich „Linien" genannt und durch die Ordinalzahlen von einander unterschieden. Die rechte Seite der ersten Querstraße heißt die „Cadetten-Linie," die linke Seite derselben Straße die „erste Linie," die rechte Seite der zweiten Querstraße die „zweite Linie," die linke die „dritte Linie," u. s. f. bis zur 2?sten Linie. Bei dieser höchst bequemen Regelmäßigkeit wird die Bezeichnung der gesuchten Wohnungen ungemein leicht. Die Sache, die bei unseren Stadtirrgar-ten von Straßen und Straßenbenennungen oft so un^ Panorama. 17 ständlicher Beschreibungen bedarf, läßt sich hier gewöhnlich mit,zwei Worten sagen, wie z. V. „mittlerer Prospect, rechte Seite zwischen der elften und zwölften Linie Nr. 23." Da kann kein Mansch fehlen. Die Insel Wassili-Ostrow bildet ein gleichschenkeliges Dreieck, das mit seiner Spitze sich in das Innere von Petersburg einkeilt. Nur diese obere Halste der Insel ist bis jetzt bebaut. Die dem Meere zugekehrte Vasi'shalfte ist außer dem vom Galeerenhose, dem Quartiere für Marine-Soldaten u. s. w., eingenommenen Theile völlig wüst und unbewohnt, sumpfig und häufig vom Meere überschwemmt. Die „Petersburger Insel," von der wieder durch kleine Flußarme die Apotheker-Inscl, die Insel Petrows-koi und eine Menge kleinerer abgetheilt sind, gewahrt das meiste Interesse durch die auf einer besonderen kleinen Inscl vor ihr liegende Festung, die man vom Admiralität^ thurme aus in allen ihren Theilen übersieht. Sie bildet ein längliches Viereck, das große Vorwerke auf der Peters-insel und zwei anderen kleinen Inseln vorgeschoben hat, so daß sich auf den Cana'len, welche, die Inseln von einander trennen, auch Schiffe unter die Kanonen der Festung sicher zurückziehen könnten. Es ist gut, daß die Petersburger gewöhnlich andere Dinge zu besorgen haben, sonst möchten sie wohl nicht ohne Schaudern an die Bestimmung dieser mitten in ihrer schönen Residenz liegenden Festung denken. Da sie rund herum von der Elite der Petersburgischen Hauser umgeben ist, so würden, wenn die Thätigkeit ih^'r Kanoncn einmal in An- 18 Panorama. spruch genommen werden sollte, ihre Kugeln furchtbar in den Eingeweiden des eigenen Fleisches wüthen. Da sie mitten in der Stadt auf niedriger Insel liegt, von wo aus sie nichts außer der Stadt do min iren und diese also nicht vertheidigen könnte, so kann der einzige Zweck ihrer Unterhaltung nur ein feindlicher gegen die Stadt selber sein, dem Kaiser, dem Hofe und seinen Schätzen als letzter Zufluchtsort zu dienen, sei es, dasi die Stadt in Feindeshanb geriethe, sei es, daß sie aufrührerisch sich selbst gegen ihre Beherrscher erhöbe. Die Festung liegt dem Winterpalais gerade gegenüber, mit dem sie in bestandigem Verkehre steht, und zeigt auf diese Weise beutlich ihren Zweck. Im Kriege wohnt man drüben, im Frieden hüben. Die Newa-Arme unmittelbar an ihrer Mündung in's Meer sind durch nichts befestigt, und wenn Kronstadt, das ihnen als Schloß und Riegel dient, seinen Dienst versagt, so mag dann die wehrlose Hauptstadt vor der Spitze des Dolches zittern, den sie im Busen trägt, und den sie nicht zur Vertheidigung gebrauchen kann, ohne sich selbst zu zerfleischen. — Bei der Allgewalt Nußlands auf dem Continente ist dcr schon langst drohende Zusammenstoß mit England, dem es in Europa, wie in Asien, Asrlka und Amerika gegenübersteht*), *) In Afrika verflechten und kreuzen sich die russischen und englischen Interessen an dcm ägyptischen Novdostcndc, in Amerika stoßen ihre Gränzen am nordivrstlichln Zipfel zusammen, in Asien stehcn sie sich an Indiens und Pcrsicus Gränzen gegenüber und in Europa am gncchischcn Bosporus, wie am normäimischcn Sunde. Panorama. 19 für die Zukunft wohl gewiß. Die russische Ostsee-Flotte wird gegen die vereinigten Flotten der Eng-länder, Schweden und Dänen nicht Stich halten können nnd nach verlorener Schlacht in den Kronstädter Meerbusen überwunden zurückfliehen. Englische Goldtonnen etwa würden die Thore Kronstadts öffnen, die englischen Kanonenboote vor die Newa laufen, und die Vertheidiger der Stadt sich in die Festung werfen. Bei dem Bombardement würde ein Theil der schönen Hauptstadt in Asche fallen, und nach dem darauf folgenden Frieden, der den Englandern neue Handelsfreiheiten zugestehen müßte, würde die russische Staatsgewalt aus Kummer über ihre zerstörte Newastadt die schon lange besprochene Idee, ihre Nesldtnz wieder in's Innere des Reichs, nach dem allrussischen heiligen Ursitze der Zaa-ren, dem Kreml von Moskau, zu verlegen, ausführen. Petersburg würde verschwinden bis auf Wassili-Ostrow, wo immer noch der Handel, der an diese geographische Position mit Nothwendigkeit gebunden ist, seinen Sitz behalten würde, so lange nur noch Leben und Verkehrs-lust mit dem Auslande im Inneren Rußlands sich regte. Man möchte, wie -kerxes am Ufer des Hellespont^, trauern, wenn man vom Admiralitätsthurme alle diese lachenden Palaste sieht und ihr trauriges Schicksal überdenkt. Doch mögen wir einstweilen nach dem genußreichen Uebcrblicke des Ganzen noch wohlgemuth hinabsteigen und das Einzelne des annoch unversehrten Stadt-mneren in nähere Erwägung ziehen. Bauart. ,,In die N^Idniß hinnus sind de» Waldes Faunen verstoßen, ,, Zischend fliegt in den Baum die Art, es erseufzt die Dryade, ,,Aus dem Felsbruch wiegt sich der Stein, vom Hebel beflügelt." ^Veine unserer heutigen Städte kann sich rühmen, so ganz aus Niesengebauden und Palästen zusammengesetzt zu sein, wie Petersburg. Gleich im Voraus mögen wir diese Behauptung durch einige specielle Facta belegen. Es giebt, drei Gebäude in Petersburg, die nur durch einen Flußarm von einander getrennt sind, die Admiralität, das kaiserliche Schloß und das erste Kadettencorps. Um auf dem geradesten Wege von dem einen Ende dieser drei Häuser zum anderen zu gelangen, hat ein fleißig seine Schritte fördernder Fußganger über 25 Minuten nöthig; denn die Entfernung beträgt etwas mehr als eine englische Meile. Es giebt viele Häuser in Petersburg, in denen Bauart. 2l mehre tausend Menschen wohnen, z. B. im Winterpalms 6000, im Hospital der Landtruppen 4000 (Krankenbetten), im Findelhanse 7000 (Kinder), im großen Ca-dettencorps mehre tausend junge Leute. — Von vielen Häusern haben die Besitzer Nevenueen, wie sie manche Grasschaft nicht trägt. Viele bringen 50,000 Rubel, manche über 100,000 in einem Jahre ein. Das große Cadettencorps auf Wassili-Ostrow hat ein Viertheil englische Meile (4-i0 Yards) im Quadrat. Dieses Gebäude ist zweistöckig, hat oben,und unten zwei Reihen von Zimmern neben einander hinlaufen und außerdem noch mehre Flügel. Die Lange aller seiner Zimmer und bewohnten Raume betragt, knapp gerechnet, nicht weniger als ^ deutsche Meile. Wollte man alle Gebäude Petersburgs in einer Richtung an einander setzen, so würde man eine Straße von 100 deutschen Meilen Lange herausbringen, und wollte man sie übereinander Haufen, so gäbe dieß eine Pyramide von 3 englischen Meilen Höhe, Breite und Länge, zu der jedes Haus ein Baustein wäre. Von allem Petersburgischen Baumaterial könnte man demnach eine ganz ansehnliche Bergkette bilden, ein halbes Dutzend Vlocksberge nebst Vorbergen und Vochügeln. Nach dem genannten Kadettencorps sind Hauser erster Größe in Petersburg das taurische Palais, die Admiralität und die Generalität, das neue Palais Michael, das Winterpalais, der große „6o8lmnoi v^vor" (Basar) und das Findelhaus. Nach ihnen in den zweiten Rang kommen das Smol-noi-Kloster, das New'sche Kloster, die Commerzbank, mehre Hospitäler und Kasernen, dann die Hanf-, Talg- 22 Bauart. und andere Magazine, d^s Mauthgebaudc, der Senat, der Synod, das Marmor-Palais, die kaiserlichen Slall-gebaube, das alte Michaiilow'sche Palais. Darnach kommen in den dritten Rang die großen Theater, die größten Kirchen, die kleineren Hospitäler u. s. w. Unter den Privathausern sind viele, welche an Zahl und Weitläufigkeit der Gehöfte, an Größe der verschiedenen Flügel :c. der Burg in Wien wenig nachgeben. Unter vielen hundert anderen kannte ich z. B. eins, dessen Ue2 äo clinu^ev auf der einen Seite einen Basar bildete, in welchem Kaufleute alle Bedürfnisse dieses irdischen Lebens feilboten, lvahrend auf der anderen eine Reihe deutscher, englischer und französischer Künstler und Handwerker ihre Schilder aushängen hatten. In der ttol-^nSo wohnten zwei Senatoren und die Familien mehrer reichen Particulicrs. In dem zweiten Stockwerke befand sich eine im ganzen Hause sehr berühmte pädagogische Anstalt und eine ziemliche Anzahl von Akademikern, Lehrern und Professoren, und in verschiedenen Hintergebäuden haustew außer vielen obscuren Leuten mehre Majore, Obersten, einige abgedankte Generale, ein armenischer Priester und ein deutscher Prediger. Ganz Petersburg rund umher hatte untergehen, und die Bewohnerschaft dieses Hauses doch immer noch unter sich eine vollständige politische Gemeinde bilden können, in welcher jeder Stand vom obersten Consul bis zum gemeinsten Lictoren und Proletarier vertreten gcwesen ware. Wenn so ein Gebäude abbrennt, so machen 200 Etablissements auf ein Mal Vanquerött. — Eine Familie in einem solchen Haus« Bauart. 23 aufsuchen zu müssen, ist eine Geduldsprobe sonder Glei^ chen. Wenn man den „Butschnik" (einen der in dm Straßen postirttn Polizeidiener) aus der einen Seite nach einer Adresse fragt, so versichert er, daß seine Kenntniß sich nur auf diese Ecke des Hauses erstrecke, und daß er von der anderen Seite gar nichts wisse. Es giebt so entlegene Wohnungen in diesen Gebäuden, daß sich nicht alle unter demselben Dache Hausende als Nachbarn anerkennen wollen, und es ist nicht viel übertrieben, wenn cm Reisender behauptet, daß ein jedes Haus in Petersburg eine Stadt sei. Viele stellen sich an der Straße allerdings verhaltnißmaßig nicht so bedeutend dar, weil doch die meisten nur mit der kleinsten Seite Front machen. Tritt man aber durch die „Podjasde" (Durchfahrten, Thorwege) in die inneren Raume ein, so setzt die Größe der Gehöfte und die Menge der Hinter- und Nebengebäude, der Durch- und Uebergange, der An- und Ausbauten Einen in Erstaunen. Wie viele Tausende sind in unseren Städten schon glücklich, wenn sie über einen Raum von 10 Fuß im Quadrat als über das Gebiet ihrer eigenen Herrschaft 'schalten können, und schwerlich möchte bei uns sich die Durchschnittszahl des jedem Individuum angewiesenen Raumes höhcr stellen. In Petersburg gellen viel bequemere Zahlen. Die 5,0l),0W Einwohner dieser Stadt bewohnen einen Flächenraum von mehr als einer Quadratmeile zu 24,0UU Fusi, d. h. von 570,00N,0W Quadratfuß. Rechnet man hierzu etwa 20,W0,U00 Quadrat-fuß für die Zimmerräume in den zwcittn und dritten 24 Bauart. Stockwerken der Häuser, so ware damit den Petersburg gern ein Flachenraum von t»0U,000M0 Quabratfuß gewahrt oder jedem Einwohner, Kinder, Arme, Reiche und Alte eingerechnet, zum Wohnen, Spazierengehen, Schlafen u. s. w. ein Raum von 1200 Quadratfuß oder von ungefähr 36 Fuß im Quadrat, was gewiß mehr betragt, als irgend eine Stadt West-Europas ihren Bewohnern zugestehen kann. Allerdings mögen diese Räume etwas anders vertheilt sein als bei uns, und z. B. verhältniß-mäßig auf wenige Reiche weit mehr fallen als auf die zahlreichen Unbemittelten, und auf die Prunkzimmer mehr als auf die Schlafkammern. Allein im Ganzen hat doch auch selbst der Aermste in Petersburg gewiß mehr Luft und Naum als bei uns. Die meisten Hauser in Petersburg sind, wie gesagt, bis jetzt nur zweistöckig, und nur in den innersten Stadt-theilen findet man drei- und vierstöckige. Ein Mann, der aus falschberechneter Speculation mehre dreistöckige Häuser in einer der entfernten Linien von Wassili-Ostrow gebaut hatte, machte Banquerott, weil er keine Miethsleute finden konnte, die so hoch hätten hinaufsteigen wollen. Umgekehrt zeigen sich sogar noch nahe dem Centrum der Stadt nicht wenige einstöckige Gebäude, in denen reiche Privatleute wohnen, die nach russischer Sitte das Niedrige lieben und sich am Voden hin ausbreiten, wahrend ihnen ihr Haus in zwei über einander gesetzten Stockwerken halb so theuer zu stehen käme. Eben so wie ßür die niedrigen haben die ächten Russen auch für die hölzernen Häuser, eine Vorliebe und freilich eine Bauart. 25 sehr gut begründete; denn es ließe sich eine ganze Liste von Vorzügen der hölzernen Gebäude anfertigen, die Jedem einleuchtend und namentlich einem Nüssen unschätzbar sein müssen. Die Geschmeidigkeit, mit der sich das Holz in jede Gestaltung fügt, die Schnelligkeit, mit der man es formt und zu einem Gebäude aufzimmett, die Warme, die es im Winter gewahrt, .und seine Billigkeit sind nicht die einzigen. Trotz dem, daß die Regierung den steinernen Häusern allerlei Vortheile gewahrt und die hölzernen auf alle Weise zn verdrängen sucht, giebt es der letzteren in Petersburg dock) noch überwiegend mehr als der ersteren. Man nimmt an, daß zw« Drittthcile der Häuser hölzern sind, und selbst in den beßten Stadttheilen findet man hier und da noch hölzerne Palais, die von den ersten Familien bewohnt werden. Ucbngms dürfen die hölzernen Häuser nicht höher als zwei Stockwerke sein. In einigen Stadttheilen hat man sie ganz verbannt, in anderen dürfen keine neuen gebaut werden. Auch werden sie sonst noch mit allerlei beschwerlichen Maßregeln verfolgt. So wurde z. B. kurz vor meiner Ankunft die Polizei; Verordnung gegeben, daß auf dem Dache jedes hölzernen Hauses eine zum Schornstein führende Leiter in Vereitschaft liegen, so wie ein stets gefüllter Wassertrog nebst Eimer auf der Kante des Dachs daneben stehen sollte. In der That eine originelle Idee, die von der sehr aufmerksamen Fürsorge der Polizei für das öffentliche Wohl zeugte und Dem, der den Einfall hergab, gewiß seinen Nutzen brachte. Man sah noch die Rudera von den mancherlei sonderbaren Kübeln, Trep-Kchl, Petersburg. I. 2 26 Bauart. pen, Leitern und Löschanstalten, welche diese Verfügung auf die Dächer gebracht hatte. Der erste Winter hatte natürlich den ganzen Apparat durch das Gefrieren des Wassers unbrauchbar gemacht und zerstört, und das, was der Winter verschont, hatte die Hitze des Sommers ausgetrocknet und zersprengt. Das Volten der Häuser in Petersburg ist kostspieliger als in irgend ciner anderen Stadt des Ncichs, weil die Nahrungsmittel und der Tagelohn hier theuerer sind als irgendwo, bann auch aus vielen anderen Gründen. Der Erdobcrsiach.'nfleck, den Petersburg bedeckt, ist der theuerste in ganz Rußland. Es giebt Privathäuser, die für ihren Grund und Boden 200,000 Rubel zahlten, für welche Summe man in anderen Gegenden Rußlands leicht ein paar Quadratmeilen mit allen tausend darauf nistenden Adlern, Vären, Wölfin, Rinberheerben, Menschen, Hausecn, Wäldern, Flüssen und Seecn kauft. Man sieht ganze Reihen von Gebäuden, deren jedes nahe an eine halbe Million werth ist, und es giebt Gegenden in der Stadt, in denen jedes Fenster nach der Straße hinaus 1000 Rubel jährlicher Miethe und mehr zahlt. Was die Gebäude Petersburgs auch sehr vertheuert, ist dic Schwierigkeit der Fundamcntirung. Der schwammige und morastige Boden der Stadt macht es durchaus nöthig, daß man zuvor ein ganzes Gerüst unter die Erde versenke, ehe es möglich ist, daß eins über derselben erscheint. ?llle einigermaßen großen Gebäude der Stadt ruhen auf Pilotis und würden ohne solche Roste von langen Bäumen, die unten in festeren Schichten der Inseln wurzeln, Bauart. 27 in's Bodenlose versinken. Mit der ganzen Festung und allen ihren Mauern ist cs derselbe Fall, und sogar die Quais der Flußarme, wie die Trottoirs und Einfassungen haben eine solche Grundlage. Die Gelder, welche verausgabt wurden, blos um der Isaakskirche eine feste Basis zu verschaffen, betrugen über eine Million, wofür man anderswo allein schon eine pompöse Kirche hatte bauen können. Trotz dieser Vorsichtsmaßregeln gelingt es nicht, die Häuser völlig sicher zu stellen. Nach der Ueberschwemmung von 1824 barsten viele Mauern in Folge von theilweise stattgefundenen Senkungen der Gebäude. Das sogenannte englische Palais auf dem Wege nach Peterhof hat sich ganz von seiner Treppe gelöst, entweder weil diese vorn oder der Palast selbst hinten überkippte. Bei allen den schönen Quais haben sich die Geländer und Granitblöcke schon verschiedentlich gesenkt und umgelegt, und das Straßenpflastcr der meisten Straßen ist im Frühjahre in einer völligen Auflösung begriffen, der Art, daß es in einigen Gegenden bei'm Hinüberfahren wie auf einem Moraste schwankt, in anderen die Steine über einander poltern, und hier und da die gefahrlichsten Löcher und Oeffnungen entstehen. Als Material bei den hölzernen Häusern bedient man sich natürlich der Fichtenstämme, die nach der gewöhnlichen nordischen Weise über einander gelegt werden, bei den steinernen aber der gebrannten Ziegel und des sinnländischen Granits. Die Mauern, die man aus Ziegeln baut, sind gewöhnlich von ungcmciner Dicke, und während man bei uns darüber erstaunen muß, welche hohe 2* 28 Baua.t. Gebaudc man mit so äußerst dünnen Mauern zu bauen wagt, hat man hier Gelegenheit, sich zu wunden, bei wie niedrigen Gebäuden man schon äußerst dicke Mauern nöchig findet. Drei bis vier Fuß sind die gewöhnliche Dick.', die man oen Mauern giebt. Der Granit ist nicht so gut wie der Marmor zur Ausführung feiner architektonischer Verzierungen und zierlicher Bildhauer-Arbeiten geschickt. Schon durch die großen Massen, in denen er gefunden wird, fordert er mehr zu grotesken architektonischen Arbeiten auf. Er wird daher bei Priuathäusern in Petersburg nur selten angewandt, besonders auch deßwegen, weil die Russen sich im Ganzen wenig um die Festigkeit des Baumaterials bekümmern. Wenn das Ge-däude nur äußerlich zierlich und prunkend, im Innern geräumig und glänzend ist, so ist ihnen die Solidität des Materials völlig glcichqiltig. Holz ist ihnen der liebste Baustoff, Zi^elstcine nehmen sie, wenn es die Polizei desiehlt. Marmor und Granit aber sind diesen Antirömern, die nur für Quincmennien bauen, völlig unnütz. Den-noch ist bereits eine ziemliche Menge Granits aus den finnischen Sümpfen in die Straßen Petersburgs eingeschleppt worden, und die uralten, bemoosten Blöcke, die, uon den schwedischen Bergen gelöst, durch Urfiuthen über das Ostfeethal hinweggeführt wurden und manches barbarische Jahrtausend in den sinnischen Sümpfen steckten, glänzen nun in der Zaarenresidenz als Monolithen, als Säulen an den Kirchen, als Karyatiden, Löwen und Sphinxe vor vielen Palasten und öffentlichen Gebäuden und als Steinplatten, Mauereinfaffungen und Felsen- Bauart. 29 Piedestale an dcn Gartengclandern, Quais und öffentlichen Monumenten. Doch sind gegen Petersburgs Bauten die luftigen Sylphiden verschworen, wie die unterirdischen Gnomen. Es ist erstaunlich, wie sehr die vielen schönen Granite der Stadt vom Wetter leiben. Besonders ist ihnen der Frost verderblich. Die Feuchtigkeit, welche die Steine entweder schon vom Anfang herein enthalten, oder welche an einigen Stellen allmälig «n sie eindringt, gefriert lm Winter, und es platzen dann viele Steine und fallen im Frühlinge auseinander. Auf diefe Weise sind schon die meisten Monumente der Stadt vielfach zerrissen und werden nach einem Jahrhundert wahrscheinlich nur bloßen Schutthaufen glei^ chen. Wenn m^n bedenkt, d.iß alle die mit schönen breiten granitenen Quais versehenen Fluß- und (5anal-ufer eine Lange von beinahe 20 englischen Meilen geben, so kann man sich darnach eine Vorstellung machen von den Granitmassen, die bereits in Petersburg verbraucht worden. Die meisten vornehmen russischen Familien wohnen keineswegs in den innersten Stadtthcilen in der Nähe des kaiserlichen Palais. Die Geschäfts- und Kaufleute, Handwerker und Künstler haben sie hier mit ihrem Ge-werbslarm vertrieben. An der Fontanka hin, besonders an ihrem östlichen Ende und in der „Liteinaja" (Gießhaus-Straße) wohnen die f^shionablen Leute. An den Ufern jenes Flusses zahlt man die Palais der Kotschubeys, ScheremetiewS, Vrannitzkys, Narischkins und eben so vieler anderer Reichskanzler, Minister, Granden und Mil- 30 Vauatt. lionärs, als vor einem Jahrhunderte hier maische Fischer-Hütten standen. Sie ist cine ruhige, große und prachtige Straße, und die Orloffs, Dolgorukis, Stroganoffs u. s. w., die sich an ihr anbauten, wählttn dah^r ihre Quartiere sehr paffend. In Wien stoßen die wundervollsten Palais mit ihren Frontispicen Stirn an Stirn zusammen, und an ihren Sockeln sie umgehend, merkt der Beschauer kaum etwas von ihrcr Schönheit. In Petersburg —- mehr freilich noch in Moskau >— sind die Zu- und Umgänge der Häuser von allen Seiten her weit und bequem. Die meisten großen Häuser haben ihre Vorhöfc zum An^ und Abfahren der Equipagen, wie bei uns nur die Theater und Konigspalaste. Auch das Innere ist durchweg geräumiger als in irgend einer unserer Städte, und wer bei uns mit ein paar Zimmern sich begnügt, halt in Petersburg gcwiß auf eine Suite von einem halben Dutzend. Die Vorhauser sind grosi, die Treppen winden sich in doppeltem Zuge zu beiden Seiten zur vol-ötussv hinauf. Die Tanz-, Speise» und Gesellschaftszimmer:c. sind hoch und weit. In vielen Palasten findet man eigene Zimmerraume, die zu Wintergärten bestimmt sind. Die größten solcher Wintergarten, die in Petersburg mehr als in irgend einer Stadt in Mode sind, befinden sich natürlich in den kaiserlichen Palais, doch werden bei großen Tanzfesten oft auch nur temporare Wintergärten mit Lauben, Blumenbeeten, Springbrunnen u. s. w. arrang'.rt, in deren Mitte dann die Tanzer unter duftenden Gebüschen ausruhen, wie in den Vlumengehegen des Paradieses. Bauart. 31 Es ist unglaublich, mit welcher Schnelligkeit in Petersburg gebaut wird. Theils treibt die Kürze der für den Bau geeigneten Jahreszeit dazu, th«ils die Ungeduld der Nüssen, das Angefangene fertig zu sehen. T^für giebt es denn auch freilich eine Menge von Häusern, die schon frühzeitig an Alterschwäche leiden. Das jetzt wieder fertig gewordene Winterpalais ist das frappanteste Bei? spiel davon. Es wurden innerhalb Jahresfrist nicht weniger als 20,000,000 Rubel barin verbaut. Man setzte den Bau im Winter fort, indem man das ganze Gebäude beständig heizte, um die Materialien flüssig zu erhalten UNb die Wände schnell trocknen zu lassen. Mit den mei-sten Privatgebäuden der Großen ist es ein ähnlicher Fall. Alles wird so schnell zusammengenagelt, wie Theater-Dtcorationen. Für den Zahn der Zeit wird die Zermalmung und Verspeisung Petersburgs eine wahre Kleinigkeit sein, und dieser Zahn wird langst mit diesen schwachen Backsteinsäulen, die ihm von selbst entgegenfallen, fertig sein, wenn er sich noch einige Jahrtausende an den Pyramiden Aegyptens wund zu beißen hat. Dis Russen scheinen nur zu bauen, um Ruinen zu machen, und es ist in ihren Städten ein höchst widriger Anblick, so viele ganz junge Gebäude zu sehen, die mit der Hinfälligkeit des Alters begabt sind. Sie geben das treueste Vild der frühreifen Cultur Rußlands. Freilich gilt so ziemlich dasselbe von unserer ganzen neueren Architektur. Eine der magmsikesten Zierden der Petersburger Häuser ist der Luxus, der mit den großen Fensterscheiben 92 Bauart. getrieben wird. Mit Recht findet man in Petersburg, daß die fatalen Fensterstäbe, welche die Scheiben zusammenhalten, die Aussicht sehr stören. Man läßt sie daher ganz weg und füllt die ganze Fensteröffnung mit einer einzigen großen Spiegelscheibe aus. In den meisten Salons befindet sich gewöhnlich nur ein einziges auf diese Weise beglasetes Fenster. Dasselbe vertritt dann die Stelle der bei uns gewöhnlichen Guckfenster und Erker, und die Damen arrangiren ihre Arbeitstische und Divmis diesem Fenster gegenüber, vor dem sich alle Tableaux des Stra-ßcnk'bens wie hinter einer I^lui'm, mn^ic« vorüberbe-wegen. Es sind diese großen -Fenster Dasselbe in der Architektur, was die Dresdener „Hahas"*) in der Gartenkunst. Viele Häuser sind auch von oben bis unten mit solchen kostbaren Scheiben versehen. Doch sollten sie eigentlich von der Polizei in den Parterres verboten werden, denn cin einziger Fauxpas könnte ja eine arme Mitchtragerin oder einen armen Wassermann völlig rui-niren, wenn sie dabei eine solche Scheibe zerschlügen. Man ist sehr peinlich in Petersburg inVczug aufAlles, was die Straßen der Stadt architektonisch entstellen könnte, und daher mit allerlei Bauverzierungen und ausschmücken-denž verdeckenden und vervollständigenden Baudecorationen *) Man bricht in Dresden dic Gartenmauern an einigen Stellen ganz wcg, um hier und da cine völlig freie und unbeschränkte Aussickt in's Gefilde zu gewähren. Für die Dicbc tritt dann an dic Stelle der Maucr oder dcs Gitters ein tiefer Graben. Solche, überraschende Aussichten gewährende Oeffmmgen ncmit man „Hahas," in England „8m,lc s<,>nc«5." Bauart. 33 sogleich bei der Hand. Wo ein Gehöft, eine Werkstatt, ein Kloak, oder etwa eine minder schone Wohnung ist, deren Anblick man dem Publicum entziehen möchte, da setzt man schnell einen griechischen Tempel davor, der, in der Nahe besehen, nichts ist als ein großes, mit groben Pinselstrichen bemaltes Vretergcrüste. Die Hallsbesitzer setzen zuweilen, um ihren einstöckigen Häusern mehr Ansehen zu geben, das Mauerwerk einer ganzen zweiten Etage auf. Vei näherer Betrachtung finden sich aber die Fenster blos fm-girt, und es entdeckt sich nichts dahinter als eiserne Stangen, welche das Gemäuer an das übrige Gebäude befestigen. Hier und da mag auch die Polizei zweistöckige Häuser vorgeschrieben haben, und die Bewohner dann mit der Fingirung eineS Stockwerkes der Vorschrift ge-nügm wollen. Doch sind solche pomphafte Gicbelver-zierungen und singirte Stockwerke in ganz Nußland lind auch bei den Polen zu finden. Sie liegen vielleicht in dem Charakter der slawischen Nationen, die überall gern mehr versprechen, als sie halten. — Sogar die Gerüste, mit welchen man auf den Straßen ein neu zu bauendes oder zu restaurirendes Haus umgiebt, müssen mit Vretern ganz dicht verschlagen werden, und diese Breter erhalten auswärts einen Anstrich, eingemalte Fenster und Thüren, wie die Häuser selbst. — Bci Betrachtung der Menge von Säulen und luftigen Portiken,. die an den Petersburger Häusern verschwendet sind, sollte man glauben, man befände sich in Italien oder Griechenland. Doch erwartet man vergebens die Peripatetiker, die m diesen Hallen spazieren, oder die philosophischen 2 " 34 Bauart. Epikuräer, die unter ihnen sich sonnen möchten. Boreas und Schneegestöber umHeulen dcn größten Theil des Jahres diese südlichen Vauformen. Eben so unnütz erweisen sich die Balkons, mit denen hier durchweg alle Häuser verziert sind. Die Blumen, die schönen Damen, die Musiker fehlen auf ihnen, da sie fast das ganze Jahr hindurch leer und öde sind. , Bei der Leichtigkeit, mit der die Nüssen sich zu Veränderungen entschließen, wird man es natürlich finden, daß in Petersburg viel gebaut und umgebaut wird. Es ist fast nie ein Haus völlig fertig, und bestandig wird an ihm, bald hier, bald da etwas geflickt und geändert. Ein einziges Fest, ein Diner, ein Ball bringt oft nicht unbedeutende Veränderungen im Inneren eines Hauses zuwege. Findet man die Suite der Zimmer zu klein, so bricht man eine Mauer durch, zieht das folgende Zimmer hinzu und läßt Thüren für den Abend einsetzen. Säulen und Balustraden werden zur Ausschmückung und für die Musiker errichtet, Lauben, Stubengarten, Buffets ar-rangirt, Zimmer temporär mit Tapeten behängen und Mit Teppichen belegt, ja, um noch mehr Zimmerraum zu gewinnen, baut man oft ein vorläufiges hölzernes Zimmer über den Balkon hin, der als hübsch ausgeschmücktes (labinet, oder als Sitz der Musiker mit zum Tanzsaal gezogen wird. Es giebt gewiß kein einem Russen gehöriges Haus, das einen Winter hindurch in demselben Zustande verbliebe. Die furchtbare Langweile, die innere Unruhe und die Launenhaftigkeit lassen die vornehmen Leute nicht 14 Nächte hinter einander in derselben Kammer schlafen- Bauart. 55 Bald ist diese, bald jene Stube der Herrin Schlafzimmer, bald empfängt sie in diesem, bald in jenem Salon, bald wird das Speisezimmer der Kinder Schlafzimmer, bald macht man die Schulstube zum Ballsaal. Das Noma-dlst'ren steckt so tief in der russischen Natur, daß sie im Laufe des Jahres nicht nur von einem Ende des Reichs zum anderen wandern, sondern auch selbst im Verlauf einer Jahreszeit wenigstens in den verschiedenen Etagen ihres Hauses auf- und abnomadisiren. Auch die Polizei flickt mit großer Veränderlichkeit hier und da an den Häusern. Bald verbietet sie diese ober jene Fensterform, bald gebietet sie, alle Thüren sollen von Eichenholz sein, bald erlaubt sie es, daß hier und da Erker und Vorbauten aus den Souterrains hervortauchen, bald läßt sie sie aber alle mit einander auf ein Mal rasircn. Das Straßenpflaster ist in Petersburg, wie man aus dem über die Sumpfigkelt des Terrains Gesagten schon schließen kann, eins der theuersten, das man finden kann, weil es bestandiger Sorgfalt und nie endigender Reparaturen bedarf. Es ist ungemein schwer, ihm cine feste Grundlage zu geben, und man erlangt sie kaum, selbst nach Aufführung überreichlichen Bauschuttes und Sandes, den man dem Pflaster zum Grunde giebt-). Dazu kommt, daß die Pfiastermethoben, die man in Pe- *) Die Feuchtigkeit dringt überall durch. Ich sah in cmcr Reitmancge die Pferde trotz dem, daß man den Grund zwei Tllcn tief wie einen Keller ausgemauert und dann diests Souterrain mit troctenem Bauschutt und Sa»d gefüllt hatte, doch im Sumpfe ar-blittn. 36 Bauart. tersburg anwendet, obwobl national russisch, doch unglaublich schlecht sind. Man hat nämlich die Sitte, zwischen den Granitsteinen des Pflasters Grus von Ziegelsteinen einzutreiben. Dieß fügt natürlich anfangs die Steine rccht schnell und scheinbar fest zusammen, und hat man dann das Ganze hübsch mit Sand bestreut, so kann man dem inspicirenden Polizeimimstcr das schönste Pflaster ausweisen. Nach einiger Zeit aber werden die weichen Ziegelsteine zwischen den harten Kieseln leicht zu Pulver und Staub zerrieben, und Alles fallt auseinander. Für die besseren Straßen hat man daher deutsche Pflasterer aus den Hansestädten berufen, die hier immer genug zu thun finden. Neben dem schlechtesten Straßenpflasier hat man in Petersburg aber auch das schönste, das man erdenken konnte, die herrlichen Holzblockwege, auf denen die Wagen leicht und ohne viel Geräusch dahin rollen. Diese Wege, die indeß doch nur als schmale Streifen durch die große Newa-Perspective und einige andere Straßen führen, bestehen aus sechseckigen Holzblücken, die wie Vienenzellen zusammengefügt sind. Da das Holz bei dem unaufhörlichen Fahren und dem feuchten Voden sich natürlich schnell verbraucht, so sind die Wege kostspielig und werden wohl mit der Zeit ganz eingehen. Auch erfordern sie cine häufige Reparatur, da einzelne Holzblöcke sich leicht in den sumpfigen Voden hinabdrücken, und so Löcher entstehen. Vei der Anlage neuer Holzwege hat man daher lllich noch angebrannte und gcthecrte Balken und große Blöcke zum Grunde gelegt, um dieses Einsinken zu ver- Bauart. 37 hindern. Uebrigens wendet man dem Straßenpflaster auch deßhalb weniger Aufmerksamkeit zu, weil es 6 Monate hindurch in Petersburg völlig gleichgiltig ist, welches Pflaster der Mensch bereitete, da dann die Natur mit Sclmee und Eis für ein Pflaster sorgte, das an Vortresslichkeit alle von der Kunst erfundenen übertrifft, und auf welchem die Carossen so anmuthig und gerauschlos sich dahin bewegen, wie in den Canälen Venedigs die Gondeln. Freilich gicbt cs auch hier mitunter Zustande, die nicht ganz dem Ideale, das man sich von einer Schneebahn machen könnte, entsprechen. Es ist interessant, die verschiedenen Zustande der Schneebahn in den Petersburgischen Straßen bei den verschiedenen Wetterphänomenen zu beobachten. Im Herbste, wenn bedeutende Schneemassen fallen, liegt anfangs Alles in losen und hohen Haufen auf. Die tausend Pferde der Iswoschtschiks greifen jedoch tapfer in, bi,e lockeren Massen ein, schleudern sie rechts und links auf die Seite, treten sie nach Möglichkeit nieder, und es entsteht bann bald die festeste und schönste Bahn. Ein gelindes kurzes Thauwetter zumal befestigt diese Bahn vorzüglich. Wenn hartes Frostwetter lange anhätt, so wird die Eisflache von den unzahligen Pferden, Wagen und Schlitten, die sie bestandig zerarbeiten, am Ende zu einem sehr feinen, tiefen Staube zermalmt und zertrümmert, der zumal den Fußgängern höchst lastig fällt. Doch geschieht dieß nur in den Hauptstraßen, der Ncwskischm Perspective, der Gartcnstraße u. s. w. In den anderen Straßen der Stadt bleibt die Masse compact. Hier zeigt sich dann, besonders da, wo die Wasserschlitten oder die 3T Bauart. Iamschtschiks und Waarenfuhrleute in langen regelmäßigen Zügen ein- und austraben, ein anderes Phänomen, welches gegen Ende des Winters die Bahn auf cine andere Weise verdirbt. Es wird allmalig die Straße der Quere nach von einer Menge tiefer Furchen durchzogen, die eben so regelmäßig, wie die Furchen eines Ackers sind. Es entstehen diese Einschnitte daher, daß die, wie die Gänse hinter einander herlaufenden russischen Pferde immer in die Fußstapfett ihrer Vorganger treten. — Im Frühlinge, wcnn cs thaut, haut man Rinnen und Gossen in das Eis zum Ablauftn des Wassers. An ein Loseisen und Hinausfahren des Gefrorenen, wie bei uns, ist natürlich nicht zu denkm, weil in den breiten Straßen sich zu bedeutende Massen angehäuft haben. Man kann sich darnach vorstellen, welche unangenehme Zustände die Straßen durchzumachen haben, und wie sich aller Schmuz bis in den Mai hinein fortzieht. Die Straßen schwimmen dann allenthalben von großen und tiefen Schmuzseeen, und besonders läuft das Waffer in der Mitte, wo sich durchweg in Petersburg die Rinnsteine befinden, zusammen. Hier und da werden die Pferde beinahe zum Schwimmen gebracht, und man rann allemal Gott danken, wenn man heit und lebendig vor seiner Hausthür aus dem Wagen steigt. Um diese Zeit machen die Bürstenbinder die schönsten Geschäfte, und alle Bedienten und Schuhwichser führen laute Klage, daß so arg beschmuzte Stiefel und Mantel ihrer Herren nicht mit in ihrem Eontracte gestanden hatten. Zuweilen bringt ein plötzlich eingefallener Frost alle Flüsse wieder zum Stehen, und Glatteis, auf Bauart. 39 dem manches arme gepeitschte Pferd ein Bein bricht, überzieht alle Straßen. Da di« Iswoschtfchiks, so lange nur noch etwas Schnee auf der Straße zu finden ist, zu Schlitten fahren, so kann man zuweilen das Schauspiel haben, daß, während man auf der Sonnenseite der Straße schon vierraderige Wagen im Staube rollen sieht, auf der Schattenseite noch Schlitten sich im Schnee zu fördern suchen. ^- Wie Petersburg dieselbe Bauart mit allen russischen Städten gemein hat, so theilt cs mit ihnen auch dieselben daraus entspringenden Nachtheile, so unter Anderem im Sommer den unerträglichen Staub, den alle Winde in den weiten Straßen und arf den großen unge-pflasterten Platzen aufjagen und Werste weit herbeiführen. Ueberhaupt läßt sich im Allgemeinen bemerken, daß, wenn die engen Straßen und der Mangel an freien Platzen unsere Städte in vieler Hinsicht ungesund und unangenehm machen, die russischen und namentlich Petersburg an den entgegengesehen Fehlern laboriren. Die übertriebene Weitläufigkeit ihrer Bauart hindert sie, sich manche vortheilhafte Einrichtungen unserer Städte anzueignen, oder erschwert doch eine Menge von Verbesserungen »n der inneren Organisation der Stadt, die bei einem engeren Aneinanderschließen der Gebäude viel leichter zu erreichen waren. Namentlich gehört dahin die . Erleuchtung der Stadt bei Nacht. Wenn in vielen Theilen Londons bei Tage eine dumpfe Nacht herrscht, die erst am Abende durch den hellen Schein der Gaslampen in Hag verwandelt wird, so geht es in Petersburg umgekehrt, wo am Tage oft kein Schatten zu gewinnen 40 Bauart. ist, wahrend bei Nacht sich alle Paläste mit dicker Finsterniß bedecken. Das heißt im Winter, denn was den Sommer anbetrifft, so sind bekanntlich Petersburgs Nachte zum Mindesten eben so hell und Hunde« Mal lieblicher als trübe Londoner Nebeltage. Diese sechsmonatliche ununterbrochene Sonnenhelle mag auch zum Theil Schuld daran sein, daß man noch keine kräftigeren Maßregeln zur künstlichen Erhellung ergriffen hat. Wenn es im Winter so dunkel ist, daß man gegen die Wände rennt, vertröstet man sich auf den Sommer, wo es wieder hell sein' wird. Es sind fast durchweg in Petersburg nur kleine, unbedeutende Oellampen, die in den Straßen etwas Schimmer verbreiten. Sie befinden sich alle nur auf den Seiten dcr Straßen, und die Mitte derselben empfangt nichts mehr von dem heilsamen Schimmer. Weil sie nur auf uier Schritte im Durchmesser Licht verbreiten, so bleiben sie alle in der Ferne wie kleine in der Finsterniß schimmernde Sterne sichtbar, und manche der endlos langen Straßen der Stadt sehen daher am Abende mit ihrer doppelten Reihe von Lämpchen allerdings hübsch aus; doch gereichen sie ihnen mehr zum Zierach als zum Nutzen. Viele Stadttheile aber, die selbst der trüben Oellämpchcn entbehren, sind ganz den Mächten dcr Finsterniß überlassen, und man dankt Gott, wenn in einem Privathaust eine Gesellschaft beim Thee versammelt ist und so viel Licht zum Fenster hinausfallen laßt, daß der arme Wanderer dcn Weg nicht verfehlt. Wenn es am Tage schon mißlich war, quer über die Straße zu laufen, so ist es am Abende im höchsten Grade gefährlich. Da die Bauart. 41 Straßen trotz der Finsterniß voll Leben sind, so gewahrt dann die Bewegung auf ihnen einen ganz eigenthümlichen und unterhaltenden Anblick. Die Schlitten schießen bestandig aus der Finsterniß hervor nnd verschwinden auch wieder in demselben Momente. Große gigantische, sich haschende Schatten rauschen an den Häusern hin, nnd nur das ununterbrochene Geschrei der Kutscher: „r»Hi! pnHi! kereFissn!" dient ihnen gegenseitig zur Warnung. Man muß die Geschicklichkeit dieser Kutscher bewundern, denn es passirt nicht zu häufig ein Unglück. Ebenso muß man die geringe Geneigtheit der Russen zu Mord und Gewaltthaten bewundern; denn es fällt trotz der undurchdringlichsten Finsterniß verhältnißmäßig nur selten etwas Arges in den Petersburger Stnißen uor. Man erzahlt sich allerdings allerlei Schclmstreiche der Iswoschtschiks, der Vutschniks und Plotniks, allein die Finsterniß ist so arg, daß sie" allein schon Schrecken einjagen könnte, und daß man denken möchte, in einer Hauptstadt, wie Petersburg, müßte dabei Alles drunter und drüber gehen. Ich glaube, wenn man eine Stadt mit 500,000 Italienern und Spaniern, oder Paris und London auch nur auf acht Nächte in eine Petersburgische Finsterniß werfen wollte, so würden sie am neunten Tage mit so vielen durchbrochenen Mauern, mit so vielen ausgeplünderten und ermordeten Leuten daraus hervorgehen, daß es aussähe, als hätte der böse Feind darin gehaust. Man hat bisher vergebens schon drei Mal versucht, die Stadt mit Gasbeleuchtung zu versehen. Ein Mal machte man den Anfang damit noch unter Alexander's Negierung. 42 Bauart. Doch verzehrte eine Feuersbrunst alle dazu vorgerichteten Gebäude. Unter Nikolaus machte man einen zweiten Versuch. Doch wurde das hohe und unförmliche Gebäude des Gasometers so ungeschickt in der Nahe des Winterpalais angelegt, daß im Jahre 1838 nach dcm Brande und Neubaus desselben der Kaiser der Gas« beleuchtungsgesellschaft das ganze entstellende Haus für 200,000 Nudel abkaufte und es abreißen ließ, dabei aber befahl, sogleich die ganze Einrichtung an einen bequeme ren Platz zu verlegen. Dieß geschah, und als im Herbste 1839 die Sache in Gang kommen sollte, und Petersburg seinem ersten hellen Winter entgegensah, wurde die ganz« Illumination mit einer ungeheueren Explosion eröffnet, durch welche der Gasometer zersprengt und die Gasgcsellschaft, die dabei eine Menge von Capitalien und Menschen einbüßte, von Neuem aus den Sand gesetzt wurde. Doch ist es jetzt wirklich gelungen, die Gasbeleuchtung in einigen Theilen der Stadt auszuführen. Dem aufmerksamen Beobachter verrathen oft Kleinigkeiten eincn ganz fremdartigen Zustand der Gefeilschaft. Es laßt sich dieß gewiß auch auf die öffentlichen Anschlage und Bekanntmachungen, Avis, Empfehlungen, Adressen u. s. w. anwenden, wie sie an den Häusern und Straßenecken von Paris und London, oder von Wien und Berlin erscheinen, im Vergleich mit Dem, was man in dieser Hinsicht in Petersburg sieht. Man hält hier solche Anschlage, glaube ich, für unanständig, und wie es scheint, will man nicht nur die Verbreit» ung schädlicher Gedanken hindern, sondern auch die Bauart. 4.? Buchstaben, mit denen ganz unschuldige Ideeen, wie die z. V., daß hier ein „IulII«us ä« ruri.^' oder ein „Mrciinuä 6e mode^" wohne, ausgebrückt werden, beschneiden. Wenigstens ist es auffallend, wie klein alle die Buchstaben der Inschriften an den Häusern sind, die irgend ein öffentliches Institut enthalten, der Art, daß, wenn sie im Frontispiz des Giebels stehen, sie oft nur aus einem Fenster zweiten Stocks deutlich zu lesen sind. In Paris und London überschreit cine Aufschrift die andere, und wenn ein Bürger die Buchstaben seiner Annonce einen Fuß lang macht, so giebt der anders ihnen eine Länge von anderthalb Ellen, und manche steigen gar damit auf's Dach, wo.man sie dann aus dem ganzen Seine-Departement mit ober ohne Perspectjv lesen kann. Das Lcbm Petersburgs ist auf eine ganz andere Art bunt als das von London und Paris, und sollte man seine Intensität nach den an den Straßenecken befindlichen Anzeigen von den verschiedenen Ereignissen beurtheilen, so müßte man es für höchst winzig und energielos halten. — Nur dio Perspective, die Straße der Auslander, macht darin eine Ausnahme, und es scheint, als habe sie das Privilegium der Censurfreiheit und könne an ihren Häusern drucken und anklecksen lassen, was ihr gefällt. Wenn man die ungeheuere Masse von Annoncen und Bekanntmachungen eines Berliner Wochenblattes, ober auch nur eines Leipziger Tageblatts oder Dresdener Anzeigers betrachtet, so müßten nach Verhältniß der Bevölkerung die Petersburger Matter dieser Art nur äußerst unbedeutend erscheinen. Petersburg hat kein Publicum 44 Bauart. das auf solche Empfehlungen achtet. Die Recomman^ dationen verbreiten sich privatim von Mund zu Mund, und allenfalls reicht man sich die elegant gedruckten Preis-courante umher. Auf der anderen Seite dagegen hat Petersburg ein großes Publicum, das dergleichen deßwegen ungelesen läßt, weil es überhaupt die Sprache der Buchstaben gar nicht versteht, und daher erklären sich in den Straßen der Stadt neben den seltenen Inschriften die häufigen Gemälde vor den Buden, Handwerker- und Künstlerwohnungen, die auf die kürzeste und einfachste Weise lehren, was dahinter steckt. Der Petersburger Optiker hat alle bei ihm verfertigten Gläser und Instrumente auf seinen Fensterladen gemalt, der Fleischer hat ein Paar Ochsen, Kühe und Schafe aus dem Farbentopf eines oft gar nicht ungeschickten Malers vor seiner Thüre und sich selbst dabei abkonterfeien lassen, wie er einer vorübergehenden Dame ein großes Stück Fleisch präsentirt. Man sieht Backerladen, wo vor der Thüre, zwischen und unter den Fenstern verschiedene Malereien alle in Petersburg gebräuchlichen Formen der Brote darstellen. Der Lichtzieher, statt wie bei uns in einer wortreichen Beschreibung die bei ihm fabricirten Lichte der verschiedensten Größen und Dimensionen zu schildern, giebt sie hier sämmtlich den Vorübergehenden mit einem Blicke zur Auswahl auf einem gewaltigen Brete. Ja auch der Fortepianobauer, der Conditor und andere Leute, an die der gemeine Mann sich zu wenden nie in Verlegenheit kommt, haben diese Sitte angenommen und man sieht oft aus dem zweiten und dritten Stockwerke Bauart. 4.'» große Wandgemälde von Violinen, Flöten, Klavieren, Torten, Confitüren, Würsten, Pasteten, geräucherten Schinken, oder Kleidern herabhangen. Die Schule der belgischen Braten- und Butterbrot - Maler müßte hier Fortune machen. — Ein Petersburger Barbier — so .wie alle Barbiere in ganz Rußland — kündigt sich durch folgendes Gemälde an: Eine Dame liegt ohnmachtig auf einem Stuhle. Vor ihr steht ein Chirurg mit blin^ tendem Meffcr, der ihr zur Ader laßt, und aus ihrem weißen Arms sprudelt hoch eine weit hinleuchtende Fontaine purpurrothen Bluts, das ein kleiner Junge in einem Waschbecken auffangt. Daneben sitzt ein Mann, der sich barbiren läßt, und das ganze Bild umwindet cine Arabeske von Zahnbrechern, Schröpsiöpsen und Blutegeln. — Die Petersburger Zahnärzte stellen in kleinen gläsernen Kasten ganze Zahngebisse, die sie verfertigen, zur Schau und zur Anlockung der an Zähnen leidenden Menschheit aus. Die Pferdedoctoren haben ein gemaltes Pferd vor der Thür, dem sie ein Ankertau als Haarseil durch den Nacken ziehen. Am originellsten sieht man die Hebamme sich bildlich ankündigen. Ein mit Vorhängen ve» sehenes Bett läßt errathen, daß es von der Wöchnerin eingenommen sei, und im Vordergrunde liegt ein kleiner neugeborener Schreihals in der Wiege, bei der sich die Hebamme selber geschäftig zeigt. Diese Gemälde sind gewöhnlich gar nicht unzierlich gemacht, und bei der französischen Modehandlerin z. V. alle Hauben und feinen Spitzen oft recht hübsch ausgeführt. Man sollte denken, daß dabei Eins für Alles dienen könnte, da man 46 Bauart. doch nur ein Zeichen brauchte. Allein so ist es nicht. Es muß nicht nur jeder Hosenträger und jeder Strumpf, den sie verkaufen, auf das Bild, sondern auch die ganzen vollständigen Herren- und Damenanzüge kommen hinauf. Beim Cafetier sieht man nicht ctlva nur eine dampfende Kaffsetasse, wie man bei uns wohl hier und da ein schäumendes Bierglas bemerkt, sondern eins ganze Kaffee trinkende und Cigarren rauchende Gesellschaft, und beim Goldschmied nicht nur Ringe und Ordenssterne, sondern ganze Generale und Excellenzen, deren Brust und zehn Finger von Diamanten, Gold, Ordenskreuzen und Perlen glänzen, wie der Orion am Himmelsgewölbe von Sternen. Ja viele Handwerker, deren Kunstprodutts selbst nicht wohl darstellbar sind, wie z. B. der Tuchbecatirer, geben wenigstens das ganze ihnen nöthige Handwerkszeug im kleinsten Detail auf dem Bilde. — Die Russen halten Vieles auf diese Schildereien, und es ließe sich Vieles zu ihrer Charakteristik darüber sagen. Man sieht oft auf alten, halb zerfallenen Ka-baks, in denen Bier und Branntwein geschenkt wird, große vergoldete Schilder mit prunkenden Malereien. Die Newa. „Wie behend sich die Meng« Durch die Gärten und Felder zerschlägt, Wie der Fluß in Vreit' und Länge So manchen lustigen Nachen bewegt." Aie Newa ist der Abfluß des Ladoga-Sees, und ihre Gewässer, die in jenem 10t) Quadratmeilen großen Becken die letzte Spur des Bergstaubes absetzen, kommen lauter und krystallrein bei Petersburg an. Es ist ein Strom von wenigen Meilen Länge, und sein Name, jetzt auf dem ganzen Globus wiederhallend, barg sich Jahrtausende lang in Nacht und Unbekanntschaft. Von den umwohnenden sinnischen Fischern getauft, goß diese Nymphe ihre Wellen, durch Sümpfe und dunkle Walder sich windend, kaum in den Hütten der Ingren und Karelen berühmt, das ganze glanzende Alterthum und das volle thatenreiche Mittclalter hindurch einsam und vergessen in den Ocean. Mildthätig tränkte sie bic Heerdcn der umwohnenden Hirten und nährte an ihrer Brust die 48 Die Newa. Fische, die nur wuchsen und gediehen, um sich mit« einander zu fressen. ?lm äußersten Ende des oi-di,^ lei^ rnrmn wohnend und die gebrechlichen Nachen der Taci-tanischen „«urilickssimn ^ens lenno^lnn" freundlich auf geduldigem Nucken tragend, wie mochte sie ahnen, daß ihr Schooß den Keim einer so glänzenden Geburt in sich trage, und daß aus ihrer krystallenen Schale noch einst die gewaltigsten Kaiser des Globus ihren Durst stillen sollten! Mit kleinen häuslichen Angelegenheiten beschäftigt, die schmuzigen Finnen waschend, die Rechte der In-grcn und Karelen, der obscursten Völker, sondernd, allen ^ falls die Schlachten der unternehmenden Normannen und Nowgoroder anschauend, Kampfe, deren Waffengeklirr aber in Europa nicht vernommen wurde, wie konnte sie erwarten, daß sie dereinst die prachtigste der Kaiserstädte in ihren Armen umfangen sollte! Wer mochte ihr die Reichthümer prcphezeihen, die sie jetzt empfangt und entsendet, die Palaste, die sich an ihren Ufern drangen, die schwimmenden Festungen und weltumsegelnden Schisse, die jetzt in größerer Anzahl ihre Wogen durchschneiden als früher die Schiffernachen! Die Newa hat, eben so wie die Narowa, der Woxen, die Kymmena und alle die anderen, Seeen entströmenden finnischen Flüsse, und anders als die schmuzigen, gelblichen Gewässer des nördlichen Deutschlands und Polens, und anders als die schwarzlichen und röthlichen Ströme des russischen Steppensüdens, ein wunderschönes, klares, grünliches Wasser, das dem des Rheines, wo er den Eisgrotten der Alpengletscher entströmt, am meisten ähnelt. D« Newa. 49 Sie theilt sich eine Meile von ihrer Mündung in vier Atme, „die große" und „die kleine Newa," und „die große" und „die kleine Newka." Diese Hauptarme spal-ten sich dann wieder in eine Menge kleinere Nebenzweige und Canäle und bilden so, in's Meer fließend, einen Archipelagus von Inseln, auf denen das Panorama von Petersburg sich entfaltet. — In so vielen Beziehungen, als ein Fluß einer Stadt nützen kann, nützt die Newa der an ihren Ufern ruhenden Residenz. Sie führt aus dem Inneren des Landes den Ueberfluß der Provinzen heran und tragt Speise, Futter und Kleidung zu. Sie empfangt an ihrer Mündung die Prodncte auslandischer Industrie und schafft sie zu den Palasten hin. Sie füllt bett Petersburgern, die nur diesen einen schönen Brunnen und außer ihm keine klare Quelle haben, ihre Becher mit frischem Labetrunke. Sie kocht ihre Speisen, braut ihnen den Kaffee und Thee. Sie füttert die Fische für die Tafeln ihrer Gaste. Ja, sie verrichtet ihnen die gemeinste Sclavenarbcit, wascht ihre Wasche und reinigt, sich in vielen Canalen durch die Straßen schüttend, ihre Kloaken. Man darf sich daher nicht wundern, daß das Newawasser das Tagesgespräch der Petersburger ist, und sein Lob und seine Kritik dort eben so die Gedanken und Zungen beschäftigt, wie die des Meerwaffers bei den in ihm lebenden und webenden Schiffern oder die des Nilwassers bei den Aegyptern. Um so weniger darf man sich darüber wundern, da sie nicht blos immer ihre Freude ist, sondern auch eben so oft ihre Noth und ihr Kummer, da sie ihnen nicht selten ihre Garten verdirbt, ihre Kohl, Petersburg. I. g l»l> ' D« Newa, Häuser beschädigt, i" sogar ihre ganze Existenz bedroht, was freilich, wie wir bald fthen wirden, nicht die Schuld der Newa allein ist. Der harts nordische Winttr schlägt leidet ftst die Halft« des Jahres die Ncwanymphe ln eisige Banden, so dass sle also nur 6 Monate hindurch alle ihre Wohlthaten in vollem Maße spenden kann. Erst im Aufangc des Aprils, selten am Ende des März, sind die Gewässer warm tmd kraftlg genug, um den sie drückenden Elsmantel zu sprengen. Dieser Augenblick wird mit Sehnsuä)t erwartet, und kaum schieben sich die schmuzigen Eisschollen vor, den glatten Spiegel des Flusses so weit enthüllend, daß einem überfahrenden Boote freie Vahn vergönnt ist, so donnern die Kanonen von der Festung, diesen erwünschten Mo« ment den Bewohnern verkündend. An dem Hage des Eisaufganges besteigt der Commandant der Festung sj„e Schaluppe Mit 24 Ruderern und mehren messingenen Kanonen, um dieß Creigniß in dem gegenüberliegenden kaiserlichen Palaste zu melden. Er wird von einigen Kanonenbooten der Admiralität und des Stadtwerfts eingeholt, die sich vor der Festung aufstellen und sie mit einer bestimmten Anzahl von Schüssen salutiren, welche von den Wällen eben so erwiedert werden. Darauf setzt ssch die Flottille in vorgeschriebener Ordnung zum Winterpalais in Bewegung, gefolgt von 8V bis 100 kleinen Booten. In einen großen, schönen Krystallbecher schöpft der Commandant daS klare Newawaffer, um es als die erste und schönste Gabe des Flusses dem Kaiser im Namen des Frühlings darzubringen. Er meldet seinem Herrn, Die Newa. 5)1 daß die Gewalt des Winters gebrochen, die Gewässer wieder frei seien und eine fröhliche Schifffahrt gehofft werden könne, zeigt ihm als den ersten Wasserschwan seine Gondel am User, die er glücklich herübergebracht, und überreicht ihw den Newabecher, den der Fürst auf die Gesundheit seiner Residenz leert. Es ist dieß das am beßten bezahlte Glas Wasser, das irgendwo auf dem Erdrunde getrunken wird. Denn der Sitte gemäß giebt der Kaiser es dem Commandanten mit Gold gefüllt zurück. Früher bekam er es gestrichen voll Ducaten. Da aber mit der Zeit die Becher immer größer wurden, so daß die Kaiser immer mehr Waffer trinken und immer mehr Gold bezahlen mußten, so wurde endlich die Summe auf 20l) Ducaten festgesetzt, die dem Commandanten zugezählt werden, — für einen Trunk Wassers gewiß noch immer ein kaiserlicher Lohn. Das Newaeis geräth gegen Ende des Winters, wenn schon mancher warme Tag auf seine Oberssache wirkte, in einen ganz eigenthümlichen morschen Zustand. Es löst sich nämlich in eine MVnge dünner Eisstabe von einem Zoll im Durchmesser und von der Lange der Eisdicke auf. Diese Stäbe, aus denen die Eisdecke alsdann besteht, hängen zuletzt so schwach zusammen, daß man sich durchaus nicht mehr auf das Eis wagen kann. Wo nicht eine Schneekruste darüberliegt, da sinkt man mit dem Fuße durch Ellen dickes Eis, indem man einige jener Stäbe hinabstößt. Große, auf dem Trockenen liegende Eisschollen, die dem Anscheine nach zusammenhängende, 3* 52 Die Newa. dichte Massen bilden, zersplittern bei d?r schwächsten Berührung Mit einem Stocke in eine Menge glaserner Säulchen und Stäbe. Schon mehre Wochen vor dem erwarteten Durchbruche des Eises wird daher das Fahren auf der Newa verboten. Es entstehen hier und da qroße Löcher in der Decke, und über der Eisfläche selbst sammelt sich ein trübes Schneewasser. Die ganze Eis-flache, die anfangs, von Schlitten und Fußgängern belebt, erfreulich war, wird nun zur brückenden Last, und man wünscht sich sobald als möglich dieser unnützen schmuzigen Kruste zu entledigen. Es ist oft wochenlang schon das schönste Wetter, und doch liegt die Newa noch völlig unbeweglich. Die Sonne wirkt überhaupt nicht so lösend und zerstörend auf sie ein als Negm und Wind. Ein einziger tüchtiger Negen, über den daher die Petersburger allemal um diese Zeit große Freude äußern, wirkt mehr als drei Tage Sonnenschein. Gewöhnlich liegt die Eisdecke, ohne sich zu rühren, bis ein paar Regen- und Windtage einfallen. Das untrügliche Zeichen des bald zu erwartenden Bruches ist das Verschwinden des Aufwafsers auf dem Eise. So lange noch Wasser über dem Eise steht, und wenn cs auch so tief ist, daß die Pferde hier und da fast zum Schwimmen kommen, wagt noch Alles den Uebergang. Wenn es aber verschwindet, so ist dieß ein Zcichen, daß das Eis sich überall von den Ufern gelöst hat und zugleich so porös geworden ist, daß das Aufwasser durchsickern tonnte. Gewöhnlich geht die Newa zwischen dem 6. und Die Newa. 53 14. April alten Styles auf. Am allerhäusigsten geschieht dieß den 6. April, in 100 Jahren nämlich zehnmal, und auf diesen Tag laßt sich immer- 1 gegen 10 parken. Der spateste Newaaufqang traf auf den 30. 'April <12. Mai neuen Stpls), einmal in hundert Jahren, der früheste auf den 6. März, ebenfalls einmal in hundert Jahren. — Gewöhnlich seht sich das Eis der Newa in der Mitte Novembers fest, am allerhäusigsten den 20. dieses Monats, nämlich neunmal in einem Jahrhundert. Im Jahre 1826 fror sie erst den 14. December zu und im Jahre 1805 schon den 16. October. ^ Es ist ein merkwürdiger Moment, diese Enthüllung der Newa. Alles ist darauf gespannt, da Alles dabei interessirt ist. Dle Kaufleute erwarten ihn mit Sehnsucht, weil das Gelingen mancher Speculation uon seinem früheren oder späteren Eintritte abhangt, — die Arbeiter und Zimmerleute, weil er ihnen beim Brückenbau zu verdienen giebt, — die Damen, weil, wenn die Newa und der Kronstadter Busen vom Eise gereinigt sind, das Lübecker Dampfschiff mit Nouveautes und frischen Mo-oen aus Paris nicht lange säumt, sich anzumelden, — die Buchhändler und Gelehrten, weil nun der geistige Verkehr mit Europa wieder beginnt, und sie bann erfahren, welche Products im Laufe des Wintersemesters an's Licht traten, — die kranken Einheimischen und an Heimweh leidenden Fremden, weil nun die Bahnen m den Badern und nach Deutschland, Frankreich und anderen Ländern Europas wieder offen stehen. Man hat in dieser Zeit nur das cine Gesprach in Petersburg, ob dic 54 Die Ncwa. Newa zum Ostersonntage oder zum Ostermontage auf' gehen werde, und es warden die größten Wetten für diesen oder jenen Fall entrirt. Es gab w Petersburg 1836 einen Mann, der auf jeden Tag vom 1. bis zum 17. April eine Wette abgeschlossen hatte, eine bis zum Belaufe von 8s,- , Den ganzen Winter liegt die schöne Flußnymphe im Eise verpuppt. Ihre Entpuppung bietet das schönste Schauspiel, wenn sie bei heiterem, klaren Wetter vor sich geht, und sie, den schmuzigen Mantel abwerfend, mit hellem Auge aus ihrem Vette hervorblickt, in dem sich nun wieber die Paläste spiegeln, welches Vergnügen sie, die Eitlen, so lange entbehren mußten. An den schönen Newa-Quais drängen sich, vom Donner der Kanonen gelockt, die Spaziergänger, um des Commandanten Gondel ankommen zu sehen, und kaum ist sie glücklich am Quai des Winterpalais gelandet, so erscheint sogleich der Fluß mit Hunderten von Booten bedeckt, um die unterbrochene Verbindung unter den verschiedenen Inseln wiederherzustellen. Freilich ist diese erste, wie durch einen Zauberschlag herbeigeführte Verwandlung noch nicht von Dauer. Denn gemeiniglich ist es nur das nächste Eis bei Petersburg, das so mit einem Nucke abgeht, und es folgt dann später das obere Eis, das noch einige Male die Spiegel-flache des Wassers trübt und den freien Verkehr unter' Di« Newa. 55 bricht, und Kings, oft mehre Wochen dauern noch o«e großen Schwären der Nachzügler aus dem Ladoga-See. Die Oberfläche dieses Sees beträgt über 100 Quadrat-meilen, und sollte diese ganze Decke auf der etwa drei Viertel-Werst breiten und nicht sehr rasch fließenden Newa abgehen, so würden dazu nach einer nicht schwierigen Berechnung nicht weniger als 2 Monate erforderlich sein. Das meiste zerschmilzt daher natürlich im See selbst, dach bleibt des abziehenden Eises genug, das zuweilen vor der Ausmündung des Sees stockt und in verschiedenen Tempos fortgeht. Da indeß die Petersburger Bootführer mit dem Eise vertraut sind, so geht ihre Schifffahrt dessenungeachtet fort, und es gewährt dann ein interessantes Schauspiel, mitten in der schönen Residenz auf dem gebrochenen Eise die Hobelspäne ankommen zu sehen, welche dcr Finne im Winter, auf dem Eise schaffend, zerstreute, oder die Schlitten, dic "m ^'' Menschenschutz ist hier ganz und gar unanwendbar.^ So Weniges den Alles unternehmenden russischen Kai-strn unmöglich erscheint, so können sie doch nicht daran denken, den Okeanos eindämmen oder den Flußgöttern andere Wege bahnen zu wollen, und obgleich man aller-dings hier und da von ableitenden Canälen und schützenden Molos gesprochen hat, so hat man doch bisher, die Fruchtlosigkeit dieser Versuche wohl einsehend, noch nichts dergleichen ausgeführt, und Petersburg liegt vollkommen wehr- und schutzlos da, den Fluchen zum willkürlichen Spiele preisgegeben. Da die Stadt jeden Augenblick das furchtbare Waffer erwarten kann, wie jede andere Stadt dit verzehrende Flamme (in manchen Stadttheilen kommen die Ueberschwemmuna.cn so häufig und plötzlich, daß man oft Abends nach Beendigung der Gesellschaft, wenn mittlerweile der Wind sich drehte, die Straßen über-schwemmt findet und nicht nach Hause gehen kann), so bat man Veranstaltungen getroffen, die Einwohner prompt von drohender Gefahr zu benachrichtigen, damit Jeder das Mögliche zu seinem Schutze thue. Wenn bei anhaltendem Westwinde die Meereswasser in die Newa eintreten und die äußersten Spitzen der Inseln überschwemmen, so wird auf der Admiralität eine Kanone gelöst, und auf allen Thürmen werden die Wasserfahnen ausgesteckt, zum Zeichen, daß die Stadt durch die Nereiden in Belagerungszustand versetzt sei. Die Kanonenschüsse werden alle Die Ntwa. 7^ Stunden wiederholt. So wie das Wasser seine Ufer überschreitet und die unteren Theile der Inseln überschwemmt, folgen sich die Signale der Alarmkanone alle Viertelstunden. Steigt eS noch höher und schleicht es in die Stadt selbst ein, so donnern die Signale alle fünf Minuten und rufen am Ende, wenn dns Waffer noch weiter gm, seinen dankbaren Freunden, eine recht christliche und erquickende Abendmahlzeit genossen. Manche glauben, daß an zu Grunde gegangenen Waaren, zerstörten Hausern, vernichtetem Mobiliar, verdorbenem Straßenpsiaster, eingestürzten Trottoirs u. s. w. diese Wasserflut!) der Stadt über hundert Millionen und an mittelbar und unmittelbar durch sie umgekommenen Menschen mehre Tausende gekostet habe. Man hat in allen Straßen der Stadt die Höhe der Fluth an den Hausern durch einen Strich und Hinzusetzung deS Datums bezeichnen lassen. Gott gebe, baß die Häuser-anstreicher das Geld, welches sie dafür erhielten, nicht noch einmal zu verdienen bekommen. Jeder Zoll, den sie ihren Strich höher setzen müßten, würde der Stadt ein paar Millionen mehr kosten und 100 Familien mehr in Trauer versetzen. Das Newawasser gehört zu den reinsten und un-vermischtesten Flusiwaffern, die es giebt. Es ist selbst Die Newa. 75 an der Mündung des Flusses noch so klar, wie an seiner Quelle. Es ist bekannt, daß sein Genuß anfangs ganz eigenthümliche Wirkungen hat, weßhalb die Neulinge es nur mit Wein oder Rum vermischt trinken. Allein man gewöhnt sich bald daran und findet dann in ihm ein so herrliches Getränk, daß man es allem anderen Waffer vorzieht. Die in dieß Waffer ganz verliebten Petersburger gratuliren sich immer, wenn sie von Reisen zurückkommen, daß sie wieder Newawasser trinken können, und wie oft mag schon ein Heimkommender im Kreise der Seinigen so begrüßt worden sein, wie ich es einmal sah von einem improvisirenden Redner, mit einem Becher voll Newawaffer in der Hand. Der Kaiser Alexander ließ sich, wie man mir sagte, auf seinen Reisen gewöhnlich Newawaffer, in Flaschen gefüllt, nachkommen. Zum Brauen des Thees und Kaffees dient es vortrefflich, und mit Gerstensaft gewürzt, als Bier, geht es durch's ganze Reich. Zum Waschen ist es gleichfalls ausgezeichnet, und die hiesigen Engländer haben große Freude über die guten Eigenschaften, die es ihrer Wasche mittheilt. Außer dem großen natürlichen Aquäduct der Newa hat aber die Stadt nicht eine einzige Wasserkunst, keine brauchbare Ouelle, ja nicht einen einzigen Brunnen, auch nicht einmal Röhren, welche das Newawass^ zu dm Häusern führten, und mancher Stadttheil würde gewiß gern einen ganzen unbequemen Newaarm weggeben für ein paar Brunnen, die ihm nahe zur Hand wären. Die Quellen, welche auf dem Gebiete der Stadt 4* 7ti Die Newa. 5« Tage kommen, haben ein ganz ungenießbares Waffer und sind sogenannte ,,^c!w>'iH« l-iil^cllki" (Schwarzbache), und eben so ist alles Waffer, welches man durch Grabung von Brunnen gewinnen könnte, nur durch den Torfgrund des Bodens siltrirte und gelblich gewordene Newa-fiuth. Alles Waffer, das die Stadt braucht, muß daher unmittelbar aus der Newa geschöpft werden. Es befindet sich zu diesem Behufe in jeder Haushaltung ein Waffer-faß, das von einem eigens dazu angestellten Wasserschöpfer bedient wird. Diescr und sein kleiner Einspänner haben gewöhnlich den ganzen Tag vollauf zu thun mit Waffer-schöpfen. Die Armen schicken ihre Leute einfach an's Ufer der Newa, wo sie mit Eimern, die an langen Stäben beftstigt sind, das Wasser etwas fern vom Ufer aus dem Flusse schöpfen. Für die Wohlhabenden giebt es Schöpft nnstalten, wo man in klcinen Hauschen das Wasser aus dem Flusse hervorpumpt. Im Frühlinge, wenn bei dem Schneeschmelzen aus allen Straßen schmuzige Bäche in den Fluß laufen, ist indeß große Noth in den meisten Haushaltungen, weil die Schläuche der Pumpen zu nahe am Ufer liegen und bann nicht eben das reinste Wasser heraufbringen. Im Winter werden viele Schöpflöcher in die Eisdecke gehauen, und in deren Nähe auch Tröge zum Tranken der Pferde aus Eis errichtet. Die ein^ spänmgen Wasserschöpfer mit ihren triefenden und spritzenden Fässern gehören daher zu den stehenden Sttaßen-siguren Petersburgs. Man sieht sie bestandig in langen Reihen bei dm Schöpfbrunnen auffahren. So bleibt Die Newa. 77 also doch noch Manches in Petersburg zu thun, um den gaii;en Stadtorganismus vollkommen auszubilden, und durch Einrichtung ^iner die ganze Stadt versorgenden Wasserkunst könnte sick? ein Kaiser ein wesentliches Verdienst um sie erwerben. Die Canale der Newa sind überall mit Waschanstalten, die sich auf Flößen befmden, so wie mit sogenannten Ssadoks bedeckt. Diese Ssadoks sind große Fischbehälter, die ebenfalls auf Flößen schwimmen. Alles, was den Fang, die Conservinmg und den Verkauf der Fische betrifft, ist bei den Russen, die sich darauf trefflich verstehen, auf's Beßte eingerichtet, und so sind es auch di.'se überall in Petersburg vertheilten Ssadoks. Cs sind recht niebiiche, hübsch bemalte und zierlich gestaltete Holzhauschcn, fast den Hamburger Elb- und Alster-pavillons ähnlich. Sic liegen am Ufer vor Anker, und eine Brücke führt von da aus zu ihnen hin. Im Inneren ist ein Raum, in welchem die geräucherten und gesalzenen Fische aufgehängt sind, wie die Schinken und Würste in den Hausern der westphalischen Bauern. Mitten zwischen ihnen befinden sich zur Veschützung des Etablissements ein paar große Heiligenbilder mit brennenden Lampen, als wäre es ein Tempel der Flußgöttin, in welchem ihr die Fische als Opferspendsn aufgehängt waren. Außer dem Räuchern und Einsalzen haben dte Russen noch eine Art, die Fische zu conserviren, die wir nicht kennen — das Einfrierenlassen. Im Winter stehen daher große Kasten, wie unsere Mehlkasten, umher, die mit gefrorenen Fischen gefüllt sind, mit Nawaggen, Heiligen- 78 Die Newa. butten, Harmgen aus Archangel und mit den delicaten „Ierschis" (Kaulbarsen) aus dem Ladoga - See. Zu beiden Seiten dieses Raumes sind^ ein paar saubere Zimmer für die Mannschaft des Ssadoks und eins für die Gaste, die hier frischen Caviar zu essen lieben. Hinter dem Hause unter dem Waffer sind die großen Fischbehälter für die lebenden Fische, deren immer eine außerordentliche Fülle vorhanden ist, da die Nüssen in Bezug auf Fische große Feinschmecker sind und sie gern lebendig in den Topf bringen. Es wird mit den lebendigen Fischen ein bedeutender Luxus getrieben, und man findet z. V. hier im Newaflusse auch eine Menge von Wolgasischen, die mit großen Kosten herbeitransportirt werden. Die Sterlets, die todt für 30 bis 40 Rubel zu haben sind, kosten lebendig zu Zeiten 100 bis 300 und finden dennoch Käufer, welche einen Stolz darein setzen, sie ihren Freunden kurz vor dem Diner lebendig zeigen zu können. Die Newa ist mitten in der Stadt an einer Stelle beinahe eine Werst, im Durchschnitt eine halbe breit und, die großen Krümmungen mitgerechnet, fast 3 deutsche Meilen lang. Man kann sick) daher denken, welche Wüsteneien ihre Oberflache im Winter bei so unregelmäßigem Anfrieren der Eisschollen, wie es hier gewöhnlich statthat, darstellt. Man kann alsdann hier bei Nacht mitten in der Stadt Reisen machen, wo man sich so verlassen glaubt, wie auf den Seeeinsamkeiten Finnlands. Die Lichter der Häuser dämmern nur aus der Feme, Mond- und Nordlicht dienen zur Erleucht- Die Newa. 79 ung, und man steuert seinen Lauf nach dem Compaß und den Sternen. So verrufen daher auch diefe Nachtfahrten auf dem Wintereise sind — Diebstahl und Mord passiren hier am hausiasten — und so gern man sie meidet, so ändert sich das Alles im Sommer, wo die Newaschiffahrten das beliebteste Vergnügen sind. Der blinkende Fluß, dessen Oberfläche im Winter verbleichte, umgiebt dann die schönen Stabttheile, wie mit herrlicher Silbereinfaffung. Die Nachte sind gelind und wunderbar hell, und die Petersburger, die sich aus pomphaften Schlittenfahrten weniger machen als wir, weil der Schlitten bei ihnen mehr ein nothwendiges Hausmöbel ist als ein Luxusartikel, wie bei uns, schwelgen dann in der Lust des Gondelf.chrenS um so mehr, da sie ihnen nur auf kurze Zeit vergönnt ist. In den schönen warmen Monaten Juni und Juli sind die Newa-Arme Nacht und Tag mit segelnden und rudernden großen und kleinen Schissen und Gondeln übersäet, dk' nicht rasten, bestandig die hübschesten Gemälde dem Auge und Ohre darzustellen, und Alles, was Venedigs banale mit ihren Gondeln Zauberisches haben mögen, ist unbedeutend in Vergleich mit dem malerischen Lcben, das sich hier in dem dann so linden Norden entfaltet. Man denke sich eine Atmosphäre, von den schmeichlerischesten Zephyren durchsauselt, warm und mild, ohne daß die Pfeile des Apollo lästig fallen, als wenn die Wärme von den entfernten Sternen zusickere, zauberisch klar und hell, ohne daß doch die Quelle alles Lichts über dem Horizonte sichtbar ist, — eine Nacht, in der sich nichts ?0 Die Newa. verbirgt und nichts schlummert, weder die zwitschernden Vögel, noch die wachenden Menschen, noch die sichtbaren Pflanzen, deren Farben nicht verblühen, kurz eine Nacht mit allen Reizen der Nächte und doch mit aller Bequemlichkeit des Tages, als hätte der helle, frische Tag den prächtigen Mantel der Nacht umgehangen, — einen Strom, der sich spielend in eine Menge von Armen theilt und wieder zu großen Massen vereint, der sanft, klar und majestätisch stießt, — dabei einen Archipelagus von Inseln, dessen eine Hälfte mit prachtvollen Palasten besternt und dessen andere mit wundervollen Garten, geschmackvollen Pavillons und lururiösen Einsiedeleien geschmückt ist, — dann das große Meer vor den Thoren der Stadt und dicht bei jeder der sechs Mündungen der Flüsse. Dieß Alles denke man sich nun von Tausenden von Gondeln und Schiffen belebt. Segelkundige Englander, die sich auch in Leitung ihrer kleinen zierlichen Barken ihres Uebergewichts über alles andere auf dem feuchten Elemente Schwimmende erfreuen,—deutsche Bürger, die sich mit ihren Familien in der Nacht der Freude überlassen, um die Sorgen des Tages zu vergessen, — russisches Volk, das seine harmoniereichen Lieber über das Wasser hinmurmeln läßt, — die Reichen, von den Chören ihrer Sklaven begleitet, die jene zauberische Hornmusik erklingen lassen, — Matrosen und Schisssvolk von allen seefahrenden Nationen, das Wunder der hellen Nachte anstaunend, — man denke sich dieß Alles lebhaft, oder man setze sich in eine der hübschen Gondeln, umkreise mit ihr die Die Newa. 81 Inseln und Inselchen, und man wird vergebens dic Stadt auf dem Globus suchen, die Etwas gewähren könnte, was sich mit den Reizen dieser Petersburger Sommernacht-Gondelfahrten vergleichen ließe. 4" S t r a ß e n l e b e n. „Siehe! da wimmeln die Straßen, der Markt von frbylichcm Leben, Seltsame? Sprachen Gewirr biaust in das wandelnde Ohr/' jOem Fremdlinge, der aus den lebendigen Gaffen unserer engen Städte in Petersburg landet, fällt, besonders wcnn er ein Engländer oder Franzose ist, der in dem Menschenstrome der Londoner oder Pariser Straßen zu schwimmen gewohnt ist, nichts mehr auf als die große Oede und Menschenleere in der nordischen Residenz. Er findet hier große wüste Plätze, auf denen zuweilen nichts zu erblicken ist als eine einsame, ihren weiten Weg trabende Droschke, wie ein Boot nuf weitem Meere verloren, — Straßen, an denen Reihen stummer Paläste liegen, nur hier und da von einigen Fußgängern umflattert, wie die Felsen einsamer Gebirgsgegenden. Die Größe des Plans der Stadt und seine kolossalen Verhältnisse offenbaren, daß man bei ihr auf eine lange Straßeilkbm. , ^3 Zukunft rechnete. Jetzt reicht die Bevölkerung, so machtig und schnell sie auch anschwillt, noch immer nicht hin, jene Räume überall mit dem Leben zu füllen, das man in einer großen Residenzstadt billig erwartet. Die Straßen und freien Platze der Stadt stellen einen Flachenraum von ungefähr 200 Millionen Quadratfuß dar, und wenn nun auch die ganze Bevölkerung der Stadt, sämmtliche 500,000 Menschen mit Weib und Kind, auf den Straßen bc-ständig verkehrten, so bliebe doch für Jeden noch ein Raum von 400 Fuß, und man würde etwa alle 10 Schritt einen Menschen treffen. Nimmt man an, was nicht unbillig scheint, daß im Durchschnitt jeder Vewob-ner im Laufe des etwa 24stündigen Tages zwei Stunden in den Straßen verwandert, so würde im Durchschnitt zu jeder Tageszeit etwa der siebente Theil der Bevölkerung, d. h. eine Zahl von 70,000 Menschen, in den Straßen sein, demnach auf jeden Menschen etwa ein Raum von 2^00 Quadratfuß kommen, und man würde daher alle 30 Schritt etwa eine menschliche Seele antreffen. So wäre es im Durchschnitt und bei gleicher Vertheilung, und es kann dieß im Ganzen einen richtigen Maßstab der Petersburger Straßen r Lebhaftigkeit abgeben. — Natürlich aber giebt es Zeiten und Orte, auf welche dieser Maßstab sich nicht anwenden laßt, und wo jenes Verhältniß theils zu klein, theils zu groß «st. Bei Gelegenheit großer, öffentlicher Fest- und Freudentage, so wie immer in dem Centrum der Stadt, auf der großen Perspective, auf dem Admiralitäts-Platze, an den schönen Newa-Quais, im Sommergarten u. s. w. ist die Bewegung größer, der ßH MraßcnKben. großen Volksmafse der Stadt entsprechend, und der Anblick entbehrt dann nicht eines vielfachen Interesses. Die Bevölkerung von Petersburg ist wohl ohne Zröeifel eine der buntesten und manchfachsten, die man sich wünschen kann. Namentlich gehen jetzt die Verbindungen Petersburgs zu Lande so weit, wie die keiner zweiten Stadt der Welt, und bringen es in Berührung mit so vielen Völkerschaften dieser Hemisphäre, daß es eben so schwer stin möchte, die anszusinden, welche sich hier nicht durch eine mehr oder weniger große Individuen-Anzahl beständig oder doch wenigstens zu Zeiten reprä-scntirt fände, als alle vorhandenen aufzuzahlen. Wie vielfach sind nicht schon allein die Stamme, die sich hier auf heimischem Boden fühlen, die diese Residenz als ihre eigene, ihnen angehörige Metropole ansehen. Man betrachte nur das Militär. Da giebt es ein eigenes Corps für die kaukasischen Völker, eine eigene Abtheilung für die Tataren, wieder eine andere für die Finnen, eine dritte, vierte und fünfte für die Kosaken, von welchen Völkern immer die Eliten als Geißeln der Treue ihrer Brüder in der Residenz zu weilen gezwungen sind. Welche manchfache Erscheinungen führt diesi allein nicht stündlich vor den Augen des Beobachters vorüber! Man sieht den Kosaken, der sein Roß tummelt und mit eingelegtcr Lanze, als waren Franzosen zu verfolgen, über die freien Plätze trabt, den Tscherkessen in seiner reichen Tracht und in voller Rüstung, auf jedem Zoll seines Leibes bepanzert und bewappnet, der auf den öffentlichen Plätzen seine kriegerischen Uebungen anstellt, den Taurier, der Straßcnleben. 85 seiner Steppen und seines Allahs eingedenk, gravitätisch durch das Getümmel schreitet, die russischen Soldaten, die, geschult und geübt, in langen Colonnen durch die Stadt desiliren, alle die verschiedenen Montirungen und Uniformen der großen russischen Armee, von denen allen sich immer ein Pröbchen in der Hauptstadt findet, die Pawlow'schen, die Semeonow'schen, die Pawlogradski-schen Garde-Negimenter, die Ssum'schen, Tschugujew'schen Husaren, die Jäger, Dragoner, Ulanen, Kürassiere und Grenadiere, die Sapeurs, Ingenieurs, Linientruppen und Kanoniere, die bestandig zu Pferd und zu Fuß, ihre Wachen wechselnd, oder Casernen beziehend, oder zu Paraden eilend, durch die Straßen der Stadt hin- und her-marschiren. Oder man erwäge die Kaufmannschaft und-die friedlichen Verkehrer. Da fehlt kein Volk von Europa und fast keines von Asien, nicht der Spanier und Italiener, nicht die Einwohner der grünen britischen Eilande, nicht der Normann aus dem entfernten Thule, nicht die von Seidengespinnst umrauschten Vucharcn und Perser, sogar die Indier aus Taprobane, der Schöpf des Chinesen und die weißen Zähne des Arabers zeigen sich zuweilen. Oder man betrachte die mlim« pleli«. Da schlendern die deutschen Bauern zwischen dem Getümmel der lärmenden Vartmffm, die schlanken Polen neben den untersetzten Finnen und Esthen, die Letten mit den Juden, die Mordwinen und ihre Brüder, die Tscheremissen, die amerikanischen Matrosen und ihre Antipoden, die Kamtscha-dalen, Juden und Mohammedaner, Heiden und Christen, 89 Straßenleben. die Secten aller Religionen, die Farben aller Naccn, weiße Kaukafier, schwarze Mohren, gelbe Mongolen. Entschieden am interessantesten entwickelt sich das Petersburger Straßenleben auf der herrlichen Newskischen Perspective. Dicse prachtvolle Straße führt vom Alerander-Newsky-Kloster auf die Admiralität in einer Lange von vier Wersten. Gegen das Ende hin hat sie eine kleine Krümmung. Sie durchschneidet alle verschiedenen Ninge der Stadt, das Quartier der armen Vorstadter wie die Gegenden des Reichthums und Lupus im Centrum. Sie ist daher von sehr verschiedenem Werthe., und eine Reise auf ihrer ganzen Ausdehnung ist entschieden die interessanteste, die man auf dem Terrain von Petersburg machen kann. An ihrem äußersten Ende sieht man auf der einen Seite ein Kloster, einen Kirchhof, Tod und Einsamkeit. Alsdann kommen kleine niedrige Häuser von Holz, Viehmärkte und Vranntweinschenken, von singenden russischen Bauern umschwärmt, Dorfleben und Vorstadttreiben. Weiterhin zeigen sich hier und da zweistöckige und steinerne Gebäude, bessere Wirthschaften, Magazine und Läden, wie man sie in den kleinen russischen Provinzstädten findet, Märkte und Magazine mit einer Menge alter Möbeln, Kleider und Sachen, welche das Centrum der Stadt abnutzte und hier den Vorstädten feil bietet. Die Häuser sind nach alter russischer Weise gelb und roth angestrichen, und t«e Menschen tragen sämmtlich lange Bärte und noch längere Kaftans. Etwas weiter hin erscheinen schon Iswoschtschiks, die sich aus den inneren Kreisen hierher verirrten, rasirte Kinne, französische Fracks Gtraßenleben. 87 und einzelne große Hauser. Wenn man um die Ecke des Winkels biegt, den die Straße macht, so zeigt sich in der Ferne, wie über dem niedrigen Straßennebel schwebend, die goldene Niesennadel des schmächtigen Admiralitätsthurmes, den alle Hauptstraßen der Stadt zum I'nint <1e VU6 haben. Es offenbart sich allmälig der Kern der Residenz. Die Paläste schwellen drei- und vierstöckig empor, die Inschriften an den Häusern mehren und vergrößern sich bis zum Schneider „Vouton," der seinen Namen mit ellenlangen Buchstaben an seinem Hause stehen hat. Die Vierspänner werden häusiger, und es schlüpft hier und da ein eleganter Federbusch vorüber. Endlich gelangt man zur Fontanka und an die Anitschkow'sche Brücke, und hiermit beginnt die eigentliche Residenz selbst, was gleich das große Palais des Grafen V. ankündigt. Von dieser Brücke bis zum Ende ist das eigentliche elegante und fashionable Stück der Perspective. Von hier an steigt das Leben schwindelnd. Vierspänner auf jedem Tritte, Generale und Fürsten unter dem Getümmel, die ausländischen Magazine, die Silberbuden und die kaiserlichen Palais, die Kathedralen und Hauptkirchcn aller Petersburger Neligionsporteien. Das Leben auf diesem fashwnablen Stück der Perspective um Mittagszeit kann sich mit dem jeder anderen berühmten Straße der Welt messen und genießt sich um so angenehmer, da die Decoration ^zu diesem Schauspiele so großartig ist. Sie wird von nicht mehr als 50 Hausern gebildet. Da indessen jedes derselben ein Niesengebäube ist, so ist doch die Reihe noch lang genug. 88 Straß enleben. Die meisten von diesen Gebäuden gehören den verschiedenen Kirchen, die an der Straße liegen, der holländischen, der katholischen, der armenischen, der Petrikirche /U. s. w. Sie empfingen hier von Peter's des Großen Freigebigkeit weite freie Platze zum Geschenke, die ihnen anfangs von geringem Werthe erscheinen mochten, jetzt aber, da die Dinge sich so gestaltet haben, daß sie in der Mitte der Stadt liegen, erstaunliche Nevenueen abwerfen. An schönen Tagen spaziert es sich hier so bequem wie in einem großen, vom Himmel überwölbten Salon. Die Häuser sind so proper, glanzend und saulcnrcich, wie die Decorationen eines Ballsaales. In der Mitte der breiten Straße rollen die blitzenden Equipagen geräuschlos auf hölzernen Parketten. Die Trottoirs sind breit und gemächlich. Geschrei und Pöbel, Geschäftigkeit und Arbeit zeigen sich nirgends. — Holzhauen und allerlei andere störende Arbeiten, die aus Mangel an Hofraum bei uns auf den Straßen vorgenommen werden, verrichtet man hier bequemer in den großen inneren Gehöften. — Niemand rennt den Anderen an, theils weil der Geringere immer großen Respect vor dem Höheren hat, theils weil die slawischen Straßenelemente überall ihrer ihnen eigenen Geschmeidigkeit gemäß sich gewandter neben einander hinbewegcn und nicht so eckig ' wie die schroffen germanischen Moleculen bei einander vorüberrutschen. Von der Anitschkow - Brücke zur Admiralität und von der Admiralität zur Anitschkow - Brücke hin- und Strahenleben. 39 herzuspazieren, ist eins der anmuthigsten Amusements, die das Leben irgend einer Stadt zu gewahren im Stande ist. Auch nimmt jeder Petersburger Elegant täglich einmal seinen Freund an den Arm und macht diese Promenade ein paar Mal auf und ab. Die belebteste Seite der Straße ist die nördliche, weil sie die Sonnenseite ist, die hier Jeder sucht. In Genua würbe es die südliche sein, weil dort Alles nach Schatten schmachtet. Die nördliche Seite ist daher auch mit weit brillanteren Laden und Magazinen besetzt und giebt einen höheren Misthzins als die südliche. Vor hundert Jahren hätte man das vorher berechnen können, denn es beruht dieß Alles — ich meine sowohl dle Wichtigkeit der in das Centrum des Stadtlebens fallenden Perspective als die Vorzüglichkeit ihrer nördlichen Seite — auf Naturnothwendigkeit, auf der Gestaltung des Areals der Stadt und der Constellation der Gestirne, und wer damals, nur mit etwas Speculation und Capital versehen, sich hier ein Plätzchen angekauft hatte, hatte seine Kinder und Kindeskinder als Millionare hinterlassen können. Unter den 500,000 Einwohnern Petersburgs sind allein 60,000 im Dienste des Mars. Der neunte Mann daher, der eincm in den Straßen begegnet, ist ein Soldat, und da weder Gemeine noch Offiziere sich ft von ihren Epauletten und Waffen trennen und auf jedem Spazierwege eben so bis an die Zähne boutonnirt wie auf der Parade erscheinen müssen, so sieht man denn auch auf den Spaziergangen nichts hausiger als die Federbüsche 9N ' Straßenleben. und blinkenden Rüstungen dieser Herren. Unter ihnen erregen besonders die Phantasie des Fremden die wilden Kaukasier, die TsclM'ssen, die hier, in silberne Panzer und stählerne Netze gekleidet, mit dem civilisirten russischen Offizier scherzen und plaudern, während ihre Brüder im Kaukasus den Vettern der letzteren keinen Pardon geben. Doch thut man selbst in Petersburg besser, diesen Leuten aus dem Wege zu gehen. Denn ihre Dolche sind beständig geschliffen, und ihre Gewehre tragen sie nicht anders als schußfertig. Sogar auf den Bällen erscheinen sie, wie man sagt, nicht anders und tanzen mit unseren Damen die Polonaise mit scharf geladenen Pistolen. Vor einigen Jahren soll man zuweilen einen von ihncn, einen Fürsten W, dem man seiner ausgezeichneten Schönheit und Liebenswürdigkeit wegen Vieles durch die Finger sah, gesehen haben, wie er in den Straßen von Petersburg in launigem Uebermuthe- sein Pistol gegen die Sonne, oder sonst auf einen Gegenstand abfeuerte. Wenn die Polizei ihn haschen wollte, so sprang er rasch auf sein Pferd, das treu wie ein Hund hinter ihm hertrabte, und war wie ein Spukgeist verschwunden. Meistens schoß er nur auf die Sonne, die Laternen und Laternenpfahle, seltener auf Menschen. Doch kam auch dieß vor, so einmal auf einen russischen Offizier, an dem er Aergerniß genommen, weil er im Gespräche sich unehrerbietiger Ausdrücke gegen seine Mutter im Kaukasus bedient hatte. Glücklicherweise verfehlte er ihn, jedoch nicht, weil er schlecht gezielt hatte, sow dem weil ein anderer russischer Offizier noch zur rechten Straßenleben. 91, Zeit seinem Pistole durch einen kräftigen Schlag eine andere Richtung gab. Die wilde Natur steckt diesen Herren so tief im Geblüte wie den Katzen, so daß es den Russen schwer wird, sie zu Humanisiren, obgleich man sie schon als kleine Knaben in die Kadettencorps aufnimmt und lange Jahre an ihnen schult. Es ist nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, halb Petersburg stecke in der Uniform. Denn außer .den 60,000 Militärs mögen ungefähr ebenso Viele Civil- und Privatuniform tragen, die Beamten, Poli-cisten, Lakaien, Bedienten u. s. w., weßhalb denn fast das ganze Publicum brodirt, belitzt, besternt, verbrämt und eingekantet erscheint. Nichts desto weniger ist es falsch, wenn ewige Reisende behaupten, daß der einfache Frack, der schwarze Ueberrock hier nichts gelte. Die Bequemlichkeit scheint bei'm Menschen fast eine noch größere Unterlage des Egoismus zu sein als die Eitelkeit, und wer nur kann und darf, der schlüpft auch in Petersburg in den gewöhnlichen dunkelfarbigen Ueberrock, den man auf den Spaziergängen daher fast eben so häusig erscheinen sieht als die bunte Uniform. Es giebt auch in Petersburg noch wohlhabende Privatleute, Fremde und Einheimische genug, die das Ansehen des Fracks und Ueberrocks vertheidigen und ihnen Achtung zu verschaffen wissen. Das ganze große, zahlreiche Corps der Kaufmannschaft, die ganze englische Factorei, viele müssige junge Leute, viele reiche russische Gutsbesitzer, Fürsten und Herren, die meisten Ausländer, insbesondere die zahl- 92 Straßenleben. reichen Privatlehrer, viele alte Herren stecken im Frack, der aber freilich der Uniform weichen muß bei allen Militär- und Civilbeamten, auch bei dcn Lehrern aller öffentlichen Schulen, bei den Professoren der Universitäten und in vielen Fallen auch bei der Jugend, bei den Gymnasiasten, bei den Kreisschülern und den Schülern und Zöglingen aller öffentlichen Anstalten, die als angehende Staatsbeamte ebenfalls boutonnirt und uni-formirt sind und wie die Paradiesvögel und Schmetterlinge von allerlei Farbenstreifen, Puncrirungen und Garnirungen glänzen. Keine Stadt hat so geschickte Militär- und Uniformenschneider als Petersburg. Wie sehr aber auch die Civilkleidung in Achtung steht, geht schon daraus hervor, oasi jedes einzelne Stück derselben eine Menge von Virtuosen hat, die gerade in seiner Verfertigung besonders excelliren. Es qiebt hier wie anderswo Stutzer, die jeden Morgen mit einem halben Dutzend Schneibern Conferenzen haben, mit dem einen wegen ihrer Westen, mit dem anderen wegen ihrer Pantalons, mit dem dritten wegen der Ueberröcke u. s. w. Wie in der Natur anderes Wetter immer andere Thiere zum Vorschein bringt, wie im Regen die Enten, im Sonnenscheine die Schmetterlinge sich freuen, wie im Abendnebel die Phalänen, am Mittage die Sonnen-salter streichen, wie im Winter die weißen Hasen und die grauen Eichhörnchen, im Sommer aber die grauen Hasen und die rothen Eichhörnchen sich zeigen, so auch bei den Menschen, anderes Wetter bringt andere Leute auf die Straßen. Da nun das Wetter des Peters> Straßenlcben. 93 burger Himmels erstaunlich wankelmüthig ist, so verändert sich der Anblick des Petersburger Straßen-Publi-cums ungemein häufig. Im Winter die dicken Pelze, im Sommer die leichten Flore und Seidenstoffe. Am Abende Alles in Mänteln und Capots, am Tage Alles luftig und bloß. Im Sonnenscheine die flatternden Elegants und Modedamen, im Regen alles Elegante verschwunden und nichts als schwarzes Wölk. Jetzt auf dem Schnee Altes Schlitten und Schleife, dann auf den Steinen Alles Wagen und klapperndes Rad. Noch mehr als die Veränderlichkeit des Wetters ändert die Verschiedenheit der Religionen den Anblick des Publicums. Freitags, am Heiligen Tage der Mohammedaner, ergehen sich die Perser und die geschorenen Tataren auf den Straßen. Am Sabbath erscheinen die schwarzseidenen Kaftans der Juden, und am Sonntage jubeln die Schaarcn der Christen hinaus. Dazu die Verschiedenheit der christlichen Secten. Heute lauten die Lutheraner zum Bußtage, und man sieht die deutschen Bürger, Vater, Mutter und Kind, schwarze Gesana« bücher mit goldenem Schnitt unter dem Arme, zur Kirche pilgern. Morgen rufen die Katholiken zu einem Feste der unbefleckten Jungfrau, und Polen, Lithauer, französische und österreichische Unterthanen wallen zu den Tempeln. Uebermorgen aber bimmeln die tausend Glocken der griechischen Kolokolniks*), und nun summt und flattert es auf allen Straßen von den grasgrünen, blut, *) Glockenthürme. V4 Straßmleben. rothen, schwefelgelben, veilchenblauen Töchtern und Frauen der russisä)en Kaufleute. An großen politischen und Staatsfesten aber, an sogenannten „kaiserlichen Tagen"*), erscheinen dann alle Trachten, alle Farben und alle Moden, die von Paris bis Peking gang und gäbe sind. Es ist, als wenn Noah's Arche an der Newa gestrandet wäre und ihres sämmtlichen verschiedenartigen Gesieders sich entlüde. Man sieht hier Leute, die auf dem Haupte und im ganzen Gesichte die Haare wachsen lassen, wie in einem Unkrautgarten, Kopfhaare, Lippen-, Kinn-, Hals- und Backenbart, — Andere, die dagegen das Rasirmeffer über den ganzen Schädel laufen lassen und hier aufräumen, wie die Mäher auf einem Stoppelfelds, indem sie nichts übrig lassen als die Augenbrauen und ein zierliches Stuhbartchm auf der Oberlippe, — wieder Andere, denen durch Gesetz sogar dieses versagt ist, und die sich bann wieder durch die Fülle ihrer Locken entschädigen, — Einige, die den Ziegen nachahmen und unter dem Kinne einen Schöpf von Haaren hervorgucken lassen, — Andere — ja wer zählt alle die polnischen, malorossianischen, russischen, ungarischen, französischen, jüdischen, tatarischen, chinesischen Vart-und Haartrachten — Männer in Kaftans und Talaren, in Fracks und Surtouts, mit Schafspelzmützen, Feder-und Filzhüten, Tschakos, Turbans und Schapkis, mit Stiefeln, Pantoffeln, Lindbastschuhen, Frauen ü !n Nu^e, i» In kolonnise, mit Hüten, mit Mützen, mit Kakoschniks oder einfachen Tüchern, um das Haupthaar geschlungen, *) „Xarslcho ^ni." Straßenleben. V5 in Pariser Gewandern und altrussischen Sarafans, Gewappnete und Wehrlose, Löwen und Schafe, Hasen, Ochsen, Mäuse und Elephanten, Störche, Tauben, Geier und Eulen, ein Jegliches nach seiner Art und Weise. Es giebt dann "auf dtn Straßen so viele verschiedene Pu-blicums, als es verschiedene Trachten und Nationalitäten qiebt, und wie in der Natur, so sucht sich auch hier Gleich und Gleich zu gesellen. Diese schöne, schlanke, schwarze Dame, die des Gardeofsiziers Entzücken ist, macht auf den Gostinnoi-Dwor-Kaufmann, der ungerührt sie pas-siren läßt, keinen Eindruck. Er sucht seinen rothen Sa-rafan auf, den er versteht, der ihn versteht. Die junge Russin scheitelt nicht für die losen Vögel aus französischem Geblüte, die ungefeffelt an lhr vorüberflattern, ihr Haar und schmückt nicht für sie ihre Flechten mit lockenden Bändern, in denen aber die Blicke eines jungen Kutschers sich verfangen und auf denen sie wie Hänflinge auf der Leimruthe haften. Jener deutsche Labenbiener mit unachter goldener Uhrkette um den Hals, mit hohen, auS dem Halstuche hervorguckenden Vatermördern, knapp geschnürt, weit austrctend, den Hut auf der einen Seite tragend, so sehr sich auch die Gardeofsiziere über ihn mo-quiren, er weiß doch, daß irgendwo sein Liebchen auf ihn wartet, das sein forces Wesen und seine renommistischen Redensarten mit Vergnügen ansieht und anhört. Es ist schon oft bemerkt worden, daß man selten in einer Stadt so viele schöne Männer sieht wie in Petersburg. Diese Erscheinung ist zum Tkeil ein Verdienst der Schneider, die bier ganz vortrefflich arbeiten und 96 Straßrnlrben. mittels geschickter Polsterung und anderer Nachhilfe aus jeder Figur etwas Artiges zu machen wissen, zum Theil ein Effect der vielen Uniformen, die man zur Schau getragen sieht und die den Leuten immer mehr Ansehen geben als die dunklen, traurigen Fracks, zum Theil aber auch eine Folge des Umsiandes, daß alles Wohlgebildete aus den Provinzen der Residenz zuströmt, wo es bei Hofe und in den Garde-Negimentern u. s. w. am meisten Anerkennung findet. In keiner Stadt wird man weniger Krüppelige und Verwachsene antreffen als in Petersburg, theils weil sie hier weniger Duldung finden, theils aber auch, weil vielleicht kein Volksstamm weniger Krüppel erzeugt als der russische. Ich erinnere mich kaum, einige zwerghafte und verkümmerte Figuren unter den Nüssen gesehen zu haben. Dagegen begegnet man auf allen Schritten Männern, die man um ihre leibliche Hülle beneiden könnte, besonders wenn es eben so viel Gelegenheit gäbe, hübschen Frauen zu gefallen. Allein mit ihnen steht es hier nicht so brillant. Petersburg ist eine Stadt der Männer. Der Frauen sind hier 1U9,O0l) weniger als der Manner, weßhalb die Auswahl verhaltnißmaßig nicht groß ist. Dabei scheint diesen zarten Blumen zur Entwickelung ihrer Reize das Petersburger Klima nicht günstig zu sein; denn sie verblühen in demselben bald, und überhaupt gilt es ganz allgemein von den Russen, daß die Frauen durchweg weniger schön sind als die Manner. Endlich auch werden sie, je weniger zahlreich sie sich sinden, um so mehr in Gesellschaften und Vergnügungen, wo sie unentbehrlich sind, abgenutzt und verbraucht. Selten Straßenleben. 9? sieht man ein hübsches, frisches Madchengesicht; bleich ist die herrschende Farbe, und man merkt es ihnen an, wie viel Grazie, Frische und Anmuth die Residenz con-sumirt. Eine Ausnahme davon machen die deutschen Damen, mit denen sich Petersburg fortwahrend aus den Ostseeprovinzen, wo sie auf dem Lande, in den Garten und Waldern aufwachsen, recrutirt. Aus Finn-, Liv-, Esth- und Kurland kommt der Stadt viel Schönes zu, und Alles, was hier in der Gesellschaft brillirt, ist fast immer von dort. Daher haben denn auch die Russen so hohe Begriffe von der deutschen Schönheit, daß sie einer „^Linkn" (Deutschen) fast nie das Beiwort „Ki-ns^ nn^'n" (schön) versagen. Die Damen sind in Petersburg eben der vielen Manner wegen in vieler Hinsicht übel daran. So können sie sich nie anders als in mannlicher Begleitung zeigen, und nie, selbst nicht auf der Perspective am hellen Tage, würde eine Petersburger Dame ohne einen Herrn oder Diener zu spazieren wagen. Die vorzüglichste Zeit für den Spaziergang auf der Perspective sind die Stunden nach dem Frühstücke von 12 bis 2 Uhr, wo die vornehmen Frauen hier in die Magazine zu ihren taglichen Einkaufen fahren, und wo dann die Herren kommen, ihnen zu begegnen und sie zu becomplimentiren. Gegen 2 und 3 Uhr, wo diese Einkaufe, die Wachtparade, die Börse und die Handelsgeschäfte beendigt sind, wendet sich die promenirende Gesellschaft dem englischen Quai zu, wo denn die eigens liche Promenade, die weiter nichts als Promenade ist, beginnt, und wo sich dann auch gewöhnlich die kaiser-Kohl, Petersburg. I. 5 Y8 Straßenleben. liche Familie cinfmbet. Zur Zeit des Kaifers Alexander, der den Hofqual vorzog und täglich regelmäßig seinen Spazierweg auf diesem ausführte, war dieser mehr in Mobs. Der jetzige Kaiser hat den englischen Quai in Auf» nähme gebracht. Es ist ein nicht minder prächtiger Spazierplatz als die Perspective. Dieser herrliche Quai, der wie alle Petersburger Quais aus Granitblocken ausgeführt ist, gcht am Ufer der Newa zwifchen der neuen und alten Admiralität hin. Sein Vau, wie der aller Quais in Petersburg, ist ein wohlthätiges Werk aus der Zeit Katharmens, die ungefähr 24 englische Meilen Fluß. und Canal? User in Petersburg mit Granit einfassen ließ. Wie bei allen Wasserbauten ist das Riesenmaßige an der Arbeit äußerlich weniger sichtbar. Der gewaltige Rost, auf dem die Quais ruhen^ steckt tief im Sumpfe, und eben so dl< ganzen bedeutenden Unterbauten, auf oenm nur die obere schmale Kante, die der Spaziergänger ge> meßt, mit der Einfassung eines zierlichen Elfengeländers ruht. Für die Fußgänger führen überall elegante Trep. pen und für die Wagen breite, schone Anfahrten, deren Seiten im Winter gewöhnlich noch mit allerlei aus Eis gemeißelten und gedrechselten Säulen und Geländern verziert werden, zum Wasser hinab. Auf der einen Seite des englischen Quais zieht sich eine lange Reihe schöner Palais hin, die meistens von Englandern erbaut worden, aber jetzt größtenthcils im Besitze reicher Russen sind, auf der anderen Seite hat man die Aussicht auf den breiten Newaspiegel mit allen den Schiffen, Booten und Gondeln, die auf ihm schaukeln, und gegenüber die vor» Straßenleben. 99 nehmsten Gebäude von Wassili-Ostrow, die Akademie der Künste, das Cadetten-Corps u. s. w. Der englische Quai stellt in Petersburg ungefähr Dasselbe vor, was in Frankfurt die Mainstraße, in Hamburg der „Iungfern-stieg" ist. Nur könnte man hier der „Fürstenstieg" sagen. Denn da hier Tag für Tag nur Elite und Bcaumonde wandelt, Kaiser, Großfürsten, Kleinfürsten, so ist Alles, was hier an den Steinen abgenutzt wurde, nur durch die Füße solcher Leute ausgetreten worden. Man fährt bei der neuen Admiralität an, wo die Equipagen halten, und die Herrschaften aussteifn, um zu Fuße einige Male an dem Wasser hin- und herzuschlendern. Da hier keine Handelsbuden in der Nahe sind und auch fast kein anderer Stadtverkehr, wie sich dergleichen doch noch dann und wann auf der Perspective störend einmischt, so ist es jedenfalls die eleganteste Promenade. Da der Kaiser und seine Familie auch hier, wie überall in Rußland, den Mittelpunct bilden, so haben alle Mitglieder der Gesellschaft nur einen Zweck, den, die Mitglieder der kai' serlichen Familie ein paar Maal zu sehen, sie zu grüßen und von ihnen gegrüßt zu werden. Dieß giebt der Gesellschaft eine gewisse Einheit, und man kommt sich wie unter Brüdern vor. In der äußerlichen Erscheinung ist die Gesellschaft eine eben solche, wie man sie auch auf allen anderen Promenaden der civilisirten Welt erblickt. Vom Kaiser und Fürsten bis zum Lieutenant und Haw delscommis herab durchweg dieselbe Hülle, dieselbe Kleidung. Es ist in neuerer Zsit, anders als im Mittclalter, wo sich jeder Stand und jedes Geschäft in seinem eignen 5* INl) Straßenleben. Gefieder zeigte, eine so ungemein große Kleiderfreiheit und Kleidergleichheit eingetreten, baß die innere Bedeutung mit diesen äußeren Zeichen im grellsten Contraste steht. Man müßte aber wenig Phantasie haben, wenn man sich durch diese Gleichheit, die wir vor den Schneidermeistern genießen, täuschen lassen wollte. Das innere Uhrwerk, das unter diesen schwarzen Hüten und braunen Ueberröcken pickt, ist von so verschiedenem Zuschnitt, wie eS nur je. zwei Röcke sein können. Nirgends sind die Contraste zwischen dem inneren Wesen und der äußeren Schale größer als hier am englischen Quai der Newa, wo der russische Kaiser, so einfach wie jeder andere Familienvater, neben seinen Unterthanen spaziert, die ihren Platz hier so gut einnehmen wie er, obgleich sie in der That in einem Verhältnisse zu ihm stehen wie Kinderpuppen zum Koloß von Rhodos. — Hier zeigt sich der Enc^ ländcr, der seine Abneigung gegen Despotismus und Nill-tür bis an den Hals in seinem Nedingote verknöpft hat und kaum den Hut rückt, wenn ihm „tlw ttinnt «s tlie ssoi-tl," begegnet, neben dem Russen, der sich ein ganz absonderliches Vergnügen aus dem Gehorchen macht und nichts mehr Uebt als die befehlenden Leute, — der feine Franzose von der französischen Gesandtschaft, der vermöge seiner Verbindung mit Paris immer am beßten weiß, was neueste Mode ist, welche Schleife man in sein Halstuch schlagen darf, und ob die Hacken an den Stiefeln hoch oder niedrig sein müssen, neben dem inlandischen I^M-UMse, h^ Jenen sorgfältig lorgnettirt, wie ein Naturforscher ein Insect, um ihn morgen zum Muster bei semer Toilette Gtraßenleben. 10 l. zu nehmen, — der Reichsgraf, der deutsche Baron, der seine Großväter selbst aus den Zeiten der Hohenstaufen noch nicht vergessen hat und weiß, daß man seine Urenkel sogar in den Gotha'schen Kalender eintragen wird, neben dem russischen Kaufmanne, der Wie ein Irrlicht aus finsteren Sümpfen auftaucht, und dessen Name spurlos wieder verschwinden wirb, ohne sich mit dem kleinsten Zipfel der Geschichte des Menschengeschlechtes zn verweben, — der große Gutsbesitzer, der Tausende von Seelen im Ural, in den Steppen und auf dem Wolga-Strome für sich arbeiten laßt, neben dem armen Kaufmannsdiencr, der kaum seine eigene Seele besitzt, wenn sie nicht etwa in seinen hübschen Gewandern steckt, die er mit solcher Selbstgefälligkeit zur Schau tragt, als wäre er selbst nichts als Rock, Gilet und Pantalons. — Auch fehlt es den Petersburger Promenaden durchaus nicht an originellen Leuten und stehenden Figurantcn. So vermißt man gewöhnlich nicht am englischen Quai den Baron —n—, der so dick ist, daß er schon seit dreißig Jahren seine Füße nicht mehr sah, und der trotzdem sein ganzes, gewaltiges Gewicht mit solcher bewundernswerthen Gewandtheit und Eleganz zu handhaben weiß, daß er zu den behendesten Tanzern gerechnet wird, und daß viele Damen ihn manchem Mageren beim Walzer vorziehen. Eben so häufig zeigt sich der Graf F..., nichts weniger als ein Sansculotte, aber allerdings ein Sanschapeau, denn er kann keine Art von Kopfbedeckung leiden, geht selbst im rauhesten Winter ohne Hut und laßt Wind und Schnee mit seinen stets zierlich toupirten Locken spielen. 102 Stiaßenlebtn. Nur dcr bronzene Peter der Große auf seinem Felsen übertrifft ihn noch an Duldsamkeit, da dieser selbst die Krähen und Sperlinge auf seinem Scheitel sich zanken und schnäbeln läßt. Auch ein Herr —g— wird den Fremden als eine Petersburger Promenaden-Sonderbarkeit gezeigt, da er trotz der großen Verwandlungen um ihn her noch immer die Toilette macht, die zu Zeiten des Kaisers Paul Mode war, die Allongenperrücke, den breiten Nockschooß und den silberknöpsigen langen Stab beS achtzehnten Jahrhunderts trägt. Man sagt, er habe sich einmal über seinen Kaiser, der über ihn ungehalten geworben, so erschreckt, daß das Uhrwerk seines Verstandes stehen geblieben sei und nun noch immer feit 40 Jahren diejenige Stunde zeige, die es damals geschlagen. Außer der nördlichen Seite der Perspective und dem englischen Quai giebt es nun nur noch elnen Platz in Petersburg, den man ebenfalls mit unter die besuchtesten Promenaden rechnen muß, den Sommergarten. Alle übrigen Garten der Stadt, der des taurischen Palais, der des Michailow'schen Palais, werden wenig oder gar nicht besucht*). Der Sommergarten, 1000 Ellen lang und halb so breit, liegt an der Newa am Ende des Hofquais. Er ist der älteste Garten der Stadt, hat eine Menge schöner hoher Bäume, meistens Linden, und ist *) Nur die deutschen Handwerker haben noch einen anderen öffentlichen Garten in der Ssadowaja in Besitz genommen, in wclchcm sie Concerte, Wälle, Illumination und andere solche Vergnügungen veranstalten, an welchen auch viele Russ«n TlM nehmen Straßenltben. 1W daher mitten zwischen den Steinmaffen der Häuser ein den Faunen und Nymphen geweihter Hain, von unschätzbarem Werthe für die Stadt. Er ist in eine Menge langer Alleeen, mit Rondelen und Blumenbeeten untermischt, abgetheilt, in etwas altem Styl; viele marmorne Statuen der Frühlings-, Sommer-, Blumen- und Waldgottheiten tanzen an seinen Wegen hin, und auf der nördlichen Seite umfaßt ihn das berühmte eiserne Gitter, das an der Newa hinläuft. Dieses Gitter ist in seiner Zeichnung und ästhetischen Anordnung mit seinen großen eisernen Thoren, mit seinen trefflichen Granitsäulen und Granitsockeln, mit seinen schönen und geschmackvollen eisernen Kränzen, Arabesken und Stangen ein so ausgezelchnct solides und schönes Monument, daß ein Englander blos seiner Veschauung wegen die Reise von London zur Newa machte und nach Entwerfung einer Zeichnung des Gitters zufrieden heimkehrte. Der Gatten wird'fast so sorgfältig unterhalten und geputzt, wie die Gärten in Zarskoje-Sselo, wo hinter jedem dürren, vom Winde entführtem Blatte ein Polizeisoldat herläuft, um es aus dem Wege zu schassen. Um alte Statuen werben im Herbste kleine Häufer gebaut, um sie vor dem Negen und Schnee des Winters zu schützen. Alle zarteren Bäume und Pflanzen werden mühsam in Stroh und Matten verpackt und so eigentlich der ganze Garten emballirt, bis im April die Menschen ihre Pelze, und sodann die Bäume und Stamen auch ihre Emballage ablegen. Der Rasen wird fortwährend begossen, und die Weg« sind stets geputzt und gefegt. Dieser Sorgfalt 104 Straßenleben. verdankt man es denn auch, daß seine Gräser und Baume schon im ersten Frühlinge vor allen anderen ergrünen und in der guten Jahreszeit fortwährend einen anmuthigen Seceß darbieten. In der einen Ecke des Gartens steht noch das kleine Palais, das Peter der Große hier bewohnte. Es ist ein niedriges Hauschen von weißer Grundfarbe, auf welche zahlreiche, ziemlich geschmacklose, gelbangestrichene Basreliefs und Fensterrahmen aufgetragen sind. Auf dem Dache zwischen den Schornsteinen reitet der heilige Georg auf einem blechernen Rappen, den Drachen erstechend. Im Inneren werden noch einige Möbeln aufbewahrt, die Peter der Große gebrauchte. Das Hauschen scheint sich seiner Kleinheit zu schämen; denn es versteckt sich ganz unter den hohen Linden des Gartens und wagt nicht, sich in Gesellschaft der hohen Palaste zu zeigen, die rund herum aufgeschossen sind. Doch blinzelt es hier und da mit seinen altmodischen Fenstern durch die Baume hindurch, als wolle es sich der stolzen Kinder, zu deren Geburt es Veranlassung gab, freuen. Wie mag es hier geprunkt haben, als es noch allein im Besitze der Wüste war und als einziger Elegant mitten unter den rohen Fischerhütten der Finnen stolzirte. Eine hübsche Restauration trägt das Ihre dazu bei, die Anmuth und den Comfort des Gartens zu erhöhen. — Die 500,000 Quadratellen Raum, welche der Garten hier mitten in der Stadt wegnimmt, möchten an diesem Platze, wenn man sie zu Hauserplatzen abtheilen und verkaufen wollte, leicht ihre 20 Millionen Rubel werth , Gtraßenleben. 105 sein, und die Stadtcommune entbehrt demnach durch das Bestehen des Gartens jährlich mehr als eine Million Renten. Doch verrechnet sie sich bei dem Bestehenlaffen des Gartens gewiß nlcht, denn sie bezieht aus ihm sicherlich für mehr als eine Million Nevenucen an Heiterkeit und Gesundheit. Der Sommergarten ist insbesondere der Tummelplatz und die Promenade der Petersburger Jugend. Hierher kommen die jungen Mädchen mit ihren Gouvernanten, die Lehrer mit ihren Zöglingen, die Ammen mit ihren Säuglingen, und es bietet sich hier die beßte Gelegenheit, die Jugend der Stadt zu studiren. Man kann nichts Reizenderes sehen als eine tändelnde Versammlung dieser kleinen hübschen Kosaken, Tscherkeffen und Mushiks. Denn es ist bei den Russen aller Stände Mode, ihrc Kinder bis in das siebente oder achte Jahr „ü w No»M" zu kleiden. Die Haare rund herum abgeschnitten, wie bei den Bauern, in kleinen zierlichen Kaftans, von einem hübschen Gürtel zusammengehalten, wie bei den gewöhnlichen russischen Kaufleuten, und mit hohen tatarischen Mützen, wie bei den Kutschern, so sieht man Schaaren von Kindern sich hier herumtummeln. In neuerer Zeit ist die tscherkessische Kleidung bei der Petersburger Jugend sehr beliebt geworden, die ihr wegen der vielen Silberbordirung und Pelzverbrämung noch hübscher steht und noch mehr gefallt. Erst im neunten oder zehnten Jahre fangen die Kinder an, sich europäisch zu tragen. Auffallend ist es aber, daß dicß nur von den Knaben gilt. Die kleinen Madchen bedienen sich gleich von Anfang an der französischen 5" 106 Straßcnkben. - Toilette, nie der Sarafans und Kokoschnlks der Bauerfrauen, entweder weil sie aristokratischer oder weniger patriotisch sind als die Knabm. — Von den kleinen Groß, fürsten im kaiserlichen Palais gilt ganz dasselbe. Auch sie unterscheiden sich in Form und Schnitt der Kleider nicht von den Kindern der Unterthanen. Da aus dieser Sommergartenjugend das Schicksal und der Kaiser sich in Zukunft seine Admirale, Feld-Herren und Staatsmänner wählt, so kann man sie nicht ohne großes Interesse betrachten. Nach ihrer Kleidung ist das Merkwürdigste an ihnen ihre Sprache. Weil sie russische Bedienten und Datkas haben, englische und französische Bonnen und deutsche Lehrer, so lernen sie die Sprachen aller dieser Nationen alle auf ein Mal und nehmen in ihrer ganz eigenthümlichen Kindersprache aus allen Idiomen solche Worte auf, die ihnen eben bequem sind. Es entsteht so zuweilen ein eigenthümliches Sprachragout, dessen sich die Petersburger Kinder bedienen, und das, wenn die Sprache, wie das denn unbezweifelt so tst, mit den geistigen Vorstellungen und Begriffen zusammenhängt, eine ganz sonderbare Begriffsverwirrung und Unklarheit in ihr Denken und Fühlen bringen musi. Es ist nichts Seltenes, die Kinder z. V. so sprechen zu f)6ren: „Papa, I have been in the letnoi (Vad (. («oko, russische Abkürzung für Nikola; ««, französisch «nss«, artig; mi, russisch mikloi, gut, lieb.) Bonne: Ist Dein Bruder Iwan auch artig gewesen? Nikola: Wuwa na! (VVanu. russische Abkürzung für Iwan; na» englisch nlwxlttz, unartig.) Bonne: Was hat er denn gemacht? Nikola: Nidi kuko.' (Englisch: l»e n«« lxinlen M-oola, er hat Nikola geschlagen.) Bonne: Was willst Du essen? Nikola: I'«», tsn, ko pn! (I«olil,i, t«ekai, russisch Thee; Ku, Kaffee; l»n, i>n«', französisch.) Die Erwachsenen sprechen oft in noch mehr Sprachen durcheinander, obgleich allerdings vollkommener als die Kleinen. Dabei ist cS aber merkwürdig, daß dis Schmeichel? und Liebesworts alle in der Muttersprache bleiben. Es ist kaum eine Sprache so reich an zärtlichen Ausdrücken, sowie an kosenden und schmeichelnden Diminutiven wie die russische: „l.llt,««nj," mein Lieber, ,MlLi,kj," mein Lieberchen, „Duäu^lcka," Grosiuäterchm, ,M»> lmuokku," Mütterchen, „I)nl«c!,lln," Freundchen, „llo-luliikcink," Taubchen, und besonders „Uuseilenk«/» mein Seelchen, sind daher Ausdrücke, die nicht blos von den Russen beibehalten, sondern auch von den Fremden, die unter ihnen sich aufhalten, angenommen werden, und nicht nur nennen die französischen Bonnen ihre Pflegebefohlenen „Vu8ol,ßnku, vi-usolikn" u. s. w., sondern auch 108 Straßenlvbcn. die Deutschen geben sich unter einander oft diese Titel. Das Schmeicheln und Kosen ist den Russen so sehr Bedürfniß, daß sie auch eine Menge von Diminutiven von jedem Vornamen haben, die aber demselben selber zuweilen so wenig gleichen, daß man oft nicht weiß, bei welchem Namen sich die Kinder unter einander rufen. Solche Abkürzungen sind z. V. von Alexander 82-»ei,» — von Marie ziusclm — von Olga 0linka — von Constantin Ku-cho — von Nikola lioln oder auch I^lese, M5x>, linlink» — von Michael M8«l«nk« oder Niscko — von Anna ^mm^liku — von Iwan >Vnnk» oder ^Vnnns — von Pawl ?nwlu«ol>6 — von Feodor ?eHo oder kolinka — von Alexei I^oke — von Pras-kowia ?a»ol>inkn — von Peter selruse^kn — von Na? talia ^»ta^clls oder I'usod« — von Sofie 8ono ober «onilikn — von Gregor «rise»»». — Auch im kaiserlichen Palais nennen sich die Großfürsten und Großfürstinnen fast nie anders als i^olie, U«8e!l6, 0link«, Kolinkn, liases und Ni^ellu. Viele der weströmischen Kirche eigenthümliche Namen sind von der griechischen in ihrem Kalender und daher auch bei den Russen gar nicht aufgenommen. So z. B. heißt keiner von den 40 Millionen Russen Carl, und keiner kann auch so heißen er müßte sich denn zu einer anderen Kirche bekehren. Eben so giebt es keinen Heinrich und Eduard unter ihnen. Noch merkwürdiger ist es, daß sie eine ganze Partie unserer Namen zuweilen mit einem einzigen russischen Namen vertauschen, der doch nicht die entfernteste Achnlichkeit von jenen hat. So z. B. heißen Gtraßenltdm. 109 Demetrius, Heinrich, Eduard, Edmund, Edgar, alle miteinander Dimill-i, so daß, wenn du einem Russen sagst, du heißest Eduard, er dich Dimitri nennt. Am zweiten Psingstfeiertage hatte sonst der Sommergarten seinen brillantesten Tag. Denn an ihm fand hier die berühmte Vrautwahl der russischen Kaufleute statt. Es war dieß in seiner Art ein so eigenthümliches Schauspiel, daß es allenfalls der Mühe sselohnt hatte, wenn auch darum cin Engländer einmal expreß hingereist wäre. Einem alten Petersburger und noch alteren russischen Gebrauche zufolge, der an die Madchenmarkte in Ungarn erinnert, versammelten sich hier an jenem Tage alle erwachsenen jungen Kaufmannssöhne und Kaufmannstöchter, jene um zu beschauen, diese um sich beschauen zu lassen. Die jungen Mädchen waren dabei in ihrem schönsten Staate in einer Reihe an den Blumenbeeten hin aufgestellt. Die Mütter standen hinter ihnen. Sie hatten alles Glanzende aus ihren eigenen und ihrer Großmütter Garderoben zusammengesucht und es ihren Töchtern zur Verschönerung in die Haare, Ohren, um die Arme, den Hals und an den Gürtel gehangt, so wie an die Finger und Füße gesteckt, wo nur etwas haften mochte, und manche waren in der That der Art mit Edelsteinen und Gold besäet, daß wenig von ihrer natürlichen Schönheit von allem steinernen und metallenen Glänze unbedeckt geblieben. Man erzählt sich (wohl nur scherzweise), daß einmal sogar eine Mutter, die nicht mehr gewußt, was sie noch dem Schmucke ihrer Tochter habe hinzufügen sollen, ihr 6 Dutzend vergoldete Theelöffel, an goldene Schnüre 110 Straßenleben. gebunden, neben den Perlenschnüren alS Collier in doppelten Reihen um den Hals gehangt und ihr in den Gürtel eben so rund herum 3 Dutzend Eßlöffel und vorn und hinten kreuzweise zwei große Punschlöffel gesteckt habe. Vor der Reihe der jungen, schamrothen, stummen und doch gefallsüchtigen und lüsternen Madchen gingen die jungen Herren mit ihren Vätern, mit hübsch gekräuselten Bärten und langen fcintuchencn Kaftans, und Amor, der hier auch herbestellt war, zeigte ihnen die Kinder der Grazien, war aber klug genug, ehe er seine Bogensehne spannte und seinen süßbitteren Pfeil entsandte, zuvor die Aechtheit der Edelsteine und das Gewicht des Goldes zu prüfen. Die jungen Herren, die Mütter, Väter, versuchten es hier und da, eine Conversation anzuknüpfen, in deren Folge sich einige Blicke und Gefühle verfingen. Acht Tage nach dieser ersten Braut» schau wurde noch eine zweite Zusammenkunft veranstaltet, auf der dann mit etwas mehr Lebendigkeit und mit Beihilfe mancher Verwandten und Zwischenhandlerinnm schließlich Alles in Nichtigkeit gebracht wurde, worauf endlich die Gesellschaft gekuppelt und gepaart nach Hause ging. Es finden sich unter allen slavischen Völkern ganz ähnliche Gebrauche bei den Verheirathungen. Doch ist es auffallend, daß mitten in dem glanzenden Petersburg, wo es nie an einem großen, sich darüber lustig machenden Publicum fehlte, eine solche Sonderbarkeit bis auf unsere Tage sich erhalten konnte. Erst in den letzten Jahren ist diese Sitte mehr und mehr eingeschlummert, und wenn gleich noch jetzt am Meilen Psingstfeiertage Sttaßenleben. Ill Viele hübsche Madchen und junge Manner in den Sommergarten kommen und sich manche Heirath hier anspinnen mag, so ist doch Alles nicht mehr so förmlich, steif und altmooia. wie vor zwanzig Jahren. Auf der einen Seite stößt an den Sommergarten die sogenannte Zaaren-Wiese (Xul'^m«1loi wß), von den Deutschen auch „Marsfeld" und von den Franzosen „^Illlniz, <1o Uai-k" genannt, einer von den hauptsächlichsten Paradeplätzen der Stadt. Die anderen sind der Semenow'sche, der Preobrashenskische und der Alexander'-sche Paradeplatz, ober, wie die Russen solche Platze nennen, indem sie sonderbarer Weise die deutsche Wortzu-sammetlstellung in „Platzparad" umsetzen, „Semenows-koi Plahparad", „Alerandrowskoi Platzparad" u. s. w. Der letzte ist der größte von allen, eine Quadratwerst groß. Das Marsfeld aber ist der von allen am meisten benutzte Paradeplah der einzuübenden Recruten, und zuweilen exerciren darauf ganze Armeecorps. Die gewöhnliche tägliche große Wachtparade wirb aber nicht hier, sondern auf dem Admiralitätsplätze in der Nahe des Schlosses abgehalten. Auch dieses Schauspiel gehört bei vielen Einwohnern zu den täglichen Genüssen im Freien. Die Admiralität ist von einem Boulevard und einer doppelten Allee von Bäumen umgeben. Unter diesen Bäumen pflegt das Publicum während der Parade zu spazieren. Der Kaiser connnandirt hier gewöhnlich selbst, und da immer ein paar tausend Mann und so und so viele Generale und Oberofsiziere dabei zugegen sind, so ist diese einfache Parade jedes Mal ein recht brillantes 112 Straßenlcben. Schauspiel und so gut wie eine kleine Neuue. Schon das allein ist ein merkwürdiger Anblick, den Kaiser in der Mitte seines zahlreichen Stabes vorüberreiten zu sehen. Er selbst eine machtige, majestätische Figur, ihm zur Seite sein jugendlicher Thronfolger und hinter und neben ihm eine Wolke von galoppirenden schmucken Reitern. Vom aufgeregten Staube rmhüllt, braust das Ganze wie cine Wetterwolke heran, aus der die Blitze der Waffen- und Ordcnssterne hervorschießm. Die Soldaten stehen m Reih und Glied und prasentiren das Gewehr, wahrend die Zuschauer bei dem Herannahen der Majestät alle das Haupt entblößen. Den Soldaten ruft der Kaiser: „Guten Tag, ihr Kinder!" zu. „Wir danken Euerer Majestät!" donnert's aus tausend Kehlen in einem Tempo zurück. Uebrigens hat man gar nicht nöthig, um den Kaiser zu sehen, sich auf die Wachtparade zu verfügen. Er zeigt sich zu Fuße, zu Pferde, auf der Droschke, im einspannigen Schlitten so oft auf den Straßen von Petersburg, daß man ihn geradezu diejenige Person nennen kann, welche Einem am allerhaufigsten begegnet. Es ist kein Monarch in der Welt, den so viele Geschäfte auf die Straßen führen als den Nachfolger Peter's des Großen, wie denn auch keinen so ungeheuer viel Geschäfte drangen, tägliche Inspections der hundert Anstalten seiner Residenz, Besuche in den verschiedenen Ministerien, Revueen, herkömmliche Theilnahme an öffentlichen Volksvergnügungen, persönliche Anordnungen neu zu gründender Staatsbauten, Visiten bei vornehmen Straßenleben. 113 Männern und mächtigen Günstlingen, ja sogar bei kranken alten Damen, die er sich verpflichten will, und hundert andere Angelegenheiten, die man nicht alle nennen kann. Dabei ist «s eine merkwürdige Erscheinung, daß der Kaiser überall da, wo er bei gewöhnlichen Gelegenheiten öffentlich auftritt, es in sehr einfacher Weift thut. Die Orientalen wie die Occidentals» sehen das Wunder mit Staunen, wie so viel Macht auf der Straße von einem Pferdchen in einem kleinen Schlitten sich herumschleifen laßt. Auf seinen Reisen im Inneren des Reichs erblickt man den Kaiser oft aus einer roh gearbeiteten Telege, wie sie die Leibelgenen nicht besser haben, und man begreift es kaum, wie die Majestät nicht fürchtet, in den Augen des Volks an Ansehen zu verlieren, wenn sie sich, so alles Glanzes baar, zur Schau stellt. Man weiß dieß um so weniger zu reimen, da doch sonst der russische Hof sich gern glänzender zeigt als irgend einer. Es ist dieß nicht blos eine eigenthümliche Gewohnheit des jetzigen Kaisers, sondern überhaupt Sitte der russischen Kaiser. Peter der Große war eben so, Paul auch nicht anders, und über Alexander's einfaches Auftreten wunderten sich im Jahre 1318 sogar die Unterthanen des englischen Königs, die von dem mächtigsten Gebieter der Welt Lehren über unnöthige Pracht erhielten. Ich bw überzeugt, daß selbst der kleinste Fürst Deutschlands glauben würde, „billigen Anstand" nehmen zu dürfen, wenn man ihn zu einer solchen kleinen, niedrigen Droschke einladen würde, wie sie der Kaiser von Rußland taglich be- 114 Straßcnlcbcn. steigt. Es ist überhaupt eine Eigenthümlichkeit aller Russen, baß sie im gewöhnlichen Sein und Leben so etn« fach als möglich sich zeigen, während sie doch im Ganzen so äußerst prunkliebend und luxuriös sind, wie es ein nicht weniger schwer zu deutender Widerspruch ist, daß sie bel'm ersten Aborb so simpel, schlicht und offen sind, wahrend sie doch im Ganzen so sehr am Ceremonie! und an pünctltcher Beobachtung der Formen hängen. Die größten Herren lassen gerade heraus un^ offen mit sich reden, so daß man weniger Umstände mit ihnen zu machen braucht und weniger sich embarassirt fühlt als bei dem kleinsten Bürgermeister unter uns. ,,I!o« noi-emon^«" (ohne Umstände), ist daher auch eine Redensart, die der Ruffe immer im Munde führt, besonders wenn er mit umständlichen, rücksichtsvollen Deutschen zu thun hat, „die sich oft nicht anders bewegen, als hätten sie ellenlange, steife Manschetten an den Händen und Stelzen unter die Füße geschnallt", wie einst ein Russe sich gegen mich über uns äußerte. Die Aufsicht über das Petersburger Straßenpublicum ist einer Classe von Menschen anvertraut, die man „Butsch-niks" oder eigentlich „Budotschniks" nennt und welche Nacht und Tag auf den Straßen in kleinen Butten (Buden) — daher ihr Name — campiren. Ihre kleinen hölzernen Buden stehen an jeder Ecke und auf allen Kreuzwegen. Drei Vutschniks sind in der Regel auf eine Bude angewiesen, in der sie ihre Betten, ihre Küche und ihrs ganze kleine Wirthschaft haben. Der eine, in einen grauen, mit Roth besetzten Mantel gehüllt und mit einer Hellebarde bewaff- Straßmlcbcn. 115 net, steht zur Zeit als Wache aus, der zweite schafft die Gefangenen zu den „Siaschen" (Polizeihausern), deren es in jedem Quartiere eins giebt, bringt die Pyllzeibefehle zu den übrigen oder zu den Bewohnern der benachbarten Hauser, und der dritte besorgt die kleinen häuslichen GesclMe der Gesellschaft. Der Wachthabende steht Tag und Nacht in Parade auf seinem Posten und übersieht von hier aus das v»i! lswosolMekik!" (Herbei! Fiaker!) in die Straße hinaus ruft. Schwerlich wird er nöthig haben, dieß Dawai zwei Mal zu wiederholen. Ja, gewöhnlich braucht er es nur zu denken und nur einen suchenden Blick vom Trottoir aus m die Straße zu werfen, um sogleich ein halbes Dutzend Schlitten auf sich heranschießen zu sehen. Schnell werden die Hafersäcke abgeworfen, die Pferde aufgezäumt, 120 Die Iswoschtschiks. und Jeder setzt sich auf seinem Bocke zurecht, indem er die Miene annimmt, als hege er keinen Zweifel, daß man ihn wählen werde. „Wohin, mein Herr? — Nach der Admiralität? — Ich fahre für 2 Rubel." — „Ich für anderthalb!" ruft ein anderer, und so bieten sie sich in aller Eile bis auf einen halben Rubel herab. Man nimmt den billigsten; bekommt man damit aber auch dcn schlechtesten, so setzt man sich dem spöttelnden Witze und Scherze der anderen aus. „Ach, sehe mir Einer, Väterchen, wie geizig Du bist! Nun machst Du um weniger Kopeken willen den Lumpenkerl zu Deinem Kutscher. Du wirst ja stecken bleiben mit seinem dreibemigen Rosse. Fahre nicht mit ihm! Der alte Graubart ist ein Saufhals! Er ist ja zum Umfallen betrunken! Er wird Dich zu den Fleischbuden führen und sagen, das sei die Admiralität." Indessen lacht dein Alter in's Fäustchen und brummt: „Mlnllewo! ls'! Fürchtet nichts, Herr! Es wird schon gut gehen." Die meisten dieser Leute sind Russen aus den verschiedenen Gouvernements des Reichs. Doch sind auch viele Finnen, Esthen, Letten, Polen und Deutsche darunter. Sie kommen gewöhnlich als kleine Bursche von 10 bis 12 Jahren nach Petersburg, verdingen sich als Knechte bei einem Fuhrmanne, der ihnen einen Schlitten und ein Pferd anvertraut, und nehmen so lange das Geld für ihren Herrn ein, bis so viel davon in ihrem Beutel sitzen geblieben, daß sie sich selbst ein kleines Gespann anschaffen können, mit dem sie sich dann auf eigene Hand in dm Straßen der Stadt etabliren, ihren Unter- Die Iswoschtschlks. 121 halt zu suchen. Ihr Gewerbe ist, wie alle Künste Nuß. lands, ein freies, und wird in Petersburg das Futter zu theuer, so packen sie ihre Habseligkeiten zusammen, kutschiren dem Süden zu und erscheinen auf den Straßen Moskaus, ihr Glück zu versuchen, und so wechselsweise bald in dieser, bald in jener Stadt des Reichs, bis ihnen ihr guter Stern zu Ausbreitung ihrer Geschäfte und zu einem bleibenden Etablissement verhilft. In den Provinzstädten, wo das Futter billiger zu haben ist, fahren sie durchgängig zweispannig, in Petersburg aber begnügt sich das Publicum mit eincm Pferde. Im Winter bedienen sie sich ihres Lieblingsfuhrwerkes, des Schlittens, den sie so lange auf dem Pflaster herumschleifen, als nur noch eine Spur von Schneeglätte unter dem Frühlingsschmuze sich durchfühlm läsit, im Sommer aber durchweg der rasselnden, klappernden Droschke. Bedeckte Fuhrwerke haben sie nie. Die Kleiderhüllen der Droschkenpassagiere müssen in Nußland das thun, was bei uns die Kutsche verrichtet. In Mantel und Pelze gewickelt, sitzt das warme Leben sicher geborgen, laßt geduldig Schnee, Regen und Straßenschmuz auf sich herabhageln und schalt sich, am Ziele angelangt, rein und schmuck aus dem befleckten Mantel hervor. Die Iswoschtschicks von Petersburg sind eine Nrt von Hamaxobiten, die mitten zwischen dm Palasten der Kaiserresidenz Jahr aus, Jahr ein nomadisircn. Sie cam-piren den ganzen Tag auf den Straßen und viele auch des Nachts, indem ihnen ihr Schlitten als Schlafkammer und Bett dient. Wie die Beduinen haben sie im- Kohl, Petersburg. I. ß 122 Die Iswoschtschits. mer den Haferfack bei sich, dm sie ihren Pferden in den Augenblicken der Muß.' um's Maul hängen. Für alle ihre Bedürfnisse ist auf den Straßen gesorgt, auf denen überall in gewissen Distance« Pferdekrippen aufgestellt sind. Zur, Trank« führen sie ihre Thiere an einen der vielen die Stadt durchschneidenden Flußarme und Canale hinab, Heu ist bündelweise in abgemessenen Portionen für ein oder zwei Pferde in einer Menge von Buden zu kaufet«, und für den Durst und Hunger der Herren selber sorgen die in den Straßen wandelnden Kwas-, Thce und Brotverkäufer. Die Thiere sind eben so wenig verwohnt wie ihre menschlichen Gebieter. Nach Wind und Wetter fragen beide nicht. Beide essen und fressen, wenn sie Zeit haben, und schlummern hier und da, wenn das Schicksal es vergönnt. Dabei sind sie aber doch stets von guter Laune, dte Pferde jeder Zeit zu unermüdlichem Trabe, die Iswoschtschits zu Gesang, Spiel und Geschwätz aufgelegt. Wenn sie weder Essen noch sonst ein Gc-schäft in Anspruch nimmt, so schlendern sie gemachlich neben dem Schlitten her und singen, unbekümmert um die Fürstenpaläste, die sie umgeben, irgend ein Lied, das sie in ihren heimathlichen Waldern lernten. Kommen sie, wie das fast an allen Straßenecken geschieht, mit Genossen zusammen, so treiben sie Scherz mit einander, schnseballiren, ringen und necken sich unter einander, bis daS „Dawai! Iswoschtschik!" eines Fußgangers sie zur Peitsche greifen läßt und sie sogleich zu den eifrigsten Rivalen bei dem zu haschenden Gewinne macht. Die ärmlichsten Iswoschtschiks in Petersburg sind . Die Iswoschtschitv. 123 die Finnlander. Ihre Droschke ist oft nicht viel mehr als ein über die Achsen der Räder genageltes Brct, und ihre kleinen, langhaarigen Pferdchen mit trüben Augen, zerzauster Coiffure und knochigen Schenkeln sind oft wahre Sinnbilder des Kummers und Elends. Von zerlumpten Kaftans kaum bedeckt, treiben sie sich in den äußersten Ringen der Stadt und den Vorstädten umher und lassen hier, selbst dürftig, auf ihren vier Radern die Armuth zur Visite bei der Armuth für ein Villiges rollen. In den inneren Räumen dagegen findet man sehr elegante Equipagen, herrliche Rappen mit einem Felle, das wie Atlas glänzt, Geschirre, mit Silbcrwcrk geschmückt, Schlitten, so zierlich und leicht gebaut, daß sie zum Flugs bestimmt zu sein scheinen, mit Pelzwerk geschmackvoll verbrämte Decken und Kutscher, in prachtuolle Barte und lange, feine Kaftans wie türkische Paschas gehüllt, die sich nur für „blaue Zettel" in Bewegung setzen. Da es eben nicht sehr schicklich ist, m Petersburg mit einem Iswoschtschik zu fahren, und nicht mit seinem eigenen Vierspänner Visiten machen zu können, — das weibliche Geschlecht bedient sich ihrer nur bis zur Kammer jungfer und Kaufmannsfrau hinauf, das männliche freilich durckweg, — so dienen jene vornehmen Iswosch-schiks besonders für solche Falle, wo man die Welt glauben machen will, daß man mit seiner eigenen Equipage fahre. Da in den reichen russischen Hausern nur die La. kaien auf ihren Lwreeen die Farben des Hauses und die Kutscher durchweg eine und dieselbe altnationale Uniform, 6* 124 Die Iswoschtschiks. nur von verschiedener Güte und Qualität, tragen, so braucht man dem eleganten Iswoschtschik nur zu befehlen, seine Marke, die ihn als solchen bezeichnet, unter dem Kaftan zu verbergen, und Jeder wird glauben, daß man sich von seinen leibeigenen Pferden, Menschen und Wagen fahren lasse. Zuweilen sind es auch in der That die Carosscn vornehmer Herren, die etwa für die Zeit ihrer Abwesenheit von Petersburg ihren Kutscher zum Iswoschtschik machten und ihn auf die Straße schickten, um Geld für sie zu verdienen. Petersburg wimmelt ja von einer Menge von Leuten, Beamten, Offizieren u. s. w., die bald hier-, bald dorthin verschickt werden, und die dann während dessen durch ihre speculative« Kutscher sich den Hafer für ihre Pferde und auch noch etwas darüber verdienen lassen. Die Iswoschtschiks, wie gesagt, errathen die Gedanken der Fußgänger von fern, und es stände vortrefflich um die Herrschaften, wenn alle dienenden Geister so prompt bei der Hand wären wie die Iswoschtschiks Petersburgs. So wie ein Fußganger sich umblickt, schreien sogleich ihrer zehn: „Davvul K?" (Soll ich kommen, Herr?). Scheinst du nicht dazu geneigt, so setzen sie dir selbst die Unbequemlichkeiten des Zufußgehens auseinander, erzählen, daß es heute zum Umfallen heiß sei, oder daß du doch lieber, statt im Schmuz zu waten, in ihre reinliche Droschke steigen möchtcst, — bitten das vom Markte zurückkehrende Küchenmadchen, mit ihrer Last im Schlitten Platz zu nehmen, oder die schöne Putzmacherin, sich mit ihren Hauben und Kleidern lieber ihrer Leit- Die Iswoschtschils. 125 ung anzuvertrauen, als sich dem Gedränge der schmuzlgen Fußgänger auszusetzen. Da keine polizeiliche Taxe für die Fuhrleute eristirt, so muß man jedes Mal einen Contract mit ihnen abschließen. Doch sind sie im Ganzen sehr billig, und für wenige Groschen fahren sie einen schon eine ganze Partie von Wecstm. Jedoch sind sie je nach Wetter und Wind, und je nachdem ein schwarzer oder rother Tag im Kalender steht, mehr oder weniger spröde. An Festtagen sind sie oft ganz eigensinnig und lassen keinen Kopeken von ihren Forderungen ab, so wie sie auch des Mittags in der Hitze der Geschäfte, wo Alles rennt, läuft und rollt, das oft nicht für zwei Rubel thun, was sie sonst für einen halben thaten. Des Morgens und an Wochentagen sind sie aber ganz willig und oft so gutmüthig, daß sie dich aus bloßer Gefälligkeit umsonst quer über eine schmuzige Straße von einem Trot-toir zum anderen bringen. Der russische Schlitten übertrifft an Leichtigkeit, Eleganz und Zweckmäßigkeit alle unsere deutschen Rutschmaschinen und hat eine so classische Ausbildung und so musterhafte Zusammensetzung, daß man ihm wie allem Unübertrefflichen eine Ode singen könnte. Er ist das Product einer Jahrhunderte langen Erfahrung und Uebung in seiner Hervorbringung und eine Blüthe des russischen Nationalgeistes, der gerade die Hälfte seines Daseins auf winterlichen Eisbahnen strebt und sich bewegt. — Die Droschke ist in ihrer Arl eben so nationell und charakteristisch. Die Nachahmungen dieses russischen Fuhrwerks, 126 Die Iöwoschtschits. die wir bei uns sehen, sind freilich sehr unbehilfliche Prodncte, schlechte und geschmacklose Copieen. Die ächte russische Droschke ist leicht, geschmackvoll und zweckmäßig. Es ist unmöglich, daß cm Volk nicht in allen seinen Hervorbringlingen charakteristisch sei, und man könnte tief in das Wesen des russischen National - Charakters hinabsteigen, um daraus die Bauart der Droschke zu erklären. Der spanischen Grandezza würden diese Drosch-km ein Horreur sein. Die deutsche Bequemlichkeit gefällt sich in den sehr umständlichen Kutschen. Die Franzosen und Italiener brachten die Phaötons auf, und die Englander die Tillmrys und Gigs. Die für Comfort wenig eingenommenen Russen erfanden die Droschken, in die man sich mit weniger Umstanden hineinwirft als in einen Lehnsessel, obgleich man nicht viel bequemer darauf sitzt als auf einem Pferde. Doch es ist dieß einer der kleinen Gegenstande, über welche sich große Bücher schreiben ließen. Wir begnügen uns mit jenen Andeutungen und betrachten uns unseren Gesellschafter, den Is-woschtschik, etwas näher, der uns auf unserer Fahrt durch die Straßen Petersburgs Stoff genug zum Nachdenken geben wird. Die verschiedenen Nationalitaten der Iswoschtschiks erkennt man leicht an der verschiedenen Behanblungsweise, die sie ihren Pferden angcdeihcn lassen. Der Deutsche ist der verständigste; er spricht wenig, mit seinen Pferden gar nicht, mit denen er sich nur mittels des Zügels und der Peitsche in Rapport setzt. Der Finne sitzt so ruhig und glcichmüchig auf dem Bocke wie die leibhaftige Ver- Die Iswoschtschiks. 127 stummung, indem nur ein beständiges, langgedehntcs „Nah! Nah!" zwischen seinen Zähnen hervortönt, dessen verschiedenartig.' Intonationen das Pferd verstehen muß. Das Zauberwort des Letten heißt: „Ma! Nm,!" das cr nur dann und wann in halber Verzweiflung ausstößt, wenn das Pferd nicht mchr von der Stelle will oder nicht den rechten Weg geht. Am unruhigsten ist der Pole, der, bestandig arbeitend, auf seinem Sitz« hin- und herspringt, mit dem Munde zischend, pfeifend und heulend, mit der Peitsche knallend und mit den Zügeln zerrend. Der Beredteste aber von Allen ist der Russe. Er braucht die Peitsche nur sehr selten, und gewöhnlich klopft er blos mit dem Stiele derselben vorn auf das Vret des Schlittens, um sein Pferd zu avertiren, mit dem er in beständiger mündlicher Conversation steht, und das cr nicht anders als „mein Bruder, mein Freund, mein Väterchen, meine Geliebte, mein weißes Täubchen", anredet. „Taubchen, brauche doch deine Füße! — Nun was ist das, bist du denn blind? Frisch, frisch! Paß auf, da liegt ein Stein! Siehst du ihn? So recht! Brav! Hopp hopp! Rechts gehalten! Was blickst du dich umi Geradeaus geschaut! Hussa! Iuch!" Vor allen Dingen ist es interessant genug für uns, zu wissen, daß unser Iswoschtschik für die Dauer unserer Fahrt unser Leibeigener geworden ist, und wir, d. h. freilich, wenn wir die Leute darnach sind, seine unumschränkten Herren und Meister. Wenn wir ihn anreden, so wirb er nicht anders zu uns sprechen als mit entblößtem Kopfe. Unser Schelten erwidert er mit freundlichem 128 Die Iswoschtschits. Lächeln, unser Gebieten mit promptem Gehorsam; soll er schneller fahren, so vernimmt er unseren Willen mittels desjenigen Organs, durch welches alle Sclaven den Willen und Unwillen ihrer Herren vernehmen, mittels des Rückens nämlich, auf dem unsere Hand Alles deutlich niederschreibt. Sein Pferd gehört ebenfalls uns leibeigen, und haben wir einen Stock in der Hand, so schlagen wir mit darauf los. Es verhält sich dieß gerade umgekehrt als bei unseren eigensinnigen deutschen Kutschern, die sich so sehr Herren ihrer Pferde und Wagen dünken, d>iß sich der eingenommene Paffagier fast nur wie ein Zubehör vorkommt. Die Leibeigenschaft steckt den Russen so tief im Blute, daß sie sich Jedem, den sie für einen Herrn halten, als Sklaven an den Hals werfen, und wenn man heute ihre sämmtlichen Herren und Häupter nach Amerika verschifft hätte, so würden sie selber morgen schon eine Menge anderer aus ihrer Mitte creirt haben. Ihnen wird der Zaum und Zügel schon angeboren. Wer die Hand darnach hat, mag die Zügel ergreifen und die Gezäumten nach Wohlgefallen lenken. Wem sie aber diese Geschicklichkeit und Kraft nicht anmerken, der mag sich auf größeren Eigensinn gefaßt machen, als cr je bei den freiesten Leuten antraf. Doch bannm wir solche melancholische Betrachtungen, überlassen wir uns der Oberstäche, versetzen wir unseren Iswoschtschik mit ein paar zutraulichen Worten in gute Laune, und wir werden Spaß an dem Burschen haben. Selbst wenn er noch ein Knabe ist, mit Flaum auf dem Kinns, so blickt er frisch und kühn in das Getreide auf Die Iswoschtschik. 129 den Petersburger Straßen und lenkt geschickt und sicher seinen Renner durch das Gewimmel der Wagen. Er weiß sein Recht gegen die übrigen Kutscher und die Fußganger prompt zu wahren und schreit beständig, ohne jedoch den scharfen Trab seines Pferdes zu unterbrechen, bald Diesem, bald Jenem etwas zu: „I^Hi! ?achi!" (Platz! Platz!) dem langsamen Wagen, — „Nero^s.^!" (Achtung!) dem Fußgänger, — „An laewu! (links!) A« I>r»>vo!" (rechts!) den entgegenkommenden Fuhrwerken. Ist das Gebrange nicht groß, so redet er sogar Jeden noch nach Nang und Würden an, z. B.: „Ausgedienter Soldat, geh' auf die Seite. Altes Mütterchen, gicb Achtung!" Dabei vertheidigt er sich auch noch unterwegs gegen die Attaken der Anderen, die sich über den naseweisen Schelm ärgern, laßt nichts auf sich sitzen und giebt treffende Antworten zurück, ohne sich zu besinnen. So sehr er beständig launig zu tändeln scheint, so entgeht ihm doch nichts, was auf den Straßen passirt. Einen vorüberfahrenden Kutscher macht er darauf aufmerksam, daß an seinem Geschirre ein Riemen losgegangen sei, und einem anderen Iswoschtschik, der einen nach ihm verlangenden Fußganger nicht bemerkt, schreit er zu: „Nun, Bruder, schläfst Du denn? Da schreien die Leute nach Dir, und Du hörst nicht? Paß doch auf!" Um das Verständniß mit dem Iswoschtschik braucht man, wenn man nicht russisch redet, keine Sorge zu haben. Denn wenn er in vieler Hinsicht in Vergleich mit dem Deutschen ein Kind ist, so ist er in anderer 6" 130 Die Iswoschtschits. wieder gegcn ihn ein Weltmann. Er hat schon mit allen Nationen Asiens zu thun gehabt, Individuen aus allen Völkern Europas verkehrten mit ihm, und mehr als ein Mal saßen Mitglieder aus allen Standen, vom Bettler bis zum Kaiser hinauf, hinter seinem Rücken. Er weiß sich bei Jedem höflich zu benehmen und versteht alle Sprachen dieser Hemisphäre, die tatarische wie die französische, die deutsche wie die englische, die Augen-, Finger-, Mienen- und Geberbensprache. Wenn er einen Italiener hinter sich hat, so schilt er ihm zu Liebe italienisch auf sein Pferd: ,,l^ro lil,!«»i Kunmllo, Kignor!" — wenn er einen Deutschen fahrt, so dankt er auf Deutsch: „Dank, Ssudar!" — und wenn ein Mohammedaner in seine Droschke steigt, so nimmt er seinen Hut ab und spricht: „Allah gebe Euch Glück!" Die Stellung eines Petersburger Iswoschtschiks ist in dieser Hinsicht interessanter als die eineS Fiakers anderer Hauptstädte und bietet eben so viel Gelegenheit zur Wettkenntniß dar als ein diplomatischer Posten. Vald ist der Gefährte des Iswoschtschiks ein Koch, der, mit Gemüse beladen, vom Markte zurückkehrt, bald ein besternter Offizier, der zur Parade eilt, bald ein eben an? gekommener Fremdling, der sich mit staunendem Auge die nordische Palmyra begafft, heute ein Turban, den das ungestüme Jagen nicht wenig in seiner gravitätischen Haltung genirt, morgen ein Aankee, der nicht weiß, wie er sich auf dieser vertrackten russischen Wagenform zmecht sehen soll, bann ein liebendes Pärchen, das sich bei jedem Umstiegen einer Straßenecke immer fester umschlinqt, oder Die Iswoschtschiks. 131 ein langbeiniger „Eiffäki"*), der seine Glieder gemächlich auf der Droschke ausstreckt, zuweilen ein Großer, der incognito fahrt und sein Gesicht im Pelze verbirgt, um auf der Droschke nicht erkannt zu werden, zuweilen ein deutscher Handwerksbursche, der sich recht lustig umsteht und allen Leuten zurufen möchte:' „ seht mich doch an, wie ich so flott auf der Droschke fahre!" Heule siehst du ihn traurig und langsam mit Leidtragenden hinter einer Leiche herfahren, morgen mit Hochzcitsgasten jubelnd zum Schmause galoppircn. Weil die Iswoschtschiks überall bei der Hand sind und gegen ein Weniges zu jeder Speculation sich willig finden lassen, so braucht sie der Tischler, um seine Spiegel und Tische zu trans-portiren, und der Sarqmacher, um seine Särge m's Haus der Trauer zu bringen. Der Gärtner winkt sie herbei, wenn er mit seinen Blumentöpfen nicht mehr von dcr Stelle kann, und der Polizeidiener pfeift ihnen, wenn er einen Betrunkenen zu transportiren hat, den er, wie dcr Tischler seinen Sarg, vor sich hinlegt. Ja sogar den neuen Kutschen dienen die Droschken als Vorspann, wenn sie aus der Fabrik in die Remisen dcr Reichen wandern sollen. Am meisten Sorge und Noth machen den armen Iswoschtschiks, so wie überhaupt allen Kutschern Petersburgs, die Fußganger. Sie sind zu ihrem Schutze und zum Schrecken der Kutscher mit ungeheueren Privilegien *) Spitzname, den die Petersburger den Engländern geben, wegen der beständigen Wiederholung des Wortes: „l ül>?.'' 132 Die Iswoschtschiks. gewappnet. Sie wissen das, und wenn es in anderen Städten heißt: „Fußgänger, nimm dich in Acht", so denkt hier der Fußganger, mit eigensinniger Langsamkeit über die Straße gehend: „Kutscher, sieh dich vor." — Wer cinen Fußgänger mit dem Wagen oder dem Pferde berührt, ohne selbst ihn umzuwerfen, dem heißt es im Gesetze, „Peitsche und Geldstrafe", wer ihn umfährt, ohne selbst ihn zu beschädigen, dem „Peitsche, Sibirien und Confiscation der ganzen Equipage." „Nehmt Euch in Acht", ruft der Kutscher. „Nehmt Euch selbst in Acht, Sibirien! Iswoschtschik!" schreit der Fußganger zurück. — So wie ein Geschrei von einem umgefahrenen Fußgänger auf den Straßen entsteht, stürzen sogleich die Vutschniks, die prompten Diener des Polizei-meisters, aus ihren Wachhäusern hervor, und die Equipage mag gehören, wem sie will, ein- oder vierspännig sein, sie wird als gute Prise auf die Polizei geschleppt, der arme Kutscher gebunden und ohne Rückficht auf Schult) oder Nichtschulb — die Kutscher werden hier immer als schuldig angesehen — für Sibirien in Beschlag genommen. Es trifft dieß in einzelnen Fallen sehr hart, doch läßt sich wohl auf keine andere Weise das wüthenoe Jagen der Vornehmen einigermaßen im Zaume halten, die trotz jenen schreckenden Gesehen ihren Kutschern doch noch immer aus dem Wagen zucommandiren: „«Iliwho! skiwH«!" (frischer! frischer!) Freilich gleichen die schönen Straßen Petersburgs großen Rennbahnen. Dennoch aber läßt sich bei dem ungeheueren Gewirr Unglück nicht immer vermeiden, und oft hört man: „daS schöne Viergespann Die IswoschtschikS. 133 des Fürsten N. N. steht auf der Polizei", oder der Kutscher des Grafen N. ist in Untersuchung." Einmal war ich Zeuge eines sehr komischen Vorfalls bei einer solchen Gelegenheit. Die prächtige Equipage der Gräfin T. kam die Perspective herabgerollt und hatte das Unglück, eine alte Frau, die quer über die Gasse gehen wollte, in den Schnee zu rennen, ohne je< doch, wie sich nachher fand, sie zu beschädigen. Als die Alte umsank, sielen die Damen ohnmachtig in den Wagen zurück, der Kutscher aber, der die Knute und Sibirien wie ein drohendes Phänomen an seinem Lebenshimmel erscheinen sah, schwang die Peitsche und ließ seine Rappen venlre ü tei-l« durchgehen. Denn in demselben Augenblicks waren auch die gefürchteten VutfchnikS der ganzen Straße in Alarm, die sich in solchen Fällen unter einander Zeichen geben und an allen Ecken ihrer Beute auflauern. Am Ende der Straße stürzten sich einige kühn auf die flüchtende Equipage los. Da sie sich aber den unbändigen Pferden nicht in die Zügel zu werfen wagten, so klammerten sie sich hinten an den Wagen an, um ihm auf diese Weise so weit zu folgen, bis er anhalten würde. Kutscher, Wagen und Pferde wären in diesem Falle unwiederbringlich verloren gewesen. Der Fürst L., ein gewandter und starker junger Mann, der die Gräsin T., seine Freundin, in dieser mißlichen Lage erkannte, ,war schnell entschlossen, ihr einen Dienst zu leisten, warf sich ebm so rasch vom Trottoir aus auf die unangenehme Begleitung und stieß die Butschniks mit ein paar tüchtigen Püffen in den Schnee hinab. Diese, wü- 134 Die Iswoschtj'chiks. thend darüber, daß ihnen ihre Beute entgangen, machten sich nun über den armen Fürsten her und schleppten ihn zu ihrer Vude hin in welche sie ihn als Arrestanten einzusperren suchten. Doch wollte es ihnen nicht gleich gelinden, die Thür derselben zu verschließen, und der Fürst, der wenig Lust hatte, in diesem dumpfen Käsige ein paar Stunden zu verweilen, stieß mit großer Kraft die Thür einige Male wieder auf und hatte dabei noch gerade so viele Zeit, einen seiner uor-überfahrenden unisormirten und besternten Freunde zu bemerken und ihm die geflügelten Worte zuzurufen: „Sa.i-vez-nfoi, pour I'amour de Die«! je suis le Prince L.....^ Die Butschniks klappten die Thür wieder zu, der Fürst aber rang sie wieder auf mit den Worten: „SauvoÄ- nioi, je £uis le Prince L.....", und wurde endlich durch die Fürsprache seiner mächtigen Freunde unter den Zuschauern gerettet. Es giebt in dieser Welt kein originelleres und in seiner Art großartigeres Schauspiel als das Larosstren in der Petersburger Perspective oder einer anderen belebten Straße an einem schönen Wintertage. Die Rennbahnen der olympischen Spiele können nicht unterhaltender gewesen sein. Die Straße, von der glatten'Schneeober-fiache bedeckt, gleicht einer Arena, in welcher Tausende von Wettstreitgenossen ihre Kräfte und ihre Gewandtheit üben, und das Bild ist um so hübscher, da Alles so leise über den Schnee hinrutscht, und kein sinnloses Rädergeklapper daS Ohr betäubt. Es ist ein unbezahlbarer Genusi, auf einem kleinen Schlitten reitend, in Die Iswoschtschiks. 1'^ dieser Equipagenbrandung auf- und abzugleiten. Die Paläste lachen zu beiden Seiten der Bahn in schönster Sonntagspracht. Die Vahn ist breit und bequem, und doch füllt sie der Ueberfluß an Fuhrwerk. Die Equipagen sind weit davon entfernt, einförmig zu sein. Man sieht ihrer von allen Dimensionen und Formen, von allen Stufen der Güte und Ausschmückung. Kleine bescheidene Iswoschtschiks, die einen Unterbeamten oder ein Kammermädchen hinter sich haben, große Vierspänner mit eleganten Damen, die auf hohen Carossen thronen; denn die Vornehmsten fahren selbst im Winter auf den hohen Naderwagen, die Schlitten, welche uns am Boden im Sttiube hinfchleifen und der Grandezza nicht anstehen, verschmähend. Wie große Linienschiffe ziehen sie mit ihrer ganzen weitläufigen Mannschaft von Lakaien, Kutschern und Vorreitern in dem Gewimmel der kleinen Schlittenboote dahin. Zweispänner, die in ihrer sauberen Halt' ung einen Kaufmann verrathen, zierliche Einspänner, die wie Pfeile dahinschießcn. „8!invii^! «l.ivvHv!" (Lebhafter! lebhafter!) schreit der darin sitzende Ordensmann in's Getümmel hinein. Es sind dieß die Generate und Minister, die ihren Bureaux zueilen und nach dem Beispiele ihres Kaisers sich in der bescheidenen Fassung eines Einspänners zeigen, während ihre Frauen den Athem von vier Rossen verbrauchen. Ja der Kaiser selbst wird nicht zaudern, in den Mantel gehüllt und doch von Allen bemerkt, vorbeizmauschcn. Denn seiner Geschäfte in allen Gegenden der Stadt sind unzahlige. „6055U,Icu-! l'0,^,än>-!" (der Herr! der Herr!) lispelt's von Mund 136 Die Iswoschtschils. zu Mllnde, und schnell rauscht sein Ädlersiug vorüber. „?a^i, pn^i, puc^i" kreischen die kleinen Vorreiter mit pfeifender Stimme und langgehaltenem Tone bestandig über das Gewirre hin. Wenn der Fremde auch all sein Russisch, das er in Petersburg lernte, wieder vergißt, so wird er doch das stets von den verschiedensten Stimmen wiederholte Geschrei: „lüwho! prlnvi^e! bvle^i^l'!" mit dem die Kutscher unaufhörlich dirigiren und warnen, nicht vergessen, und wenn er auch nichts in Rußland lieb gewinnt, so wird er doch diese Schlittenpromenaden im beßten Andenken behalten und seinen lebendigen und geschickten Iswoschtschik dabei. Der Winter. „Whence have thoy this mettle? „Is not their climate foggy, raw and dull? ,,On whom, as in despite, the sun looks pale, „Killing their fruit with frowns." cvim Monate December des Jahres 1836 warf Jemand in Moskau eine Aepfelschale zu einem kleinen Luftfen-sier hinaus. Dieselbe langte nicht auf der Straße an, sondern blieb zufallig auf dem Nande der Fensterbrüstung hangen und fror hier sogleich fest an. Drei, vier, fünf und sechs Wochen hindurch sah man diese Aepfelschale steif gefroren über dem Abgrunde schweben, ohne daß auch nur ein einziges Mal eine warme Witterung sie erweicht hätte. Endlich am Anfange Februars, 6 Wochen und 3 Tage, nachdem sie zum Fenster hmausgestürzt war, thaute sie bei'm warmen Sonnenschein auf und siel, ihren vor 6 Wochen begonnenen Sturz vollendend, auf die Straße hinab. Gewiß ein eclatanter Beweis von der 138 Der Winter. eigensinnigen Ausdauer des Moskowitischen Klimas im Bösen! In Petersburg, im sumpfigen Newa-Delta hat das Klima nicht die Unveranderlichkeit des mittleren Rußlands. Die mildernden Einflüsse der Ostsee opponiren sich hier noch häufig den eisigen Winden, welche Sibirien schickt. Regnichte Westwinde, kalte Nordostwinde, dichte Nebel und heitere Frosttags wechseln eigentlich wahrend dieser Jahreszeit bestandig und ringen mit einander, abwechselnd siegend, die ganzen sechs Monate hindurch, so daß man weder lm Januar vor Regen und Schmuz ganz sicher ist, noch auch im Frühlingsmonat vor Schnee, Eis und Boreas, ganz anders als in Moskau, wo der December noch nie sich zu Regenthränen erweichte, und wo im Januar noch nie ein Mensch sich die Stiefeln auf der Straße beschmuzte. Dennoch fällt das Thermometer in Petersburg häusiger auf niedrige Grade herab als in Moskau, und eben so zeigt die Durchschnittszahl des ganzen Winiers eine niedrigere Temperatur an, als die des mittleren Rußlands ist. Petersburgs Klima schwankt beständig zwischen Extremen. Im Sommer steigt die Hitze bis auf 30 Grad und im Winter der Frost bis auf 30 Grad. Mithin beträgt die Entfernung der äußersten Punkte mehr als 60 Grad. Bei keiner anderen Stadt in Europa sind die Differenzen der Extreme so groß. Dazu tommt, daß, sowie Warme und Kälte lm Laufe des ganzen Jahres schlecht vertheilt sind, sie auch eben so disharmonisch in den einzelnen Theilen des Jahres unter einander sich Der Winter. 139 mischen. Im Sommer nach einem überheißen Morgen fällt oft Nachmittags ein rauher Wind ein, der das Thermometer und Blut auf der Warmescala um 12 Grab hinabwirft, gleichsam als ob die Stadt wie ein Ball bald zum Aequator, bald zum Nordpole schwanke. Auch im Winter betragen die Differenzen uon einem Tage zum anderen zuweilen 12 bis 18 Grad. Es wäre natürlich unmöglich, in einem solchen Klima zu eristiren, wenn nicht der Mensch gegen diese wcchselvolle Unbeständigkeit der Natur, deren Launen er durchaus nicht voraussehen kann, sein Leben durch Beständigkeit schützte und erhielte. Bei uns, wo die Uebergange nicht so schroff und die Gegensatze der Temperatur nicht so schreiend sind, ist eS eher möglich, den Veränderungen des Wetters zu folgen und bald den Ucberrock abzulegen, bald zum Mantel oder Pelze zu greifen, bald etwas Holz mehr in den Ofen zu werfen, bald weniger. In Petersburg ist man weniger beweglich. Es wird angenommen, der Winter beginne im October und ende nach siebenmonatlicher Dauer im Mai. Demgemäß hüllt man sich im Anfang Octobers in Pelze, die gleich auf alle möglichen Kältegrade berechnet sind, und legt dieselben erst wieder ab, wenn draußen sich alle Stürme beruhigt haben. Ebenso unbeweglich wie in der Kleidung ist man in der Warmhaltung der Zimmer, die fast immer gleich stark geheizt werben, damit das Haus sich ni' auskühle, ganz ebenso, wie man ein für alle Mal angenommen hat, die Schlittenbahn dauere fünf Monate, demzufolge man die Wagen im October in Ruhestand versetzt und ununterbrochen mit Schlit- 140 Der Winter. len fährt, es mag nun der Schnee fallen oder schmelzen. Nur leichtsinnige Ausländer versuchen es wohl, den Bewegungen des Wetters zu folgen, büßen aber, da sie zu ungeschickt darin sind, oft ihre Vorwitzigkeit mit Krankheit oder gar mit dem Tode. Gewöhnlich also geht das Leben im Winter, es mag nun regnen oder schneien, frieren oder thauen, seinen alten gewohnten Gang. Tag für Tag knistern die Birkenbäume im Ofen, einen Tag wie den anderen rutschen die Schlitten mit humamsirten Bären und Wölfen in den Straßen herum. Beständig, weil Kälte immer zu prasu-miren ist, werden die öffentlichen Wärmestuben für die armen Leute geheizt, und die Feuer auf öffentlichen Straßen, in der Nahe der Theater, für die Kutscher u. s. w. unterhalten. Nur wenn die Kalte ausnahmsweise zu außerordentlicher Höhe steigt, treten bedeutende Veränderungen in der Bewegung auf den Straßen und in dem Anblicke des Ganzen ein. Wenn es heißt: „das Thermometer ist auf 2U Grad hinabgesunken," dann spitzt man die Ohren, beobachtet den Wärmemesser und zahlt die Grade. Bei 23 bis 24 Grad wird die Polizei wach, die Offiziere machen Tag und Nacht die Runde, um die Schildwachen und Butschniks wach zu erhalten und die im Schlafe Ueberraschten auf der Stelle exemplarisch bestrafen zu lassen, denn der Schlaf ist in diesem Falle das sicherste Mittel zu einem sanften Hinübergleiten aus dieser Welt in jene. Mit 25 Grad Kälte hören die Theater auf, weil nicht mehr die gehörigen Sicherheitsmittel für die Schauspieler und für die Kutscher getroffen werden können. Der Winter. 14 l Die Fußgänger, die sonst in Petersburg einen ziemlich bedächtigen Schritt haben, laufen alsdann so eilig, als hätten sie die wichtigsten Geschäfte, und die Schlitten, die vorher schon nach einem ziemlich flinken Tacte sich bewegten, rutschen mm im wmpo ceIer»U»8im0 über den schreienden Schnee. Ich weiß nicht, woher es kommt, aber gewiß ist es, daß 20 Grad Kälte in Petersburg unendlich viel mehr bedeuten und weit mehr Schädliches wirken als bei uns. Gesichter bekommt man dann gar nicht mehr auf den Straßen zu sehen; denn Alles hat sich die Pelze über Kopf und Hut gezogen. Die Furcht, Augen, Nase und Ohren durch den Frost zu verlieren, beängstigt Jeden, und da sich daS Abfrieren durch kein unangenehmes Gefühl vorher ankündigt, so hat man genug zu denken, daß man nicht eine der verschiedenen Extremitäten des Körpers vergesse, sondern sie alle zu Zeiten etwas reibe. „Väterchen, Deine Nase!" erinnert der Vorübergehende den Entgegenkommenden und reibt ihm ohne Umstände seine kreideweiße Nase mit Schnee ein. Man ist an solche Vorfälle und Gefälligkeiten gewöhnt und auf die Nasen seiner Mitmenschen aufmerksam, um hier und da eines dieser kostbaren Organe dem Petersburger Boreas, dem argen Nasenzerstörer, aus den Klauen zu reißen. Mit den Augen hat man ebenfalls viel zu thun, weil sie oft zusammenfriercn. Man tritt dann in die erste beßte Hausthür ein und bittet die Leute auf ein paar Augenblicke um ein Plätzchen am Ofen, indem man hinterher eine zerthaute Thräne des Dankes dafür vergießt. 142 Tcr Winter. Die Kälte Petersburgs ist zwar, wie wir sagten, empfindlicher als die unsrige, aber auf der anderen Seite scheinen auch die Petersburger, wie überhaupt alle Nordländer, in Bezug auf sie unvergleichlich viel empfindsamer als wir. Alle Auslander, selbst Italiener, Spanier und Franzosen, sind bei Weitem kübner und weniger zärtlich. Handschuhe, für den gemeinen Mann bei uns ein Luxus-artikel, sind in Rußland ein für Jedermann unentbehrliches Kleidungsstück, und selbst die Bauern arbeiten nie ohne Handschuhe hinter ihrem Pfluge oder auf dem Misthaufen. Man sieht Verhüllungen von Personen mit Gürteln, Pelzen, Tüchern. Capots, Kopf- und Ohren-netzm, wie sie bei uns vorkommen. Es ist ausgemacht, daß jeder Ausländer, der nach Nußland kommt, zuerst alle diese Warmcmittel verschmäht, bis er ihren Werth näher kennen lernt, so wie umgekehrt jeder Russe, der zuerst unser Deutschland betritt, sich über tausend Unbequemlichkeiten, unvollstandige.Bekleidung, schlechte Heizung und zugige Fenster zu beklagen hat. Es ist bemerkenswerth, daß eben dasselbe von dem Verhältnisse des Deutschen zum Italiener, wie von dem des Russen zum Deutschen gilt. Die Italiener, die nach Wien kommen, finden dort viele Vorsichtsmaßregeln überflüssig, die der Wiener durchaus für nöthig halt, und der Mienen spricht über die Kälte, die er in Florenz ausgehalten, ganz ebenso wie der Russe von der unbequemen Kälte der Wohnungen Deutschlands. Bei 20 Grad Kalte steht jede Petersburger Mutter an, ihre Kinder in's Freie gehen zu lassen. Die Damen wagen sich nicht anders hinaus als in dich- Der Winter. 143 ten Kutschen, bei denen jede Fensterfuge mit Pelzstreifen sorgfältig beseht ist, und es ereignet sich nicht selten, baß wochenlang ganze Familien nicht ein Mal frische Luft schöpfen. Man sieht am Ende nur noch gemeines Volk, Fremdlinge, Geschäftsleute und die Offiziere in den Straßen sich bewegen. Denn was die Letzteren betrifft, so hören die Paraden und Wachtaufzüge auf keine Weise, selbst nicht bei'm höchsten Kältegrade auf, und es ist ein bewundernswetthes Schauspiel, die eleganten Obersten und Generale von der Garde, uon blanken Uniformen glitzernd, in ihrem strengen Dienste bei einer Kalte, die einen Hirsch zum Krüppel frieren lassen könnte, so lebendig und bequem sich auf dem windigen Admiralitätsplatze bewegen zu sehen, als waren sie in einem geheizten Ballfaal?. Kein Mantelfiicken und kein Seufzer über den unbarmherzigen Frost ist ihnen gestattet. Des Kaisers Gegenwart verbietet Beides; denn er setzt sich ebenso dem Spiele des Windes, des Schnees, Hagels und Regens aus, wie seine Offiziere. Die russischen Ocfen sind in ihrer Art das Vollkommenste, was Nordlander erbacht haben. Sie sind aus Kacheln gebaut, und der Feuerzug windet sich in ihnen so vielfach auf und ab, daß die Hitze oft einen Weg von 10l) Fuß Lange und mehr darin machen muß, ehe sie in den Schornstein entlassen wird. Die große Steinmasse des Ofens erwärmt sich nur sehr langsam, wahrend unsere eisernen gleich in wenigen Minuten glühen; sie hält aber die Hihe desto länger in sich und wärmt, cm Mal geheizt, den ganzen Tag übcr. Man heizt in Petersburg fast durchgängig mit Birkenbolz, das am billig- 144 Dcr Winter. sten in der Umgegend zu haben ist und dabei viel dauerhaftere Kohlen giebt als das Holz der Nadelbaume. Und eben auf reichliche Kohlenbildung kommt es bei der russischen Heizungsweise hauptsachlich an. Denn während bei uns eigentlich nur die Flamme heizt, laßt man in Rußland dieselbe erst ausbrennen, und so viele Birken-stamme auch im Ofen verknistcrten, so wird doch sein Inneres kaum davon durchwärmt. Erst wenn die „Iuschka" (eine eiserne Platte und darüber gelegte Kapsel), die den Ofengang doppelt verriegelt, geschlossen ist, fängt die Warme an, etwas im Zimmer durchzuwirken. Die russischen Ofenheizer sind sehr geschickt in allen bei dieser Heizart nothwendigen Verrichtungen. Zangen und Schaufeln kennen sie nicht, und sie haben kein anderes Instru> ment als einen langen eisernen Feuerhaken, mit dem sie beständig den Kohlenbrei in den Oefen umrühren und bearbeiten, die Kohlen zerschlagen und die noch nicht ganz ausgebrannten nach vorn bringen und dem Zuge mehr aussetzen. In jedem großen Hause giebt es einen oder ein paar Ofcnheizer, die nichts weiter zu thun haben, als die Oefen zu versehen, das Holz herbeizuschleppen und die Heizung zu betreiben, oder Alles dafür vorzubereiten. Damit die Herren des Morgens bei'm Kaffee das Zimmer warm finden, müssen jene dienenden Geister ihre Arbeit bereits in der Nacht beginnen. Gewöhnlich bauen sie schon am Abende vorher in jedem Ofen recht künstlich ihren Holzmeiler auf, damit die Birken noch ein Bißchen nachtrocknen, und zünden dann am Morgen mit Kien und Fichtenholz das Ganze an. Die Ein- und Der Winter. 145 Ausgange find gewöhnlich in den langen Korridors der Häuser, die dadurch, wie das Vorhaus, das aber in der Regel auch noch mit eigenen Oeftn versehen ist, mit geheizt werden. So amüsant cs ist, die erleuchteten Corridors nächtlich zu durchwandern und diese guten Leute bei der Anfachung der heimlichen Gluth wirthschaften zu sehen, so schmerzliche Bekanntschaft haben doch schon viele unserer Landsleute und die Franzosen im Jahre 1812 mit jenen Ofenhaken gemacht. Denn damals wurde manches dieser friedlichen Instrumente gerade geschmiedet, gefeilt und gespitzt und als Lanze von dem gereizten Volke zur Vertheidigung des Vaterlandes gebraucht. Man könnte denken, baß bei jener Hcizungswcise, wo bei einem kleinen Versehen leicht die geringste, noch nicht alles giftigen Hauchs entbundene Kohle dem Leben verderblich werben kann, viel Unglück geschehen müßte. Es geschieht dessen allerdings auch genug, und man hört nicht selten von im Kohlendampfe erstickten Menschen. Wenn man aber die Menge der in Petersburg geheizten Oefen erwagt, wo sechs Monate hindurch alle Hauser von oben bis unten, wo Boden, Souterrain, Parterre und Beietage, Vorhaus und Hinterhaus geheizt werden, so muß man die Geschicklichkeit der russischen Ofenhcizer bewundern, die mit großer Sicherheit fast immer die rechte Zeit abpaffen. Im Herbste sind die Petersburger Hauser ^ gewöhnlich noch etwas feucht und kühl, im December und Januar aber, wo sie schon einige Monate durchheizt worden sind und Alles in ihnen dann so trocken ist, wie die Konstantinopolitanischen Häuser lm Sommer Kohl, Petersburg, l. 7 I4s Dcr Winter. wenn Juli und August sic ausgedörrt haben, herrscht darm hinter den doppelten Fenstern und dreifachen Thüren eine so beständig angenehme und gelinde Temperatur von 14 bis 15 Grad, daß man in der That diese ganze Einrichtung höchst vollkommen nennen muß. Die Setzung eines solchen Ofens erfordert natürlich viel Kunst und Nachdenken, besonders da jedesmal auf die verschiedene Localitat Rücksicht zu nehmen ist. Nur die Großruffen, die Moskowiter sind es, welche, von ihrem Klima dazu angeleitet, «s in dieser Geschickt!chkcit zur Meisterschaft gebracht haben. Sie sind daher auch im kleinrussischen Süden, sowie in den Ostseeprovinzen, wo sich bei den Deutschen, Letten und Finnen der russische Ofen durchweg verbreitet hat, die gesuchtesten Ofensetzer. Man kann sich denken, welche wichtige Rolle der Ofen in den Hausern auch der gemeinen Russen spielt. Er ist hier eine zu außerordentlicher Größe gediehene Maschine, die zugleich als Koch-, Heiz- und Vack-Appa-rat dient. Rund umher laufen Bänke zum Genießen der Wärme, denn diesen Nordmenschcn ist das Warme-einsaugen und Alles, was damit zusammenhangt, das Schwitzen, Sonnen u. s. w., ein eben solcher Genuß wie das Schlafen, Ausruhen u. s. w. Es sind viele kleine Vertiefungen und Löcher in den Ofen angebracht, um allerlei Dinge darin zu trocknen, und nasse Strümpfe und Kleider hangen immer um ihn herum. Auf der Plattform des Ofens liegen Betten, in denen die Manner, in Schafspelze gehüllt, des Nichtthuns und der Wärme sich freuen. — Uebrigens sind die russischen Oeftn die unpoetischesten Der Winter. 147 und uncomfortablesten von der Welt. Die vielen kleinen anmuthigen Geschäfte und Gespräche, die sich bei uns um das flammende Ofenloch drehen, fallen für die russischen Stubenbewohner ganz weg, und ein heimelnder Deutscher hat mit einem solchen stummen, blinden, todten russischen Ofen genug zu thun, bis er sich einigermaßen mit ihm eingelebt hat. Man bedenke nur, wieviel geistiger Zunder sich an dem französischen Kamine entzündet, welche Rolle das „linrmw,^ NreM«" in dem Leben Englands spielt, welche trauliche Gespräche, welche Ereignisse sich an sie knüpfen, und man wird ermessen, wieviel den russischen Zimmern durch die fehlende Ofenstamme abgeht. Die russischen Oefcn müssen vormöge ihrer Construction so groß sein, daß es schwer wird, ihnen eine elegante Gestalt zu geben. Gewöhnlich sind es einförmige, viereckige Massen, die bis zur Decke des Zimmers hinaufreichen und dasselbe nichts weniger als verzieren. In den vornehmen Hausern läßt man sie daher ganz in die Wand zurücktreten und verdeckt sie mit Spiegeln oder anderem Mobiliar. Zuweilen auch hat man die dicken Wände ausgehöhlt und ofenartig ausgearbeitet, so daß in solchen Wohnungen bei gänzlicher Unsichtbarkcit alles Heiz-ungs-Apparats die künstliche Warme, wie durch Zauber bewirkt, eine völlig natürliche zu sein scheint. Nicht wenig tragen zum Zusammenhalten der Zimmerwärme die doppelten Fenster bei, die in Petersburg wie in ganz Nußland üblich sind. Kaum tritt im October der erste starke Frost ein, so rüstet man das ganze Haus zu, verpicht alle Oessnungen und setzt überall dop- 7. 148 Der Winter. pelte Fenster ein, deren Fugen mit Papier'überklebt werden. Selbst bei den Bauern findet man diese Sitte der doppelten Fenster. Kaum wird hier und da ein Luftfen-sterchen gelassen, und man kann sich denken, welche Freude, welche Heiterkeit und Frische m die Zimmer zieht, wenn endlich, endlich im Mai diese beengenden Verhüllungen wieder abgenommen und zum ersten Male die Fenster geöffnet werden können, hinter deren Verschluß man saß, wie Noah in seiner Arche. In der Höhlung zwischen den doppelten Fenstern pflegt man Salz oder Sand aus-zubreiten, welche Substanzen die sich dort sammelnde Feucht tigkeit anziehen sollen. Das Salz häuft man in allerlei zierlichen Formen auf, welche unberührt bis zum Frühlinge liegen bleiben, und das Sanbbeet bepflanzt man mit hübschen Kunstblumen, welche eben so lange in diesem Käfige blühen. Jedes Haus hat darin se!ne eigenen Einfälle und seine besondere Weise, und wer an Kleinigkeiten Vergnügen findet, der geht an einem hellen Wintertage gern durch die Straßen, sich die verschiedenen Ausschmück lmgsweisen der Doppelfenster betrachtmd. Die Thüren bleiben nicht hinter den Fenstern zurück. Ja man findet zuweilen nicht nur doppelte, sondern sogar drei- und vierfache. Die kleinrussischen Bauern haben bei ihren Erdwohnungen einen verdeckten Gang, durch den man über einige Stufen zu der Thüre des Hauses hinabgeht, und der wiederum vorn mit einer eigenen Thüre versehen ist. Die Kleinrussen nennen diesen in unserer Architektonik unbekannten HauStheil „sH^ä" (Zugang). Diese Pojesde findet man nun auch in Petersburg wie- Der Winter. 149 der, wo freilich die Stufen zur Hausthüre aufwärts gehen. Sie sind fast bei jedem einigermaßen ansehnlichen Hause angebracht und dienen besonders den geputzten Vall-gästen, w'elche bei den wilden Wetterphänomenen, die zuweilen in den Straßen Petersburgs herrschen, auch nicht einmal den einen Schritt vom Kutschenschlage zur Thüre machen könnten, ohne ihre ganze Toilette zu riskiren, und die es daher sehr übel nehmen würden, wenn das Dach des Hauses nicht freundlich bis an ihre Wagen-thüre sich heranließe, um sie sogleich unter ihren Schutz zu nehmen. — Die Hausthüre ist gewöhnlich ebenfalls doppelt, und zuweilen findet man, wie gesagt, noch eine dritte Thüre, bevor man in das eigentliche geheizte Vorhaus kommt. Die Thüren der Kirchen, des Theaters und aller öffentlichen Häuser sind eben so doppelt und dreifach. Gewöhnlich heizt man die russischen Oefen cin Mal, und nur bei 2N bis 30 Grad Kalte zwei Mal am Tage, mehr aber nie, weil häufiger zu heizen ganz überflüssig ware, da der Ofen doch immer 12 Stunden braucht, um die Hitze aufzunehmen und sie wieder auszustrahlen. Sind die Zimmer überheizt, so stimmt man die Warme leicht mittels der oben erwähnten Iuschka herab, die man nur auf einige Zeit herauszunehmen braucht, Um die kalte Luft durchstreichen und den Ofen etwas auskühlen zu lassen. Bei uns leiden die Armen in kalten Wintern große Noth. 'Es ist kcin Zweifel, daß sie in Petersburg viel ansehnlichere Mittel haben, sich vor Kälte zu schützen. 15l) Der Winter. Die öffentlichen Anstalten, die man für sie getroffen hat, die Wärmestuben, die sich in verschiedenen Theilen der Stadt befinden, in denen arme Leute den ganzen Tag über warme Luft umsonst haben, und die bei großer Kälte in eisernen Hauschen bei den Theatern für die Kutscher brennenden Feuer sind wohl das Wenigste. Aber die dicken Pelze und Kleider, in deren Besitze auch die Bettler sind, die dichten Wohnungen, die, selbst die Hütten nicht ausgenommen"), alle waffer- und luftdicht sind, bieten die beßten Schutzmittel. Bei hohen Kältegraden erhalten alle Schildwachen in Petersburg Pelze, und es giebt einen für Auslander ganz neuen Anblick, diese dickbepelzten Wachen mit blanken Gewehren wie in einer Maskerade vor den Palasten auf- und abmarschiren zu sehen. Nichtsdestoweniger aber ist es natürlich, daß dennoch bei so barbarischen Kältegraden, wie sie in Petersburg oft Wochen lang anhalten, manches warme Menschenleben, vom kalten Hauche des Boreas berührt, zur todten Eisstatue verwandelt wird. Dock) sind die Sitten der Bewohner weit mehr daran Schuld als die Dürftigkeit ihrer Schutzmittel, und zwar unter ihnen vor allen Dingen drei, nämlich die Trägheit des Volks, das Branntweintrin-ken und die Hartherzigkeit oder, besser gesprochen, die Rücksichtslosigkeit der 3ieichen. Die Russen, so lebhaft sonst ihr Humor ist, lie- *) Sogar die temporären Wohnungen, welche sich die Sttuer-und Vramttwnmvächter uor dcn Thoren dcr Städte aus hölzernen Stäben, Stroh und Koth zusammensetzen, haben immer doppelte Thüvm. Der Wintcr. 151. ben doch durchaus keinerlei Art von Anstrengung, und geistige wie körperliche Gymnastik ist bei ihnen ein« verachtete Kunst. Sie ziehen es daher in der Kälte vor, sich hinter den Ofen oder in Pelze zu verkriechen und still dahinter auszuhalten, anstatt, wie jeder Nichtruffe thun würde, sich mit Hand und Fuß gegen die Kälte zu wehren. Der Vutschnik verbirgt sich in seine Hütte, der Soldat, wenn er es ungestraft thun zu können glaubt, in sein Schilderhaus, und die Fuhrleute ziehen sich wie Schildkröten in einen Knaul unter die Matten ihreS Wagens zusammen. Natürlich werden viele in diesen Stellungen vom Schlafe überrascht und von der Kalte hinge-rassr. Man zieht die Schildwache als Bildsaule, den Vutschnik als Mumie und den Fuhrmann als versteincr-ten Krüppel hervor. —- Das unmaßige Vranntweintrin° ken vergrößert die Gefahr. Trunkenhcit und Scblaf in ihrem Gefolge sind bekanntlich die sichersten Mittel;um Tode durch Frost, und da kein Frost in Petersburg einfallt, der nicht eine Menge Trunkener und Schlafender auf den Straßen findet, so kann man sich denken, daß der Opfer, die er fordert, nicht wenige scin muffen. Die Rücksichtslosigkeit der Vornehmen gegen ihre Leute vermehrt noch diese Zahl. Es ist unglaublich, was man den armen Dienern, Vorreitern und Kutschern zumutlm. Bei Besuchen laßt man sie, ohne auch nur die geringste Rücksicht aufs Wetter zu nehmen, Stunden lang auf der Straße halten. Viele lassen sie, wenn sie zum Theater oder in Gesellschaft fahren, den ganzen Abend vor der Thüre warten, um sich ihrer jeden Augenblick bedienen 15,2 Der Winter. zu können. Die Kutscher schlafen dann natürlich auf den Böcken ein, und die kleinen zwölfjährigen Vorreiter, die noch nicht bis Mitternacht zu wachen lernten, hängen schlummernd auf ihren Pferden, oder legen sich, den Zügel an den Arm gebunden, auf den gefrorenen Schnee des Straßenpfüisters hin. Wie manchem armen Kutscher froren nicht so Nase und Ohren oder Hände und Füße ab, wahrend seine Herrschaften sich der ausgesuchtesten Gaumen- und Ohrenschmause erfreuten. Ja wie viele bezahlten mit dem Verluste ihres Lebens die frivolsten Amusements ihrer Herrschaft. Uebrigens ist dieß noch eine der leichtesten von den verschiedenen Todesarten, welche die armen russischen Leibeigenen zuweilen erdulden, ja man sagt sogar, es soll dieß allmalige Entschlummern der Psyche eine Art von Genuß sein, und alle Die, welche man in diesem Verglimmen störe und zum Leben er» wecke, bewiesen sich damit Anfangs sehr unzufrieden. Die höchsten Kältegrade fallen gewöhnlich nur bei heiterem, ruhigem Wetter ein, und das prachtvolle Petersburg hat daher in der Regel bei 30 Grad Kalte seinen j»«Ä!i Mir. Der Himmel ist hell, und die Sonne leuchtet brillant, und zwar um so brillanter, da ihre Strahlen durch Millionen kleiner blinkender C'iskrystalle hmdurch-schießen, mit welchen die Luft wie mit Diamantenstaub erfüllt ist. Aus allen Hausern und selbst aus den ebenfalls gebeizten Kirchen wirbeln dicke Rauchsaulen, die in der ätherklaren Luft so dicht erscheinen, als ob in jedem Hause eine Dampfmaschine stände, und dabei in allerlei Farben spielen. Schnee und Eis auf den Straßen und Dcr Nnitcr. ,153 der Newa sind weiß und reinlich, als wäre Alles aus Zucker gebacken. Die ganze Stadt hat das zierlichste Gewand von der Farbe der Unschuld, und sämmtliche Dächer blitzen von einer gleichmäßigen Lage schimmernden Krystallstaubes. Alles Wasser gefriert, so wie man es ausgießt, und die Brunnen, die Pferdetranken, die Wasserschöpfanstalten, die Wasserfuhrleute und ihre Wagen, die Wascherinnen an den Canälen, Alles erscheint mit Eis incrustirt, und die phantastischesten Eisüberzüge und Eis-zacken setzen sich an sie an, denn jeder Tropfen, der sicb im blanken Medusenschilde des Petersburger Boreas spiegelt, wird sogleich zu Stein. In den Straßen zeigt Alles, um dem Tode zu entgehen, das regste Leben. Alles rennt und jagt so hastig, weil jedem der Sensenmann buchstäblich auf den Fersen sitzt. Der getretene Schnee knistert und heult die sonderbarsten Melodieen, und selbst alle anderen Töne und Laute nehmen in dieser kalten Atmosphäre andere Klänge an. Es zieht bestandig, als wäre etwas Wahres an der Redensart: es friert, daß es brummt, ein leises Rauschen oder ein säuselndes Brummen durch die Luft, welches wahrscheinlich von all dem erklingenden Schnee und Eise herrührt. 7.. a r k t p l a tz e. „Kauft allerhand, taufi aU^rhanb! „Kauft lang' und kurze Waar'. ,,Sechs Kreuzer 's Stück, ist gar lein Gvlb. ,.Wie's Einem in die Hände fällt; „Kauft allerhand, kauft allerhand! „Kauft lang' und kurze Waar'!" ^ie Russen haben die für einen Fremden sehr b> queme Sitte, fast sämmtliche Waaren, die sie in einer Stadt feil bieten, auf einem und demselben Platze zur Schau auszustellen, so baß man also die verschiedensten Dinge, die man nöthig hat, in einem und demselben Gebäude vereinigt findet. Man hat daher nie nöthig, zu fragen: wo kauft man dieß, wo jenes? Man geht nur in die Kaufhallen der Stadt, wo man Alles bei einander findet. Davon ausgenommen sind nur die Vic-tualien, für welche eS besondere Märkte giebt, die Kra-mcrwaaren, die Weine und noch einige andere Artikel, die jede Hauswirthschaft gern soviel al6 möglich in dcr Nahe hat. Marktplätze. 1»5 Eine große Kaufhalle, in welcher immer das Wichtigste alles dessen, was eine Stadt verhandelt, aufgestapelt ist, ncn>-nen die Russen „«^liunui cwor" (Gasthof). Diese Kaufhallen sind gewöhnlich große, jetzt recht geschmackvoll aufgeführte Gebäude von zwei Etagen, um welche Säulenhallen herumführen. Die von ihnen eingeschlossenen Gehöfte, sowie die obere Etage, dienen meistens zu Magazinen und zum Verkaufe en ßl-os. Die untere Etage dagegen besteht aus einer Neihe von Buben, in denen en <>^I,Lwm kuinoll" — deffcn Uebersetzung wir unseren Lesern lieber vorenthalten, um ihnen nicht gleich von Ansang herein einen Abscheu gegen Alles, was wir naher in Augenschein zu nehmen denken, einzuflößen, — klingt, so wenig ist doch Alles auf demselben lumpig und alt. Im übrigen Rußland heißen sonst solche Märkte, deren eS in jeder bedeutenden russischen S^adt ähnliche giebt: ,,1'ulluit8ol>^v lwinok«", von toilmu,^ ^- herumsioßen, allenfalls also „Gewühlmarkte." 8* 1?2 Marktplätze. Die beiden genannten Märkte bilden zusammen einen Platz von ungefähr 1500 Fuß im Quadrat oder von etwa 2 Millionen Quabratfuß, sie sind mit Buden aller Art so dicht bedeckt, daß nur schmale Straßen dazwischen bleiben, und mögen demnach, wenn man auch jeder Vude mit der zu ihr gehörigen Straße und dem freien Raume um sie her 500 Quadratfuß zumißt, was bei ihrer Kleinheit gewiß reichlich gemessen ist, leicht nahe an 5000 Buden, Zelte und Kramerhütten enthalten. Sie bilden eine Stadt für sich; die Vuden stoßen vorn mit den Köpfen zusammen, und die engen Straßen sind so finster wie die in den Iudenvierteln mancher deutschen Orte oder wie die in manchen orientalischen Städten. Durch enge Thore tritt man aus der lebendigen, freien Gartenstraße in dieses finstere Gewühl ein, wo man keinen elegant gekleideten Menschen mehr findet, keinen französischen Frack sieht, nur „schwarzes Volk", Alles bärtig, bepelzt und antikrussisch, und nur von Weitem sind noch hier und da Durchblicke auf den vorüberziehenden zierlichen Spazier-gängerstrom der Gartenstraße und auf das prachtige gegenüber liegende Bankgebaude gegönnt. Unter den Thorwegen hangen große Lampen und buntgepuhte Heiligenbilder herab, sowie auch in den Straßen dieser Lumpenstadt an allen Ecken und auf den dann und wann sich eröffnenden freien Platzen kleine Kapellen so ungemein bunt aufgeputzt stehen, daß man meinen sollte, sie seien in dem Style der chinesischen Pagoden gebaut. Doch genügen sie den frommen Russen noch nicht, und häufig sind in den Straßen selber noch von Dach zu Dach l?ö> - Marktplätze. 173 zerne Brücken und Bogen gebaut, auf denen von Gold glänzende und von Lampenschimmer beleuchtete Heilige in den Lüften schweben, und damit das alte Sprüchwort! ,,ls« exli-sm«« 6« wuciienl", wahr werde, so fehlt in der Nahe fast keiner dieser Kapellen ein anderes Gebäude, das den Nüssen nach der Kirche das wichtigste ist, der „Kabak" oder das Branntweinhaus. — Die Straßen sind mit hölzernen Dielen belegt, auf denen man in dem ewig hier herrschenden Schmuze von Vret zu Vret springt. Zum Theil sind jene Schenken, worin auch noch Liqueur, Kwas und Bier verkauft wird, recht wohnlich eingerichtet und mit allerlei farbigem Papier und bunten Tapeten nach russischer Weise ausgeziert. „Stecken Sie Ihre Arme in die Pelzärmel und knöpfen Sie sich Ihren Viberpelzkragen fest um die Obren", sagte, als ich zum ersten Male jenen Markt betrat, mein Begleiter zu mir, der ich nach russischer Weise jene beiden Kleidungsstücke recht lang und lose an mir herunterhangen liesi, „denn wir sind hier in das Galgenviertel von Petersburg eingetreten, wo Alles, was nicht niet- und nagelfest ist, als gute Prise betrachtet wird. Packen Sie Ihre Ninge in die Tasche, denn man könnte Ihnen des Goldes wegen den kleinen Finger ab-schneiden, und wenn man wüßte, daß Sie Ihre Brieftasche unter der Haut trügen, so würde man Ihnen im Nu ein Loch hineingeschnitten und sie herausgeholt ha-ben." In der That stllcn oft viele Leute, sehr sonderbar von be», Kippern und Wippern des Trödelmarktes beschnitten, ohne Pelzkragen, ohne Rockschöße hervorge- 174 Marktplätze. gangen sein. Was mich selbst betrifft, so ist mir spater weder etwas der Art begegnet, noch habe ich Aehnliches mit angesehen, obgleich ich oft genug recht nachlässig meinen Fuß diesen großen Jahrmarkts ^ Irrgarten durchwandeln ließ. Auch selbst in diesem scheinbar so unordentlich durch einander geworfenen Irrgarten hat sich doch das Ganze nach der in Rußland gebräuchlichen Weise geordnet. Glei-chcS hat sich zum Gleichen gesellt, und das ganze Ensemble zerfällt in eine Menge beutlich geschiedener und leicht übersehbarer Massen, so daß das Studium dem Beobachter dadurch außerordentlich erleichtert wird. In dem einen Winkel haben sich zum Beispiel alle Hciligenbilderhandler zusammengefunden. Die Russen, die sich immer von Gott und allen Engeln verlassen glauben, wo sie seine Allgegcnwart nicht sichtbar und handgreiflich verkörpert sehen, oder die vielmehr überall da in des Teufels Reich zu treten glauben, wo nicht der liebe Gott durch des Priesters Hand wirklich Besitz genommen hat, und die dahcr ihren Körper, ihr Zimmer, ihre Thüren und Thore wie ihre Kirchen mit Heiligenbildern behängen, verbrauchen davon natürlich eine unglaubliche Quantität. Wie Pfeffernüsse aufgehäuft und auch dutzendweise gekauft, liegen die kleinen aus Messing gegossenen Kreuz-chcn, Marien-, Iohannis- und St.-Georgsportraits und andere Amulete in großen Kisten vor jenen Buden ausgestellt. An den Wänden der Hütte hangen von falschem Silber und Gold mächtig strahlende Bilder aller Fa?ons und Größen, kleine, wenige Zoll lange und breite, Marktplätze. 175 von denen die Lakaien vornehmer Häuser gleich ein halbes Schock nehmen, um ein neu gebautes Haus damit zu versorgen, wo sie in jedem Zimmer hinter den Gardinen angenagelt werden, große, 3 bis 4 Ellen hohe für altgläubige Kaufleute, die sich mit ihren Frauen und Kindern davor niederwerfen, andere zum Gebrauche für Dorfkirchen und Stadtkapelten. Einige sind neu-modig in Mahagonirahmen eingefaßt, andere nach alter Weise mit Säulen, Tempelthüren und ganzen Tempil-chen, geschickt aus Silberdraht geflochten, verziert; viele sind neu und frisch gemalt von Schülern der neuen Petersburger Kunstakademie, die meisten aber erscheinen als uralte und scheinbar von dem Staube von Jahrhunderten belegte und gebräunte Figuren, die dem gemeinen Russen vorzugsweise gefallen, wie unsere Bauern die alten beschmuz-ten Gesangbücher den neuen, frisch eingebundenen vorziehen. Sie werden besonders gesucht, wenn man weiß, daß sie schon früher in Kirchen dienten, weniger, wenn sie nur im Dienste eines Privatmannes alterten. In einer anderen Gegend des Marktes findet man ein Quartier mit Fruchtladen bedeckt, in denen eine unglaubliche Masse trockener Früchte feilgeboten wird. In der Mitte einer solchen Bude steht gewöhnlich auf hohem Postamente, amphitheatralisch aufgestellt, eine reiche Batterie von Flaschen und Büchsen mit Kiew'schen Con-fecten und Saften; rund umher an den Wänden ran-gin sich in kleinen Kasten ein Ueberfluß von Rosinen, Korinthen, Mandeln, Feigen und Apfelsinen', hinten in den Ecken stehen große Sacke und Kisten voll Pflaumen, 176 Marktplätze. Nüssen, Wacholderbeeren, und vorn auf der Straße am Eingänge sind große Tonnen postirt, gehäuft voll mit den bei den Nüssen so beliebten rothen Moosbeeren, die sie „Kliul'wi" nennen. Sie sind im Winter alle gefroren wie kleine Kieselsteine, und mit einer großen hölzernen Schöpfkelle werden sie den Käufern zugemessen. Von außen und innen sind alle diese Buden mit trockenen Pilzen garnirt und ausgeziert, die man auf lange Schnuren reiht, und die für den gemeinen russischen Mann eine alltägliche Speise abqcben. Es ist unbegreiflich, daß eine so malerische russische Fruchtbude, in der außer dem Genannten noch Vieles in äußerst pittoresker Fülle ausgegossen ist, noch nirgends in einem guten Bilde von einem guten Maler dargestellt worden ist. Mit ihren bärtigen Verkäufern und Käufern würde sie ein sehr hübsches Genrebild abgeben. Wahrscheinlich kommt dieß daher, weil alle guten Mal«r Petersburgs sich zu gut dabei befinden, wenn sie sich mit den nichtssagenden Physiognomiken, Uniformen und Diamanten der Vornehmen beschäftigen, und weil sie es deßhalb nicht der Mühe werth halten, das Volkstreiben mit Künstlerauge zu betrachten. In anderen Budenreihm wiederum ist eine unendlich lockende Fülle zierlichen Vrautschmucks ausgekramt, bunte metallene Hochzeitskronen, wie sie dem Brautpaare in der Kirche aufgesetzt werden, künstliche Blumen und Blumenkränze zu den billigsten Preisen, z. B. ganze Rosengewinde, gar nicht übel gemacht, mit Silberdraht geschmackvoll durchglittert, zu 80 Kopeken (etwa 5 guten Gro- Marktplätze. 177 schen). Wollte man hier eine Braut von oben bis unten, und zwar recht hübsch auszieren, so würde die Allsgabe noch nicht hoch in die Groschen steigen und ließe sich sogar noch mit kupfernen Kopeken bcstreiten. Da taglich in Petersburg unter den gemeinen Klassen leicht an 30 Hochzeiten gefeiert werden und eben so viele andere festliche Gelegenheiten vorkommen mögen, so kann man sich denken, wie viel hier immer für Braute, Brautjungfern, Kirchen-gängerinnen, Wöchnerinnen, Gcburtstagsftstgastc u. f. w. an Schmuck und Raritäten ausgekramt werden muß. In einer Stadt wie Petersburg, wo jede Kleinigkeit unendlich oft verlangt wird, wo Jemand seine Rechnung allenfalls auch dabei finden könnte, wenn er blos in Fidibus oder Papilloten ein Engrosgeschäft etabliren wollte, zerfallen natürlich die verschiedenen Zweige des Handels in eine unerhörte Menge von A'cstcn und Aest^ chen, und was an kleineren Orten nur in Verbindung mit anderen Waaren auftritt, kann hier für sich selbst-ständig bestehen und seinen Mann nähren. Daher sicht man hier z. V. ganze Gruppen von Buden blos mit N^ni-cherwerk, andere wiederum blos mitHonig ausgestattet. Der Honig, der meistens aus Kasan odcr Tula und den benachbarten Provinzen kommc, schwimmt hier in sauberen Gefäßen aus Lindenholz, die rund umher geordnet sind wie die reinlichen Milchgefaße Homer's in der Hirtenhöhle der Cyklopen; man findet ihn in allen Far-bennuancen, von der schönsten weißen Farbe bis in's Bräunliche, Braune und Schwarze; vom schönsten wei-ßen bezahlt man das Pud mit 40 Rubeln; mancher 8" 178 Marktplätze. sieht aber auch nicht viel appetitlicher aus als zerflossener Limburger Käse. Viele Waaren sind höchst sonderbar, aber nach einem bestandigen, feststehenden Herkommen gepaart. ZUM Beispiel findet man in den Buden, in denen Kreide und Pech, zwei Artikel, welche die Nuffen in Menge gebrauchen, verkauft werden, auch immer Valalaiken aufgehängt, die doch weder mit Kreide, noch mit Pech etwns zu thun haben. So wenig auf diescm Markte der Ning an dem Finger sicher sein soll, so völlig sicher muffen doch die Silberrubel und Ducaten aus den Tischen der Wechsler sein, denn es sind überall an den Straßenecken, mitten in dem unerhörten Gedränge solche Tischs aufgestellt, auf denen in höchst appetitlichen Häufchen und Saulchen die verschiedenen Münzforten offen zu Tage liegen, eine Erscheinung, die gewiß in London oder Paris ober in jeder anderen großen Stadt unerhört sein würde. Wie leicht ware es da dem Raublustigen, seine Geldgier in vollem Maße zu befriedigen, ein kleiner Stoß, und der ganze Tisch mit seiner kostbaren Ladung läge im Schmuze. Wer wollte in dem Gewühle den Schuldigen erkennen, der sich mit der Beute bereicherte? Und doch ist es gewiß, daß von diesen Wechslern — oft kleinen, zwölfjährigen Burschen, zu Verwaltern von Tausenden von Nudeln gesetzt, — keiner einen Heller daran wagen würde, wenn er sich mitten unter all diesem Volke mit seinem Gelde nicht vollkommen sicher glaubte. Allein der russische Schelm ist ein wunderlicher Kauz, der sich aus der Marktplätze. 179 einen an und für sich auch nicht ehrlichen Handlung, z. B. daraus, Einem eine Sache sechsmal höher zu verkaufen, als sie werth ist, oder Einem seine Börse aus der Tasche zu ziehen und sie sich selber zu gute kommen zu lassen, nicht das geringste Gewissen macht, wahrend er die andere für höchst sträflich hält und daher in gewissen Puncten höchst ehrlich und zuverlässig ist. Diese Wechsler stehen unter dem Schutze des Publicums, selbst der Gauner. Ich habe es nicht selbst erlebt, — allein olmc Zweifel hat es sich gewiß schon oft ereignet, — daß solche Geldtische umgeworfen wurden, und doch dabei dem Wechsler kein Kopeken verloren ging, geschweige ein Du-caten, weil das ganze schafpelzige Publicum lincher ihm mit der verbindlichsten Bereitwilligkeit dabei half, alle Gold-und Silberstücke aus dem Staube zusammenzulesen. Es ist auffallend, wie das Auge der Menschen, wenn es die Wirklichkeit selbst in der Nahe schaut, unendlich stumpfer und gleichgiltiger ist als ihr Glist, wenn er aus der Ferne durch das Kaleidoskop der Pl>m-tasie die Dinge betrachtet. Wie interessant und schön sind uns viele Gegenstande vorgekommen, wenn wir sie in Büchern lasen, wahrend die Sinne, die zu ihrem wirklichen handgreiflichen Besitze gelangten, nicht das geringste Aufheben davon machten. Und doch ist jede Beschreibung unendlich dürftig gegen die Fülle der Wirklichkeit, in deren Besitze wir daher doch eigentlich mit unendlich größerer Wollust schwelgen sollten. Auf den armen ruhenden Wanderer, der sich im Ocwüble des Lebens herumtreibt und bald hier, bald da gestoßen wird, 180 Marktplätze. der in beständiger Sorge schweben muß um seine irdischen HabseliMten, dringen so viele gedankentödtcnde und ph.nttasielahmende Eindrücke ein, daß ihm der Genuß stets getrübt wirb und sein Geist ermattet. Er muß Acht haben, daß er seinen Fuß nicht in den Schmuz setze, er muß sehen, daß er die Leute nicht umrenne oder nicht selbst um-" gerannt werde, ein wüstes Geschrei und betäubendes Gerassel dringt in seine Ohren, und vor seinen Augen dreht sich der Wirbel der Erscheinungen ruhelos in beständigem Wechsel, und es ist schwer, auch nur einen Moment die Bilder zum Stillstände zu bringen, die Eindrücke zu fesseln und ein ruhiges Gemälde zu gewinnen. — Der Leser dagegen, in friedlicher Ruhe auf weichem Polster gebettet, am knisternden Kamine und bei'm zauberischen Scheine der nächtlichen Lampe ist in der günstigsten Lage, um AlleS richtig aufzufassen, das Reich der ruheliebenden Geister ist rege um ihn her, und er kann alle geistigen Zaubermittel aufbieten, um Jedem die rechte Beleuchtung zu geben und alle Effecte ungestört wirken zu lassen. — Der Wanderer, um seiner schwachen Kraft mehr Energie zu geben, muß sich oft an die Stelle des Lesers versetzen, muß schauend im Inneren versuchen, die Gegenstande zu beschreiben, muß unsichtbar im Stillen die Eindrücke ausprägen, befestigen und gleichsam in seiner Seele malen, muß sich auf den Flügeln seiner Phantasie erheben und sich bemühen, das Nahe aus der Ferne zu betrachten, muß das Bewegliche zum Stillstande bringen, sein Fleisch abtöoten, das Irdische abthun und, unbekümmert von der kleinen Sorge, starken Geistes und festen Marktplätze. ^I Auges in dem Getümmel dastehen. So wild dann frei. lich sein Genuß überschwänglich und sein Gewinn doppelt groß sein. Tausende sind gewiß schon durch die Thore des Aprarin-Nuinoks eingegangen und gähnend wieder hinaus geschleudert, ohne sich des Reichthums ihrer gehabten Anschauungen bewußt zu werden, und gewiß ist es, wenn ihnen spater Jemand die Dinge mit der Feder oder dem Pinsel nur einigermaßen treu nachmalen wollte, sie würden erstaunen über ihren apathischen Somnambulismus, der sie mitten zwischen solchem Reichthume hintappen ließ, ohne daß sie davon berührt wurden. In der That sind diese „Gcwühlmarkte" Petersburgs, auf denen sich Hungrige und Durstige, Satte, Wohlgenährte und Magere, Arme und Reiche beständig umhertreiben, und auf denen Gewinnsucht, Betrug und Dicbstahl, Gutmüthig-keit und Höflichkeit und noch ein ganzes Heer menschlicher Leidenschaften und Tugenden in tausend Gestalten und Verkleidungen sich zeigen, Stolz unter Lumpen, Eitelkeit bei Häßlichkeit, Tugend und Herzensgüte unter gemeiner Hülle, und nach Art des russischen Volks Ehrlichkeit bei Vanditensiguren, Schelmerei in elegantem Gewände, Kindersinn bei Graubarten und Verstand bei den Knaben, reich an Scenen der verschiedensten Art. — Es geht dem Reisenden hier, wie dem Naturforscher, der noch im schnulzigen Nasscrtropfcn eine eben so tiefe und endlose Welt schaut und ahnt, wie sie sich ihm am Firmamente des Sternenhimmels offenbart, und es gchort in der That fast unsere ganze Einseitigkeit und Kälte 182 Marktplätze. dazu, um bei dem Andränge solcher Fülle die Feder nicht fallen zu lassen und muthig in's Leben hineinzugreifen, denn, „wo ihr's packt, da ist es — leider! — interessant." Dreihundert fünf und sechzig Tage in jedem der hundert Jahre, die da heranrollen, bewegen sich auf jenem Markte die interessantesten Erscheinungen unbemerkt, unbeachtet und unbeschrieben neben einander hin und offenbaren sich immer m neuen Bildern, und wenn man nur zu einem einzigen Posaunenstoße das Zauberhorn vom Elfenkönige Oberon borgen könnte, um all jenes Marktleben in einem einzigen Momente jener 365 Tage zu fesseln, so würden Bilder genug dastehen, um hundert Pinsel und Federn zu beschäftigen. Wie alle anderen Kramer haben sich auch die Pastetenbäcker in einer langen Straße neben einander aufgestellt, die dem gemeinen Volke die so beliebten Fisch- und Oelpirogen reichen. Die Leute haben sich eine Menge kleiner hölzerner Schuppen gebaut, unter ihnen laufen Bänke um den' Pastetentisch herum, auf denen sich die Liebhaber niederlassen, und unter öligen, schmierigen Segeltüchern liegen die Pirogen, die man so viel als möglich warm essen muß, verborgen. Dabei steht ein Topf mit grünem Oel und ein großes Salzfaß. Sowie du bei ihm vorübergehst, tunkt der Verkaufer einen jener Kuchen in den Topf, streut rasch etwas Salz darauf und präsentirt dir ihn auf der Hand, und gewiß, wenn du ein schafpelziger Vartrusse bist, wirst du das Gebäck, das so lecker von glänzenden Oele trieft, nicht lange ansehen können, ohne emzubeißen. Du setzest dich aus Marktplätze. 183 die Bank und speisest am Ende eine Piroge nach der anderen, bis dir der ganze lange Bart wie Ebenholz glänzt. „Ilorreur! Iiorl-eur!" schreit dabei ein Engländer, „nn nbominndlo i-uvL ok mon!" Was mich betrifft, so amüsirte ich mich in der Negel weit mehr über den Witz und die Höflichkeit dieser Oellecker, als daß ich an ihrer Unappetitlichkeit Aergerniß genommen hätte. — Es ist charakteristisch für beide Nationen, daß bei uns Germanen und namentlich bei den englischen Germanen die qroben Dinge auch grob, ja zuweilen sogar die feinen Sachen nicht einmal fein überreicht werden, wahrend bei den Russen sogar die gröbsten und schmuzigsten Sachen mit einer gewissen Artigkeit und Manierlichkeit angeboten und verabfolgt werden. Nicht einmal so eine grüne Oel^ piroge prasentirt dir der Vartrusse ohne eine zarte Anspielung und einen witzigen Scherz, und er empfängt deine anderthalb Kopeken dafür nicht ohne den verbindlichsten Dank. Bewundernswürdig ist die Gewandtheit der Russen, mit der sie allerlei Dinge auf dem Kopfe tragen, die man bei uns nie so hoch exponiren würde, mit denen sie sich aber so ungenirt mitten im Gedränge herumtreiben, als wenn die auf dem Kopfe gehäuften Waaren wie der Römer Waffen nur Glieder ihres Körpers waren. Man sieht sie in diesem Fache wirklich Kunststücke ausführen, die eine beständig in Thätigkeit erhaltene Jongleur-Souplesse bei ihnen voraussetzen. So bemerkt man z. B. mitten im Gedränge auf den Köpfen hohe Pyramiden von Eiern, lose auf einem einfachen Vrete auf- 184 MmktplHtze. gehaust, und doch so still liegend, als wenn jedes durch eine unsichtbare elektrische Kraft an seinem Platze gehalten würde. Andere haben in niedrigen Butten lebendige Fische »m Waffe.r, die sie auf dem Köpft balanciren und, wo es nöthig ist, von ihrem hohen Sitze herabmhmen und mit raschem Schwünge wieder hinplaciren, ohne ein Tröpfchen zu verschütten. In Deutschland üben nur die Frauen hie und da diese Kunst; hier nur die Männer, von denen jeder darin ein Meister ist. Auf dem, ganzen Tolkutschi-Numok ist Alles billig und schlechter Qualität, und doch welche lange Perspective von geringer und immer geringerer Waarengüte eröffnet sich noch hier, wenn man in seine äußersten Viec-tel wandert, wo die alten Kleider und Möbeln ausgekramt liegen. Da sicht man Dinge, von denen man sich nicht einbildet, daß sie noch einen Werth haben könnten, Lumpen, Va^nberzipfel, Papierschnitzel und Scherben, sogar Kleider, die der gemeine Fuhrmann ablegte, und Unterröcke, welche die geringste Dienstmagd mit Anstand nicht mehr tragen zu können glaubte, — Papierflicken, die jeder Schuster für zu schlecht hielt, damit seine Pfeife anzuzünden, und tausend andere Dinge, mit denen selbst der ärmste Gostinnoi-Dwor-Kaufmann sich nicht scheuen würde, seinen Ofen zu heizen, ausgekramt, Jedes, so gut, wie es angeht, gewaschen und geputzt, und von einem Bettler als Kaufmann nicht ohne Höflichkeit und mit großen Lobpreisungen den armen barfüßigen Bettlerinnen, Zigeunerinnen und Jüdinnen feilgeboten, die mit ihren Kindern diese Schahkammern schüchtern umkreisen Marktplätze. 185 und sehnsüchtige Blick« werfen nach den so höchst nützlichen, so äußerst brauchbaren und hübschen Sachen, mit denen sie ihre Blöße bedecken und ihre Hütte schmücken könnten. Mein die großen Kupferstücke, die sie in der Hand drehen, sind ihnen fest an's Herz ssewachsen, und wenn sie sich auch von ihnen trennen wollten, sie reich-ten nicht aus, um die hohen Anforderungen des Kauf; manns zu befriedigen. Die Brosamen, die in Uebersiuß von eines Reichen Tische sielen, werden in diesen Nau-men noch mit der Goldwage zugewogen, und was, Alles zusammengenommen, keinen blauen Zettel werth ist, den ein reicher Petersburger spielend zerknittert, das wird hier einzeln nach Heller und Pfennig taxirt und um keinen Viertelkopeken billiger verkauft. Doch entschieden der für den Fremden unterhaltendste und interessanteste Theil dieser großen Marktwelt ist eine Abtheilung des Tschukin-Dwor, aus welchem der Vogelmarkt gehalten wird. Es sind zwei lange Vudenreihen, in denen es von kleinen und großen, lebendigen und todten gefiederten Sangern lebt und webt, von Tauben, Hühnern, Gänsen, Enten, Schwanen, Lerchen, Buchsinken, Zeisigen, Nachtigallen und hundert anderen russischen Vögeln, die allesammt eine sehr malerische und bunte Vogelmenagerie darstellen. Die Buden sind aus Holz gebaut, auf der vorderen Seite aber beinahe völlig offen, so- daß man von der Straße aus bequem den ganzen Inhalt betrachtet. Es ist in jeder Hütte eine höchst pikante Menge von wahrer Quintessenz von Ländlichkeit, von Hahnengekrähe, von Hühnergegakel, Entengeschnatter 186 Marktplätze. und Taubengegirre aufgestapelt, von jeder Essenz genug, um eine ganze Landschaft damit für's Ohr ländlich und idyllisch zu schmücken. Von der einen Hüttenreihe zur anderen bauen sich solche, Heiligenbilder tragende Brücken, wie wir sie schon oben beschrieben. )luf diesen buntaus-stafsitten Brücken und auf den Dächern flattern zahllose Tauben umher, von welchen sanften Vögeln der friedliche Russe ein großer Freund ist. Jede Partie ist an ihr Dach gewöhnt, und leicht lassen sie sich, wenn es zum Handel kommen soll, einsangen. Die Russen essen bekanntlich kein Taubenfleisch, dessen Verspeisung sie wegen der Legende vom heiligen Geiste für eine große Sünde halten würden, und sie kaufen diese Vögel daher nur, um sie zu füttern, mit ihnen zu spielen, und insbesondere, um sich an ihrem Fluge zu erfreuen. Es ist ein recht interessantes Schauspiel, den russischen Kaufleuten zuzusehen, wie sie den hohen Flug ihrer Tauben birigiren. Sie haben dazu nur einen an einem langen Stäbe befestigten Flicken, den sie unter die fliegenden Tauben auf verschiedeile Weise schwingen und so verschieden, hin- und herbewegen, daß die geschulten Vögel daraus entnehmen können, ob sie noch höher steigen, ob sie rechts oder links stiegen oder ob sie herabkommen sollen, in welchem letzteren Falle sie mit einer Promptitude auf den Fleck herabschießen, als seien sie vom feindlichen Bleie des Jägers getroffen worden. Zwischen den Tauben, friedlich mit ihnen gepaart, denn die Gewohnheit söhnt selbst das Feindseligste aus, zeigen sich auch schöne Katzen auf den Dachern, deren Marktplätze. 187 jede Bude eine gegen die Mäuse unterhält. Es ist merkwürdig, diese blutdürstigen Thiere mitten unter den kleinen Vögeln zu sehen, denen sie nie etwas zu Leide thun, weil dle Kaufleute ihnen Artigkeit und Sanftmuth gelehrt und ihnen den Giftzahn des Vögelblutburstes ausgc-brochen. — Die Dompfaffen, die Nachtigallen, die Hänflinge, die Buchfinken und Lerchen, lauter Lieblingsuögel der russischen Kaufleute, die davon immer eine Menge in ihren Wohnhausern, ihren Vasars und ihren National-Kaffcehäusern aufgehängt haben, zwitschern trotz der eisigen Kälte — auch sie mögen wohl hier im Norden, gleich den Menschen, weniger zärtlich sein als ihre Brüder im Süden —- bei jedem hellen Sonnenstrahle, der sich zeigt. Diese armen Thierchen, wie auch alle anderen, die man hier hält, bekommen wahrend des ganzen langen Winters kein Tröpfchen Wasser zu trinken, da sich dieses in den kalten Buden sogleich in Eis verwandeln würde. Man füllt ihnen ihre kleinen Napfe mit Schnee, den sie erst mühsam in ihrem Schnabel in Getränk verwandeln müssen. Man sieht sie daher überall, wo die Sonne nur dann und wann etliche Eiskrystalle aufthaute und in Fluß brachte, eifrig zusammenstattern und das lang entbehrte Wasser schlürfen, was besonders leidenschaftlich von den Enten und Tauben geschieht. Die beßtcn Hahne, die hier in und außer ihren Käsigen herumstolziren, sind Moskau'sche. Aus Nowgorod, sagte man, kämen die beßten Tauben, und Finnland liefere die meisten Singvögel, sowie China eine kleine Portion Gänse, die auf Schiffen und Schlitten 188 Marktplätze. bei lebendigem Leibe einen Landtransport von mehr als 1000 Meilen machten, um hier auf dem Tschukin-Dwor als Rarität verkauft zu werden. Graupelzige Eichhörnchen rotten wie incarnirtes Quecksilber in ihren Käsigen, und kleine Meerschweinchen und Kaninchen spielen zahlreich in ihren kleinen Stallnngcn, die man ihnen in jeder Hütte bereitete. Vor der Hütte unter all diesem friedlichen Leben steht, in seinen Wolfspelz gehüllt, der bartige Kaufmann, der zu jedem annehmlichen Preise seine kleinen Sclaven losschlagt. Und, von Lerchen umflattert, mitten im Innersten der Vlide hangt ein Heiligenbild, dessen Lampchen all dieß Geflatter mit freundlichem Scheine beleuchtet und häuslich hütet und bewahrt, daß es sicher sei vor der ungebetenen Einmischung anderer böser Geister, was ihm denn auch allemal vollkommen gelingt, bis auf Vannung des einzigen bösen Geistes, des Menschen, der hier allein gebieterisch schaltet, in Sclavenketten schlägt, leben läßt oder mordet, je nach seinen Berechnungen und Vortheilen. Die Veute seines unheilbringenden Rohres, die Leiber der schönen nordischen Schwane, der schneeweißen Rebhühner und der Haselhühner, sieht man in schrecklicher Fülle, in lange Reihen geordnet, auf den Vretern seiner Bude liegen, über welcher die sclavischen Tauben und die gefangenen Lerchen zwitschern. Es ist erstaunlich, welche Menge dieser delicaten Vögel das üppig speisende Petersburg verbraucht. Die Dauer der Winterkalte, welche die gefrorene Fleischmuskel Monate lang erhalt, und die Schnelligkeit und Leichtigkeit des Transports erlauben es, all dieß wilde Geflügel aus den entferntesten Theilen des Marktplätze. 189 Reichs hier zusammenzuführen. Die Rebhühner liefert Saratow, die Schwäne Finnland. Liu- und Esthland bringen die schwarzen Auer- und Birkhühner, die in ihren dunklen Mildem nisteten, und sogar die Steppen müssen ihre Trappgänse schicken, die das ganze Jahr über auf ihren endlosen Wiesen flattern. Alle diese Vögel werden sogleich, nachdem ihr warmes Blut entflossen, durch die Kälte in Eis verwandelt und, in große Kisten verpackt, zur Residenz geschickt, in welcher cs Tafeln giebt, die taglich ein paar Dutzende von ihnen verbrauchen. Die Kalte, die auf der einen Seite diesem Lande so große Armuth bereitet, fördert wieder auf der anderen seinen Luxus und Ueberfluß, und man entbehrt spät im Winter keines der Thiere, die sich nur im Sommer und Herbste schießen ließen. Auf großen Schlitten, von Pferden gezogen, kommen die gefrorenen Hasen heran, die sonst im Fluge ihr weißes Fell davon trugen und nun den Pferden sauere Arbeit machen, um nur im Schritte langsam weiter transportirt zu werden. Sie sind alle in langgestreckter Stellung gefroren, die Ohren gespitzt, die Laufe vorn und hinten hinausgereckt, als leibten und lebten sie. Der Kaufmann kramt sie aus und stellt in seiner Bude die steifen Hasenstatuen auf. Zuweilen soll auch Varenfteisch auf diesem Markte erscheinen, und hler und da sieht man ein gefrorenes Nennthier im Schnee bei der Bude liegen, die behaarte Schnauze vornaus auf den Boden gestreckt, die Kniee unter dem Bauche zusammengezogen, das Geweih bock, emporgerichtet, als könnte man es aufscheuchen. Auch das mächtige Elen ist nicht selten auf diesem Markte 190 Marktplätze. und bietet das Gerüst seiner Hörner geduldig den Tauben zum Sitze, bis am Ende Beil und Säge nichts mehr von ihm übrig lassen und es an die Köche der reichen Küchen völlig bis auf den letzten Rest vertheilt wird. — Aehnliche Vogel- und Wildpretmarkte giebt es in allen bedeutenderen Städten Nußlands, und gewöhnlich pflegt auch der Eiermarkt sich gleich in der Nähe zu befinden, wie denn überhaupt zu bemerken ist, daß alle Markte Nußlands in der Weise ihrer Zusammensetzung sich außerordentlich einander gleichen, so daß man bei'm Studium des russischen Marktwesens immer dieselben Dinge ganz so, als wäre es auf Verabredung geschehen, in der Nahe derselben anderen Dinge findet, alleS auf dieselbe Weise verbunden und geschieden. Dieselben Marktgewohnheiten herrschen in Moskau wie in Tobolsk und haben sich auf gleiche Weise nach Irkutzk wie nach Odessa und Archangel übertragen. Mit dem Vogelmarkte ist noch keineswegs das Iw terefse des ganzen Tolkutschi-Nuinoks erschöpft. Doch schließen wir hiermit unsere Betrachtung desselben, Andere mögen Neues zu Tage fördern aus diesem Gewühle interessanter Erscheinungen, in welches gewiß Niemand sich eintauchen wird, ohne jedes Mal etwas Genießbares zurückzubringen. Das schwarze Volk. Faust: „Wohin soll es nun geh'n?" Mephistopheles: ..Wohin es Dir gefallt. ,,Wir seh'n die kleine, dann die große Wett." <5on dem Gostinnoi-Dwor an pflanzt sich, wie gesagt, noch durch die ganze Gartenstraße hin das Kram- und HandelSlcben fort. Alle Häuser haben hier in ihrem Parterre Gewölbe, die an Krämer und Kaufleute vermiethet sind. Nach einer Reihe von Spielsachenkrämern folgen diejenigen Buchhändler, die nur russische Bücher verkaufen; denn die deutschen und französischen Buchhandlungen und einige französirte russische liegen wieber wie die ausländischen Magazine an der Perspective u. f. w. zerstreut. Auch in diesen russischen Buchhandlungen be« kommt man die Waare vollkommen fertig und genießbar, d- d. alle Bücher gebunden. Es scheint fast, daß die Bücher hier gebunden zur Wett kommen; denn unge- 192 Das schwarze Volk. bundene sieht man gar nicht. Das Nationale klebt Allem so außerordentlich an, daß selbst der Einband der russischen Bücher eigenthümlich ist, und man auf der Stelle sagen könnte, ob ein Buch in einem dies« „Knisolin^« Inwki" gekauft sei oder nicht, obgleich in solchen Stücken die Praxis feiner ist als die Theorie, und es schwer wäre, anzugeben, worin dieses Eigenthümliche besteht. Auch mit Kupferstichen und Steindrücken sind diese Läden geschmückt, die fast immer nur das Portrait des Kaisers und einiger bekannten Generals wiederholen, oder die Ansicht der Uebergabe von Warna oder eines Kampfes mit den Persern, oder eine Darstellung, wie die Perser mit den russischen Offizieren an einem langen, mit rothem Tuche bedeckten Tische sitzen und ihnen den Tribut übergeben. Darnach folgen die Tuchhandler, eine werstelange Reihe, welche die Fenster und Thüren ihrer Buden, ebenso wie alle russischen Kaufleute, mit allerlei Tüchern und Gardinen verhängt haben, damit, wie man sagt, drinnen im Zwielicht die Schlechtigkeit dcr Waare nicht so leicht erkannt werde. Den guten oder schlechten Klang des empfangenen Geldes aber hören, sie immer, diese schlauen Leute. Hier und da folgen hierauf einige Metall-, Gußwaaren- und Glockenhändler, obgleich das Hauptcorps der Letzteren in dem innersten Gehöfte des Gostinnoi-Dwor selbst Posto gefaßt hat, wo sie an großen Gestellen ihre Glocken von dem kleinsten hochtonenden Schreihalse an bis zu dem größten weitbauchigen Contrabaß in langen Ncihen aufgehängt haben. Ich sage wieder: „in Das schwarz« Volt. 193 langen Reihen," wie ich schon unzählige Male gesagt habe: „in langen Reihen;" denn lang, lang, das lst die Dimension der Russen. Lang sind dle Strassen ihrer Hauser, lang die Reihen ihrer Soldaten, lang die Regimenter ihrer Werstpfahle, die sie, an ihren unendlich langen Heerstraßen aufstellten, lang gedehnt und gezogen alle ihre Gebäude, lang die Ensilaben ihrer Boutiquen, lang ihre Karawanen- und Wagenzüge. Nichts geht bei ihnen in die Breite, noch weniger geht etwas in die Höhe oder Tieft. Daher eristirt auch bei ihnen so viel Zerlaufendes und Zerfließendes, Lockeres und Loses, so wenig Kerniges, Gedrängtes und Gewichtiges, und noch weniger Erhabenes. Alles ist lang, flach und glatt, cnsilirt, soldatisch gerichtet, nach der Schnur gereiht und gewinkelt. Den Schluß machen die Kerzenverkaufer, welche Wachskerzen von allen Faxons verhandeln, mannst dicke und wie Säulen gegossene, und zwirnfadenfeine, wie Garn gesponnene. Diese Leute machen, glaube ich, die brillantesten Geschäfte, denn ihr Geschäftszweig ist nach Maßgabe des Wachsthumes der griechisch-russischen Kirche w fortwährend lebhafter Zunahme begriffen. ?llle die Völker, welche in neuerer Zeit in russischen Namen getauft sind, bedürfen dcs Wachses, das ihr neuer Glaube sie in bedeutender Menge zum Frommen ihrer Seele verbrennen läßt. Der neueste Uebertritt der lithauischen Kirche zur russischen, die vielen Prosclyten, welche die Russen überall machen, die zahllosen Kirchen, welche sie in allen ihren neuen Colcmiem, in Sibirien, in den Steppen und auch in dem an Bevölkerung stets zuneh- Kohl, Petersburg. I. Y 194 Da« schwarz« Volt. menden Petersburg neu gründen, dieß Alles bringt die griechisch-russische Form der Wachskerzen in Aufnahme. Das Wachs, gewöhnlich sehr schön geläutert, kommt in großen Kuchen von 2 Pud, von lockender, honiggelber Farbe, in Moskau an, wo es gebleicht wird. In Peters-bürg selbst giebt es nur wenige Wachsbleichen. Die Verzierung der Wachslichter ist sehr »uanchfaltig; viele sind ganz mit Vergoldung umgeben, andere mit feinem Silber- und Golddraht in allerlei kleinen Figuren umsponnen und mit blinkenden Metallblättchen, rothen und blauen geschliffenen Gla?stückch,>n, wie m t Edelsteinen, zierlich besetzt. Bei den aus ungebleichtem Wachse gegossenen glaubte ich, eine halbe Durchsichtigkeit des Wachses wie bei'm Alabaster zu entdecken, die ich früher noch nie anderswo beobachtet hatte. Viel' leicht ist dieß eine Eigenthümlichkeit des russischen Wachses. Mit diesen Wachslichtern ist der Spaziergänger am Ende der langen Gartenstraße angelangt und tritt nun, in der Nähe der H e u m a r kt k i r ch e, auf jenen weiten Platz, den Heumarkt, ftlber ein. Dieser Eintritt ist bemerkenswerth, weil an eben dieser Stelle, dem Ende der „Ssadowaja" (Gartenstraße), die einzige Barrikade aufgeworfen wurde, welche das junge Petersburg im Verlaufe seiner ganzen Existenz bisher gesehen hat. Es 'war im Jahre 1832, als die Cholera hier wüthete und das gemeine Volk, das auf dem Heumarkte taglich seine Börse hält, wie in allen anderen Hauptstädten Europas, von dem blinden Wahne ergriffen, nicht Gott, sondern die Aerzte seien es, die diese Pest heraufbeschworen und mit Gift unterhielten, sich in offenem Wider- Das schwarze Volk. 195 stände gegen die Behörden befand. Die tolle Idee, die schon lange unter den Leuten sich verbreitet, hatte sie endlich eines Morgens in helle Flammen gesetzt; aufrührerisch und drohend liefen die alten verrückten Grau-bärte in den benachbarten Straßen umher, griffen die Cholerawagen auf, ließen die darin liegenden Kranken heraussteigen, spannten die Pferde ab, zertrümmerten die Wagen m Kochstücke und brachten sie zu der benachbarten Fontanka, wo sie dieselben in's Wasser warfen, worauf sie sich dann, um polizeiliche Maßregeln abwehren zu können, auf dem Heumarkte verschanzten, indem sie mit einer Menge herbeigeführter Heuwagen die Zugänge versperrten. Insbesondere wurde das Ende der breiten Ssadowaja mit einer berghohen Wagenburg befestigt, hinter der bann die tausend Aussässigen die Nacht hindurch bivouacquirten und beschlossen, am folgenden Tage ebenso scharfes Gericht über die Aerzte zu halten, wie am heutigen über die Pestwagen. Am anderen Morgen wurde auch in der That das große Cholerahospital in der Nähe des Heumarktes gestürmt und einer der thatigsten deutschen Aerzte zum Fenster hinausgeworfen und in Stücke zerrissen, sowie man alle Kranken zum Hause hinausschasste, um sie aus den Handen ihrer vermeintlichen Peiniger zu befreien. Bald darauf kam der Kaiser aus Zarskoje-Sselo, wohin man ihm von dem Vorgegangenen Nachricht gegeben, an und erschien ganz unbegleitet in offener Kalesche auf dem Heumarkte, wo die Barrikaden "or >hm verschwanden. Er fuhr unmittelbar vor die Thüre der am Rande des Marktes liegenden Kirche, ließ diese 9* 196 Das schwarze Volk. öffnen, bekreuzte sich, betete und richtete dann einige Worte an die Menge, die damals in allen Zeitungen wiederholt wurden, ermähnte sie, sich gottesfürchtig zu betragen, deutete auf das Allerheiligste der Kirche und be, fahl ihr, niederzuknieen und zu Gott zu beten, um seine Gnade für die Schuld, die sie auf sich geladen, und sein Erbarmen zu erstehen, daß er die böse Krankheit bald von der Stadt nehmen möchte. — „Auf die Kniee! auf die Kniee!" rief ihnen mit lauter Stimme der in seiner Kalesche aufrecht stehende Kaiser zu, und die ganze Versammlung eben noch so wüthender Menschen stürzte reuevoll, schluchzend, betend und gehorsam auf die Kniee, und ohne Widerstand ließen die Rädelsführer sich von der indessen nicht unthätig bleibenden Polizei fangen und abführen. Ohne das für das Verhältniß des russischen Kaisers zu seinem Volke so ungemcin Bezeichnende, was in diesem Vorfalle liegt, genauer zu untersuchen, treten wir sogleich auf den so interessanten Platz selbst und betrachten uns das Treiben dieses so merkwürdigen russischen Janhagels, der so oft schon so dumme und auch so grausame Streiche verübte und doch ein so gutmüthiger und launiger Bursche zu sein scheint, etwas näher. Der Heumarkt ist an dem Morgen aller Wochentage mit handelndem Gedränge erfüllt und gewöhnlich mit so dichtem, daß nur mit Mühe von der Polizei in der Mitte eine Gasse für die Equipagen frei gehalten wird. Auf der einen Seite dieser Gaffe pflegen gewöhnlich die Heuverkäufer, die Holz- und im Frühlinge die Baum- und Pstanzenhänbler zu stehen, auf der anderen Dab schwarz? Volk. 19? die Fleisch-, Fisch-, Butter- und Gemüsebauern. In der breiten Gaffe der Mitte fahren die Köche der vornehmen Herrschaften und die Vürgersfrauen heran, in ihren mit Victualien beladenen Schlitten und Equipagen, gegen derm Glanz die eingepackten Zwiebeln, das Wurzelkraut und die blutigen Gänsehälse oft sehr sonderbar abstechen, und rund herum an den Kanten vor den Thüren der Hauser reihen sich die Kwas- und Pastetenbereiter, die Meth-, Vier-und Theeschenkcn, die dem Bauer Gelegenheit geben, Einiges von seinem hier erworbenen Verdienste ?um Nutzen der Stadt sogleich wieder in Curs zu setzen. Da die Art der Aufstellung, der Auswahl und Behandlungsweise dieser Waaren hier in Petersburg dem Fremdlinge so ganz neu und eigenthümlich ist, so nn'qen einige Bemerkungen darüber erlaubt sein, um so mehr, da sie Gelegenheit geben werden, Blicke in das innere Leben dieser Stadt thun zu lassen. Petersburg nährt in seinen Ställen eine Heerde von nicht weniger als 30,000 bis 40,000 Pferden, ungerechnet diö des Militärs, und mit Einschluß der letzteren sogar 50,000 bis 60M0 Rosse, ohne Zweifel mehr, als vFrhältnißmaßig irgend eine Hauptstadt Europas aufzuweisen hat. Denn es kommt danach auf 8 Einwohner ein Pferd. Der tagliche Heuverbrauch ist daher ungeheuer. Im Sommer kommen ganze Flotten mit hohen Heubergen beladener Schisse und Floße die Newa herab, und im Winter ziehen beständig lange Karawanen kleiner Heuschlitten in die Stadt ein, die sich auf dem Swoi-Ploschtschad in Compagnien und Regimenter schaaren. Das Heu wird zum Thcil Iss Das schwarze Volk. in ganzen Fuhren verkauft, das meiste aber von den Bauern am Boden ausgebreitet und in kleinen Haufen aufgestellt, jeder zu 20 Kopeken, damit die wandernden Iswoschtschiks jeder Zeit einen Arm voll für ihre Pferdchen bereit finden. Zwischen den Neihen dieser Haufen schleichen arme Frauen, kleine Madchen und Burschen, wie die Sperlinge bei den Hafersacken, umher, um mit kleinen Besen die Halme, die den Fuhrleuten und Bauern entfielen, in ihren Schürzen aufzulesen. Sobald sie ein Maul voll für ein Pferdchen zusammengesucht haben, laufen sie damit in die Straßen, um sich bei den Iswoschtschiks einen Mund voll für sich selber zu verdienen. Es wird nicht nur Alles auf Schlitten hercmgefah-ren, sondern die Schlitten selbst dienen zugleich als Boutiquen, Läden und Zahltifche. Die Matten, welche die Waaren decken, werden etwas zurückgeschlagen, und am Nande die Gänsebraten, Hühner und Kalber zur Schau hinrangirt und an den Ecken und Pfostenspitzen des Schlittens malerisch aufgehängt. Die Gänse zerhaut man in ein Dutzend Stücks und verkauft die Hälse besonders, die Beine besonders, die Köpfe und Rümpfe besonders, Alles zu Dutzenden und halben Dutzenden auf Schnüre aufgereiht. Wer zu arm ist, an den Rumpf zu denken, der kauft sich eine Perlenschnur gefrorener Köpfe, und wem die Köpfe zu theuer sind, der spendirt 6 Kopeken an einen Halsekranz, und wer auch für diesen nicht Manns genug ist, der behilft sich mit ein paar Dutzend Pfoten, aus denen er seinen Kleinen eine Sonn« tagSsuppe kocht. Am sonderbarsten nehmen sich die Schlit- Das schwarze Volk. 199 ten dcr Ochsen, Kälber und Ziegen aus. Diese Thiere kommen ebenfalls völlig gefroren zu Markte. Man läßt sie natürlich alle in gestreckter Stellung gefrieren, weil dieß die bequemste für die Handhabung ist. Die langen Gestalten der Ochsen stehen in wunderlich schreckhaften Figuren wie blutige Gespenster mit hoch erhobenen Hörnern um die Schlitten herum, die Ziegenböcke, wie sic leibten und lebten, nur mit mattem, gebrochenem Eisauge, drohend einander gegenüber. Alles ist hart wie Stein. Die Rümpfe werden wie Baumstämme mil der Holzaxt und Sage bearbeitet. Eine besondere Vorliebe haben die Nüssen für das Fleisch der kleinen Milchschweine, deren daher unzählige in ganzen Ncihen von Schlitten auf dem Markte erscheinen. Die klcincn mageren Thierchen, wie Krammetsvögelchen an Schnürchen gereiht, werden dutzendweift verkauft, und die hohen langen Mut. ter stehen noch im Tode bei ihnen um den Schlitten herum Wache. Die Anatomie der russischen Fleischer ist eine sehr einfache. Denn da Alles, Knochen und Fleisch, gleich hart ist, so haben sie keine Veranlassung, auf die Gelenkabtheilungen der Natur Rücksicht zu nehmen. Mit der Sage zerschneiden sie die Schweine in eine Menge einen oder ein paar Zoll dicker Scheiben, wie wir die Würste mit dem Messer. Das Fleisch und der Speck spaltet und splittert dabei wie Holz, und die kleinen Bettlerinnen suchen sich die Fleischspanchm aus dem Schnee zusammen, wie bci uns die Sägespane. Man fordert nicht wie bei uns einen Braten, ein Stück Fleisch, sondern eine Scheibe, ^einen Block, ein Scheit, einen Splitter Fett und Fleisch. 200 Das schwarze Volk. Ebenso ist es mit den Fischen; auch si« sind alle wie aus Marmor und Holz gemeißelt- Die ganz kleinen Zwergfischchen, die „Snitki", liegen in Sacken, und man füllt sie mit Schaufeln in die Wagschale, wie Haselnüsse. Die großen Hechte, Lachse und Hausen, an denen sonst ein jeder Zoll Glied und Gelenkigkeit war, sind nun steif, wie durch Zauber gebannt. Um sie bei plötzlich eintre» tendem Thauwetter vor der Warme zu schützen, — denn das Aufthauen würde ihrem Geschmacke wesentlich schaden — bedeckt man sie mit Schnee und Eisstückchen, in denen sie hübsch kalt liegen. Nicht selten friert die ganze Ladung in einen einzigen großen Kuchen zusammen, aus dem dann mit Zange und Brecheisen die einzelnen Fische herausgearbeitet werden müssen. So lange die starre Winterkalts alles Flüssige gefangen halt und der Schnee jede Unsauberkeit mit weißem Teppiche verhüllt, qeht es ganz schicklich und leidlich reinlich auf diesem Heuplatze her, und es ist fast unmöglich, daß eine nicht schnell zu vertilgende Unreinlichkeit pas-sire. Doch bereitet eben diese Kalte für den Frühling einen Schmuz daselbst vor, dessen Anblick Jedem zu wi-derrathen ist, der sich den Appetit für sein Petersburgisches Diner zu erhalten wünscht. Da die Winterkalte allen Kehricht und allen Abfall sogleich an den Boden fesselt, so ist es unmöglich, den Platz taglich zu reinigen. Es häuft sich daher auf demselben im Laufe des Winters eine solche Masse von Schafsaugen, Fischschwanzen, Krebsschalen, Ziegenhaaren, Heu, Mist, Speckstückchen, Blut u. f. w. an, daß er, wenn der Frühling das freundlich Das schwai-ze Volk. 201 deckende Tuch des Winters abgezogen, elnem wahren Augiasställe gleicht, ohne indeß das Publicum zu hindern, darin nach wie vor zu handeln und zu wandeln, zu speisen und zu trinken. Nur Der, welcher die schmuzigen Fleischbänke in Wien kennt, kann sich einen schwachen Begriff davon machen, welche gefrorene, aufgethaute und wieder gefrorene Braten hier verkauft werden. Doch verdirbt dieß den Mushiks ihren Appetit sehr wenig, und die Speiseverkäufer, die den Markt umgeben, sehen nichtsdestoweniger lustige Zecher in Menge durch den Schmuz sich zu ihnen hinarbeiten. Diese Leute verstehen es vortrefflich, die warmen Speisen bei ihrer Wärme zu erhalten. Sie bedienen sich dazu durchweg des Ein-schlagens in dicke Tücher, die weit weniger als Thon ober Metall die Kälte durchlassen. Alles haben sie in dicke, drei- und vierfache Leinwand gehüllt, sowohl die messingenen Theemaschinen als die irdenen Kartoffeltöpfe. Die Bratwürste holen sie aus einem großen Haufen dicker Lappen hervor, und ebenso haben sie ihre heißen Kuchen und Erbsenbreie (tioroolwvvtii-Iii^ei) mit großer Sackleinwand bedeckt. Es ist interessant, dieß Verhüllungssystem, das die Natur dem Menschen lehrte, bis in's Einzelne zu verfolgen. Selbst wenn er seinen Thee langsam und schluckweife ausschlürft, wirb der russische Bauer das Glas noch mit beiden behandschuhten Handen breit umfassen, damit ihm nicht die überall lauernde Kalte allen warmen Genuß raube. Wie auf der einen Seite die Ssadowaja durch die Reihe der Bücher- und Wachskerzenmagazine zum Trö- 9 * 202 Das schwarze Volk. del- und Victualienmarkte führt, so bringt auf der anderen das östliche Stück des Newskischen Prospectes durch eine Menge an den Seiten kramender Hol;-, Eisen- und Möbelverkaufer zum „Simnaja-Ploschtschad" (Winterplatze), auf dem lebendiges Vieh, Ochsen, Pferde, Bauernschlitten und Wagen verhandelt werden. Die russische „Telege", die man hier auf dem weiten unübersehbaren Felde in vielen tausend Exemplaren vor sich hat, ist ein Wagengebaude von so eigenthümlicher Construction, daß man ohne Zeichnung keinen deutlichen Begriff davon geben könnte. Im Ganzen ist die Gestalt sehr zierlich und vergleichsweise mit den Vauemwagen anderer Gegenden elegant und leicht. Manche Theile sind mit nicht ungeschickter Holzschnitzerei verziert. Der russische Vauern-schlitten ist eine ebenso bewunbernswerthe, leicht und regelmäßig gebaute Composition, wie der Schlitten der Vornehmen; er ist nach hinten breiter als vorn, damit, wenn er in die im Winter so häufigen, tiefen Schneegruben gerath, die Pferde ihn an der vorderen, minder stark be-ladenen Spitze leicht herausheben können; die Kufen bäumen sich vorn außerordentlich hoch empor, damit sie über alle Unebenheiten der Vahn bequem hingleiten mögen. Dabei ist die Form auch elegant, und das Ganze, als blos aus Birkenstammen zusammengefügt, außerordentlich leicht. Von allen Thieren, die der Mensch in seine Dienste genommen hat, wirkt er als Herr und Erzieher auf keine so bedeutend ein als auf die, denen er sein Geschirr anlegte, und die mittels Peitsche und Zügel taglich seinen Das schwarze Volk. 203 Unwillen, seinen Zorn, seine Verständigkeit, seine Sanftmuth und Güte erfahren. Es ist daher sehr natürlich, daß sich der Charakter und, so zu sagen, die geistigen Anlagen der verschiedenen Pferderacen in den verschiedenen Landern sehr verschieden ausbilden. Aber auch selbst auf die körperliche Constitution und den äußeren Habitus der Pferde scheint Manches von den verschiedenen Nationen überzugehen, und dieß erscheint dann allerdings weniger erklärlich und geheimnißuoller. Man denke an das langbeinige, magere, schnelle englische Pferd, oder an das kleinere, seidenhaarige, rundliche, Feuer und Flammen sprühende, eitle und ehrgeizige andalusische, oder an das weiche, zahme, wohl sich nährende, gutmüthige, nücken-und tücken-, aber auch feuerlose deutsche Kutschpferd und vergleiche sie mit den Nationen, mit denen sie dasselbe Vaterland und dieselbe Geschichte theilen, und man wird, je mehr man in den Vergleich eindringt, desto mehr von der Aehnlichkeit des thierischen Clienten und des menschlichen Patrons frappirt werben. Die russischen Pferde, deren man auf dem Petersburger Pferdemarkte beständig so viele beisammen sieht, scheinen in ihrem ganzen Wesen, Benehmen und Verhalten getreue Abbilder der Nation zu sein, in deren Dienste sie seit so langen Jahrhunderten stehen. Wie die Russen, ihre Herren, nicht eben sehr groß und schlank, aber beweglich und gewandt in ihren Manieren, mit langen Mahnen, wie jene mit langen Haaren und Bärten, von zartem Knochenbaue und dabei höchst zäher Constitution, träge im Stalle, aber äußerst willig und thatig, wenn sie vorgespannt find, 204 Das schwarze Volk. unermüdlich im Nennen und bei der schwersten Arbeit noch neckend, bissig und spielend, abgehärtet im höchsten Grade, unempfindlich gegen Kälte, Wind und Hitze, Hunger und Durst mit der größten Geduld ertragend, und bei faulem Strohe zufriedener als ihre deutschen Kameraden bei goldenem Hafer, haben sie doch keine eigentliche körnige Kraft und Energie in der Arbeit, besiegen die Hindernisse nicht, wenn es nicht im ersten Anrennen geschieht, wissen keine Last langsam, aber bedächtig und nachdrücklich zu heben und bleiben im Schmuze stecken, wenn der Verg nicht im galoppirenden Anlaufe erschwungen werden konnte. Man kann dem Russen durchaus nicht Schuld geben, daß er sein Pferd grausam behandle; er erbos't sich selten gegen sein Thier und ver-sä)wendet mehr Schmeichelreden als Drohworte und Peitschenhiebe an dasselbe. Aber er pflegt es auch wenig und verwöhnt es in keiner Weise, eben so wenig wie er von Denen gepflegt und verwöhnt wird, in deren Schule und Zucht er selbst steht. Da man annehmen kann, daß Petersburg wöchentlich eines Zuschusses von 2l)0 Pferden bedarf, um die Lücken in seinen Stallen wieder zu er-sctzen, so kann man sich demnach auch von dem Getümmel der monatlichen und halbjährigen Pferdemarkte alif diesem Platze eine Vorstellung machen. Doch bringen zur Zeit der Nonen des Decembers die todten Thiere hier noch ein weit größeres Getümmel zu Wege als jene lebendigen. Am 6. December nämlich, nicht früher und nicht später, am Tage des heiligen Nikolaus, wo angenommen wird, daß die Schneebahn Das schwarze Volk. 205 für den Winter wohl begründet sei und feststehe *), und daß nun der Herbst mit seinen Stürmen, seinen Regengüssen und seinem untermischten Thauwetter beendigt sei, beginnen alle die bedeutenden Schlittentransporte. Alle Schlitten-Handelskarawanen fahren an diesem Tage aus, und daher auch alle die Vorrathe, die man nahe und fern für die Stadt Petersburg, welche den Herbst über mitunter fastete, aufhäufte, und die nun zu den Nonen des Decembers in unsäglichen Massen zur Stadt kommen, um sie mit Winterprovisionen zu versorgen. Dasselbe Leben, wie es auf dem Heumarkte beschrieben, wie- *) Die Nüssen regeln ihr ganzes Leben und namentlich die verschiedenen Actionen ihres Haushalts nicht nach der Natur, sondern nach gewissen kirchlichen Festen, die ein für alle Mal als die AusgMgspuncte gewisser Verrichtungen feststehen. So z. B. wird das Vieh nicht ausgetrieben, wenn das Gras grün ist, son» dcrn am 17tcn April, am Tage des heiligen Stephan, unter den Segenssprüchen und dem Weihwasser des besprengenden Priesters. Ebenso fangen sie nicht an zu ackern, wenn das Wetter günstig ist, sondern am Tage des heiligen Gregorius, der ein für alle Mal den Acker gut bestellt. Die Acpfcl werden nicht, wenn sie reff sind, gepflückt, sondern im August, am Marienfeste. Ein vorher genossener Apfel könnte leicht wie Gift wirken. Nachher aber schadet selbst das unreife Obst nicht und kann sogar von den Säuglingen genossen weiden, und wenn sie auch danach dic Nuhr br-lommcn und stcrkm, so war es Gottes Wille. ?l,n Dienstage nach Ostern fahren alle „Tschumacks" (Ochsenfuhrlcute des Südens) aus, weil dann die Wege gut sind, und um „Pakrowi" (den «rsten October) kommen sie hcim, weil es nach diesem Fcste draußen nicht mehr geheuer ist. In eben solche ftstc Gränzen, Anfangs- und (Sndpunctc ist nun ouch die Schneehahn des Nordens beschränkt. 206 Das schwarze Volt. derholt sich dann hier auf dem sechsmal so großen Platze m einem vergrößerten Maßstabe. Die gefrorenen Ochsen stehen wie die Baume in einem Walde umhergestellt, die Schweine liegen zu Pyramiden aufgehäuft auf dcm Schnee, und die Ziegenböcke und die Hammel bäumen sich zu Bergen von Fleisch einer über den anderen empor. Es ist dieser Wintcr-Provisionsmarkt dann ein wahres Schau-spiel, das alle Fremden besuchen und dessen sie sich ge--wiß nicht als des uninteressantesten Anblicks erinnern werden. Die großen hölzernen Schoppen in der Nahe dieses Platzes, die für den Verkauf der eleganten Equipagen, der Droschken, Kaleschen, Vritschken und zierlichen Schlitten gebaut sind, — ihre Reihe ist über eine halbe englische Meile lang, und sie sind mit fertiger, bis auf den letzten Stift vollendeter Waare besser verschen als unsere Möbelmagazine mit Stühlen und Fußbänken — gehören gewiß zu dem Merkwürdigsten, was man in dieser Art sehen kann. Auch erscheinen in der Nähe noch manche Waaren in erstaunlichen Quantitäten, die bei uns nur als sehr unbedeutende Nebendinge auftreten, wahrend sie hier einen eigenen bedeutenden Handelszweig constituiren, wie z. B. die Matten. Sie sind in ganz Rußland ein so gesuchter Artikel, daß man einzig und allein mit sehr gut geflochtenen Matten, die wie unsere Tücher zierlich in Pakete und Ballen zusammengelegt werden, ungemein weitläufige Magazine füllt, wo sie on Fi-os und e« zcn Nation sind die hier als Ursachen wirkenden Verhältnisse 212 Das schwarze Voll. auf dem Forum der mächtigen Nowgoroder Republik versammelte, denselben, der Boris Godunow auf den Thron fetzte, denselben, der den falschen Dimitri zerriß und das Haus Romanow erhob, das aus den mächtig gahrenderl und sich entwickelnden Massen dieses „Tschornoi narod" seiner jetzigen staunenswerthen Macht emporstieg. Bei der großen Einheit des russischen Volksstammes, der weniger als irgend einer in charakteristisch gesonderte und markirt geschiedene Zweige zerfallt, der vielmehr sich als eine aus demselben Teige hervorgegangene, conforms Masse darstellt, ist dieser Petersburger gemeine Mann auch wiederum ganz derselbe, den wir auf den Markten Moskaus wie auf denen Odessas wiederfinden, und der sich bis an die Gränzen Chinas und Amerikas, unter allen Himmelsstrichen mit großer Zähigkeit an den von seinen Vorvätern ererbten Sitten hangend und sein Ursprünge liches Naturell bewahrend, bis in die kleinsten Details seines Wesens, seiner Bildung, seiner Manieren, seiner Speisen u. s. w. vollkommen gleich bleibt und auch noch bis in spätere Jahrhunderte hin gleich bleiben wird. Es leidet mithin keinen Zweifel, daß wir uns hier mit dem Wesen einer merkwürdigen Erscheinung, mit den Eigenthümlichkeiten einer uralten, mächtigen Naturkraft beschäftigen, die schon seit der Menschen und der Geschichte Gedenken thätig war, und die, wie es scheint, für die Zukunft wirksam zu sein nicht so bald aufhören wird, vielmehr der Menschheit leider noch immer mehr und mehr zu thun geben möchte. Im Aeußeren haben die russischen „Mushiks" auf Das schwarze Volk. 213 den ersten Anblick ein mehr abstoßendes als anziehendes Wesen. Langhaarig, bärtig, dick bepelzt, schmuzig, lärmend, wie sie sind, schrecken sie den Fremden zuerst zurück und machen ihn fast geneigt, zu glauben, er sahe eine ganze Legion barbarischer Banditen vor sich, die eher zum Morden und Plündern als zu irgend einem friedlichen Werke geneigt wären. Alle Westeuropäer, die in Petersburg landeten und sich zum ersten Male von solchem polternden, scheinbar so rauhen Gesindel umgeben sahen, haben diesen Eindruck erfahren, und ihre Vorstellungen von der Barbarei des Nordens, von der Scla-verei, Unterdrückung und dem Elend der niederen Volksklassen bekamen sogleich ?cben und Nahrung. Und indem er sich an die kaum zurückqehMcne, innere Wuth, welche nach unserer Meinung in der Brust aller dieser „Sclaven" gegen ihre Herren kocht, erinnerte, mochte wohl Mancher im Stillen fürchten: „sollten nicht diese armen „Vrotrinbmkcmer, von Haß gegen alles Wohlgekleidste „entbrannt, auck an dir gelegentlich ihren Muth kühlen „und ihren Rachedurst stillen?" Doch steckt diese anfangs so auffallende Rauhigkeit dem Russen nur in seinem langen, dichten Haare, ln seinem buschigen Barte, seinem zottigen Pelze und seiner lauten, groben Stimme'), und man wird, wmn man es versteht, sich schnell einiger Redensarten seiner Muttersprache zu bemächtigen und einige freundliche Worte an ') AUc Russen haben ein sehr tiefes Organ und einc schr dumpfe dröhnende Stimme. 21.4 Das schwarze Volk. ihn zu richten, alsbald in jedem Mushik cine gutmüthige, dienstfertige und harmlose Natur entdecken. „8ärü»t. wuHe ds2t!" „Guten Tag Bruder, wie geht's?" — „säi-a^vuilj« di,llu!,o!lll2!" „Guten Tag, Vaterchen, Dank sei Gott! Es geht mir gut. Was ist Dir gefällig? Womit kann ich dienen?" Dabei zerschmilzt sogleich das ganze Gesicht in ein schmunzelndes Lächeln, der Hut wird abgenommen, der Handschuh ausgezogen, Bückling über Bückling gemacht, mit eben so vieler Höflichkeit als gutmüthiger Herzlichkeit die Hand ergriffen und bann über Alles mit großer Geduld Nebe und Ant^ wort gegeben, und zwar um so williger, da der gemeine Ruffe sich immer sehr geschmeichelt fühlt, wenn man ihn um etwas fragt, und er sich dann sehr gern zum Lehrer macht. Ein paar Worte reichen oft hin, ihn zu langen Erzählungen und Geschichten zu vermögen. Den Engländern wird freilich sogleich übel, wenn sie an diese höflichen Manieren des gemeinen Russen «denken, weil sie dieselben für ein einfaches Product der Sclaverei und der Peitsche nehmen, mit denen man den Charakter des Volks entwürdigte und scin Selbstgefühl auf Null herabstimmte. Allerdings wird dem Russen die Höflichkeit zuweilen auf nichts weniger als höfliche Wcise gelehrt, doch können wir ihm immer einen Theil davon als ein natürliches und künstliches Verdienst zuschreiben und das.'Ganze, wenigstens wenn wir uns auf dem Heumarkte herumtreiben, gewiß als einen bedeutenden und sehr willkommelien Gewinn in Empfang nehmen. Wie weit die Gefälligkeit im Benehmen des Russen davon Das schwarz« Volk. 215 entfernt ist, blos eine Folge seines Sklavensinns zu scm, kann dem Fremden jede Vegrüßungsscene zwischen zwei gemeinen russischen Bauern lehren, die dabei mit mehr Umständlichkeit und Ceremonieen verfahren als bei uns zwei Gentlemen. Der geringste russische Tagelöhner begrüßt seinen ärmsten „Kum" (Gevatter) auf das Artigste, nimmt vor ihm dreimal höchst ehrerbietig den Hut ab, schüttelt ihm die Hand, nennt ihn Brüderchen, Väterchen, Großvaterchen, sich vielfach verneigend, erkundigt sich auf's Zärtlichste nach seinem Befinden und wünscht ihm Gottes Gnade, des Himmels Segm und aller Heiligen Schutz, ganz ebenso, wie er es bei jedem Vornehmen auch thun würde. Mit der größten Verwunderung hat mancher Ausländer, der in Rußland die geringen Leute so unter ihrer Ruthe gebeugt, so in Anbetung und Erniedrigung vor ihren vergötterten Tyrannen zu finden glaubte, daß sie sich wohl schwerlich unter einander der gewöhnlichsten Artigkeitsbezeigungen würdigen möchten, wohl hundert Mal solche Scenen mit angesehen. „Ixwoll^o!" (Beliebcn Sie!) — „Ixwinihe!" (Entschuldigen Sie!) ist immer das dritte Wort des Nüssen. „Verzeihen Sie! Vergeben Sie! Entschulden Sie mich!" spricht, unzahlige Male seine schmierige NW^e abnehmend, sogar der Bettler zum Bettler, und wenn bei uns sogar der Vornehme es nicht grob findet, wenn man ihn schlechtweg fragt: „waren Sie kürzlich bei Ihrem Bruder?" so würde doch selbst der russische Bauer es für angemessener halten, wenn man die Redensart so abfasse« wollte- „>Vm j.^nMi l>»>^ u wch,,?" (Sie be- 2!.l> Das schwarze Volk, liebten, gestern Abend bei Ihrem Herrn Bruder gewesen zu sein?). Bei uns duzen sich die geringen Leute fast durchgängig in Rußland geben sie sich durchgangig das artige „Sie." Die Vonhommie, die sich in dem ganzen Wesen des Russen ausspricht, contrastitt dabei auffallend mit dem unterthänigen, schmeichlerischen Gleißnerwesen des Polen und anderer Slaven, bei denen man dieselbe glatte Oberfläche findet, und da sich diese Gutmüthigkeit und überschwangliche Freundlichkeit bei den höchsten Standen erhält wie bei den niedrigsten, so ist es eine natürliche Folge, daß die Russen, die zu uns verschlagen wer« den, sich bei uns immer über den großen Mangel an Herzlichkeit und Gutmüthigkeit beklagen, Eigenschaften, derenwegen wir Deutschen doch vorzugsweise gerühmt werden. Ja sogar die russischen Spitzbuben sind gutmüthige, auf der Oberfläche harmlose Schelme, und die ärgsten russischen Despoten sind höchst launige und zutrauliche „Kon« Ildinmos" gewesen. Nichts zeichnet den gemeinen Russen mehr aus als sein Vertrauen zu Gott und seine Religiosität, die er stets bei den geringsten Ereignissen des alltäglichen Lebens zu Tage legt. „NvF «'lei»»!" (Gott mit Dir!), „803 <1l,.^!" (Gebe Gott!), „8la>vn vn^i!" (Ruhm sti Gott!) sind Redensarten, die dem Ohre auf Schritt und Tritt in dem Volksgetümmel begegnen. An der scheinbar unverwüstlichen guten Laune des gemeinen Russen, der -"- so zu sagen — beständig in Gott lebt und webt, chat diese religiöse Richtung gewiß keinen geringen An« theil. Man versuche es und gehe einmal auf den Heu- Das schwarze Volk. 217 markt von Verkäufer zu Verkäufer und befrage einen Jeden, ob er gute Geschäfte gemacht habe, wie fein Handel gehe, so werden „Nuhm sei Gott, gut!" — „Ruhm fei Gott, ganz handlich!" —„Ruhm sei Gott, ich bin zufrieden!" Schlag auf Schlag die Antworten sein. Als ich .'inmal so die Leute fragte, kam ich endlich zu einem kleinen Manne, mit dem ich in folgendes Zwiegespräch verwickelt wurde: „Und Du, was hast Du für Geschäfte gemacht?" — ,,5lgvvll koßu, «8lo!»on pwolw!" (Ruhm sei Gott, hundsgemeine!) — „Wenn es Dir so schlecht ging, warum sagst Du denn doch: Ruhm sei Gott?" — „Gott macht es immer gut, Herr, und ich lobe ihn sowohl, wenn es mir schlecht, als wenn es mir gut geht." Kann man das Christenthum besser verstehen und üben als es bei diesem Russen der Fall war? Es scheint, daß wir Deutschen doch noch hie und da von dm Russen lernen könnten. Ich möchte wohl einmal die Antworten aufschreiben, die ich auf meine Fragen von imincn allzuleicht unzusriedenen und mißmuthigen deutschen Landsleuten auf irgend einem beliebigen Marktplätze erhalten würd.'. Freilich hat die Sache auch ihre Kehrfeite, und wenn dieß Lob Gottes und das Vertrauen zu ihm auf der einen Seite eine Quelle des leichten Sinnes des Russen ist, so ist es auch auf der anderen Seite ebenso eine Ursache wie eine Folge seines Leichtsinns, seiner Indolenz und seines planlosen in den Tag hinein Lebens, und "uf fernere Fragen über die Zukunft, über Gründe, Absicht und Plan erhält man daher eben so oft die wenig befriedigenden Antworten: „Ich weiß nicht, der liebe Gott Kohl, Petersburg. I. 1H ?z8 Das schwarze Volk. weiß es," —- „Gott wird es geben," — „wenn es Gott gefällt," — „Gott ist hoch und allmächtig," — die Einem in den manch faltigsten Echos in die Ohren klingen und in Rußland auf Weg und Steg an Mohammed und den Orient erinnern, so daß man stets in Versuchung kommt, die Nüssen, so zu sagen, für die Mohammedaner des Christenthums zu halten. Die Deutschen halten in der Regel jeden Nüssen für einen Schelm und versichern, daß es unmöglich sei, irgend einen Handel mit ihm abzuschließen, bei dem man nicht auf die eine oder andere Weise betrogen werde. Allerdings muß man zugeben, daß der Betrügereien auf jenen Märkten täglich unzahlige passiven, allein bei dem erstaunlich unbedeutenden Einflüsse der Religion und der Priester auf die moralische Bildung der unteren Volksklassen ist dieß auch sehr natürlich, da die Religion sogar als Deckmantel der schändlichsten Dinge dienen muß und der Beistand der Heiligen bei den unheiligsien Handlungen angerufen wird. Es ist dabei ein sehr großes Wunder, daß doch nicht selten Beispiele der allerpiquan-testcn Ehrlichkeit vorkommen, die selbst bei uns so unglaublich klingen würden, daß es Einem oft so dünkt, als piquire sich die so sehr zum Betrüge geneigte russische Nation zuweilen, auch einmal ein extrafeines Muster der lautersten Uneigennützigkeit und Redlichkeit aufzustellen. Schon viele Andere haben mehre höchst merkwürdige Beispiele dieser Art angeführt, z. B. Storch eines von einer armen russischen Vranntweinverkauferin in Kronstadt, die 6 Jahr« lang den Geldbeutel eines hollandischen Das schwarze Volk. 219 Schiffscapitäns mit 200 Duchten treulich aufbewahrte, in der Hoffnung, daß er wieder einmal im Hafen einlaufen würde, und die, als dieß denn auch wirklich geschah, mit jubelnder Freude dem Eigenthümer sein Geld zurückstellte. Ein ähnliches, noch nirgends mitgetheiltes Beispiel wurde uns bekannt. Eine im WinterMais angestellte Engländerin, deren Tochter in Zarskoje. Sselo erzogen wurde, gab eincm armen „Isdawoi"*) 500 Rubel, um sie der letzteren zu überbringen. Am anderen Tage kam dieser Mensch zu seiner Committentin zurück, küßte ihr die Hände und sagte- „Verzeiht, ich bin schuldig. Ich weiß nicht, wie es zugegangen ist, ich habe Euer Geld verloren und es troh aller Nachsuchungen nicht wiederfinden können. Verfahrt mit mir, wie es Euch beliebt." - Die Engländerin, die den armen Menschen nicht unglücklich machen wollte, schwieg, verschmerzte ihren Verlust und verlor den Mann der in einem anderen Theile des Palais angestellt wurde, später ganz aus dem Gesichte. Nach sechs Jahren endlich trat er eines Tages mit der ftohesten Miene zu ihr und zählte ihr die 500 Rubel, um die er sie durch seine Fahrlässigkeit gebracht hatte, auf den Tisch. Aus die *) Diese Isdawoi sind gemeine Mushlks, deren vicle im kaiserlichen Schlosse als Comiere angestellt sind. Man sicht sie, ,„it allerlei Commissionen beladen, auf steifen, magc«n Pfnden bestandig in allln Straßen Petersburgs und in der Umgegend der Stadt galoppirln. Sie bckommcn anfangs monatlich nur ein paar Rubel Gage, schwingen sich aber spätcr zu Lakaien, Kammerdienern u. s. w. auf und vndcsscrn so allmälig,'hre Lage. 10* 220 Das schwarz« Volk. Frage, wie er sie wiedererlangt habe, erzählte er, daß er sich alle Genüsse versagt und an seiner monatlichen Gage so viel erspart habe, bis er endlich 30l) Nubel zusani-mengebracbt. Da er nun vor Kurzem eine bessere Stelle mit größerer Gage erhalten, so habe er sich im Stande gesehen, zu heirathen. Seine Frau habe ihm hundert Nubel und auch sonstige Kleinigkeiten von Werth zugebracht. Er habe fie überredet, zur Beruhigung seines Gewissens ihre Habseligkeiten aufzuopfern und in einer Lotterie unter seinen Kameraden zu verspielen, deren Ergebniß endlich die Summe von 500 Rubeln vollzählig gemacht habe, die er hiermit als eine Schuld, die 6 Ichre lang ihn schwer gedrückt habe, zurückzahle. Da der ebrliche Mann auf keine Weise dazu zu bewegen war, sein Geld zurückzunehmen, so legte die Engländerin, der ebenfalls Kopf und Herz auf der rechten Stelle saßen, daS Capital auf Zinsen an, als eine spätere Mitgift für sein erstes aus der Ehe zu hoffendes Kind, indem sie so des Kindes Glück auf des Vaters Ehrlichkeit gründete. Ehrlichkeitsstückchen in diesem Genre sind unter den Russen gar nicht selten; ob sie aber den von ihnen alls' gehenden Schelmstücken einst am jüngsten Tage das Gleichgewicht halten werden, wirb Gott entscheiden. Uebrigens ist die russische Art, zu betrügen, eine ganz eigenthümliche; die Russen machen die Sachs gewöhnlich so, daß man ihnen kaum deßwegen böse werben kann. Wenn ein deutsche Landsmann mich betrügt, so kann ich mich des Aergers mcht enthalten, denn er thut es mit dem schlechtesten Gewissen von der Welt; er ist Kenner seiner Waare Das schwarze Volk. 24t hat das volle Bewußtsein der Schändlichkeit seiner Forderungen und hintergeht auf eine schmähliche Weift das Vertrauen, das man ihm als Deutschen schenkt. Der Russe dagegen weiß, daß ihn Jedermann für einen Psif-siciis hält, der es dick hinter den Ohren hat und in seiner lebhaften Phantasie sich gewöhnlich wirklich einbildet, daß seine Waare in der That, wie er immer laut ausschreit „Kumulu^clli^" (die allcrbeßte) sei. Auch hat er keinen Begriff davon, warum man eine Sache sich nicht lieber 4 Mal als 2 Mal über ihren Werth bezahlen lassen solle, und ist daher so unbefangen wie ein Taschenspieler bei seinen Streichen, witzelt, scherzt, liebäugelt mit seinen betrogenen Käufern und preis't Imnn li Nichtsdestoweniger giebt es Zeiten, in denen selbst der Saufer sich ein Gewissen daraus macht, im Verstohlenen zu trinken, und Individuen, die noch nie das Vranntwein-glas an die Lippen brachten, und viele andere, die im Das schwarze Volk. 223 Stillen oder auch In der Kirche öffentlich das Gelübde thun, innerhalb eines gewissen Zeitraumes keinen Tropfen Branntwein zu genießen, welches sie auf das Allerpünct-lichste in Erfüllung bringen. Viele legen sich solche freiwillige Fasten auf eine lange Reihe von Jahren auf und gleichen an Nüchternheit den Kalifen und Aposteln. Doch wie die Extreme sich immer berühren und auch hervorrufen, so zeigt sich wieder auf der anderen Seite die plötzlich ausbrechende, selbst musterhaft nüchterne Leute so häusig befallende Trinkwuth in einem Erschrecken erregenden Maße. Es ist dieß eine in diesem Fache, das in Nußland so äußerst reich an Sonderbarkeiten ist, ganz eigenthümliche Erscheinung. Es ereignet sich nämlich in Nußland oft, baß die ordentlichsten Menschen, die pünctlich ihre Pflichten übten, urplötzlich von einer unwiderstehlichen Sucht nach Branntwein ergriffen werden, und zwar in dem Grade, daß sie dann Monats lang in einem Zustande sind, der sie den Thieren ahnlich macht. Sie behaupten, daß sie sich nicht helfen können, daß der Teufel in sie gefahren sei und daß sie trinken, — trinken — trinken müssen. Sie bitten oft, wie vom Mitleiden gegen sich selbst ergriffen und wie Odysseus bei'm Sirenengesänge, daß man ihnen das verlangte Getränk nicht geben, sie einsperren und hüten möchte. Aber dennoch sprengen sie alle Bande und suchen wie Besessene den Teufel in sich durch Branntwein zu ersaufen. In Kleinrußland namentlich, wo der Branntweingötze vorzugsweise seinen Sitz aufgeschlagen bat, ist diese ganz eigenthümliche Wuth besonders ausgebildet, und es wäre gewiß der Mühe werth, wenn 224 Das schwarze Volk. Kundige einmal alle bei ihr vorkommenden Erscheinungen genau beobachten und zusammen stellen wollten. Die Nüssen nennen diese Krankheit „Sapoi." Die großen Summen, welche das Gouvernement aus dem Branntweinmonopole zieht, die überschwänglichen Reichthümer der „Otkupschtschiks" (Branntweinpächter), die bei ihrem so vielfach schändlichen und betrügerischen Geschäfte regelmäßig zu Krösussen werden, die Hmidert-tauscnde zerrütteter Glücksumstande und zerstörter Lebenscarrieren sind die betrübten Zeugen, in welchem Grade jener Götze in diesem Lande herrsche, zu dessen Altären Alle strömen, um ihm ihr eigenes Lebensglück und ihrer Familien Wohl zum Opfer zu bringen, und nach dessen verführerischen Gaben Alles schmachtet und geizt mit einer Gier, mit einer geilen Lust, die den tiefsten Widerwillen und das innerste Mitleiden des Menschenfreundes mit diesem armen, verführten Volke aufregt. Der arme geplagte Soldat kennt oft kein anderes Mittel, seinen Zustand auf Augenblicke zu vergessen und seinen Geist zu erheitern, als den Branntwein. Die Bettler und die Bettlerinnen flehen mit den eindringlichsten Bitten: „Gebt uns Branntwein, Vaterchen!" — und die Bauern und Diener danken, wenn man ihnen Branntwein gab, so warm wie für eine labende Gottesgabe, und selbst die Weiber flehen mit geilen, lüsternen Blicken darum wie um ein Himmelsgeschenk. In allen den zahllosen Petersburgischen Trinkhausern wurden im Jahre 1827 für 8 Millionen Nudel Branntwein und Liqueure, 1333 aber für ^z Millionen Rubel oder 1M0,U<)0 We- Das schwarze Volk. 225 dro*) Branntwein verkauft. Das giebt auf jeden Einwohner, Kinder, Frauen u. s. w. eingerechnet, jährlich 20 Rubel für Branntwein oder etwa 2^ Eimer. Nimmt man die Kinder, Auslander, Vornehmen, Kranken u. s, w. weg, so kann man daraus schließen, welche unmäßig Branntweintrinker sich unter dem Neste der Gesunde,:, Erwachsenen, Geringen, Inlander, unter dem „Tschor-noi narod" befinden müssen. Die Negierung thut alles Mögliche, um die Bierconsumtion in die Höhe zu bringen und den Branntwein dadurch zu verdrängen. Es ist daher gewiß für jeden Menschenfreund erfreulich, zu hören, daß das Vier in Petersburg immer besser fabri-cirt wird und immer mehr in Schwang kommt. Im Jahre 1827 wurde für 42,000 Nubcl Bier und Mcth vertrunken, 1832 dagegen schon für 700,000 Rubel. Der Branntweinverbrauch in Petersburg nahm in den letzten 4 Jahren in folgenden Progressionen zu: 100, 105, 110, 115, ungefähr ebenso -- etwas weniger stark — als die Bevölkerung, die Vicrconsumtion dagegen in dem Verhältniß der Zahlen: 1, 3, 6, N. Auf jeden Einwohner der Stadt kommt jetzt ein Wedro Bier. Der größte Bierbrauer ist jetzt ein gewisser Krön, dessen Biere so vortrefflich sind, daß sie bereits durch das ganze rus-fische Neich verschenkt werden und daß in Odessa wie in Moskau das „Kronski piwo" (Kron'sche Vier) sehr gesucht ist. Die feinen Branntweine, Liqueurs und Na- ') Ein russisches Wcdro ist etwas weniger als cm Scchs-zchntcl Ohm. 10" 226 Das schwarze Volk. liwken (russische Aufgußbranntweine) steigen Verhältniß-mäßig von allen Branntweinen am stärksten. Im Jahre 1827 wurden davon 2UM0 Wedro consumirt, im Jahre 1836 dagegen 61,000 Wedro, ^- ein Zeichen, daß' der Vranntwemgeschmack sich verfeinert und bei den wohlhabenden Klaffen noch mehr Anhänger gewinnt als bei den armen. So betrübend und beklagenswert!) gewiß in tausendfacher Hinsicht die in Nußland conftmn'rten großen Quantitäten von Spirituosen sind, und so unsäglich heilsam es sein möchte, wenn man dieses Volk allmalig zur Nüchternheit gewöhnen könnte, so leidet es doch auch, wie gesagt, keinen Zweifel, daß die bösen Folgen der Völlerci in Nußland keineswegs so schrecklich und namentlich nicht so grell und beleidigend hervortreten, als dieß bei jeder anderen Nation der Fall sein würde, wenn man ihr jährlich eine ähnliche Quantität von Branntwein in's Vlut schütten wollte. Es ist vielleicht ein allgemeines Naturgesetz, daß alle Mißbrauche da, wo sie stark im Schwange sind, nicht in demselben Verhältnisse größeren Schaden stiften, als sie stärker sind, weil alle Gifte gewisse Gegengifte mit sich führen, und die menschliche Natur sich in verzweifelten Lagen immer auf eine höchst gewandte Weise vom völligen Untergänge rettet. So depravirt die Despotie in Rußland weit weniger, als sie es in jedem anderen freien Lande thun würde, weil sich viele Thcre gebildet haben, durch welche man ihr ausweicht. So drückt die Leibeigenschaft die Leute in Rußland nicht halb so verzweifelt, wie sie die Menschen drücken würbe, Das schwarze Volk. 227 die auf-einmal aus einem freien Zustande in den der Scl.i-verei übergehen müsiten, well die Leute cine große Portion Elasticität, Sorglosigkeit und Leichtsinn mitten ln ihrer Erniedrigung entwickeln und eine Menge von Gegenmitteln kennen, die von dem der Sclaverei Ungewohnten unbenutzt bleiben würden. Ebenso ist es auch mit der Trunksucht, die, wenn sie die Nüchternen befällt, von den ärgsten Folgen zu sein pflegt, während sie bei den daran Gewöhnten durchaus nicht als ein so abscheuliches Wesen erscheint. Jede andere Nation, wenn die russische Despotie und Leibeigenschaft sie in Fesseln legte, wenn solche Betrügereien nnd Schelmereien unter ihr qäng und gebe wären, wenn sie in solcher Finsterniß des Aberglaubens und, der Unwissenheit befangen läge, wenn solche Völlerei und Trunksucht unter ihr herrschte, würde die miserabelste, verworfenste und unerträglichste Nation von- der Welt sein. — Wie bei gesunden, blühenden Menschen jeder A'nsschlag sich sehr störend zeigt, jede Krankheit sich sehr heftig und mit entscheidenden Anzeigen zu erkennen giebt, wie aber im Gegentheil bei Consiitutionen mit verdorbenen Säften vielfache Uebel durch den Körper schleichen, ohne daß es zu einer Erplosion kommt, weil das eine Uebel das andere vertreibt und bekriegt, so treten auch in Nußland die vielfachen Uebel nicht so an's Tageslicht hervor, wie in anderen Ländern. Das Ganze ist von einer trüben Atmosphäre bedeckt, worin sich Necht nnd Nichtrccht nicht so bestimmt unterscheiden lassen. Beseitigt, vertuscht wird überall, und kein Krankheitssymptom wird mit hellem Lichte beleuchtet 228 Das schwarze Volk. und zu deutlicher Offenbarung gezwungen. — Vei uns schreit gleich die ganze Straßenjligend hinter einem Besoffenen her und wirft ihn mit Koch und Schmähwor-ten, woher denn gleich Lärm und Aufsehen entstehen. Dieß geschieht in Nußland nie, und man könnte sich verleiten lassen, aus dem Mangel an Sauf- und Raufscandalen auf eine außerordentliche Nüchternheit zu schließen, bis man bemerkt, baß nur der Mangel an Aufmerksamkeit, welche die Leute der Sache schenken, die Ursache der Täuschung ist. Zu seiner nicht geringen Verwunderung ficht der Fremde oft 2, 3 bis 4 Menschen ganz ruhig und anscheinend bei vollem Verstände neben einander hergehen, bis er auf einmal wahrnimmt, daß die ganze Reihe vor ihm taumelt und schwankt, und plötzlich der Eine oder der Andere alle vier Extremitäten von sich streckt und sich, gemachlich stöhnend, in den Strasienschmuz niederlegt, wo ihn Jeder, der nicht sein Vcuder oder sein Wcib oder ein Polizeidiener ist, liegen laßt. Die Harmlosigkeit, die man dem gemeinen Nüssen, wenn, wie das Sprüchwort behauptet, im Weine, also auch wohl im Branntweine, Wahrheit ist, gewiß in hohem Grade zugestehen muß, verhindert ebenfalls eine Menge roher Ausbrüche und wilder und verletzender Scenen, die der Trunk bei uns hervorruft. Unfere deutschen Trunkenbolde sind grob, polternd und lärmend; die Italiener und Spanier macht der Rausch rachsüchtig und finster, den Engländer brutal und viehisch, den Russen aber leider Gottes im höchsten Grade launig und nachher schläfrig — ich sage: leider Gottes, denn wenn Das schwarze Volk. 292 die Folgen des Uebels sich gleich in grellerem und unangenehmerem Lichte zeigten, so würde auch das Uebel selbst energischer verdammt und unterdrückt werden. In der That ist ein solcher, von Branntwein, Freundschaft und allgemeiner Menschenliebe triefender Ruffe cine der merkwürdigsten Erscheinungen, die ein Psycholog haben kann. Auf der ersten Stufe der Trunkenheit fangen die trinkenden russischen Freunde an zu schwatzen und Geschichten zu erzählen, singen und fallen sich einander in die Arme, sich mit Küssen und Liebkosungen erdrückend. Weiterhin versöhnen sich sogar die Feinde und umarmen sich, unter tausend Freundschaftsversicherungen Haß und Feindschaft abschwörend. Dann werden auch alle Fremde auf das Herzlichste begrüßt, geküßt und geherzt, sie mögen sein, weß Alters und Standes sie wollen. Alles wird „Vaterchen, Töchterchcn, Brüderchen, Mütterchcn und Urgrosimütterchcn" angeredet, und wenn du die Freundlichkeit nicht mit derselben Innigkeit erwiederst, und sie dir Kalte anmerken, so heißt es: „Väterchen, Du zürnest doch nicht, daß wir besoffen sind? Ja, ach Gott, wir sind alle mit einander besoffene Leute. Ach, es ist abscheulich! Verzeihe uns, daß wir besoffen sind. Strafe uns, prügele uns!'- Nun erfolgen neue Umarmungen, sie umfassen deine Kniee, küssen deine Füße und bitten, daß du ihnen ihre Zudringlichkeit verzeihen mögest. Andere Nationen, die alle ihre moralische Kraft in ihrer ausgebildeten Vernunft haben, und dcnen diese gelegentlich durch Spirituosa benommen und geblendet wird, zeigen sich dann inhuman und werden gefahrlich, weil sie 230 Das schwarze Volk. allen ihren Leidenschaften den Zügel schießen lassen. Den Russen dagegen, dessen Vernunft wenig ausgebildet ist und der, wenn er gut ist, es mehr aus einer angeborenen Gutmüthigkeit ist, kann der Trunk auch nicht so entwürdigen. Er zeigt sich als Das, was er ist, als ein sehr der Leitung bedürfendes Kind. Dabei ist es aber doch bemerkenswerth, daß ihn selbst im höchsten Grade der Trunkenheit nicht die ihm eigenthümliche Schlauheit und List verlaßt, die kein Branntwein ersauft, so daß es z. B. sehr schwer ist, einen Russen durch Betrunkenheit zu einem Geschäfte zu vermögen, das gegen seinen Vortheil ist. — Gezanke und Schlagereien, die gewöhnliche Folge des Trunkes bei den Deutschen, sind in den russischen Trinkhäusern seltener, und wenn es in England ein gewöhnliches Heldenstück der Betrunkenen ist, Fenster und Laternen einzuschlagen, so sind diese zerbrechlichen Dinge bei dem russischen Saufaus ganz sicher vor Beleidigungen, nicht aber der Laternenpfahl, an dem er sich den Kopf wund stößt, vor einer Umarmung und einer langen Anrede, die ihm gehalten wird. Allerdings entsieht zuweilen auch Streit und Zank, doch geht es dabei so wenig scharf her, daß ein montirter Engländer gewiß die ganze Gesellschaft zum Schweigen bringen würde. Zum Hause hinausgeworfene Trunkenbolde hört man oft die kindischesten Drohungen und die lacherlichsten Verwünschungen, nicht gegen den Hausbesitzer, sondern gegen sein Haus, seine Fenster, seine Thüren und Thürklinken ausstoßen. Je tiefer der Russe in'S Glas guckt und je höher sein Rausch steigt, desto heller und greller wird die cmi- Das schwarze Volk. 231 lcur 60 1-08«, in der ihm die ganze Welt schwimmt. Zuletzt verliert sich sein Iubiliren in einem beständigen Gesänge, und auf seinem Schlitten liegend, mit sich und allen quten Geistern redend, kommt er am Ende in tie» fem Schlafe auf seinem Bauernhöfe an, wohin fein nüchternes, kluges und treues Pferd den Weg ungeleitet fand. Jede Nation, ihr Zustand und ihre Verfassung müssen in dem Lichte ihr« Eigenthümlichkeit betrachtet werden, und man darf keinen fremden Maßstab dabei anlegen. Aus den oben berührten Umstanden erklärt es sich, warum die Fremden, die unwillkürlich sich selbst an die Stelle der Nüssen setzen, so hart über diese Nation urtheilen, sowie darin auch der Grund der Erscheinung zu suchen ist, daß diejenigen Fremden, welche, unter Nüssen lebend, ihre Fehler annehmen, ohne dagegen in sich die entsprechenden guten Eigenschaften zu finden, noch viel tiefer unter sie hinabsinken und daß z. V. die liederlichen Brüder, die „mlmvnili 8u^«t«", die „I.nmpuci va-Fuduuäi" von Prosession in den inneren Städten Nußlands weit mehr den Deutschen, Franzosen und anderen Nationalltaten angehören als den Russen. Aus der Unmündigkeit, welche sie in der Trunkenheit offenbaren, machen übrigens die gemeinen Nüssen auch in der Nüchternheit kein Hehl. Sie wissen wohl und gestehen es frei, wie vielfach wir Westeuropaer ihnen überlegen sind. Wenn man ihre Waaren und Products tadelt, so sagen sie oft entschuldigend geradezu: „Ach Herr, es ist ja auch nur russische Arbeit. Ich habe es 232 Das schwarze Volk. selbst gemacht. Wie soll cs denn besser sein?! Ja die Deutschen, das wissen wir wohl, die verstehen Alles besser." „ri-ost^u i-udoln" (gemeine Arbeit) braucht nicht nur der in Rußland wohnende Ausländer, sondern auch der Russe selbst für russische Arbeit. Ich fragte einen Korbund Spielsachenhändler, woher seine Waare sei. Die Spielsachen, sagte er, sind „Alomelxkn^a rndow" (deutsche Arbeit), die Körbe „prasl^'n" (gemeine), d. h. russische. Es ist charakteristisch in dieser Hinsicht, daß daS russische Wort „pr«^»," ganz in die Sprache der russischen Deutschcn übergegangen ist, die damit etwas Gemeines, Gewöhnliches bezeichnen." So sagt man z. B. entschuldigend zu einem Fremden! „Sie sindcn bei mir die Hmisemrichtung nicht eben auf elegantem Fuße. Es ist Alles sehr „prostoi." —' „Wir sind Schelme," gestehen die Nüssen oft geradezu, „Jeder von uns sucht den Anderen so viel als möglich zu hintergehen, und ich selbst sage Ihnen offenherzig, nehmen Sie sich vor mir in Acht." Sie machen d.'m Fremden oft die vertraulichsten Eröffnungen und Deutungen über ihre Zustande und schonen sich dabei so wenig, daß man sie, die ihre Gebrechen so gut erkannt haben und so offen eingestehen, für völlig ehrlich halten sollte. „Ach, wir Nüssen sind indolent, wir betrügen, wo wir können, unsere Priester lassen die unerhörtesten Streiche ausgehen, unsere Behörden sind bestechlich wie keine, wir sind nur thätig, wenn es Geld zu gewinnen giebt, die Wissenschaften und die höheren Dinge reizen uns nicht, es sei denn, daß man uns zu ihrem Erstreben zwinge und anhalte. Wir verstehen nichts tüchtig zu machen, Das schwa rze Volk. 23I nichts zum Ende zu bringen und sind in Sinnlichkeit versunken ohne Gleichen." Eben diese Offenheit im Gestehen ihrer Fehler macht es, daß der Fremde oft irre an ihnen wird und nicht weiß, was ec von ihnen denken soll. „Was kosten diese Katharmenpflaumen?" — „Zwei Rubel, Herr! Ihr werdet sie wohl etwas theuer finden, sie sind ganz vortrefflich, achte'französische." — „Ach, du russischer Schelm, das — französische?" — „Ja, ja, ich sage es, achte französische! Nun natürlich, weil ich ein Russe bin, muß cs wohl eine Lüge sein. O die Russen sind Schelme, Herr, das weiß alle Welt. Die Franzosen und Deutschen betrügen nicht, sind lauter ehrliche Leute und haben nichts als gute Waare. Nicht wahr, Herr? — Mein Väterchen, ich gebe Dir den Rath, kaufe meine Pflaumen nicht. Weil ich sage, es sind französische, so sind es keine. Sieh, wir Nüssen lügen, wo wir nur können, und machen uns kein Gewissen daraus. Darum sagen auch die Polen im Sprüchwortc von uns: Das muß ein pfiffiger Mann sein, der einen Russen überlistet. Ja, die Polen haben Recht, glaubst Du es nicht, Herr? Ich bitte Dich, Vaterchen, kaufe mir irgend etwas ab, wähle, was Du willst, nur eine Kleinigkeit, und ich parke mit Dir, so hoch Du willst, Du sollst nicht unbctrogen aus meiner Vude gehen. Hahaha! Ja, ja, die russischen Schelme! Wer sich von einem Russen nicht anführen laßt, der muß ein pfiffiger Mann sein!" Man hört so häufig dic unumwundensten Geständnisse der Art, daß man fast wünschen sollte, die Russen 234 Das schwarze Volk. möchtm lhre Schwachen etwas weniger willig eingestehen, um sich etwas weniger leicht dabei zu beruhigen und nicht am Ende, wie das gewöhnlich ber Fall ist, zu dem Ausspruche zu kommen: „8'ieine«x>" (siehe da, ein deutscher Mann!). Dieser Ausdruck ist mir häusig in Rußland» zu Ohren gekommen und mag in mancher Beziehung für das Verhältniß beider Nationen als charakteristisch betrachtet werden. Wie die gemeinen Russen einen wesentlichen Unterschob machen zwischen Deutschen und ihrcn Landsleuten, 236 Das schwarze Volk. eben so machen es auch die Vornehmen. „8lm«ol>i wi i" < Höre Du!) spricht der russische Edelmann zu einem russischen Schneider, — es wird Alles in Rußland geduzt, was nicht Edelmann oder Ausländer ist, selbst der wohlhabende und reiche Kaufmann, — „pucli kucli!" (komm' her') Miß mir einen Nock an. Sammet zum Kragen, blanke Knopfe, lange Taille. Verstehst Du? — So! Gut! — Aber daß er übermorgen fertig ist! Hörst Du?" —- „«Iiil^Iü," (Ich höre, verstumme und gehorche!) — „Swi'ni!" (Pack' Dich!) — „Mein lieber Herr Meier," heißt es dagegen bet einem „Inostranez" (Aus' lander), „entschuldigen Sie, daß ich Sie zu mir gebeten habe. Bitte, setzen Sie sich. Ich möchte gern einen neuen Rock haben. Was rathen Sie mir, soll ich grünes oder blaues Tuch nehmen? Ich bitte Sie, mir ihn genau nach den neuesten Journalen zu machen, die Sie empfangen haben, und in 14 Tagen möchte ich ihn, wenn es Ihnen möglich ware, gern fertig haben. Ich weiß, Sie haben viel zu thun. Nun wenn es nicht anders sein kann, so warte ich auch 3 Wochen. — Ich danke Ihnen recht sehr. Wie geht es Ihnen sonst? Gospodin Meier, wie steht es mit Ihrer Affaire mit dem Fürsten K. ? Wenn ich Ihnen dienen kann, so sagen Sie es mir. Ich empfehle mich Ihnen beßtens. Nicht wahr, wenn es möglich ist, so bekomme ich den Rock in 14 Tagen? Adieu!" Einem auslandischen Handwerker zahlt man ohne Weiteres, was er ansetzte, und wenn er auch, wie es in Petersburg einige thun, 60 Rubel für den bloßen Das schwarze Volk. 237 Zuschnitt des Fracks berechnete. Bei den russischen heißt es: „Was, zwanzig Rubel willst Dn für diese Kleinigkeit haben? Zwanzig Prügel wirst Du wohl auf der Polizei bekommen! Da hast Du zehn, das ist genug, nimm!" „5lui8<:lm!" (Ich gehorche!) antwortet der arme angedonnerte Schelm und geht, sich verbeugend, zufrieden fort. Wenn man die Russcn die Franzofen des Nordens genannt hat, so ist dieß ein so hinkender Vergleich, wie irgend einer, weil beide Nationen so unendlich viel Verschiedenes in ihrem Wesen haben, daß, wenn man diesen Vergleich für etwas ernster gemeint halten wollte als den des heutigen Moskau mit dem alten Rom, man sich einer eben so großen Täuschung überlassen würde, als wenn man umgekehrt die Franzosen die „Russen des Westens" nennen wollte. Allein cs ist doch etwas dahinter, denn selbst in dem Benehmen des gemeinsten Russen entdeckt man sogleich ein ge-wisses Etwas von Gewandtheit, Savoirfaire und Tour-nure, was man vornehmlich bei den Deutschen entbehrt. Man betrachte nur den Schnitt der gewohnlichen russischen Nationalkleider, und man wird trotz allem Schmuz ctwas vom Cumm<:-l1~ll!ul darin entdecken. Die vierschrötigen Röcke, die man in anderen Landern sieht, bemerkt man hier gar nicht. Selbst unter dem Värenpelze zeigen sich runde und schlanke Formen. Die Taillen t werden, als unser liebes Deutschland, so giebt es auf der anderen Seite wenige, wo mehr gemacht werden als in Rußland. Auf den Märkten wie in der vornehmen Gesellschaft cursitt beständig eine Menge alter und neuer Bonmots von russischer Erfindung, und besonders, wenn es gilt, Jemandem ein Hafenschwanzchen anzuhängen oder ihm eine Narrenkappe aufzusehen, sind sie erstaunlich schnell bei der Hand. Der Deutsche, obgleich er auf die Dauer sie mit seinem Verstande besiegt, und seine Vernunft am Ende über ihren Verstand hinaus kommt*), glaubt sich anfangs ihnen gegenüber immer überschaut und überflügelt, ebenso wie sie ihm bei kleinen Handirungen und Gefchicklichkeiten mit ihren Talenten vorausgckommm zu sein scheinen, wenngleich der Deutsche ihnen stets durch seine Beharrlichkeit überlegen ist und mit seiner gründlichen Arbeit ihnen am Ende den Vorrang ablaust. Die trefflichen Kruilow'schen Fabeln, die ausgezeichneten Klugheitslehren, die sie enthalten, und die schlagenden Vergleiche, von denen sie voll sind, sind unmittelbar aus dem russischen Volksleben gegriffen, und taglich hat *) Vergl. das oben citirte Sprüchwort. 240 Das schwarze Volk. man Gelegenheit, Scenen mit anzusehen, Neben und gute Rathschläge mit anzuhören, wie Kruilow sie in seinen Gedichten, und den ihnen beigefügten Abbildungen giebt. Zum Schlüsse dieser Betrachtung über den Volkscharakter wollen wir daher nur einige der Krui-low'schen Bilder nachzeichnen, die auch noch in man^ cker anderen Beziehung interessant und charakteristisch sein mögen. Der blinde Enthusiasmus, der oft das Wesentliche bei einer Sache übersieht, wird in dem Vuche jenes russischen Aesop in einem Petersburger „Tschinnownik" (niedrigen Beamten) lächerlich gemacht, der seinem Freunde erzahlt, daß er in dem Museum gewesen sei und dort lauter Wunderdinge geschaut habe. „Vögel habe ich gesehen von den wunderbarsten Farben, schöne Schmetterlinge, lauter ausländische, Freundchen, und Mücken, Fllegen und goldene Käferchen, so klein, so klein, daß Du sie kaum mit dem Auge sehen kannst." — „Aber was sagst Du denn zu dem großen Elephanten und dem ungeheueren Mammuth, die auch dastehen, Freund?" — „Elephant, Mammuth, ach potz taufend, verzeihe, Vaterchen, die habe ich gar nicht bemerkt." Auf einem anderen dieser den Fabeln beigegebenen trefflichen Vilder steht ein reicher Besitzer, der einem Gaste seine gepriesenen Musiker vorstellt. „Ich habe die besite Kapelle von der Welt," sagt er, „es sind lauter gute prächtige Kerls. Noch keiner hat mich bestohlen, und keiner von ihnen ist ein Säufer." — „Das mag sein," sagt der Gast, sich die Ohren zuhaltend, „aber bitte, lass' sie Das schwarze Volk. 241 verstummen, denn mit ihrer Musik zerreißen sie mir die Seele." Die Politik der russischen Guts- ober Seelenbch'tzer v.'rräth ein Onkel seinem Neffen in folgender Weise. Er führt ihn in seinen Garten, zeigt ihm seinen Fischteich und erzählt ihm, daß er ihn ganz voll Hechte habe setzen lassen. „Aber, mein Gott," sagt der unerfahrene Neffe, „Onkelchen, die Hechte werden Ihnen ja alle die kleinen Fische auffressen." — „Haha, Narrchen, begreifst Du nicht? Das will ich ja eben; nachher schlachte ich mir die fetten Hechte!" Wie im Gostinnoi-Dtror die Schelme sich unter einander Übervortheilen und betrügen, macht das Gesprach zweier Kupzi deutlich. „Sieh, Vetterchcn," spricht der eine, zum anderen kommend, „heute hat Gott mir geholfen, ich hade für 300 Rubel schlechtes polnisches Tuch verkauft, das kaum die Hälfte werth war, an einen dum-men Kerl von Beamten, dem ich weiß machte, es wäre feines holländisches Gewebe. Sieh, da ist das schöne Geld, 30 schöne rothe Vankozettel, noch dazu nagelneu." —- „Zeige mir die Zettel!" — „Da sind sie." — „Freundchen, sie sind alle falsch! Pfui, Fuchs, laßt Du Dich vom Wolfe so leicht anführen?" Auf eim'M anderen Bilde begegnen sich das Podagra und die Spinne und fragen sich gegenseitig nach dem Wege. — „Ich komme vom Fürsten Andrei Iwano^ witsch," sagt die Spinne, „in dessen Hause ich eine Zeit lang lebte. Aber großer Gott, welch erbärmliches Leben! Der Mann lebt in Saus und Braus, ißt und tt'mlt Kohl, PttciSburg. I. ^ 242 Das schwarze Volk. den ganzen Tag, liegt lange in den Betten und auf gepolsterten Sophas, und seine Bedienten leiden nirgends ein kleines Insectchen, damit es nicht etwa ihres Herrn Ruhe störe. Sie zerrissen meine taglich immer zart gesponnenen Faden', und wenn ick) mein Haus auch Unermüdlich von Neuem bestellte, so lohnte mich doch nur selten eine Fliege, welche leckere Speise man bei'm Fürsten eben so wenig dulden wollte als mich selber. Jetzt bin ich endlich, dieses sorgenvollen Treibens überdrüssig, ausgezogen, um mir eine bequemere Ansiedelung zu suchen." — „Ich komme dagegen aus der erbärmlichen Hütte des Bauers Pawel Ignatiewitsch, wo es mir eben so wenig gefiel als dir bei'm Fürsten Andrei. Der Mann hat den ganzen Tag keine Ruhe und tummelt sich bestandig im ärgsten Winde und Wetter. Kaum wollte ich es versuchen, mich als Gesellschafterin auf seinem Bärenpclze nur ein wenig freundschaftlich an ihn zu schmiegen, so sprang er auf, warf seinen Pelz zur Seite und drosch Getreide oder hieb Holz, daß Einem Augen und Ohren übergingen. Seine Vanke und Stühle sind alle ungepolstert, von hartem Eichenholze, und es ist nicht an die geringste Bequemlichkeit zu denken. Dabei ist Alles unordentlich und schmuzig, und allerlei Thiere fliegen bestandig bei ihm aus und ein. Da bin ich nun endlich, dieses Treibens überdrüssig, ausgezogen, habe allen Bauerwohnungen für ewig abgeschworen, und weißt du was? -— ich will es nun einmal bei deinem Fürsten Andrei versuchen, von dem du mir so viel Gefalli-qes erzählt hast." — „Schwesterchen, ich bitte dich, zeige Das schwarze Volk. 243 mir doch den Weg zum Bauer Pawel, mit dem, wie ich glaube, ich mich wohl vertragen werde, denn er wird ein so kleines Uebel, wie ich bin, wohl in einem Winkel seines Zimmers dulden." Der russische Bauer ist weit davon entfernt, seine Kritik an den Reichen und Großen, von denen er so Vieles duldet, obgleich er es wohl als Unrecht erkennt, zu sparen. Sie bekommen auch in diesen Fabeln viel zu hören. In der einen giebt ein Edelmann seinem leibeigenen Knechte, dcr ihn so eben von einem Baren errettete, Ohrfeigen, indem er ihm zuschrcit: „Du dummer Kerl, warum zerrissest Du des Baren Fell so unvorsichtig mit Deiner groben Axt? Konntest Du ibn nicht behutsam mit einem Steine betäuben oder ihn mit einem Stricke erdrosseln? Was wird mir jetzt das Fell bei'm Pelzkramcr werth ftin? Warte, Du Schelm, ich werde Dir seinen Werth bei Gelegenheit in Abrechnung bringen!" In einer anderen dieser Fabeln macht ein Reicher durch die Zeitungen bekannt, daß er, von Barmherzigkeit und Gottesfurcht bewogen, sich entschlossen habe, reiche Gaben an alle Arme zu spenden und Jeden, der sich an dem und dem Tage melden würde, unentgeltlich zu kleiden, zu speisen und mit allem Nöthigen zu versehen. Er ein-pfangt dafür die Lobsprüche aller Frommen, aller seiner Freunde und Schmeichler und des ganzen Publicums. An dem bestimmten Tage aber ist sein ganzer Hof voll grimmiger Hunde, mit denen sich die armen Bettler vergebens herumstreiten, da ihre argen Zähne Niemanden herzulassen. 11» 244 Das schwarz« Volk. Das Sprüchwort: „was lange wahrt, wird gut," ist durch ein Krummholz dargestellt, wie die russische» Fuhrleute und Bauern es bei ihrem Pferdegeschirre brauchen. Sie bringen dieß ihnen durchaus nöthige Holz dadurch zu Sranbe, daß sie einen jungen Birkenast, ihn sehr allmälig biegend, in einen Nahmen spannen, der ihn nach und nach immer mehr krümmt, und in dem sie ihn dann in dieser Figur bei'm Feuer trocknen lassen. Ein Bär, der das mühsame Verfahren des Bauers be-»dachtet und schneller zum Zwecke zu kommen denkt, biegt mit unwiderstehlicher Kraft «in Holz in seinen Tatzen krumm; aber so oft er es versucht, so oft bricht ihm das .holz in hundert Splitter. Die Schlauheit dcr russischen Mushiks in Umgehung der Gesetze und Vorschriften der Religion übertrifft selbst alle List des Teufels. Es heißt: „Ihr sollt an Fasttagen keinerlei Fleisch genießen, ja nicht einmal Eier sollt ihr am Herde in Wasser kochen, und keine solche Eier gc-niesien." Ein Bauer, der sich an einem strengen Fasttage den Genuß von Eiern nicht versagen will, klopft einen Nagel in die Wand und hangt an einem Drahte ein Ei daran auf, worauf er feine Lampe darunter stellt und dasselbe auf diese Weise gar m^cht. Gegen einen Priester, der ihn dabei attrapirt, entschuldigt er sich damit, daß er gemeint habe, so das Gebot nicht zu verletzen. — „Ach, das hat Dir der Teufel gelehrt!" ruft ihm der Priester mürrisch zu. — Nun ja, Vaterchen, verzeiht mir, ich will es gestehen, es ist wahr, der Teufel hat cs mir gelehrt." — „Nein, es ist nicht wahr!" Das schwarze Volk. 245» schreit der Teufel dazwischen, der ganz unerwarteter Weise bei dem Gespräche zugegen ist und mit herzlichem Lachen, auf dcm Ofen sitzend, d.is pfiffig aufhängte Ei anschaut, „wahrhaftig! ich habe es ihm nicht gezeigt, denn ich sehe in der Tbat diesen Psiss zum ersten Male." „Man weiß doch wahrlich nicht, wie man cS in der Welt anfangen soll, um durchzukommen. Macht man es auf die eine Weise, so mißglückt's, und probitt man's auf die andere, so trifft Einen ebenfalls Unglück," spricht ein Bauer zum anderen. „Vor einem Jahre ging ich eines Abends ein wenig betrunken auf den Boden, und da ich ein brennendes Licht mitnahm und nicht aufpaßte, so sing daS Heu Feuer, und mein ganzes Haus brannte mir ab. Gestern nun gehe ich wieder etwas betrunken auf den Boden, lösche aber mein Licht klüglich vorher aus. Nun tappe ich im Dunkeln herum, und da ich die Vodenthüre nicht bemerke, so falle ich zur Ocssnung hinaus und habe mir nun auf ganz schmähliche Weise den Fuß verstaucht und zwei Zähne eingebrochen. — Ihr seid ein kluger Mann, Wlioxiwi lium (lieber Gevatter), gebt mir nun einen Rath. Soll ich mit ober soll ich ohne Licht gehen?" — „Mein Nath, wli«^n<,i x„m, ist der: Du sollst Dich nicht betrinken." Wie der Russe von den Schriftstellern denkt, können diese auf einem anderen Bilde, auf welchem ein Theil der Hölle dargestellt ist, sehen und sich das zu Herzen nehmen. Es hängen zwei Kessel im Vordergrunde; in dern einen sitzt ein Nauber, in dem anderen 246 Das schwarze Volk. ein böser Schriftsteller. Unter dem Kessel des Letzteren ist der Teufel eifrig beschäftigt, ein großes Feuer zu schüren, wahrend unter dem des Banditen blos trockenes Holz aufgeschichtet ist, und dieser sich einer ganz angenehmen Warme behaglich zu erfreuen scheint. Der Schriftsteller, der den Deckel scines Kessels ein wenig gelüftet hat und darunter weg zum Räuber hinschielt, beklagt sich darüber bei'm Teufel, daß er ihn mehr peinige als einen so argen Spitzbuben; der Teufel aber schlagt ihn auf den Kopf und sagt: „Du warst schlimmer als er, denn seine Sünden und Ucbclthaten sind mit ihm vergangen, Deine Sünden aber sind unvertilgbar geblieben für Jahrhunderte." Auch hie Vermefsenheit der Menschen, das Unmögliche zu erstreben, ist sehr gut persiflirt, sowie zugleich das Vertrauen des leichtgläubigen Publicums zu Schwatzern und Charlatans. Eine geschwätzige Elster hat angekündigt, sie würde mit einem brennenden Schwefelstücke das Meer anzünden, und alle Menschen und Thiere sind hervorgekrochen und haben sich am hohen Ufer und am niedrigen Gestade neugierig umhergestellt. Die Elster fliegt mit dem brennenden Schwefel zum Mcere hin, aber sowie sie damit die Wellen berührt, was geschieht? — das Feuer löscht auf ganz natürliche Weise aus, und das Meer bleibt unverbrannt. „Habe ich es dir nicht gleich vorhergesagt?" bemerkt darauf ein im Vordergrunde stehender Mops seinem Nachbar, dem Schafe. Auch die Esel bekommen ihren Theil, denn sie geben den zum Gericht über den verbrecherischen Hecht versam- Das schwarze Vo',k. 247 melten Thieren den, allgemeinen Beifall findenden Rath, denselben im Wasser zu ersäufen. Mit großem Jubel wird der Hecht zu einem großen, tiefen Teiche gebracht, in welchem er sich dann wohlgefallt, nachdem ihn die Thiere losgelassen haben. Wieder auf cinem anderen Bilde wird gelehrt, baß man bei der Wahl seiner Freunde wohl aufpassen müsse, damit es Einem nicht ergehe wie jenem Eremiten, der mit einem Baren Freundschaft geschlossen. Denn als sich dem Alten im Schlaft eine Vienc auf die Stirn gesetzt, holte sein Freund, der Bar, einen großen Stein herbei und schlug die Biene, damit aber auch den Eremiten todt. Wiederum ein andcr Mal schließen das Schwein und die Katze Freundschaft und verschwören sich gegen die Mäuse. Die Katze bekommt manchen guten Braten dabei, dem Schweine aber fressen die Mäuse den Speck vom Rücken. Der Lügner und sein Sohn kommen auch in diesen russischen Mahrchen vor, doch handelt es sich hier nicht um ein Kalb, sondern nach Art und Sitte der Nation, die wenig Kalbfleisch, aber desto mehr Zwiebeln und Gurken ißt, um die Größe einer Gurke, die so groß fein soll, daß gewiß eine ganze Familie sich davon satt essen könnte und doch noch genug für den ganzen Winter übrig behalten würbe. Die meisten dieser Ideeen, Geschichtchen und Gleichnisse sind national-russiscb und zum Theil auch vom Dichter dem Munde bcs Volks entnommen. Man könnte mit 248 Das schwarze Volk. solchen russischen Geschichten, die in Beurtheilung aller Lebensverhältnisse einen sehr gesunden Verstand beurkunden und den gemeinen russischen Mann äußerst treffend charakterisiren, ein ganzes Vuch füllen. Die Kir ch e n. ,.Zwar Masten, melk' ich. weißt du zu verkünden, Allein der Schale Welen zu ergründen, Sind Herolds Hofgeschäfte nicht." <<)ie Frau von StM, als sie von der Höhe des Kremls Moskau überblickte, wandte sich zu ihren Begleitern und sprach: „Vuilü, liomo lntnre!" — Ihr Ausspruch hat sehr viel Bezeichnendes, und man könnte ihm eine allgemeinere Ausdehnung geben. Die Russen selbst vergleichen sich gern mit jenen Welteroberern des Alterthums, und so viel Eigenthümliches sie auch von denselben unterscheiden mag, so kann man doch nicht leugnen, daß sie in außerordentlich vielen Charakter^ Eigenthümlichkeiten an den Kosmopolitismus der Römer erinnern, unter anderen auch namentlich in einer gewissen Art von religiöser Toleranz. So ängstlich und pedantisch die Russen auch gleich den Römern an dem alten Glauben und Aberglauben ihrer Vater hangen, so leicht dulden sie doch auch 11" 250 Die Kirchen. gleich jenen andere Götter neben den ihrigen, ja beten sogar oft, weil sie wie die Römer denken, daß es doch nicht schaden könne, auch andere unsichtbare Machte zu verehren, eben so ehrerbietig vor den fremden Kirchen wie vor ihren eigenen. Die Hauptstadt der Russen zeigt daher auch wie die der Römer Gotteshauser aller Glaubensbekenntnisse, die frei und ungestört ihren Gottesdienst nach ihrer Väter Weise üben und sich in keiner Hinsicht so, wie im heutigen Nom, wie im deutschen Wien, ja weniger als in irgend einer anderen katholischen oder lutherischen, christlichen oder mohammedanischen Haupstadt beschrankt fühlen. Auf der schönsten Straße von Petersburg, dem Newsky-Prospect, sieht man armenische, griechische, protestantische, römische, unitte und nichtunitte, sunnitische und schulische Bethauftr in vertraulicher Nachbarschaft neben einander, und mit Necht hat man daher dieser Straße den Namen der Toleranz st raße gegeben. Petersburg ist wie Berlin eine Geburt, die unter der Sonne des philosophischen Jahrhunderts groß geworden ist. Im Gegensatze zu Moskau, wie Berlin im Gegensatze zu Wien — beide Stadtepaare bieten überhaupt in vielfacher Hinficht Vergleichspuncte dar — hat Petersburg daher weder so zahlreiche, noch so durch Ansehen und Heiligkeit ausgezeichnete Kirchen, obgleich allerdings die meisten von ihm'n in einem geschmackvolleren Style errichtet sind, in dem neuen russischen Style, in welchem alle Kirchen jetzt gebaut werden und welcher ein Gemisch von griechischer, byzantinischer, allrussischer und Die Kirchen. 251 Neuer europäischer Bauart ist, in welchem aber der alte byzantinische Styl, den man mit dem Christenthums aus Konstantinopel überkam, vorherrscht. Ein Gebäude in Kreuzesform, in der Mitte eine große Kuppel und an den vier Enden vier tleine, enge Kuppeln, die Spitzen mit Kreuzen gekrönt, ein Hauptemgang, mit vielen Säulen geschmückt, und drei Nebeneingange ohne Säulen >— so stellen sich die meisten russischen Kirchen äußerlich' dar, und eben so auch, im Ganzen genommen, die ^0 Kir^ chen Petersburgs, die in zehn Mal geringerer Anzahl in den Straßen der Stadt verstreut sind als die des heiligen Moskau. Dabei ist dort aber im Inneren Alles lichter, heller, einfacher, eleganter, während hier Alles bunter, überladener, dunkler und barocker erscheint. Die größte und schönste aller Kirchen Petersburgs ist die Isaakskirche, deren Aeußercs jetzt vollendet ist, und die nur noch in ihrem Inneren die letzte Ausschmückung, die Trophäen und Heiligenbilder, welche für sie bestimmt werden mögen, erwartet. Diese Kirche steht auf dcm größten freien Platze der Stadt, inmitten ibrer ausgezeichnetsten Gebäude und Monumente, des Winter-Palastes, der Admiralität, des Senatspalastes, des Kriegsministeriums, der Alexandersuule und des Felsens Peter's des Großen. Auf dem Platze, wo sie steht, wurde seit einem Jahrhunderte an einem Gotteshause gearbeitet, gebaut, geändert, emgerissen und wieder gebaut. Eine Kirche von Holz folgte eine Kirche von Ziegelsteinen und dieser der Versuch zu einer Kirche von Marmor, der "ber mißglückte und in Ziegelsteinen beendigt wurde 252 Die Kirchen. Alich diese Halbheit verschwand wieder, und es erschien endlich unter der Regierung des Kaisers Nikolaus die Ganzheit des jetzigen Gebäudes, das nun größtentheilS aus polirtcm Marmor und Granitblöcken zusammengesetzt ist und wohl schwerlich so bald eine noch brillantere Nachfolgerin finden dürfte. — Um der Kirche einen festen Grund zu geben, wurde ein Wald von Masten in das sumpfige Erdreich eingerammt. Vom Boden des oberen Petersplatzes erheben sich breite Treppen, deren Stufen einst den fabelhaften Niesen der finnischen Mythologie zu Sitzen dienten. Denn sie sind auS großen, von Finnland herübergcschifften Granitfelsen zusammengelegt. Diese Treppen führen an den vier Seiten des Hauses zu den vier Haupteingangen hinauf, die von einem prächtigen Peristyle überdacht werden. Die Säulen dieser Peristyle sind 56 Fuß hoch und haben nicht ganz 7 Fuß im Diameter*), lauter herrliche, schöne Granitmonolityen aus Finnland, die lange Jahrhunderte in den finnischen Sümpfen steckten, bis Rußlands triumphirende Macht sie an's Licht zog, rundete, formte, zierlich und als dienende Karyatiden an diesem Tempel aufrichtete. Die Häupter der Säulen sind mit großen prächtigen Capitalern aus Vronce gekrönt und tragen das machtige Gebalk eines Frieses, welches sechs gewaltige fein polirte Felsen-Parallelepipeoen bilden, die sich quer über die *) Es ist genau tmö Maß der berühmten allrinstchcndm Säulen von Vaalbeck in Syrim, nur mit dcm Unterschiede, daß diese letzteren aus drei Stücken zusammengesetzt sind. Die Kirchen. 253 Säulenspitzen legten. Ueber den Peristyle«, noch zwei Mal so hoch als sie — bis zur Spitze des Kreuzes hat das ganze Gebäude 340 Fuß Höhe — steigt aus der Mitte die Hauptkuppel hervor, mehr hoch als breit, nach byzantinischen Verhältnissen. Sie wird von 24 Säulen, ebenfalls blankpolirten Granitmonolithen, getragen, die, obgleich an und für sich Riesen, doch im Verhältnisse zu den unteren Kolossen klein erscheinen. Die Kuppel selbst ist mit Kupfer gedeckt, mit Gold belegt und strahlt glänzend und gülden wie die Sonne über cinem Berge. Aus ihrer Mitte wächst dann noch, als äußeres Ende den Schluß machend und in dem kleinsten Verhältnisse das Ganze wiederholend, eine kleine zierliche Rotunde hervor, die auf dem Ganzen wie eine Kapelle auf dem Berggipfel steht und endlich das krönende und weithin schauende goldene Kreuz trägt. Vier Cam-pancllen, welche der mittleren großen Kuppel ähnlich sehen, stehen rund herum ihr zur Seite, wie Kinder zur Seite der Mutter. Die Kirche der K^san'schen Mutter Gottes, welche an der Perspective liegt, ist ein wahres Monument der so oft ihren Zweck verfehlenden Nachahmungssucht in Nußland. Die Russen wollen in ihrer Hauptstadt Mes vereinigen, und alles Große und Schöne der ganzen gebildeten Welt soll sich darin wiederspiegeln, eine (5opie unserer Akademicen, eine Copie unserer Universitäten und so auch eine (5opie des Peterdoms. Sie erinnert an die großartigen Leistungen des Vuonarottischen Doms in fast komischem Contraste. Es ist ihr Glück, daß sie so weit 254 Die Kirchen. von ihrem Originale entfernt und am äußersten Ende der Welt liegt. Die fremden Beschauer haben daher, während sie alle die zwischenliegenden Landschaften durchwanderten, die Eindrücke des südlichen Originals bereits vergessen und finden nun den nordischen Peterdom zuweilen ganz leiblich bewundernswerth. Wie in Rom führt ein Saulenporticus von beiden Seiten in einem Halbzirkel zu den beiden Eingängen der Kirche. Aber die Säulen sind klein, und dabei erscheint das, was in Nom als nothwendig und in den Umständen bedingt war, hier als ein überflüssiges und unbegreifliches Anhängsel. Wie in Nom dockt eine Kuppel das Hauptstück des Gebäudes. Aber sie ist eng und nach byzantinischen Verhältnissen ausgeführt, und nur wenn Vlumauer in einer Parodie der Schlegel'schen Elegie den Vers aufgenommen hatte, könnte es von ihr heißen: „Prophetisch ersann Buonarotti, wägt« des Pantheons Dom stolz in den Aether hinauf." Der Vuonarotti des Petersburger Pantheons war ein Nüsse, der als Leibeigener geborene Herr W......, einer von den wenigen Russen, die bisher bei einer großen architektonischen Unternehmung den Vorsitz führten. Die Thüren der Kirche sind von Vronce und mit einer Menge ziemlich werthloser Basreliefs bebeckt. In großen Nischen an den Seiten der Kirche stehen kolossale Statuen der Großfürsten Wladimir, Alexander-Newsky, des heiligen Johannes und des heiligen Andreas. Im Inneren der Kirche, das so wenig den Bedürfnissen des russischen Gottesdienstes entsprach, daß man anfangs darin gar nicht zurecht kommen konnte und end- Die Kirchen. 255 Ilch den Hauptaltar nicht der Hauptfa<.-ade gegenüber an der Hauptstelle des Ganzen, sondern in einer Seitenab--theilung anlegen mußte, ist Alles sehr eng und finster, und man kann die hier zusammengedrängten 56 Monolithen, die mächtigen Riesen, die die kleine Bedachung der Kirche tragen, nur bedauern, daß ihrer gewaltigen Kraft nicht eine größere und würdigere Arbeit zu Theil wurde. Abgesehen von diesen architektonischen Mißverhältnissen aber ist die Kirche durchaus nicht arm an manch-faltigem Interesse. Vor Allem fesselt das Silber des Ikonostases (der Bilderwand) das nach Glanz und Me-talllvetth schmachtende Auge der Menschen. Die Balustraden, Thüren und Thorwege des Ikonostascs in den russischen Kirchen bestehen in der Regel nur auS vergoldetem Holzschnitzwerke; hier aber besteht alles Gebalk und Pfosienwerk aus massiven Silber. Sowohl die Pfeiler der Balustrade, welche den geheiligten Platz umgiebt, als auch die Pfosten der drei Thüren des Ikono-stases, ebenso die 2l) Fuß hohen Bogen, welche über dem Altare geschlagen sind, und endlich auch die Nahmen, in welche die Heiligenbilder eingefaßt find, bestehen aus feinem vierzehnlöthigen Silber. Alle Silberbalkcn sind blank-polirt wie Mahagoni und spiegeln mit reizendem Scheine den Glanz der tausend Kerzen, die vor ihnen glimmen, zurück. Ich habe nicht erfahren können, wie viele Centner Silber in diesem Gerüste stecken, doch mögen manche aute französische und deutsche Eßlöffel, tausend Dutzende von Kaffeelöffeln, Hunderte von silbernen Suppenterrinen und Theetöpfen dazu eingeschmolzen worden sein. Denn 256 . Die Kirche». es waren die Kosaken, welche, mit nicht armseliger Beute beladen, aus den Feldzügen von 1^13 und 1814 diese Silbermassen der heiligen Mutter von Kasan zu dem Zwecke, zu welchem sie hier verwendet worden sind, darbrachten. Sie scheinen eine ganz besondere Verehrung für diese Mutter zu haben, welche halb und halb ihre Landsmännin ist; denn Iwan Wassielewitsch versetzte sie von Kasan nach Moskau, von wo sie Peter der Große nach Petersburg brachte. Ihr Bildnis; hangt, mit Perlen und Edelsteinen geschmückt, in der Kirche. Auch war eö vor diesem Bilde, wo Kutusow, der Smolens-kische, betete, als er im Jahre 1812 zur Begegnung des Feindes in's Feld rückte, weßhalb sie denn mit jenen Feldzügen in besonders enger Beziehung steht. Die Petersburger Kirchen sind jetzt bereits alle mit den Trophäen der verschiedensten Volker Europas und Asiens geschmückt, insbesondere aber die Kasan'sche Kirche, die eigentliche Hauptkirche der Stadt, die Kathedrale des Metropoliten. Sie sind an den Säulen aufgehängt und in den Ecken der Kirche errichtet. Man sieht hier Schlüssel von deutschen und französischen Städten, Marschallsiäbe französischer Feldherren und zahlreiche Fahnen der Türken und Perser. Die persischen Fahnen erkennt man leicht an einer silbernen Hand von natürlicher Größe, die st Wie viele ungcmel-dete Heldenthaten müssen bei jeder dieser Fahnen passirt sein! Freilich sehen hier ihre kleinen Adler mit gelüfteten Flügeln, die sie über das große Neich in mißglücktem Fluge ausbreiten wollten, sehr sonderbar aus. Unter den Marschallstäben bemerkt man den des Prinzen von Eckmühl und unter den an allen Pfeilern aufgehängten Stadtschlüsscln die von Hamburg, Leipzig, Dresden, Rheims, Breda, Utrecht und hundert anderen deutschen, französischen und niederländischen Orten, vor deren Thoren einmal cin russischer Trompeter geblasen hat. Nach der Kascm'schen Kirche nimmt zunächst die Perer-Pauls-Kirche in der Festung das größte Interesse in Anspruch. Sie wurde noch unter Peter dem Gro- 258 Die Kirchen. ßen von cmcm italienischen Architekten gebaut und liegt in der Mitte der kleinen Festungsinsel und somit ungefähr in der Mitte der ganzen Stadt, dem Winterpalais gegenüber. Ihr spitziger, schlanker Thurm, ganz dem der Admiralität ahnlich, steigt wie ein dünner Mast 360 Fuß in die Höhe. Dieß ist fast buchstablich zu nehmen; denn di^ letzten i'iO Frß des Thurmes smo so dünn und eng, daß man daran nur wie an einer Fichte hinauf-klettem kann. Als an der äußersten Spitze des Thurmes, an desiVn Ende cm metallener Engel schwebt, vor mehren Jahren etwas zu reparircn war, erreichte ein kühner Arbeiter dieselbe auf folgende mühselige und gefahrvolle Wcise. Er schlug von der letzten Galerie des Thurmes aus einen Haken ein, so hoch, als er auf einer Leiter reichen konnte, warf einen Strick über denselben und hißte sich zu ihm empor. Dann schlug er wieder einen Haken über sich ein, zu welchem er wiederum mit seinem Stricke zu gelangen suchte u. s. w. Um diesen schmalen Thurm, der überall in Petersburg wie eine in der Luft schwebende goldene Nadel gesehen wird — besonders wenn, wie häufig, die unteren Theile vom Ncbcl verhüllt sind —> zu vergolden und wieder zu vergolden, wurden schon 10,000 Ducaten auf seine Oberfläche verwendet. Wie mancher arme Bettler könnte mit diesem goldenen Thurmmantel in n^arm« Wolle gekleidet werden! Von der übrigen Architektur der Kirche ausführlich zu reden, kann man füglich unterlassen, wenn man dem Leser nicht zu hohe Begriffe von derselben beizubringen die Absicht hat. Die Kirchen. 25ft Die Peter-Pauls-Kirche in Petersburg ist die Fortsetzung der Archangclskoi-Sabor in Moskau, insofern jene mit dem Todtenregister der russischen Herrscher da fortfährt, wo diese aufhört. Die russischen Zaaren nämlich liegen in jener begraben bis zu Peter dem Großen, und die russischen Kaiser von Peter dem Großen an in dieser. — Wer die Grabmonumente der polnischen Konige in Krakau, ober die der französischen und englischen Königs oder auch die italienischer Fürsten kennt, dem wird die außerordentliche Einfachheit auffallen, mit welcher die russischen Kaiser ihre Todtenkammern eingerichtet haoen, besonders wenn er dabei die Pracht der Kammern und Zimmer des Winterpalais in Gedanken hat, in denen sie sich bei ihren Lebzeiten bewegten. Die sehr kunstlosen Sarge sind in den unteren Gewölben der Kirche aufgestellt, und über ihnen stehen in der Kirche selbst als Monumente nur einfache, die Sargform nachahmende steinerne Sarkophage, die mit rothen Teppichen bedeckt sind. Auf den Teppichen ist blos der Name des. verstorbenen Kaisers oder Kaisersohnes mit goldenen Buchstaben aufgestickt, z. B.: „Se. Kaiserliche Hoheit der Großfürst Konstantin." „Se. Kaiserliche Majestät Peter I." u. s. w. Oft sind nicht einmal die Namen ausgeschrieben, sondern nur die Anfangsbuchstaben hingesetzt. Hier und da sind noch einige unbedeutende Trophäen hinzugefügt. So z. B. lagen auf dem Sarkophage des Großfürsten Konstantin die Schlüssel einiger polnischen Festungen. Das ist Alles! „So viel Arbeit um ein Othes) Leichentuch?" — Auch Peter III., dem Katha- 260 Die Kirchen. rina bei ihren Lebzeiten diese Stelle versagt hatte, ruht jetzt hier, nachdem Paul beide, Katharinen und seinen Vater, zugleich hier bestatten lassen. Hundert Kanonen, unerschütterliche Bastionen und 3000 Mann vertheidigen diesen geheiligten Raum, dcr nur dann erst von Feinbeshand entweiht werben kann, wenn in Petersburg bereits 'Alles über den Haufen gefallen ist. Die russischen Fürsten sind, so viel ich weiß, die einzigen in Europa, die sich innerhalb der Ringmauern einer Festung begraben lassen. Rund um die Sarkophage her an allen Pfeilern und in allen Winkeln der Kirche sind aus eroberten Fahnen und anderen Spolien Trophäen gebildet, ähnlich wie in der Kasan'schcn Kirche. Besonders Haufen sich auch hier wie dort die türkischen und persischen Feldzeichen. Es liegen hier, wie in einem Museum, sehr viele türkische Commandanten- und Großueziers-Stäbe, gewöhnlich aus Messing oder Silber zierlich gearbeitet in der Art gewisser kleiner Strcitkolben, die im Mittclaltcr gebräuchlich waren, ebenso eine Menge dreifacher Noßschweife türkischer Paschas, viele Insignicn der Ianitscharen und eine Sammlung von höchst wunderlich gestalteten Schlüsseln türkischer, persischer und kaukasischer Festungen. Die persischen Fahnen haben alle jene obenbeschriebene ausgestreckte Silberhand auf ihrer Spitze. Die Fahne selbst ist ein äußerst langes breieckiges Stück doppelten Seidenstoffes, mit Tressen besetzt und in der Mitte mit einem darauf gemalten Panther versehen, über dessen Rücken eine breite Sonne strahlt. Sie sind alle so wohl con- Die Kirchen. 261 servirt wie die türkischen, nur hier und da psiff eine Kugel durch die Sonne, und an einer einzigen nur zeigt man noch die fünf blutigen Fingerspuren des türkischen Fahnenträgers, der sie sterbend vertheidigte. Die persische Sonne und der türkische Halbmond habm sich hier in nicht weniger als 300 Exemplaren vor dem christlichen Kreuze beugen muffen, denn so viele Fahnen soll man hier zählen. Unter dem gottesdiensilichen Gerathe der Kirche befinden sich auch einige von Peter dem Großen, diesem merkwürdigen Genie, aus Elfenbein und Holz gedrechselte Gegenstande aufbewahrt. Es ist unbegreiflich, woher dieser unermüdliche Mann die Zeit nahm, ein gro-sies Neich in allen seinen Theilen zu reformiren, Ca-nale, Mühlen, Fabriken, Provinz- und Gouvernements-Städte zu bauen, ein Heer, eine Flotte, eine Veamten-lvelt zu organisiren, Sckulen, Theater, Universitäten, Akademieen zu stiften und dann nebenher noch solche wunderbar zusammengesetzte Kreuze, Leuchter und Becher aus Ebenholz und Elfenbein zu drechseln und bis in's kleinste Detail jedes Theilchen an ihnen so fein auszuführen und zu poliren, daß jede deutsche Zunft sie als Meisterstücke hatte gelten lassen. Um zu zeigen, wie unbeschreiblich künstlich diese Products find, führen wir nur als Beispiel an, daß der Mittelpunct eines dieser Kreuze mit einer elfenbeinernen runden Scheibe geschmückt ist, auf welcher in Basrelief Christus am Kreuze und die trauernden Frauen dargestellt sind. Von dieser runden Scheibe laufen wie von einer Sonne zahlreiche 262 Die Kirchen. Strahlen aus; jeder dieser Strahlen ist aus Ebenholz gedrechselt, und an seiner Ausschmückung und Verzierung mit allerlei bunten Einschnitten und Figuren eine unsägliche Mühe verschwendet. In der That, man muß staunen über diesen genialen und talentreichen Proteus auf dem Throne,, und wer er auch sei, der an seinem Grabe steht, er wird diesem Menschen Bewunderung nicht versagen können. Wer würde es ihm nicht gönnen, wenn er noch einmal aus seinem Grabe einen Blick thun könnte auf den gedeihlichen Zustand seiner Stadt, die er hier unter unsäglichen Mühen und Beschwerden in den Sümpfen der Newainseln schuf. Aber leider Gottes ist unser Leben so kurz, daß wir in der Regel die Früchte von dem, was wir erfinden, pflanzen und schaffen, nicht mchr geniesien können. — Vielleicht sah Peter prophetischen Geistes schon im Voraus, was hier aus so kleinen Anfängen sich entwickeln würde, doch übertraf dieses Mal, wenn je, die Wirklichkeit gewiß alle Erwartungen selbst der kühnsten Phantasie. Merkwürdig ist das Ikonostas der Kirche. Es besteht dasselbe aus einer Verwebung und Verflechtung aus Holz gedrechselter, übergoldeter und durch einander gemischter Blumengewinde, Aehrenkränze, Tempelnachahmungen , Kapellchen, Engelsköpfe, Heiligenbilder', einer solchen phantastischen Arabeskenfülle, wie sie noch keine unserer neueren, an Arabesken-Compositionen so reichen Künstlerphantasiecn erzeugte. Wie sich in den Urwaldern Amerikas die Lianen bis zu den Gipfeln der Baume hinaufschlingen, so thürmt sich dieses ganze goldene Ge- Die Kirchen. 263 stecht bis in die äußerste Spitze der die Mitte der Kirche überwölbenden Kuppel empor. Unter den griechisch-russischen Kirchen der Stadt thut sich die Kirche beS Smolno»-Klosters hervor, deren innere Ausschmückung vor einem Jahre beendigt wurde. Diese Kirche ist weiter und geräumiger, als die russischen Kirchen gewöhnlich zu sein pflegen, und ihre fünf Kuppeln liegen in schönen Verhältnissen aus einander. Sie sind mit einer indigoblauen Farbe überstrichen und dann mit goldenen Sternen besäet, und ein herrliches, außerordentlich hohes und schön gezeichnetes Eisengitter, dessen Stäbe oder vielmehr Säulen durch eiserne Blumen-und Weinrcbengewinde unter einander verbunden sind, umgränzt die Gehöfte des Klosters, aus dem elegante Birkenbäume und Linden hervorragen. Auf einer kleinen Vodcnechöhuna,, an der Ecke eines Landwinkels gelegen, um welchen sich die von Süden kommende Newa nach Westen herumbiegt, gleicht dieß Kloster mit seiner geheimnißvollen Abgeschlossenheit und mit den reizenden Farben, in die es sich kleidete, einem zauberischen Palaste der Könige aus den 1W1 Nachten. Es wirb weit und breit von der Newa aus, aus den östlichen Vorstädten Petersburgs und aus der ganzen 2 Werste langen Sonntagsstraße, die gerade darauf zuführt, gesehen, und den ganzen Tag über verneigen und bekreuzen sich die betenden Rechtgläubigen in der Nähe und Ferne aus allen Neltgegenden gegen die Kuppeln des Klosters. Seine verschiedenen Gebäude bilden ein großes Ensemble 2s4 Die Kirchen. und sind bekanntlich der Aufnahme und Erziehung junger Mädchen aus dem Adel- und Vürgerstanbe gewidmet, deren das Institut nicht weniger als 500 auf Kosten des Gouvernements und 3l>0 auf eigene Kosten erzieht. Die Kirche des Klosters, die übrigens nicht nur den jungen Damen dient, sondern als Stadtkirche auch dem ganzen Publicum offen steht, hat m ihrer inneren Ausschmückung etwas äußerst Freundliches; man sieht nur zwei Farben darin, die des Goldes, welche alle zu schmückenden Gegenstände verbrämt und umrankt, und die des weißen Gypsmarmors, welcher, blank polirt, alle Wände, Pfeiler und Gewölbbogen überzieht. Viele Ga-lerieen, die an hohen Festtagen illuminnt werden, laufen wie Kränze in verschiedenen Distanzen und in immer kleineren Dimensionen im Inneren deS Doms hcrum. Nicht weniger als 24 riesengroße Oefen von wohlgefälliger Form find in der Kirche vertheilt, um in ihr beständig die Temperatur einer Etudirstube zu erhalten und jeden Eintretenden gleich mit christlicher Wärme zu empfangen. Diese Oefen find wie elegante kleine Kapellen gebaut, so daß man sie anfangs für kirchliches Geräth zu halten verführt wird. Die Geländer, welche das Ikonostas umgeben, und welche, wie wir oben bemerkten, in der Kasan'schen Kirche aus massivem Silber bestehen, sind hier aus Krystallglas zusammengesetzt, und die Pforten desselben bilden Stähz^. welche Weinlaub und Aehrenkränze, "«s übergoldMm LiMn-holze geschnitzt, umwinden und verbinden. Midie-»Bilder des IkonastaseS sind sämmtlich neueren UrsMnges, von Die Kirchen. 265 russischen Zöglingen der Petersburger Akademie der Künste gemalt. Die Gesichter deS Erlösers und der Marie, der Apostel und der Heiligen, die auf den altrussischen Gemälden überall die bekannte byzantinische oder indische Physiognomie auf dem Schweißtuche der heiligen Veronika in der Voisfereeschen Sammlung, nämlich schmale, langgedrückte Augen, braunen Teint, äußerst magere Wangen, einen kleinen Mund, dünne Lippen, feinge« ringelte Locken, eine ungemein scharfe und spitze Nase, die besonders zwischen den Augen an der Wurzel ganz verschwindet, einen sparsamen und in zwei Hälften gespaltenen Bart und einen sehr runden Kopf zeigen , haben auf diesen neueren Gemälden der Petersburger Schule alle die Nationalphysiognomie der gewöhnlichen russischen Kaufleute angenommen, eine blühende Gesichtsfarbe, frische, rothe, volle Wangen, lange Bärte, einen reichlichen, blonden Haarwuchs, große blaue Augen, gestülpte Nase. Es ist merkwürdig, daß die russischen Geistlichen diese Abweichung von der alten, einmal anerkannten und herkömmlichen Physiognomie zugelassen haben; freilich stehen dafür diese GestDMge in sehr geringer Achtung bei'm Volke, das durchaus nur jene alten bestaubten und braunen Heiligen hochverehrt, und das ebenso wenig die neuM thm verstandlichen und zu ihm sprechenden GesichterMHaben will, als es den Gottesdienst in seinem eigenen Dialekte hören möchte, fürM>UdUrchaus der unverständliche altslavonifche bleiben Gan-m ist in allen Leistungen dieser neueren russ^MK»^^.ch^^^,schu^ Alles außerordentlich ide^ U Kohl. PWMDg. i. 12 WE Die Kirchen. alisch; man sieht lauter große, schöne, blaue Augen, lauter untadelige Arme und Beine, wie die Schüler sie in den Acten nach dem Leben malm, lauter himmelblaue Gewander und purpurrothe Mantel. Wenn die Marien am Fuße des Kreuzes weinen, so vergießen sie Thränen so dick, wie „das Meer des Entzückens", die große ächte Perle, welche der persische König in seinem Schatze hat; wenn Lazarus aus dem Grabe ersteht, so sieht seine Leiche und in ihrer Beleuchtung auch jedes Gesicht der erschreck» ten Zuschauer so bläulich bleich aus, als würden sie von einer mit Salz und Schwefel gebleichten Spiritusflamme beleuchtet. — Der Kaiserin Marie, der eigentlichen Begründerin und Wohlthäterin des Klosters, ist ein einfaches Monument in der Kirche errichtet, auch die Kirche selbst ihr zu Ehren der heiligen Marina geweiht. Petersburg hat nur zwei Klöster, dieses Smolnoi-Kloster, welches aber kein eigentliches Kloster ist, denn die 800ve,m,i«e!l -- und dann das Mannerkloster des heilige n Alexander Newskoi. Es ist dieses Kloster jetzt eins der berühmtesten Rußlands, eine Lawra*), und zwar im Range die bMH die beiden über ihr steh. enden sind die DreieinHMs - Lawra bei Moskau und -) „Vawra" werden die heiligsten die Sitze der Metropoliten; die anderen naftir." Die Kirchen. 26? die Höhlen-Lawra in Klew. Sein vollständiger Name ist: „ziexÄnäi-a-Ae^sku^ «wutol^i^kajl, l.av^rn" ^bi« Alexander-Newski'sche heilige Dreieinigkeits^Lawra). Es ist der Sitz des Petersburgischen Metropoliten und liegt cm der Newa am äußersten Ende der Newski'schen Perspective, wo es sich mit allen seinen, in eine große Mauer eingeschlossenen Kirchen, Thürmen, Gärten und Mönchszellen in weitem Umfange ausbreitet. Peter der Große gründ.te es noch selbst zu Ehren des unter die russischen ' Heiligen versetzten Großfürsten Alexander, der in einer großen Schlacht hier die Schweden und Schwertritter besiegte, und dessen Ueberreste in einem silbernen Sarge hierher geschafft wurden. Die Nachfolger Peter's ver^ mehrten das Besitzthum und die Gebäude des Klosters, und Kathar'na ließ seine jetzige Kathedrale bauen, die eine der schönsten Kirchen von Petersburg ist. Zur Ausschmückung ihres Inneren wurden Marmorblöcke aus Italien, Edelsteine aus Sibirien und ächte Perlen aus Persien herbeigeschafft; auch wurde sie mit guten Copieen nach Guido Reni und Perugino geschmückt, und das Altarbild, eine Verkündigung Mariä, ist von Rawbael^. Mengs, oder, wie der uns führende Mönch sagte, von „Arphavle*)." In einer Kapelle hangen auch mehre Gemälde von „Robinsa," d. h. auf Deutsch nicht Robinson, sondern Rubens. H0» ll«Ii,l)l)l) Individuen einer anderen Nation. Viele Engländer sind auch schon in russische Dienste übergegangen und lassen sich's recht wohl darin gefallen. Ich zählte bei meinem Besuche in der Kirche allein zwanzig russische Epauletten an jungen englischen Offizieren. .^'»i-HiLr! sui-Ilier!" bicß cs bintcr mir, als ich, noch im Gange dc6 Eintrittes stehend und die kleine Gemeinde überblickend, diese Zahlungen anstellte. Es war ein feiner, aber ernster und strenger Gentleman, der mich auf die an einem Pfeiler aufgehängten Kirchengesetze aufmerksam machte, nach denen es nicht erlaubt sei, im Gange stehen zu bleiben, und mir dann einen Sitz anwies. Auch dem Kaiser Nikolaus, der diese Kirche cineS Tages besuchte und bei'm Eintritts stehen blieb, hatte er ein Mal sein „kunl,«!-.' lunl^i-.' Vour 5ll!^l^!" zugerufen und ihm einen Platz unter den Uebrigen angewiesen. Eine außerordentlich wohlthuende Ruhe, die gewiß nicht die geringste Nolle beim öffentlichen Gottesdienste spielt und ohne Zweifel 276 Di« Kirchen. noch mehr-als Gesang und alles Andere zur Andacht stimmt, herrschte unter der ganzen Versammlung. Doch konnte uns hier unmöglich Alles gefallen und erbauen. Der höchst einförmige, obgleich nicht mißfällige Gesang -^ es wird dabei nie so geschrieen, wie wohl in manchen deutschen Gemeinden — nimmt den größten Theil weg. Die Predigt selbst ist äußerst kurz, die Art, sie vorzutragen, sehr wenig beredt und feurig. Der Petersburger Prediger stützte dabei sogar zu Zeiten seinen Kopf bald auf bi« rechte, bald auf die linke, bald auf beide Hände, was man gewiß in jedem Kaffeehause schon unschicklich, auf der Kanzel aber bei'm Prediger gewiß im höchsten Grade unpassend und beleidigend finden muß. Die englischen Küster, welche unter der Kanzel sitzen, wiederholen bestandig gewisse Worte des Predigers auf eine so handwerksmäßige Weise und mit einem so näselnden und trompetenden Tone, daß man in der That sich Mühe geben muß, den Ernst der ganzen Action vor Augen zu haben, um nicht von dem komischen Effecte dieser Stimmen zum Lachen gereizt zu werden. Auch ist es sehr sonderbar und gegen die Würde eines Redners, daß der Prediger während der Liturgie so oft seine Kanzel verlassen muß und bald oben, bald unten erscheint und bald am Altare, bald auf der Kanzel ein paar Worte zu sprechen hat. Der deutschen lutherischen Kirchen giebt es mehre in Petersburg, doch würden sie offenbar für die dort ansässigen 40,000 deutschen Protestanten nicht hinreichen, wenn diese so eifrige Kirchengänger wären wie im Vaterlande. Die Petri- und die Annenkirche sind die be- Die Kirchen. 277 deutendsten unter ihnen; doch erscheinen ihre Prediger zu geschmückt auf der Kanzel, besonders mit Orden, deren bunte Farben in unqemein grellem.Contraste mit dem Schwarz ihrer Kleider stehen. Auch herrscht sehr viel Luxus und Prunksucht unter der deutschen Gemeinde. Eines Tages fand ich die Annenkirche ganz mit schwarzem Tuche ausgesch lagen und die Kanzel mit Flor behängen; vor dem Altare waren mehre Kerzen angezündet wie in den griechischen Kirchen, m der Mitte war ein mit Silber förmlich bedeckter Sarg aufgestellt, und vor der Thüre hielten viele zwei- und vierspännige Equipagen und ein ganzes Chor in Schwarz gehüllter Fackelträger, so daß ich verwundert fragte, welcher deutsche Fürst denn hier gestorben sei. „Der Conditor K. von Wassili-Ostrow," bekam ich zur Antwort. Den Fürsten und Herren verzeiht man den Luxus und Aufwand weit eher als den Handwerkern und Emporkömmlingen! denn bci den in Purpur Geborenen ist es etwas Herkömmliches, und sie glauben, baß es nun einmal nicht anders sein könne. Auch wissen sie sich dabei zu benehmen und sind I'd»» N^Iu. Aber bei diesen verbirgt sich das böse Gewissen schlecht, und sie greifen damit anderen Leuten in ihre Nechte. Auch ist es noch erwas Anderes in einer Republik oder in einer einheimischen Stadttommune, wo Alles Theil nimmt, aber hier in Petersburg ist es reiner Egoismus und craffe Prunksucht. In der Fremde gewinnt jede und selbst die unbedeutendste Erscheinung ein ungewöhnliches Interesse, und wenn man einen Fruchtbaum inmitten eines großen Gar- 278 Die Kirchen. tens nur geringer Aufmerksamkeit würdigt, so betrachtet man ihn, wenn er fern von der Ansiedelung auf wüstem Felde erscheint, gewiß um so genauer. Ein solcher Fruchtbaum ist die kleine Herrn huter Brüdergemeinde in Petersburg; sie hat ihren kleinen schmucklosen Bet-saal am Ende der Isaaksstraße, und durch einen freundlichen, hellen Hof tritt man zn ibm ein. Es sind nur wenige, man sagt, kaum 5l) Brüder, welche den Mittelpunkt dieser, Gemeinde bilden; aber der Nuf ihrer From» migkeit und dcr Veredtf^mkeit ihres Predigers erschallt so weit, daß an jedem Festtage sich sehr viele Menschen hier versammeln, Vornehme und Geringe, Deutsche, Russen, Polen und Franzofen. Die Kirche ist immer so gefüllt, daß die Leute an den geöffneten Fenstern auf dem Hofe sich drangen, um am Gottesdienste Theil zu nehmen, und daß der Pfarrer sogar die Thüren seiner anstoßenden Zimmer öffnet, nm die hier versammelten Frommen zu placiren. Da nur die wenigsten der (Gegenwärtigen bei der Gemeinde eingeschrieben sind und sich die Andachtigen zu den verschiedensten, sich gegenseitig-anfeindenden Confes-sionen bekennen, so gewahren sie einen äußerst angenehmen und beruhigenden Anblick, weil sich voraussetzen läßt, daß wahres Bedürfniß zur Geisteserbauung Alle hier vereinigt. Begräbnisse und Kirchhöfe. „Much ado about nothing!" «vin Rußland muß man lebendig sein, um ctwas zu gelten. Wer dort das Unglück hat, zu sterben, mit dem ist es so ziemlich völlig aus und vorbei; denn es ist ein sehr häßlicher Charal'terzug der Russen, daß sie ihrer Todten so wenig gedenken. Sie verehren nur das, was sich gesund und kraftig im Augenblicke geltend zu machen weiß, und kennen nicht die zarte Sentimentalität, mit der andere Völker an ihren Erinnerungen hangen. Das Vergangene ist ihnen vergangen und abgethan, und Herkommen, Gewohnheit und der Vater Sitte haben wenig Einfluß auf thr Leben. Es ist, als wenn ihrem Ianus das in die Vorzeit schauende Gesicht völlig fehle. Sehr selten hört man die Todten citiren, deren Erwähnung sogar für höchst unschicklich gehalten wird. Die Redensarten: „mein seliger guter Mann," oder 280 Begräbnisse und Kirchhöfe. „weiland der Herr N." sind mir wahrend meines Dortsems nie vorgekommen,, und ich zweifle daher sogar an ihrer Existenz im russischen Lexikon. Dieß Alles hindert die Russen indeß natürlich nicht, ihre Todten mit so vielem Trauerluxus als möglich auf ihrem letzten irdischen Gange zu begleiten und sie ebenso mit einer Menge kirchlicher Ceremomeen bei ihrem Abschieds zu entlasten, wie sie sie damit bei ihrer Ankunft auf dieser Welt empfingen.. Die Trauer lobt die Welt, die Cercmonieen füttern die Priester. Freilich soll damit nicht das Unnatürliche behauptet werden, daß nicht auch in Rußland Todesfalle Schmerz erregten, und viele Nüssen nicht auch ein treueres Gedächtniß hatten, als die meisten gewöhnlich zu haben pflegen. Wollen wir Das, was die Russen für ihre Todten thun, vollständig betrachten, so können wir passend das Ganze zerfallen lassen in Das, waS bei der Beerdigung selbst geschieht, und Das, was vorher und nachher vorfallt. Gleich nach dcm Entwichen der Seele kleiden sie den Leichnam an und stellen ihn in offenem Sarge in einem eigens dazu decorirten Zimmer des Hauses zur Schau aus. C's werden viele Lichter dabei angezündet, die Tag und Nacht brennen, und indem die Verwandten, sich ablösend, bei'm Sarge wachen und beten, kommen die Freunde, dem Todten die letzte Visite zu machen. Es ist dieß so bei den Geringsten wie bei den Vornehmsten, und wenn ein Mann in seinem Leben vielleicht nie Besuche hatte, so empfängt er sie gewiß in Menge in den Tagen zwi- Begräbnisse und Kirchhofe. 28l. schen seinem Tode und seiner Beerdigung. In Petersburg starb vor einiger Zeit ein sehr alter Herr, dessen Geburt noch in die erste Halste des vorigen Jahrhunderts gefallen war. Er hatte unter allen Negierungen, die sein Leben beschatteten, bedeutende Stellen bekleidet und empfing daher auf seinem Paradebette Besuche aus den verschiedensten Perioden der neueren russischen Geschichte. Da kamen viele alte Leute, deren Namen langst verschollen waren, während der Verstorbene noch lebte, zum Vorschein und meldeten sich als seine Freunde, alte abgedankte Generale, die zu Elisabeth's Zeiten mit dem Todten Ladetten gewesen waren, Andere, die ihm von Katharinens Regierung her Dank schuldig zu sein behaupteten, wieder Andere, die mit ihm zu Paul's Zeiten die Verbannung getheilt hatten. Auch der Kaiser und der Thronfolger pflegen bei solchen außerordentlichen Todten den Sarg zu besuchen, so wie auf der anderen Seite die Armen eben so wenig fehlen, die vor den Thüren ihren Wohlthater bejammern, und denen dann reichlich gespendet wird. — Auch von freien Stücken kommen fremde Leute, dem Todten ein Gebet zu bringen, denn es hangt ein Heili» genbild vor der Hausthür, welches jedem Vorübergehenden das Haus der Trauer bezeichnet. Die schwarzen Sarge sind bei den Russen wenig gebräuchlich. Den Kindern geben sie allemal einen hübsch rosenroth angestrichenen, den jungen Madchen einen himmelblauen Sarg; für die verheiratheten älteren Frauen ist meistens die violette Farbe bestimmt. Doch sah ich auch einmal eine sehr alte Dame in einem Sarge, der mit 282 Begräbnisse und Kirchhöfe. purpurrothem Sammet überzogen war. Nur die Männer bekommen zuweilen einen schwarzen Sarg, jedoch auch sie häusiger einen von anderer Farbe, gewöhnlich einen brau-nen. Die Armen streichen bloß das Holz mit einer solchen Farbe an, die Wohlhabenden aber überziehen es mit far« bigen Stoffen. In der That hat es etwas viel Freund« licheres und Einladenderes, in einer so bunten Wohnung sich seinen Vätern anzureihen, als in den schleckhaft schwarzen Särgen, die wir haben. — Im Uebrigen ist aber auch bei den Russen die Farbe der Trauer schwarz. Der Baum des Todes und der Trauer ist die nordische Cypresse, die Fichte. Die Armen umgeben schon bei der Ausstellung den Sarg mit Fichtenzweigen, und bei den Wohlhabenden wird der ganze Weg vom Todten-hause bis zum Kirchhofe mit diesen Zweigen reichlich bestreut. Die Straßen Petersburgs, in denen hausig Todte passiren, sind daher fast immer mit diesem Zeichen der Trauer bedeckt. Die Ausstellung dauert gewöhnlich nur zwei oder drei Tage, und es folgt ihr alsdann die Einsegnung des Todten und die Ertheilung des Paffes. Letzteres ist buchstablich zu nehmen. Die Priester legen nämlich dem in der Kirche aufgestellten Tobten ein langes Papier auf die Brust, welches die gemeinen Leute den Paß für den Himmel nennen. Auf diesem Papiere steht sein christlicher Name, das Datum seiner Geburt und seineS Todes. Alsdann ist daraus bemerkt, daß er als Christ getauft sei, daß er als solcher gelebt und vor seinem Ende auch noch das heilige Abendmahl empfangen habe, mit einem Begräbnisse und Kirchhöfe. 283 Worte es ist sein ganzes eurrioulum vilae, das er als grie» chisch-rusfischer Christ geführt hat. — Diese Paßcrthcilung und Einsegnung hat gewöhnlich in der Kirche statt. Der Sarg wird offen dahin gebracht, damit alle Bekannten auf der Straße noch einmal des Antlitzes ihres Freundes ansichtig werden können. Den Deckel tragt man voran. Den Sarg begleitet immer, selbst bel Tage, eine Partie von Fackelträgern mit großen breitkrempigen Hüten und in weiten schwarzen Mänteln. Gewöhnlich folgt ein langer Zug von Verwandten. Den mit Titeln Geschmückten fehlt es natürlich nicht an Pomp. Unter Anderem lassen sie sich alle ihre Orden auf prächtigen Kissen, jeden auf einem besonderen, vorantragen. Da sie gewöhnlich davon eine Menge haben, so bilden schon die Ordensträger allein einen imposanten Anblick. Alle einem Leichenzuge Begegnende nehmen den Hut ab und schicken ein Gebet für den Todten gen Himmel. Sie zeigen so viel Ernst bei einem Leichenzuge, baß sie gewöhnlich erst, wenn sie ihn ganz aus dem Gesicht verloren haben, den Hut wieder aufsehen. Sie erweisen diese Ehre jeder Leiche, der russischen wie der protestantischen und katholischen. In der Kirche wird der Todte wiederum ln Parade aufgestellt und von den um ihn herumprangenden, in Schwarz und Weiß gehüllten, mit umflorten Wachskerzen versehenen Priestern mit Allem versorgt, was er nach 'hrer Meinung für die Reise nöthig hat. Um die Stirn wirb ihm ein Band, das mit heiligen Sprüchen und Heiligenbilbchen bemalt ist, gelegt. In die Hand bekommt 284 Begrübnisse und Kirchhöfe. er ein Kreuz von Wachs oder anderem Stoffe. AlSdanN erhält er jenen Paß. Ja sogar ein Teller mit Speise wird neben seinen Sarg gestellt. Diese Todtenspeise heißt „KulM." Gewöhnlich besteht sie aus einem Teller mit Honig gekochten Reißes, zu einer Art von Pudding geformt. Um den Reiß zu zieren, werden von außen Rosinen hineingesteckt, und oben darauf liegt ein Kreuz aus Rosinen. Die Wohlhabenden nehmen statt der Rosinen kleine Stücke feinen Zuckers. Die Priester sehen es aber gern, wenn die Stücke ein Bißchen groß werden. Denn nach beendigter Ceremonie fällt ihnen diese Speise anheim. Nach völliger Ausstattung des Todten singen die Priester noch eine Todtenmesse, welche in der russischen Kirchensprache „knmcimlu" heißt. Während dieser Zeit nehmen nun die Verwandten den letzten Abschied von den Todten. Alle küssen ihm die Hand, und bei der geringen Classe erfolgen alsdann die traurigsten und beredtesten Anreden an ihn. Wenn ein verheiratheter Mann starb, so überläßt sich die Frau rührenden und äußerst poetischen Ergießungen ihres Schmerzes. Indem sie die Hände ringt und dabei dem Todten immer in's Angesichtschaut, ruft sie bald lauter, bald leiser: „«olxbm^lük mni! vl-u^liolücllik! Ach weh, mein Taubchen, mein Freundchen! Warum hast Du mich verlassen? Habe ich Dir denn nicht Alles mit Liebe im Hause bereitet? Was habe ich verbrochen, daß Du Deine Frau so verstoßen muß.-test? Ach wie saßest Du vor 4 Wochen noch frisch und wohl mit mir unter Deinen Kindern und spieltest mit Begräbnisse und Kirchhöfe. 285 Deinem kleinen dreijährigen Söhnchen Feodor! und jetzt bist Du so todt und still und erwiederst kein Wörtchen Deiner Frau und Deinen weinenden Kindern! Mein Freundchen! Mein Ehegemahl! Mein Hausherr! Erwache doch! Erwache! Habe ich Dich denn nicht immer gepflegt in Deiner Krankheit und Dir Alles gereicht, was Dir nöthig war? O, warum konntest Du denn nicht wieder genesen?" — Unter solchem Jammern ohne Ende wird dann der Deckel des Sarges geschlossen, und die Procession geht zum Kirchhofe weiter. Bei den Vornehmen verwandelt sich natürlich diese poetische laut« Iammerscen« in «ine stillere Trauer. Vor dem Schließen des Deckels treten nur die Geistlichen, Anverwandten und Bedienten u. s. w. herzu und küssen dem Verblichenen unter vielen Thränen Hände und Füße. Vei der Beerdigung selbst verfährt man sehr kurz und läßt den Todten ohne weiteren Gesang in die Gruft hinab, in welche dann ein jeder der Anwesenden eine Hand voll Sand wirft. Dieß geschieht selbst bei den Särgen, die nicht vergraben, sondern nur eingemauert werden. Wenn der Metropolit selbst bci Begräbnissen wichtiger Personen fungirt, so ist Alles natürlich ceremonieller, der Gesang seiner Kapelle herrlich, und das Ausschütten des Sandes geschieht mit kleinen silbernen Schaufeln, die zum Todtengerathe des Metropoliten gehören. Nach der Beerdigung errichten die Armen ein einfaches griechisches Kreuz auf dem Grabhügel. Die Reichen aber lassen sich allerlei Monumente erbauen, wie bei uns. Trauerkleider um einen Gestorbenen an- WG Begräbnisse und Kirchhöft. zulegen, ist nicht russische Sitte und auch jetzt noch nur auf die ersten Classen der Gesellschaft von den Deutschen übergegangen. Die Russen haben selbst das deutsche Wort „Trauer" dafür beibehalten. Die russischen Trauer - Equipagen, in denen die Leidtragenden noch mehre Monate nachher umherfahren, nehmen sich sehr ernst und schön aus, besonders die Lakaien, Kutscher und Vorreiter, die in weiten, mit schwarzem Pelzwerke verbrämten Tuchgewanoern erscheinen, welche in reichen Falten von Sitz und Pferden herabsiießen. An dem Zügelwerk« und den Equipagen wird ängstlich jedes silberne Nägelchen vermieden, und das ganze Viergespann ist so in Rabenschwarz gegossen, daß der König der Unterwelt selber sich keines schöneren und angemesseneren bedienen könnte. Die Inschriften auf den Grabmonumenten ach« men bei den wohlhabenden Kaufleuten ganz dieselbe Art pottischen Geistes, in dem nach unseren obigen Bemerkungen ihre Frauen ihre Elegieen dichten. Vei der Classe der mit Rang und Titeln Versehenen sind dagegen die Inschriften der Grabsteine von der ausgesuchtesten Prosa. Meistens wird darauf mit der angstlichsten Genauigkeit bemerkt, ob der Verstorbene von der vierten, fünften, zwölften oder dreizehnten Classe war. Ebenso werden nicht nur seine Titel, sondern auch alle seine Orden hergezahlt, ja es wird sogar genau bemerkt, ob der Annenorden erster Classe mit oder ohne Brillanten war, ob ihm der goldene Degen ertheilt wurde u. s. w. Wenn Einer keine Titel und Orden hatte, so findet man we- Begräbnisse und Kirchhöfe. 287 nigstens die Classe bemerkt, wie z. B. „Tscherkowsky, Edelmann der zwölften Adelsclasse." Den Kirchhof des AlexlMder-Newky-Klosters und be, sonders viele Kirchhöfe der Moskau'schen Klöster, auf denen sich die Monumente dcr Geschiedenen um die Kirchen und Bäume herum gar anmuthig schaaren und gruppi-ren, ausgenommen, ist sonst der gewöhnliche Schlag der russischen Kirchhöfe ungemein wüste. Meistens sind es große Felder, auf denen sich die faulenden Kreuze und die verfallenden Grashügel in's Unabsehbare hinaus er« strecken, ohne Baume, ohne freundliche Anlagen, und in dieser Hinsicht contrastiren die Russen nicht nur mit den Westeuropaern, sondern auch mit den Türken und Tataren zu ihrem Nachtheil gar sehr. Je weniger mit Blumen und Garten, desto mehr sind sie mit kirchlichen Ceremonieen bei der Hand. — An dem Jahrestage eines geliebten Verwandten versammeln sich daher die Angehörigen wiederum in der Kirche und lassen seiner Seele eine „Pamchida" (ein Todten« gebet) lesen. Man kann solche Panichiden — je nachdem — zu 5 bis 25 Rubeln haben. Bei diesen Gebeten darf dann auch wieder nicht, wie am Sterbetage selber, das Rosinen- und Reißgericht Kutja fehlen. Wie damals, essen auch jetzt alle Anverwandte eine Rosine mit ein wenig Reiß, und der Rest fällt an die Priester. Vornehme stiften auch eine ewige Lampe bei den Gräbern ihrer Todten und lassen wohl lange Jahre hindurch alle Wochen diese Panichiden wiederholen. Endlich wird auch noch alle Jahre ein Mal an einem bestimmten Tage, 238 Begrübnlsse unb Kirchhöfe. dem Montage nach Ostern, ein Gottesdienst und eine Mahlzeit für alle Todte gehalten. Unter den Petersburger Kirchhöfen sind die bedeutendsten der „Smolenskische" auf Wassili - Ostrow, der „Ochta'sche" bei'm Dorfe Ochta, der „Wolkow'sche" nicht weit vom Newsky - Kloster und dann für die vornehme Welt der Kirchhof dieses Klosters selbst. Es sind ungeheuer große Felder, auf denen schon mancher Entschlummerte seine Ruhestatte fand. Man kann annehmen, daß, so lange Petersburg existirt, imDurchschnitt jährlichwenigstens 5VU0 Menschen hier beerdigt wurden. Es mögen daselbst also bereits nicht weniger als 7W,UW Graber gegraben worden sein. Wenn es mit der Bevölkerung von Petersburg in demselben Verhältnisse fortgeht, wie es seit dem Beginn dieses Jahrhunderts gegangen ist, so wird die Stadt am Ende desselben über eine Million lebendiger unb zwei Millionen todter Einwohner zahlen, und die Gottesacker und Kirchhöfe der Newa-Inseln werben dann mit den berühmtesten Friedhöfen der Welt in die Schranken treten können. Der größte von allen ist der Wolkow'sche; obgleich zu ihm nicht der nächste Weg aus dem Mittelpuncte der Stadt durch die Newski'sche Perspective führt, so machen doch die meisten Leichenzüge mit all ihrem Pomp diesen Umweg, um sich auf dieser Straße, der belebtesten der Stadt, dem Publicum zu zeigen, wie die römischen Triumphzüge auf der Vin «no,'«. Die „lia^nim^a Mitna" jst die letzte Straße der Swbt, welche dann in gerader Linie zum Kirchhofe führt. Diese Straße ist auf beiden Seiten Begräbnisse und Kirchhbfc. W9 ausschließlich mit den Ateliers und Boutiquen der Stein-Hauer besetzt, in deren Gehöften man eine Menge von Graniten aus Finnland und den Dudershöf'schen Bergen, sowie sibirische Marmorblöcke, aus denen sie Kreuze, Urnen, Spulen, Sarkophage und andere Monumente verfertigen, aufgehäuft sieht. Die Neihe dieser Gravurnen-Ateliers wächst mit jedem Jahre, da die Bevölkerung und ihre Cultur, von welcher die Monumentensucht einen Theil ausmacht, mit jedem Jahre ebenfalls wachsen. Der Kirchhof selber besteht aus drei Hauptabtheilungen; die größte ist den rechtgläubigen Nüssen bestimmt, die zweite, auf jeden Fall die erbaulichste, den Deutschen, unter deren Namen aber auch die anderen Fremden mit begriffen sind, und die dritte kleinste den Petersburger Alt^ gläubigen, die sich immer wie die Juden auf eigenen Feldern beerdigen lassen und durch hohe Mauern absondern. Im Bereiche des Kirchhofs befinden sich mehre Kirchen und Kapellen, da nach russischer Sitte die Kirche von dem Gottesacker unzertrennlich ist. Die Russen haben sich auf einem weiten, freien, unheimlichen Acker zerstreut, die Deutschen dagegen sich in ein kleines benachbartes Vir-kenwaldchm hineingeflüchtet und sich hier hübsch unter Blumen und Gartenanlagen gebettet, aber auch ihre Mo^ numente mit Inschriften versehen, die durchaus an den Styl der Todesanzeigen des Dresdener Anzeigers und des Bremer Wochenblattes erinnern, z. B. mit fol^ genben: „Hier ruht des kaiserlich russischen Hofjuweliers Carl O. wohlselige Gemahlin. Kohl. Petersburg. I. 13 290 Begräbnisse u>,d Kirchhof«. „Ick fühl's, was ich mit ihr verlor, „Was sie mir war, die Gute. „Wie kam sie jedcm Wunsch zuvor „Mit immer heit'rem Muthe!" „Hier ruht bis an den Tag der großen Ernte die Hülle des Herrn Collegienraths C. von der sechsten Classe." „Hier ruhen die irdischen Ueberreste des Herrn Herrn v. K., kaiserlich russischen Staatsraths und Inhabers des Annenordens dritter Classe und des Ordens des heiligen Wladimir vierter Classe." Die meisten Monumente sind auf diese Weise zu, qleich Monumente der Trauer und der Albernheit der guten Leute. Ist es nicht, als ob die Menschen hofften, daß sie am Tage der Ernte, mit allen ihren Orden ssischmückt, aus der Gruft wieder erstehen und sich vor dem lieben Gott nach den vierzehn Classen der russischen Rangordnung rangiren würden. Am hübschesten und kürzesten hatten sich in der Regel die Franzosen gefaßt, z. B.: „Ombre eheri, rcgoie nos hommages." Der deutsche Todtengraber sagte uns, er empfinge taglich wohl 2 bis 4 Leichen aus der Stadt, und im Jahre wohl 800 bis 10N0; an diesem Tage habe er erst zwei empfangen, den kaiserlichen Hofbereiter B. aus Bernburg und den Herrn B------t, welcher eine lateinische Inschrift erhalten habe: „Natus est Andreas B . .. tus Ufflngiae in Bavaria Die 9. Novembris 1794, obiit Die 2. Mart. 1837. Begräbnisse und Kirchhöfe. 291 Ucberhaupt, fügte er hinzu,- hielten sich die Leute in der Stadt bei dem schönen Wetter in diesem Frühjahre sehr gut, im vorigen Jahre habe er um diese Zeit schon zwei Mal so viel beerdigt, wegen des schlechten Wetters. Auf dem Kirchhofe der Altgläubigen hatten die Gräber gar keine Titel und Inschriften, sondern nur einfach« Kreuze, an welche mit ganz kleinen Buchstaben der Name des Verstorbenen angeschrieben war nebst einem Spruche aus der Bibel. Auf dem Kirchhofe der Rechtgläubigen sahen wir die Todtengräber mit langen eisernen Stangen den Voden untersuchen, um zu sehen, ob auf der Stelle, wo sie ein neues Grab aushöhlen wollten, noch ein Leichnam läge. Am beßten gefiel uns am Eingänge des Kirchhofs ein kleiner, für die Armen errichteter Schoppen, in dem auf hölzernen Bänken, gegen die Rauhheit der Witterung geschützt, viele von ihnen saßen, um die bei den Begräbnissen üblichen Spenden von den Leidtragenden in Empfang zu nehmen. ' Der vornehmste Kirchhof in Petersburg ist der des Newski'schen Klosters. Die Klöster haben in ganz Rußland das Glück, das edelste Blut des Reichs innerhalb ihrer Mauern zu sammeln; früher war es sogar Mode, baß man sich auf dem Todtenbette noch als Mönch oder als Nonne einkleiden ließ, und daß so in ganz Rußland eigentlich nur Mönche und Nonnen starben, so weltlich auch sonst Manche gelebt haben mochten. Auf dem Newski'schen Kirchhofe ruhen nur solche Leute, die man früh« an der Spihe der Armeen, oder im Reichs- 13* 292 Vegräbinssc und Kirchhof«. ^ senate und am Hofe sab, Feld marschalle, Generalgouverneurs, Senatocen, Metropoliten und Erzbischöfe, theils in den Kirchen und Gewölben des Klosters selbst, theils auf einem kleinen Kirchhofe in der Nähe desselben. Die Räume sind hier schon alle außerordentlich gefüllt, und der kleine Kirchhof ist so dicht wie ein Aehrenfeld mit Grabmonumenten besetzt, und doch zieht noch alle Tage die qrosie Newski'sche Perspective ein prachtiger Leichenpomp nach dem anderen herab, der hier für eine neuverblichene Excellenz ein Plätzchen sucht, und wenn die Russen fortfahren, so products in Excellenzen, Ministern, Marschallen, Etaatsrathen, Generalen und Hofdamen zu sein, wie bisher, so wird den Lebendigen die Auflösung der Gestorbenen nicht rasa) genug gehen, und man wird sich wohl genöthigt sehen, der Natur durch Kunst entgegenzukommen. Die Platze im NewSki-Kloster sind daher auch, wie man sich denken kann, nicht wenig theuer; man zahlt dafür 1000 bis 6000 Rubel, und eine ganze vollständige Beerdigung in diesem Kloster mit allen den nöthigen Equipagen, Uniformen, Festivitäten und Geschenken an den Metropoliten und die Geistlichkeit verzehrt nicht selten ein Capital von 20,000 Rubeln. Das Kloster zieht seine Haupteinkünfte aus diesen Beerdigungen, und es ist wahrscheinlich, daß sein hundert Schritte breiter und zweihundert Schritte langer Kirchhof das einträglichste Landgut in ganz Rußland ist. Obgleich manche Monumente des Newski-Kirchhofes allerdings recht hübsch sind, so laßt sich derselbe doch in keiner Weise mit dem k^e I.aoll»iso in Paris vergleichen, Begrübm'ffe und Kirchhöfe. -93 Weber in Bezug auf Das, was die Kunst hier gethan Kat, noch auch, wie natürlich, in Bezug auf die großen Erinnerungen, welche ihn umschweben. Schon der beschrankte Naum verhindert es, daß die Monumente sich wohlgefällig ausbreiten und darstellen können. Es ist, n ein üler ciner Urne trauernd 294 Begräbnisse und Kirchhöfe. dehnendes Weib, in der anderen einen betenden Mönch wie in einer Einsiedelei, in der dritten einen wie in einer Höhle des Libanon beigesetzten Sarkophag. Als hübsche Anspielungen und Hindeutungen enthaltend, bemerkte ich einen Felsen, auf dem ein Kranz wurzelte, einen anderen öden Felsen, von dem sich die Psyche flatternd zu erheben suchte, und einen kleinen Verg, auf dem eine Menge weinender Engel versammelt war. Auf einem anderen Grabsteine hatte sich die Mutter des verstorbenen Kindes ihre eigene Statue aus Marmor errichten lassen, ihr Kind im Sarge vor sich und sie selbst weinend darüber hingeworfen. Wieder auf einem anderen war eine ganze Marmorgruppe weinender Söhne, Schwiegertöchter und Enkel versammelt; über ihnen schwebte ein Engel, der das in einen Rahmen gefaßte Portrait ihres Vaters gen Himmel emportrug. Das einfachste Denkmal hatte der größte der hier liegenden Männer, Suwarow, in einer der Kirchen des Klosters, die dem heiligen Lazarus gewidmet ist, erhalten. Ein völlig schlichter, viereckiger Marmorstein deckt das Grab, und auf einer messingenen Tafel an der Wand stehen die Worte: „8<1^ Ii!Mt 8uwuro>v" (hier liegt Suwarow). Der Voden der Kirche ist mit Eichenholz parquetirtj über ihm in den Gewölben ruhen die Leichen, darüber liegen als Theile des Bodens die Monumente und Leichensteine, und dann sind zur Seite an den Wänden für jedcn Todten noch kleine, gewöhnlich von oben bis unten vergoldete Nischen angebracht, welche, kleinen Kapellen ähnlich, Heiligenbilder und ewig brennende Law- Begräbnisse und Kirchhöft. 295, pen enthalten für die Narischkins, die Vettern dcs Kaisers, für die Dolgorukis und Woronzows, die sich noch aus Rurik's Blute zu stammen rühmen, und für all das übrige gräfliche, fürstliche und halbkaiserliche Blut Summa Summarum aber muß man gestehen, daß alle diese Petersburgischen Denkmäler es an Pracht und Kunst durchaus nicht mit Dem, was man in anderen Landern auf dem Sammelplatze der verstorbenen Großen sieht, aufnehmen können. Die Mon n m e n t c. ..Auf grostcn und auf kleinen Wvucken ..Steh'n vie^gest^ltcle Nl'pomuckcn, ,,Von Erz, von Hclz, gemalte von Stein, ..Kolossisch hoch, und — pllppisch kkin," H^s ist bemerkenslverth, baß weder Wien noch Berlin, weder London noch Paris — lauter Städte, die jetzt bereits seit langen Jahrhunderten die Mittelpuncte, eines vielbewegten Völkerlebens sind und die Schauplatze von manchen außerordentlichen, auf die Menschheit des Mittelalters wie der Jetztzeit mächtig einwirkenden Begebenheiten waren — verhaltnißmaßig so viele Monumente haben, wie das so junge und unhistorische Petersburg. Die zahlreichsten und zum Theil großartigsten Monumente der Neuzeit errichtete Petersburg. Felsen, Säulen, Obelisken, Statuen, Triumphpforten schleppte es in seine Thore, man scheute keine Mühen und Kosten, um diese Monumente prächtig Die Monumente. 29? auszustatten, und die vorzüglichsten Künstler wurden bei dm Entwürfen, Zeichnungen und Aufstellungen zu Rathe gezogen. Die interessantesten und größten Monumente Petersburgs sind jetzt die Alexandersäule, der Petersfelsen, der Rumanzow'sche Obelisk, die Bildsaulen Kutusow's, Varklay de Tolly's und Suwarow's, die Reiterstatue Peter's des Großen und die Triumphbogen*). Wenn man die Liste dieser und der anderen russischen Monumente durchsieht, so ist es gewiß nicht wenig auffallend, daß weit mehr Denksteine für Begebenheiten und ausgezeichnete Unterthanen darunter zu finden sind al>^ für die Kaiser selbst. Im Gegensahe mit den romischen Imperatoren und mit so vielen anderen neuen und alten Fürsten, haben die russischen Kaiser bei ihren Lebzeiten alle eine gewisse Abneigung gegen Errichtung von Monumenten zu ihrer eigenen Ehre gezeigt. Fast alle ruf-fischen Monumente beziehen sich nur auf Begebenheiten und dabei thätige Unterthanen, wabrend der einzige Kaiser, der bisher durch Bildsäulen verherrlicht *) Die neumodige Munumentensucht, drr übrigens gewiß tine der Iobcnswc>thestcn L^fN'ebungcn zum Grunde liegt, har auch Rußland fortgerissen, und es hat, in seiner Geschichte for: schend, eine Menge merkwürdiger Männer und Ereignisse aufgefunden, die es eines Denksteins werth hielt. Solche russische Monuinmte außerhalb Petersburg sind d<« Pyramide auf dlm Schlachtfclde von Borodino, die Säule zum Andenken an die Schlacht vlM Poltarva, die Ciegcsgottm für 1813 in Riga, dic Bildsäulen für den Fürsten Poshmsli und den Bürger Minin in Moskau, mehre Monumente in Zarskoje'Sselo und an cinigcn anderen Orten. 15" 2V8 Die Monumente. wurde, Peter der Große ist. Selbst die eitle und stolze Katharina hat weder in der Hauptstadt, noch sonst irgendwo ein ihr huldigendes Denkmal. Die Mehrzahl der russischen Monumente bezieht sich auf die drei Hauptepochen der Geschichte Nußlands, auf die Zelt der Er-Hebung der Romanows und der Freimachung vom pol« nischen Joche, — ihr sind die Denkmaler Minin's und Posharski's und einige andere gewidmet, — auf die Zeit Peter's des Großen und die Abweisung des schwedischen Uebergewichtes, ^ ihr widmen sich die Denkmäler von Poltawa, die Statuen Peter's des Großm u. s. w< — und endlich auf die Zeit der Kampfe gegen die französische Revolution und Napoleon ober vielmehr gegen den ganzen europäischen Westm, — auf sie beziehen sich die Pyramide zu Borodino, die Siegesgöttin von Riga, die Alexanbersaule, die Statuen einer Reihe von Generalen. Entschieden die imposantesten Denkmaler der Stadt sind die Alexandersäule und der Petersfelsen. Ueber beide ist schon so viel in Zeitungen und Neisebeschreibungen geschrieben worden, daß man sie trotz der Größe ihrer Massen ganz unter Lob und Tadel begraben könnte, wenn man ihnen das Alles gedruckt in'S Gesicht werfen wollte, und doch findet Jeder wieder etwas Neues daran auszusetzen ober zu loben, und so bringen denn auch wir wieder Kritisches zu Markte. Von Kleinigkeiten fiel uns zunächst die Inschrift auf: „?etro primo cnll.arinn so-cumla" oder, wi« es im Russischen eben so lapidarisch kurz heißt, „I'el,um>l rerwoinll Oattinrinn nlui-Ha." Sie steht auf den beiden langen Seiten des Felsens ein- Die Monument«. 299 gemeißelt. Uns scheint es aber, daß ihr Platz entschieden vorn an der Stirn des Felsens gewesen wäre; denn jedes Ding muß seine Inschrift deutlich und bestimmt auf der Stirn tragen. Schreibt man doch die Bedeutung eines Gebäudes nicht zu den Seiten an die Flügel des HauseS an, sondern vorn an das Frontispiz über dem Haupteingange. Ungeheuer aber ist die in dieser Inschrift zur Schau getragene Eitelkeit. Die Anspiel« ungen, welche in dem Gegensatze „dem Ersten" „die Zweite" liegen, begreift man leicht, wenn man vor Augen hat, wie Katharina sich immer als die Vollenderin des von Peter Begonnenen betrachtete. Katharina setzte sick durch diese Inschrift nicht nur auf gleiche Stufe mit Peter, sondern sie stellte sich über ihn wie eine Richterin, wie eine Göttin, die Verdienste anerkennt und Belohnungen austheilt. Doch vergißt man dieß leichter als die üble Behandlung, welche der Felsen erfahren hat, auf den man die Statue stellte. Die Idee, einen Reiter auf einen rauhen Felsen hinansprengen zu lassen, zu , dessen beiden Seiten ihn tieft Abgründe mit dem Tode bedrohen, und ihn in dem Momente darzustellen, wo er auf dem Gipfel des Felsens ankommt und nun siegreich die weite Gegend überschaut, ist gewiß so poetisch und so großartig, wie je eine von einem Bildner dem Stahle und Eisen eingehaucht wurde, und in der That wird es schwer, alle die im Paradeschritt dahin schreitenden Pferde und Neiterstatuen unserer Fürsten nicht matt und schläfrig zu finden, nachdem man den Peter auf seinem Felsen hat galoppiren sehen. Der Kaiser hat das Gesicht gegen die 300 Die Monumente. Newa gewandt und reckt die Hand aus, als wolle er das Land und den Strom ergreifen, zugleich herrschend und segnend. — Diese Idee ist schön, kühn 'und völlig genügend, und es ist daher unbegreiflich, daß sie dem Künstler nicht genügt hat, und daß er zu der Idee des Felsentlimmens auch noch die des Schlangenüber-windcns hinzufügte, indem er den Kaiser überdieß auf seinem Felsenwege, einer Schlange begegnen ließ, die von seinem Pferde zertreten wirb. Es wird hiermit offen, bar gegen die große Kunstregel der Einheit der Idee und Action verstoßen, und es ist fast unmöglich, Beides, die Freude über die weite Aussicht auf dem Gipfel eines erklommenen Felsens und die Anstrengungen in dem Kampfe mit einem Drachen, in einer Person zu vereinigen. Der heilige Georg, der mit dem Drachen kämpft, muß sich ganz mit feiner Arbeit beschäftigen, hat die Augen auf das nach ihm schnappende Unthier gerichtet und zielt mit seiner sicheren Lanze auf seinen Kopf; er hat natürlich keine Z^it, die Aussicht von seinem Berge zu genießen. Peter's Drache ist durchaus nicht drohend und schleicht wie eine Blindschleiche fast zufällig über den Weg, wo ihn das Pferd auch zufallig — oder wollte uns der Künstler vielleicht bemerklich machen, daß Peter als geschickter Reiter das Pferd gerade so ansprengen ließ, daß es die Schlange treffen mußte — mit dem rechten Fuße auf den Kopf tritt. Peter thut also zu viel, wenn er vorn schon segnet und hinten noch kämpft. Dabei ist der Erfolg dcS Kampfes hinten noch ganz un-gswiß. Des Heilgen Georg's blanke und scharfe Waffe Die Monumente. 301 dräut sichcr nicht vergebens, und wmn sie des Drachen Haupt durchspießte, so wird er für ewige Zeiten cm den Boden geheftet sein. Dagegen ist es sehr unwahrscheinlich , daß der flüchtig berührende Huf des Pferdes Peter's die Schlange völlig zertreten werde. Auch diese Vorstellung stört etwas, indeß allerdings nur etwas. Denn der Künstler hat selbst wohl gefühlt, baß beide Ideeen sich nicht wohl vereinigen ließen, und daher willkürlich oder unwillkürlich durchaus die eine vorherrschen lassen. Aiö Schlange ist so klein, und auch Peter, der wie Columbus, weit hinschauend und Haupt und Hand erhebend, „Land! Land!" oder vielmehr die Newa und das langersehnte Mecr erblickend, „Waffer! Wasser!" ruft, scheint sich so wenig um sie zu bekümmern, daß man sie leicht übersieht und sie noch heute wegfeilen könnte/ um die gestörte Einheit wieder herzustellen. Vielleicht fügte sie auch der Künstler nur hinzu, weil er auf keine andere Weise als durch den Bogen ihrer einen Windung einen Stützpunct für das Pferd gewinnen konnte. Das Pferd springt nämlich vom ganz frei in die Luft und ruht nur auf drei hinteren Puncten, den beiden Hinterfüßen und dem Schweife, der scheinbar nur leicht den einen Bogen der Schlange berührt, in der That aber sehr fest an ihm befestigt ist und ihn als Säule und Stühe benutzt. Die kühne, halb in der Luft schwebende Stellung der ganzen Statue machte natürlich besondere Vorsichtsmaßregeln nöthig, um sie nicht den Schwerpunct verlieren zu lassen. Die Dicke der broncencn Wände ist daher nach vorn sehr unbedeutend, nur wenige Linien 3l>2 Die Monumente. stark, verstärkt sich aber allmalig nach hinten bis zu mehren Zollen, und außerdem wurden noch 1U,W(l Pfund Eisen in den Hintertheil und den Schwanz des Pferdes gegossen — ein hübsches Aplomb. Wir Menschen haben eben so viel nöthig, um im stürmischen Leben männlich aufrecht zu stehen. Der Sprung des Pferdes, die Halt-tung des Reiters, sein gut gewähltes allrussisches Costüm, dieß Alles ist gewiß über jeden Tadel erhaben. Geradezu schrecklich aber ist die üble Behandlung, welche, wie bereits bemerkt, der Felsen erfahren hat, und völlig unbegreiflich das Verfahren des Künstlers mit ihm. Man hatte nämlich diesen wunderschönen Block, wie ihn die diluvianischen Gewalten aus den schwedischen Gebirgen losgesprengt und herbeigetragen, in den Sümpfen von Petersburg gefunden, in einem einzigen vollen Stücke von den großartigsten Dimensionen, 45 Fuß lang, 30 Fuß hoch, 25 Fuß breit. Selten werden die Titaniden wieder die Gefälligkeit haben, ein solches Prachtstück aus den Urgebirgen abzulösen und es in der Nähe einer Kaiserstadt niederzulegen. Man verstand diesen Wink nur halb. Vulcan selbst hatte den Felsen losgetrennt, Neptun ihn auf mächtigen Eiskrystall« stoßen herangerudert und Jupiter ihn dann mit feinen Blitzen bearbeitet. Die Spuren der Blitze waren noch sichtbar an seinen Ecken und Flächen. So, wie er war, hatte er ein einzig schönes Piedestal für einen Peter den Großen dargeboten, und man hätte sich sogar hüten sollen, das angesetzte Moos und die Flechten abzustoßen, die Flora darauf pflanzte. Aber weit davon entfernt, singen nach Jupiter's Blitzen die Meißel de« Menschenhand an, Die Monumente. 3l)3 daran zu arbeiten. Man krittelte und tadelte, man drechselte und schabte, bis der Felsen so dünn wurde, daß es ihm wie dem vom unverstandigen Kinde in Gellert's Fabel geschabten Löwen erging, er brach in zwei Stücke von einander. Beide Stücke liegen jetzt zusammengefügt neben einander, und der ganze Felsen sieht nun eben so unnatürlich aus wie die Nachahmungen von Felsen, welche man auf den Schaubühnen aufgestellt sieht. —> Freilich muß man dagegen bemerken, daß allerdings etwas Gipfel-ung und Bearbeitung der Felsenstirn, auf der das Pferd fußen sollte, nöthig war. Allein gewiß bleibt es, daß man nicht mit der nöthigen Vorsicht dabei verfuhr und baß man durch die Himvcgnahme eines Drittels der Größe den Felsen drei Mal weniger werth machte. Er hat jetzt nur 14 Fuß Höhe und 20 Fuß Breite bei 35 Fuß Lange. Das Merkwürdigste ist, daß man erst wegzusprengen ansing, nachdem man die ganze Masse mit unsäglicher Mühe herangeschleppt, so wie eigene Chausfeeen und ein eigenes Schiff für ihren Transport gebaut hatte. — Vei dem Allen ist es immer ein hoher Genuß, den großen Kaiser zu sehen, wie er, von den Krähen der Stadt umflattert, im Sommer der glühenden Sonne seine Stirn bittend, im Winter beschneit und mit Eis beglast, stets so kühn und unermüdlich fortgaloppirt durch Sturm, Regen und Sonnenschein- Peter's Statue steht gerade in der Mitte der Residenz, die er schuf, aber leider nicht in der Mitte des schönen freien Platzes, den sie ziert. Vei dem zweiten Monumente, der Alexandersaule, hat man die Mitte besser 304 ' Die Monununte. getroffen. Vor der vorderen Fronte des Winteipalais öffnet sich das große Gebäude des Generalstabs, mit seinem weiten Bogen einen Plah umspannend, ;n dem eben jene geradlinige Seite des Winterpalais die Sehne ist. In der Mitte dieses Bogens und dieser Sehne, von beiden gleichweit entfernt, steigt die herrliche Säule empor. Sie ist der größte Monolith, den die Neuzeit aufstellte, über 80 Fuß hoch, und mit dem Engel, der auf ihrer Spitze steht, und dem kubischen Blocke, auf dem sie fußt, 15l) Fuß hoch. DaS Auge erquickt sich gern an der schlanken Taille dieser gewaltigen Riesln; sie ist blank polirt, und die Gebäude umher reflection, ihre Umrisse in ihrem Cylinderspiegel. In jeder anderen Stadt würbe ihre mächtige Größe aber einen noch viel mächtigeren Eindruck machen. Hier in Petersburg, wo das Auge überall mit größeren Räumen geweitet ist, nimmt man sie unter elnem kleineren Sehwinkel auf. Der Platz, auf dem sie steht, hat von allen Seiten fo große Di^ mensionen, die Häuser umher sind so hoch und massiv, daß selbst die Riesin 'alle ihre 150 Fuß zusammennehmen muß, um nicht zu verschwinden. Aber wenn man nahe zll ihr hinantritt und dann der Umfang des Stammes ganze Gebäude verdeckt und er über dem Kopfe zum Himmel aufsteigt, so ist der Eindruck stark genug. Die beßten Puncte für ihre Betrachtung sind die Thorwege des Generalstabs und des Kaiserpalastes; denn hier faßt man sie in einen Rahmen und gewinnt Anhaltspuncte für das Auge, an denen es vergleichend die Höhe einigermaßen ermessen kann. Unbegreiflich bleibt eS, wie mm H)ie Monumente. 305 den Kopf der Säule so außerordentlich breit machen und beschweren konnte. Er ragt so weit über den Schaft empor, daß man den großen Engel mit dem Kreuze, welcher auf dem Gipfel steht, von unten gar nicht wahrnehmen kann und er so gut wie nicht vorhanden ist. Man muß zu seiner Anschauung in das zweite Stock des Winterpalastes steigen oder sich eine Werst weit auf den Abmiralitätsplatz hinausmachen, um ihn von da aus mir dem Perspective zu beobachten. Diese Dickköpsigkeit der Säule schadet cmcl) ihrer Höhe, denn sie wird dadurch niedergedrückt. Man kann dieß unter dem Bogen des Winterpalais durch ein kleines Experiment deutlich wahrnehmen. Wenn man nämlich sich so stellt, daß der Bogen des Thores den Saulenkopf deckt und abschneidet, so erscheint die Säule ungemein mächtig und hoch; tritt man aber vor und läßt den Kopf mit seinem dicken Ende erscheinen, so ist es, als wenn er darauf siele und die Säule niederdrücke, da sie doch eigentlich im Gegentheile noch mehr dadurch steigen sollte. Auf der einen Seite dieser Säule läuft von oben nach unten eine Linie, welche sich durch ihre dunklere Farbe von der übrigen Oberfläche des Cylinders auszeichnet. Einige halten diese Linie für einen focm-lichen Riß und behaupten sogar, daß derselbe bei Gelegenheit einer Untersuchung und Besichtigung, die der Kaiser angeordnet habe, mit einem künstlich componir-ten Kitte ausgefüllt worden sei. Andere dagegen halten diesen anscheinenden Riß für eine optische Täuschung. Daß dieß Letztere der Fall sei, soll in einem Beritte von 3l)6 Di« Monumente. Kunstverständigen, den die Petersburg« Zeitung bekanntgemacht, erwiesen sein. Die Idee dieser Säule ist eine religiös-politische, wie denn m Rußland, wo der Kaiser auch das Haupt der Kirche ist, eben Alles religiös-politisch ist. Sie wurde dem Kaiser Alexander zu Ehren errichtet und sollte zugleich das Andenken an die mit seinem Namen sich verknüpfende Wiederbeftstigung des Staatsgebaudes und Sicherstellung der Religion verewigen. Der Angriff des ungläubigen irreligiösen Napoleon wirbin Rußland nicht nur als ein Angriff auf den Staat, sondern auch insbesondere auf den Glauben betrachtet. Daher der Engel auf der Spitze der Säule, der das Kreuz wiederaufrichtet. Gewissermaßen wirft die Säule, deren Capital und Piedestalschmuck aus einer Partie türkischer Kanonen gegossen wurde, alle Feinde Rußlands, Türken, Franzosen u. s. w., in «ine Kategorie und 1st überhaupt eine Bethätigung, Versiegelung und Verewigung aller neuesten Siege des russischen Adlers. Bis jetzt ist dieses Monument der Gipfel des russischen Ruhmes. Gott weiß, welche Katastrophe künftig die Veranlassung geben wird, diese 150 Fuß zu übersteigen. Wie wird wohl die Inschrift des nächsten Monumentes lauten i Etwa so? „Alle siegreichen und unter dem russischen Scepter vereinigten Slaven errichteten dieses Monument zum Dank für die Siege über die germanischen Stamme, deren hundertjähriges Unrecht endlich gesühnt wurde, und d^en den Slaven abgenommene Lander wieder dem alten Slavenreiche einverleibt wurden." — Ueber den Entwurf Die Monumente. 3t)7 zu einer solchen Inschrift brütet langst der russische Adler, und es sitzt im Ei schon ein Gestalt gewinnendes Embryo. Nur Datum und Jahreszahl sind noch unkenntlich. Das am wenigsten geschmackvolle Denkmal ist das dem Feldmarschall Rumanzow oder den Türkenkriegen und Türkensiegen gewidmete Monument mit der Inschrift: „lwmnulLanil iiolincllam" (den Siegen Rumanzow's). Die russische Sprache vermag sich so kurz zu fassen wie die lateinische. Es besteht dieses Monument aus einem halben Dutzend verschieden gefärbter Steinarten und ist außerdem noch verschiedentlich mit Metallflicken geziert. Der Obelisk selbst ist von schwarzem Granit. Er steht auf einem Sockel von rothem Marmor, der seinerseits auf einer wieder anders gefärbten Vasis ruht und außerdem, noch über sich als nächste Grundlage des Granits mehre weiße Marmorplatten hat. Der Obelisk selbst ist aus mehren Stücken zusammengesetzt, und auf seiner Spitze tragt er eine vergoldete Kugel mit einem darüber schwebenden Aoler. Vergebens fragt man, welche Harmonie der Künstler in diese bunten Farben und Stoffe legte, wie sich Eins mit Nothwendigkeit aus dem Anderen entwickelte und Alles zusammen ein einiges künstlerisches Ganze bildete. Glücklicherweise wird diese künstlerische Mißgeburt nicht lange dauern. Denn vermuthlich wird sie bald unter der Last ihrer eigenen Schwere zusammensinken. Die acht ägyptischen Sphinxe, die nicht weit von diesem Monumente vor der Akademie der Künste liegen, scheinen spottend zu diesem so wenig imposanten 80s Die Monumente. Obelisken hinüberzublicken. Trotz des tausendjährigen Schlachtengetümmels, troh der zahllosen glühenden Sonnen, der unendlichen Reihe ewig sich haschender Tage und Nachte, die über ihren Köpfen bahintcmzten, sehen sie doch fast so jugendlich aus, wie neu geboren, und ihre Haut ist so blank und geputzt, als kämen sie eben erst aus der Werkstatt. Wenn irgend ein russischer Feldherr ein würdiges Denkmal verdient hat, so ist es Suwarow, der, wie bekannt, ein genialer Mann und origineller Kopf, und nicht allein das, sondern auch, wie weniger bekannt, ein feiner Geist und ein gutherziger Mensch war. Er hat aber das unbedeutendste von allen erhalten, und gewiß hätte Suwarow, wenn er seine Bildsäule noch hätte sehen können, manches gute Bonmot darübcr gemacht. Es ist eine stehende broncene Statue, die das Schwert mit der Rechten schwingt und das Schild in der ?inken zur Vertheidigung über ein paar Kronen halt, die des Papstes, Sardiniens und Neapels. Die Kronen liegen ihm zu Füßen auf dem PiedeMe der Bildsaule. Seine Stellung ist die eines Fechtmeisters, der eben ruhig ausfallt und seinem Schüler einen Coup vormachen zu wollen scheint. Die Tracht ist römisch. Dabei lst das Ganze so klein, daß es völlig auf dem weiten Platze, auf dem es aufgestellt ist, verschwindet. Das alltägliche Trommel-gerassel und Waffengeklirr, das Suwarow hier mit an-boren muß, möchte noch das Einzige sein, was ihm bei dem Ganzen gefallen könnte. Was sollte Petersburg nicht haben, das man an- Die Monumente. 399 derswo hätte? Aegypten hatte seine Obelisken. Auch Petersburg hat die seinigen. Paris und Rom schmücken ihre Säulen und Triumphbogen. Auch Petersburg besitzt deren. Der Triumphbogen giebt es jetzt zwei. Sie wölben sich über diejenigen beiden Straßen, mittels deren die Stadt sich mit den Landern, die für sie die wichtigsten sind, in Verbindung setzt, ciner über die Riga'sche Straße, die nach dem Westen Europas führt, und der andere über die Moskauische Straße, die in das Innere des Reichs geht. Jener wurde auf Befehl des Kaisers Alexander errichtet', als cr. siegreich aus Paris zurückkehrte, dieser aber vom Kaiser Nikolaus gebaut. Der erstere „li'il!mi»1il,l-nH!, Woi-olu" oder vom Volke, welches nichts von Triumphe versteht, auch „li-iußnln^u" (die dreiwinkelige Pforte) genannt, ist nach dem Muster der alten römischen Triumphpforten gebaut, doch mit Statuen alter russischer Krieger, die in Nischen stehen, und mit ciner außerordentlichen Menge von Inschriften überladen. Auf der Plateforme des TlMS galoppirt auf einem Viergespanne eine Siegesgöttin, dem nahenden Kaiser einen Lorbeerkranz entgegenbringend. Das Ganze war bei der Rückkehr des Kaisers selbst nur in Holz und Gyps errichtet und wurde erst spater in Stein und Metall ausgeführt. Wir haben bisher wenig Notiz genommen von der Reihe der Triumphpforten und Monumente, welche dem Kaiser Alexander damals auf seinem ganzen Wege, «nem wahren Triumphzuge, von Paris bis Petersburg errichtet worden waren. So wie diese, so haben auch noch die übrigen von uns 310 Die Monumente. nicht genannten Monumente von Petersburg nebm ihren eigenthümlichen Vorzügen auch ihre eigenthümlichen Feh« ler. Das eine hat gegen die Ueberlieferungen der Mythologie und gegen alle Regeln der Kunst zwei Pferde zu viel, das andere ist gleich vom Anfang an in der Zeichnung verkehrt gewesen, das dritte ist bei der Arbeit theilwcise verschnitzelt und verdorben worden, das vierte leidet an einem großen Riffe, und wieder ein anderes sogar droht nach kaum vierzigjähriger Existenz in Schutt und Trümmer zu verfallen. Was wird denn davon der Nachwelt verbleiben? Das sind unsere neuen Städte! Gewiß prangte Rom zur Zeit seiner Blüthe ganz anders mit Monumenten, Säulen und Obelisken! Die herrlichen Ueberreste beweisen es noch nach 200l) Jahren den Spatlingen! Die Arsenale. „Die Welt ist nicht aus Vrei und Muß geschaffen i „Deswegen haltet euch nicht wie Schlaraffen, „Harte Bissen giebt'tz zu lauen. ,,W>r müssen erwürgen oder sie verdauen," <Än Soldaten und militärischen Aufzügen fehlt es in Petersburg keiner Straße zu jeder Zeit, am häufigsten und fleißigsten aber wirbeln und rauschen die Trommeln, die Fahnen und der tactfeste Schritt der Truppen in den Gassen des Stadttheiles, den die Russen „Liteinaja", die Deutschen aber den „Stückhof" nennen. Theils müssen ihn all« Truppen passiren, die von den Kasernen der Wiborg'schen Seite über die Sonntagsbrücke in die Stadt kommen, theils aber enthält er auch selbst eine Menge militärischer Institute, namentlich die Kasernen und Stallungen für die Artillerie, so wie die beiden großen Arsenale, das neue und das alte. Das alte Arsenal, ein ungeheueres, weitläufiges Gebäude, ließ der Graf Orlow auf seine Kosten bauen und 312 Die Alsciiale. machte cs der Kaisenn Katbarina zum Geschenke^). Das neue Arsenal ist in herrlichem, prachtvollen Style vom Kaiser Alexander gebaut worden. Beide sind mit funkelnden Waffen, alten Kriegsmaschinen, Tropkaen und für die russische Geschichte wichtigen Antiquitäten angefüllt, von denen ein kurzer Bericht auch für unsere Leser gewiß mcht uninteressant sein wird, zumal die verschiedenen Werke über Petersburg diesen Gegenstand sehr vernachlässigt zu haben scheinen. Die endlosen Zimmerreihen beider Arsenale sind mit unzahligen, aus Waffen errichteten Monumenten geschmückt, mit stählernen Dolchen, blanken Gewehren, polirten Kanonen, strahlenden Rüstungen, wallenden Fahnen in unsäglicher Menge und einem überschwenglichen Segen unheilbringender Mordinstrumente, alle zierlich und hübsch zu Guirlanden, Wandtapeten nnd Zimmerarabesken zusammengesetzt, als waren es Blumen und Früchte, Kinder der Pomona und Flora, und nicht Products der Cyklopen und Werkzeuge der Furien und des Mars. Die *) Solche patriotische Geschenke sind bci den reichen Unterthanen des Kaisers von Nußland gar nicht selten. Sehr häusig hört man, dieser Graj^ha!,e der Krone cine Million zur Grbauung cines Kadettencorps gegeben, jener Fürst habc auf scine Kosten dem Staate cinc Kaserne gebaut, der Kaufmann N. N. habc dcr Bibliothek m N. N>0,<«>0 Rub^l dargc^a,I,t. In dem Kriegs-jahre 1812 fanden qrandiosv Opfer dieser Nvt statt, abcr auch zu gewöhnlichen Fn'cdenszeiten kommen nicht ct»va nur solchc testamentarische Verfügungen, sondern, was noch mchr zu bemerken ist auch I>"l!lUu>li<^ iMor vlvci," Vor. Die Arsenale. 313 Menschen lieben überall, mit dem Ernsten poetisch zu spielen. Es ist auffallend, daß bei allen Nationen sich alle militärische Kleidung so äußerst buntfarbig, heiter, strahlend und schmuck zeigt. Wahrend unsere Bürger in dunklen Farben bei ihren friedlichen Geschäften verkehren, ziehen unsere Krieger, von allen Farben der Iris glanzend, in die Schlachten. Man sollte meinen, die passendste Farbe für die Krieger müßte die schwarze sein, um sie mehr an die traurige Bedeutung ihres Handwerks zu erinnern, um ihre Streitsucht und Mordwuth zu mindern, zu der sie das einladende ^leußere ihres Gewerbes fast zu verführen scheint. Auch sollten die Waffen nicht in hübschen und wohlgefälligen Compo-sitionen in den Arsenalen, sondern etwa in den Gewölben der Kirchen verpackt und aufbewahrt werden; vielleicht würden dadurch die Kriege gemindert und die Waffen dann nicht leichtsinnig, sondern nur im Namen Gottes und des Vaterlandes ergriffen werden. Unter den verschiedenen Waffentrophaen steht an der Wand eines der Säle im neucn Arsenale ein großer russischer Adler, bei dem der Hals, der Numpf und die Veine aus einer Unzahl von Flinten zusammengesetzt, die Flügel aus Schwertern, die Brust- und Bauchfedern aus Dolchen, die Schwanzfedern aus Iatagans gebildet sind, während die Mündung zweier schwarzer Pistolen die Augen, die Oessmmg einer Kanone den Schlund darstellt, ein schreckliches I^U-mo-IiMlfei-L, ein wahres Symbol der russischen Staatsmacht, die aufSchwetter- undBayonnettensittigen zu ihrer jetzigen Höhe sich aufschwang. Wehe Denen, welche die Kohl, Pttciöburg. I. 14 814 Die Arsenale. Blitze dicserAdleraugen treffen, oder die von dem Donner dieser Gurgel erschreckt werden, wehe Denen, die seine Schwertersittige umrauschen, und nach denen feine Säbel-krallen sich recken werden! — In einem anderen Saale, nicht weit von dem Adler, ist Katharinens Statue, in Marmor ausgeführt, auf einem Königssessel thronend, aufgestellt, von allen Emblemen der kaiserlichen Macht umgeben. Die Statue wurde ihr von Orlow noch bei ihren Lebzeiten errichtet und zugleich mit dem Hause übergeben. Ihr Pferd, einen Schimmel, mit Stroh ausgestopft und lhr gegenüber stehend, hatte man lieber auch in Marmor ausführen sollen, denn so macht es eine gar ;u unmajestatische Figur, es steht wie ein gesatteltes lind gezäumtes Gespenst da. Der Sattel ist kein Damen-, sondern ein gcwöhlicher Herrensattel, und Katharina muß also wohl eben so zu Pferde gesessen haben wie ihre Generale. Unter den historischen Souvenirs lind Alterthümern giebt es viele höchst interessante, so z. B. die Fahnen der Strelitzcn, große aus Seidenflecken zusammengenahte Tücher, mit vielen höchst originellen und für jene fanatischen russischen Prätorianer, welche man auch die Ia< mtscharm des Christenthums nennen könnte, charakteristischen Bildern geschmückt. Sie verdienen in hohem Grade die Beachtung des Historikers, obgleich sie unseres Wif« sens bisher nock kein Geschichtschreiber erwähnt hat. In der Mitte der Fahne sitzt Gott Vater, das jüngste Ge, richt haltend, über ihm ist der blaue Himmel des Paradieses, unter ihm lodern die leckenden Flammen des Die Arsenale. 315 Höllenpfuhlsj zu seiner Rechten stehen die Gerechten, d. h. ein Chor russischer Priester, eine Abtheilung der Stre-litzen und eine Anzahl von Vartruffen, zu seiner Linken die Bösen und Ungläubigen, d. h. ein Haufe von Juden, ein Haufe von Türken und Tataren, ein Haufe schwarzer Araber und Neger und ein vierter Haufe mit deutscher Kleidung angethaner „Njemtzi" (deutscher West? europaer). Vei jeder Schaar ist der Volksname bei-geschricben, ebenso bci den unten in den Flammen der Hölle sich Quälenden, z. V.i „ein Geiziger", „ein Turban", „ein Mörder", „ein Deutscher" u. f. »v. Viele Engel sind mit langen eisernen Stangen beschäftigt, den 'Rest der schreienden Juden, Mohammedaner und anderen Ungläubigen den Teufeln zu überliefern. — Solche oft unbeachtete Bilder sprechen in der Regel deutlicher als alles Andere aus, was in dem geheimsten Inneren der Gemüther vorging. Neben diesen Fahnen liegen noch mehre Armaturen der Strelitzen und die bei ihnen üblichen Patronen; jede Patrone hat eine eigene kleine Büchse, und cine ganze Reihe solcher Büchsen wurde, an Riemen befestigt, auf der Vrust getragen, ähnlich wie bei den Tschcckssen. Auch russische Kanonen aus jener Zeit stehen dabei, sehr groß und gar nicht unzierlich aus Eisendraht gearbeitet, mit Silber und Gold ausgelegt. Jedem Kaiser und jeder Kaiserin seit Peter dem Großen ist hier ein eigenes Zimmer gewidmet, theils mit auf seine Person bezüglichen Utensilien, Kleidern, Waffen u. s. w. gefüllt, theils mit den zu seiner Zeit üblichen Kriegsrüstungen, Uniformen u. f. w. Auch die Uniformen 14' . 316 Die Arsenale. berühmter Generale mit ihren sämmtlichen Ordenszeichen, Kreuzen und Vandem sind hier unter gläsernen Kasten deponirt, unter denen auf diese Weise wenigstens einige tausend Ellen historisch interessanter Seidenbänder sigu-riren. Man könnte mit Hilfe dieses Cabinets eine tressliche Geschichte der russischen Armee componiren. — Es geht daraus hervor, daß unter Anderem die Garden der Ssemeonow'schen und Preobrashenski'schen Regimenter, die berühmtesten und wichtigsten Legionen der Armee, der Kern der zacn-ischcn Prätori^ner, während ihres hundertjährigen Bestehens allein 25 Mal ihre Uniform gewechselt haben und jetzt nicht im Entferntesten Dem mehr ähnlich sehen, was sie vor hundert Jahren waren.' Die Umwaudelungen des russischen Soldaten aus Weiß in Schwarz, aus Noth in Grün, aus Lang in Kurz, aus Weit in Knapp find mcmchfacher als die Verwandlungen der Raupe zur Puppe und der Puppe zum Schmetterling. In dem Zimmer Alexander's I. liegen die Uniformen dieses Kaisers und alle die Orden, welche er getragen. Es sind deren nicht weniger als 60, und doch befindet sich darunter nicht das große Band des Georgenordens, welches der Kaiser anzunehmen sich nicht entschließen tonnte, obgleich es ihm mehre Male vom Ordenskapitel und vom Senate zuerkannt und angeboten wurde. Dieser darf nur für eine gewonnene große Schlacht, für die Rettung des Reichs aus großer Gefahr oder für die Herstellung des Friedens durch eine Reihe von Kriegs-lhaten gegeben werden, und der Kaiser, der nicht selbstthätig eine von diesen Handlungen sich zuschreiben konnte, Die Arsenale. 317 versagte sich daher die Ehre, um den Orden lind seine Gesetze in Ansehen zu erhalten. Seit Peter dem Großen unterwarfen sich die russischen Kaiser freiwillig allen von ihnen selbst aufgestellten Gesetzen und getroffenen Anordnungen und gaben dadurch allen ihren Unterthanen das beßte Beispiel. Peter's des Großen Spieß, den er als Volontair in seiner Armee getragen, seine Uniformen, die ihn nachher als Sergeanten, als Capitän und dann als Obersten schmückten, sein ledernes Hemd, das er als Zimmermann trug, Dinge, die hier im Arsenale noch aufbewahrt werden, erinnern seine Nachfolger bestandig daran, seinem Beispiele zu folgen. Unter allen diesen Sachen sieht man in Peter's Zimmer auch noch das Cabriolet, dessen er sich zum Wegemeffen bediente, und bei dem durch die in einem hinteren Kasten angebrachte Maschinerie die Zahl der Umdrehungen der Näder angezeigt wurde. Auf dem Deckel dieses Kastens befindet sich ein eigenthümlichcs altes Bild, welches uns Peter's Art zu reifen darstellt. Es ist die Abbildung des einspännigen Cabriolets selbst, in welchem der Kaiser eigenhändig das Pferd zügelt. Hinter ihm sind Gartenanlagen und neuerbaute Häuser, deren Ein« richtung er vollendete, vor ihm ein Wald und eine Wüste, in die er zu ihrer Ausrottung und Bebauung muthig und rasch sein Pferd hineinleitet; hinter ihm ist der Himmel heiter, vor ihm häufen sich die Wolken wie Felscnzacken. Da dieß Bild wahrscheinlich von Peter selbst angegeben wurde, s" zeigt es, wie er über sich selbst dachte. Merkwürdig contrastirt mit diesem kleinen bescheide. 3ls Die Arsenal«. mn Cabriolet des Wege messenden und bahnenden Kaisers der große Triumpl^Pauken- und Fahnenwagen, den Peter II. vor dem Musikcorps seiner Garde vorausfchren ließ, zu derselben Zeit, als die Damen Ncifröcke und die Herren Allongeperrückcn trugen. — Auch Paulas Schaukelpferd, das er als Knabe zügelte, — Peter's III. holsteinische Kürassiere, die den eingeborenen Russen ein großes Aergerniß waren, — so wie des berüchtigten Chefs der rebellischen Kosaken, Ssenka Nafm's, Thronscssel aus Eichenholz, statt der Tressenorapirung rund umher mit groben Pistolen qarnirt, —> des Generals Miloradowirsch Uniform, in der man noch das Loch sieht, durch welches die Kugel der Empörer am 14. December den Weg zu seinem Herzen fand'), — beschäftigen vielfach die Phantasie des Historikers. Die Russen haben nicht nur die verschiedenen Rüstungen und Umformen ihrer eigenen Truppen hier bedacht, sondern auch die Uniformen ihrer Nachbarstaaten nicht vernachlässigt; sogar den chinesischen und japanischen Kriegeranzug hat man zu silldiren Gelegenheit. Die Karaffe und Panzer der japanischen Garden bestehen ganz aus Schildpatt, das auf dem ganzen Körper aus kleinen Scheibchen zusammengefügt ist, und das Gesicht ist in eine schwarze, das Maul weit aussperrende Drachenmaske *) Die vom Kaiser anbefohlene Deponirung der Uniformen cines Gcncralö odcr Feldherrn an eincm öffentlichen Orte, z.B. im Arscnalc uon Petersburg oder Moskau oder in dem Schatze von Moskau, oder tn einer Kirche des Landes ist eine besondere Auszeichnung, die nur wenigen Patrioten zu Thtil wird. Die Arsenale. 319 gehüllt. Der chinesische Soldat ist von oben bis unten mit einer dicken Baumwollenwattirung ausgepolstert, und wenn er sich auch in der Schlacht nicht viel regen kann, so ist er doch gegen Pfeile und Stockprügel einigermaßen geschützt. Auch bei ihm sind fratzenhafte Masken üblich, denn die Furchtsamen haben überall eine große Neigung, durch schreckhafte Maskirung Anderen Furcht einzuflößen, da sie durch ihren eigenen Muth es nicht vermögen. Eben dahin scheinen auch die chinesischen Waffen abzuzielen, bei denen sich unter anderen eine Hellebarde befindet, an der die Schneide der Axt fast 6 Fuß lang ist, ein Mordinstrument, zu dessen Handhabung jeder Soldat rund um sich her einen freien Kreis von wenigstens 10 Schuh im Durchmesser haben muß, und das zur Ab? schlachttmg von Riesen bestimmt zu sein scheint, dem aber jeder römische Soldat mit seinem kurzen Schwerte gewiß heil und sicher entgehen würde. Auch türkische und arabische Soldaten fehlen nicht. Indeß so unzahlig die fremden Uniformen auch sind, so ist doch fast keine, — selbst die japanische nicht ausgenommen — der die Russen nicht schon ein Mal gegenüber gestanden hatten, — ja kaum elne, der sie nicht schon ein Mal Trophäen und Siegeszeichen entrissen. Diese Trophäen füllen alle Kirchen, Schatzkammern und Arsenale Moskaus und Petersburgs. Die in den Petersburger Arsenalen niedergelegten sind mehre prachtvolle silberne Schilde türkischer Anführer, polnische, preußische, persische und französische Fahnen und wenigstens 1000 Ellen Seidenzeug, das in eroberten 320 Die Arsenal«. türkischen Standarten steckt, — ein ganzer Haufen türkischer Halbmonde, die man von den Spitzen der Mo-scheeen abbrach. In einem besonderen Zimmer hat man sogar Gelegenheit, die wunderlichen Formen der bei den verschiedenen Nationen üblichen Schlüssel zu persischen, grusinischen und türkischen Festungen, die von den Russen erstürmt wurden, zu stuoiren. Bei jedem Schlüsselbunde befindet sich eine gemalte Ansicht der Stadt, welche ihn, die Waffen streckend, dem Sieger überreichte. Mit dem neuen Arsenale ist eine Kanonenbohrerei verbunden, die von einer mächtigen Dampfmaschine in Bewegung gesetzt wird. Die Bohrer selbst stehen fest, und die schweren metallenen Feuerschlünde schwingen sich, von der Dampfmaschine ergriffen, um sie herum, indem durch ihr eigenes Gewicht den Stößen mehr Nachdruck gegeben wird, als der leichte Bohrer selbst hervorbringen könnte. Ich möchte den Mann sehen, der hier und da auf das Zifferblatt der Zeit geblickt hat, und der zwischen allen diesen sich gestaltenden Feuerschlünden ruhig spazi-ren könnte, ohne eine gewaltige Emotion zu empfinden. Freilich arbeitet man in den Schulen, in den Werkstatten eben so an der Größe des Neichs. Der seine Spe-culationen erweiternde Kaufmann und der seine Manipulationen verbessernde Handwerker, auch sie suchen auf mittelbare Weise die Kräfte und Ausdehnung des Staa> tes zu mehren, allein der Kanonenbohrer steht doch in weit unmittelbarerer Beziehung zu den künftigen Schlachten, und alle seine Arbeiten verrathen zu deutlich und bestimmt seinen feindlichen Zweck. Jedes Zündloch, das Dik Arsenale. 32 l er bohrt, jede Geschühmündung, die er auspolirt, regen in einem kriegerischen und frischwachsenden Staate, wie es Rußland ist, tausendfach die Phantasie, die Furcht, die Hoffnung, das Mitleiden und die Kampflust auf. Wir sahen hier 60 Kanonen in Arbeit. Rußland arbeitet auf Vorrath; denn es sendet seine Blicke weit hinaus in die Jahrhunderte und auf die völkerwimmelnde Erdoberfläche, und es ahnt noch manchen Kampf für seine nahe und feme Zukunft. Einige dieser Geschütze seufzten schon seit vier Wochen um ihre Axen und spieen langsam ein metallenes glänzendes Hobelspänchen nach dem anderen aus. Die schwarzen 48pfündigen Bomben werden einst schnell wie der Blitz aus ihren Rachen hervorrollen und mit einem Stoße so viele Hobelspäne machen, als 20 Tischler in 20 Wochen nicht zu Stande bringen. Nach dem rohen Ausbohren werden die Mündungen Noch vielfach fein ausgearbeitet und geglättet, damit die Kugel auf glatter Bahn leicht zwischen den Wanden hinausfahre und die hinderlichen Leiber und Wälle der feindlichen Armee um so energischer beseitige. Man bohrt ein' Zündloch und arbeitet es, wie ein Optiker seine Teleskope, sauber aus. Wozu das? Auf daß die Flamme behend hinabzische in den dunklen Schlunb, die schwärzlichen Körner entzünde, die wie plötzlich erscheinende Geister erwachen, sich aufraffen und, hinter einander herjagend, die beschwingte Kugel in's Freie hinaustreiben. Sie durchsaust die Lüfte pfeifend und verpfeift Hunderten das Gehör. Der Friede ist poetischer als der Krieg, denn er tragt den Krieg als Geheimniß im Busen. Der Kampf 14" 322 Tie Arftlillle. selber ist das enthüllte Geheimniß. Stumm und lautlos liegen die Kanonen da, nur leises Geflüster der Arbeiter und das schwache Seuszen der Maschinen, die stille Thätigkeit und das Nachsinnen der berechnenden Ingenieure umgiebt sie. Wie laut werden sie nicht einst sprechen, wenn die Gewitter sich zusammengezogen haben, und die Blitze und Donner sich nun entladen! Wie wird eS seufzen und stöhnen um sie her von den hinsterbenden Seelen und den erbleichenden Lippen, wie werben die kanipfesmuthiqen Streiter und die schmetternde Kriegs-trompete um sie herumtoben! — Plump und schwer sind sie am Boden ausgestreckt, mit Hebeln und Balken von hundert Händen kaum bewegt und gewendet. Wenn man sie erst auf die rollenden Räder gesetzt und die Schlachtrosse angeschirrt hat, wie werden sie im Getümmel des Kampfes hier- und dorthin rasseln und gleich belebten und gezügelten Drachen nach dem Commando des Feldherrn bald hierhin, bald dorthin ihre Flammen hauchen! Man mißt und zirkelt. Was ist's? Man setzt ein Visir und sägt den kleinen Einschnitt in die Mitte. Welche Uniform wird dereinst wohl dem visirm-den Ingenieur in diesem Einschnitte erscheinen, wenn er die Kanone richtet und das Zeichen giebt, wenn der fatale Funke hinabblinkt und ein Krachen! ein Sausen! — und hundertstimmiges Stöhnen und Heulen seinem Winke folgen? Die blauen Röcke der Preußen, oder die weißen Jacken der Oesterrcicher, oder die rothen Krapphosen der Franzosen? Es wird in dieser Werkstatt für die Marine sowohl, Die Aiscnale. 323 als für die Lanoartillerie gearbeitet, und wir sahen hier Höhlen gebohrt, von dcnen einige sogar ein Caliber für 120pfünoige Kugeln erhielten. Gott gebe doch solchen Unchieren von russischen Tooesbechern bei Zeiten Seewasser zu saufen und versenke sie auf den untersten Boden des MeereS, wo sie, ihres Feuers vergessend, den Fischen und Seewürmern als Lebensbecher dienen könnten, als verborgene Schlupfwinkel, sichere Wohnungen und feste Nester für die Muschel- und Auswnbrut. Das Schicksal von vielen dieser Kanonen wird in der Thai ein solches sein, und es ist daher noch unsicher, ob die Arbeiter einen Feuerspeier oder Wassertrinker, einen To-desspenber oder Lebensbeschützer, einen Lautdonnernden oder Seesischstummen mühsam bereiten. Nachdem die Kanonen in den großen Werkstätten der Anstalt unter den Gesängen der russischen Arbeiter — der russische Arbeiter singt bei allen Geschäften, sowohl wenn er seine Klöster und Kirchen schmückt, oder als Huldiger der Ceres die Aehren schneidet, als auch, wenn er im Dienste des Mars Kanonen bohrt, — gedrechselt, gebohrt und gefeilt worden sind, kommen sie zu guter Letzt in die Ajustir- und Probestube, wo von den oberen Werkmeistern und Ingenieuren alle ihre Verhältnisse und Maße noch einmal untersucht werden, ihre Länge, ob sie dem Zwecke entspreche, ihr Caliber, ob die Kartätsche oder Bombe genau paffe, ihr Visir, ob es das Hel deutlich zeige, ihr Zündloch, ob es die gehörige Enge und Weite habe, bis endlich der Meister seinen Stempel darauf seht, sie tauft und zu ihr spricht: „Die 324 Die Arsenale. schwere Geburt ist vollendet. Gehe hin deine blutigen Wege, du Niescnkind, zeige dich als ein Mann und laß dein erstes Lallen ein schreckhaftes Donnern sein. Die mühselige Arbeit ist vollbracht, und nun beginne du, kunstvolles Werk, deine werkzerstörenbe Arbeit. Scheuche die Feinde aus dem vaterländischen Acker und laß die schwarzen Ball« unter ihre Tanze hüpfen. Sei Rußlands treuester Freund und wende deine Stirn gegen seine Feinde, auf daß seine Tempel aufrechtstehen, seine Garten blühen und seine Kinder in Frieden gedeihen mögen!" Alle fertigen Kanonen werden in dem inneren Hofe des Arsenals und in seinen weiten Räumen aufgestellt. Wir sahen hier bis auf den letzten Nagel fertig, mit Raumer, Lunte, Bohrer und Putzer versehen, so viele Hunderte stehen, als hingereicht hatten, um das Schauspiel einer Völkerschlacht von Leipzig aufzuführen. Zierlich liefen die Kranze und Ränder um die Mündungen der Geschütze, und der russische Adler, das russische Wappen und das Datum ihres gefeierten Geburtstags schmückten ihren Hals. Ihre Taille war so schlank wie die der jungen Maochen, und ihr Rumpf polirt wie der Spiegel der Venus. Jetzt spiegelten sich nur die sie mit uns beschauenden hübschen Damen barin. Gott habe die armen Seelen gnädig, — seien es Deutsche, Türken, Englander, Franzosen oder Tscherkeffen, die einst, mit brechendem Auge über sie hinsinkend, sich in diesem Spiegel schauen und ihn mit ihrem Blute rostig machen werden! — Wir zählten nicht weniger als 800 Kanonen auf einem Flecke. Noch wa- Die Arsenale. 325 ren sie rille unschuldig und rein, blut^ und verbrechenlos, Doch trugen sie schon den Bösen im Herzen und e?^ warteten nur den Wink von mächtiger Hand, um, von tausend willigen Armen bewegt, ihren verderblichen Flug zu beginnen. Der Schleier, der die Zukunft Europas verhüllt, die ihm von Osten her droht, ist undurchdringlich, und mit Schrecken denkt der Westen deS Moments, wo er sich heben wird. Welcher Schauplatz wirb sich da zeigen, welche Rollen werden diese bereits geschmückten und geschminkten Acteure, die nur das Stichwort erwarten, da spielen? Wessen ist die brennende Stadt, welche sie beschießen, wessen sind die fernen Schaaren, auf welche sie zielen? Wo werden sie einziehen? in Wien, in Berlin oo.r Paris? Wem wirb Victoria die Siegespalme reichen? und wie werden sie ihren Einzug halten? triumphirend, um ferner zu drohen, oder gefangen und gefesselt, um schweigsam als Trophäen die öffentlichen Gebäude zu schmücken? Der hier aufgehäufte Segen von Kugeln ist über-schwanglich, alle Gehöfte des Arsenals sind damit gefüllt und die Thüren und Eingänge mit ihren Pyramiden geziert, und so gedankenlos und ruhig auch die russische Schildwache dabei auf- und niedermarschirt, so ängstlich fragen sich im Stillen die Türken, die Kaukasier, die Deutschen, Chinesen, Bucharen und Franzosen: „nach welchen Himmelsgegenden werden sie auseinander rollen? Ist diese für meinen Sohn bestimmt? Zielt man auf meines Vaters Haupt? Wird die Bombe in unseren Wohnzimmern zerplatzen? Werden die K.u- 326 Die Arsenale. Hitschen unsere Kirchhöfe füllen?" Die Perle der Kugel ^ schwarz, und keine prophetische und schicksalskundige Geisterhand hat darauf geschrieben: „den ... Nov. 18.. auf Olmützens Markte zu erscheinen," oder: „im Frühlinge 13. - die ersten Schwalben in Konstantinopels Gärten," oder: „am ersten Pfingstmorgen die englischen Matrosen zu wecken," oder: „am Wechnachtsabend die Pariser zu begrüßen," oder: „am Neujahrstage die Kau-kasier zu verscheuchen," oder: „19.. den ... Februar die rebellischen Schweden zum Gehorsam zu bringen," oder: „den 6. Nov. 1910 die Chinesen geschmeidig zu machen." — In der That, die russischen Kugeln haben so viel Zukunft, und die ihnen bevorstehenden Schicksale sind so bunt, daß die Phantasie erlahmt, wenn sie alle die möglichen Ereignisse in dem Leben einer solchen Kugel erwägt, und wenn sie an alle die Federn und Druckerpressen denkt, denen sie mit Beschreibung ihrer Thaten einmal Beschäftigung geben werden. Die Kaiserpal äste. „Sage mir Keiner: „Hier soll ich hausen! „Hier mehr als draußen „Nin ich allem." «Lls der Kaiser Paul anfing, seine Unterthanen zu fürchten, verschanzte er sich hinter den festen Mauern des Michailow'schen Samoks (Forts). Er ließ den alten an der Fontanka siehenden Sommerpalast*) weg' reißen und an seine Stelle seine befestigte, aus Granitsteinen aufgeführte, mit Wall und Graben umgebene und mit Kanonen bespickte Residenz erbauen, welche er dem Erzengel Michael widmete, wie eS denn russische Sitte ist, nicht nur Kirchen, sondern auch andere öffentliche Gebäude, Festungen, Schlösser u. s. w. eigenen Schutzheiligen zu weihen. Das Schloß hat ein *) Im Gegensatze zu diesem alten Sommcrpalaste hieß die große gewöhnliche Residenz dcr Kaiser „Winterpalast," welcher Name ftit dcm Verschwinden des Sommcrpalastes nun eigentlich kdcutungslos geworden ist. 328 Tie Kaiseipaläste. finstreres Aeußere als die übrigen Petersburgs Paläste ^nd eine sonderbare Bauart. Es ist ein großes, hohes und gewaltig massives Quadrat, dessen 4 Fanden so verschieden geschmückt sind, daß nicht eine der anderen gleicht. Die Graben sind jeht zum^ Theil wieder gesüllt und in Gartenanlagen verwandelt, aber zum Haupteingange gelangt man noch jeht über mehre Zugbrücken, wie zu einer mittelalterlichen Ritterburg. Auf dem Platze vor diesem Haupteingange steht ein in künstlerischer Beziehung ziemlich unbedeutendes Monument, welches Paul Peter dem Großen setzen ließ, mit der Inschrift: „pi-cxiiilw sl-a^viluk" sdem Urgroßvater der Urenkel). Ueber dem mit architektonischem Schmucke überladenen Hanpteingange des Schlosses steht mit großen goldenen Buchstaben cine Bibel-stelle in altslauonischer Sprache: „Dornn twoümu [u'orio-bajet ewatina gospodna w'dolgolu dneik< (Aciliflfcit ft« die Zierde deines Hauses ewiglich). Dieses Wort ging schlecht in Erfüllung, denn der Kaiftr bewohnte das Haus nur drei Monate, als ihm der Tod von solcher Hand gegeben warb, gegen die seine Kanonen ihn nicht schützen konnten. Der Palast würd»? mit außerordentlicher Schnelligkeit errichtet; 50N0 Mann arbeiteten täglich an seiner Vollendung. Um den Kalk der Wände schnell zu trock» nen, wurden ähnliche Mittel angewendet, wie bei dem Wiederbau des jetzigen Winterpalastes. Dennoch konnte natürlich die große, hier angehäufte Kalk- und Stcinmasse nicht so schnell austrocknen, und gleich nach dem Tode des Kaisers mußte man den Palast als völlig unbewohn« Die Kaiserpaläste. 329 bar verlassen. Und obgleich er seitdem wiederhergestellt worden ist, so wurde er doch nie wieder bezogen, sondern zu anderweitigen Zwecken verwendet. Die Kosten des Baues beliefen sich auf nicht weniger als 18,000,000 Rubel. Bei gehöriger Muße hatte man dcn Palast vielleicht mit 6 Millionen fertig bauen können. Die inneren Räume und Sale des Schlosses sind groß und labyrin-thisch. Eine prachtvolle Marmortreppe führt zur ersten Etage hinauf, und die Vestibülen und Corridors find alle mit schönen Marmorartcn gepflastert und ausgelegt. Das Parket der Cale wurde, damit man nickt auf die Verfertigung eines neuen zu warten brauchte, aus dem tauri-schen Palais genommen, seitdem aber wieder auf seinen alten Platz zurückgeschafft. Die Zimmer, in denen Paul um's Leben kam, sind vermauert und versiegelt. Die Russen thun dieß gewöhnlich mit dcn Zimmern, in denen ihre Aeltern starben. Sie haben eine gewisse Echeu vor ihnen und betreten sie nicht gern wieder. Der Kaiser Alexander hat diese Zimmer nie betreten. Der jetzige Kaiser aber, der sich weder vor der Cholera in Moskau, noch vor dem Aufruhre in Petersburg, noch vor den Dolchen in Warschau fürchtete und überall ein kühnes Antlitz zeigte, hat sie schon mehre Male in Augenschein genommen. Es befinden sich diese Zimmer, deren blinde und bestaubte Fenster man leicht von außen er» kennt, in der zweiten Etage des Gebäudes. Die Zimmer der schönen Lapuchin waren unmittelbar unter ihnen im ersten Stocke. Sie sind jetzt von den Aufschern des Schlosses bewohnt. Die Treppe, welche zu ihnen 330 Dic Kaisrrpaläste. hinabführte, ist abgebrochen worden. Während der Negierung des Kaisers Alexander verfiel Alles im Schlöffe der Art, daß, als Nikolaus dasselbe wieder auffrischen und rcstauliren lassen wollte, blos die Hinausschaffung des Schuttcs, Staubes und Schmuzes «2,000 Rubel kostete. Die Deckengemälde der Säle haben ein mehrfaches Interesse. In dem einen wird die Erneuerung des Maltheserordens vorgestellt. Nuthenia, eine schöne Jungfrau mit Paul's Gesichtszügen, sitzt auf einem hohen Berge, neben ihr ihr gewaltiger Adler. Die Fama fliegt von Süden her erschreckt heran, verkündet ihr das im Mittelmeere von den Türken und Franzosen verübte Unrecht und bittet, daß ihr Schützling sich unter die Flügel des machtigen Adlers retten dürfe. Unten erblickt man in der Ferne die von den Meereswellen und den feindlichen Flotten bedränte Insel. In einem anderen Saale sieht man alle Götter Griechenlands versammelt, deren verschiedene Physiognomiken von den damals am Hofe lebenden Personen entlehnt sind. Der Architekt des Schlosses, der nicht wenig dabei für seinen Beutel pro? sitirt hatte, erscheint darauf als fliegender Mercur. Als Paul, der sehr stark in treffenden Bonmots und Calem-bours war und wohl wußte, daß nicht alles von ihm gelieferte Geld hier in Stein und Holz verwandelt worden war, sich die verschiedenen Gesichter deuten ließ, «r< kannte er sogleich das Gesicht des Mercur und sagte lachend zu seinen Hofleuten: „äl, voilu l'u>-oI>Nl^«L, <,ui volvl" (Da ist ja unser Architekt, welcher „stiegt" und stiehlt!"). Das alte Michailow'sche Palais dient jetzt der In- Die Kaiserpaläste. 331 genieurfchule zum Aufenthaltsorte; 1')l) junge Leute erhalten hier ihre mathematische und physikalische Bildung, und man sieht jetzt seine Garten mit frischen jungen' Cadetten gefüllt, die darin spielen oder ererciren, und die ehemaligen Thron-, Audienz- und Speisesale sind zum Theil in schone Schul- und Hörsale, in Schlaf- und Eßzimmer für die Schüler verwandelt worden, zum Theil werden sie zur Aufbewahrung von Sammlungen sehr an-ziekiender Gegenstande benutzt, die für das russische Ingenieur- und Festungswcscn vom höchsten Inttresse sind, und mail muß sich in der That nicht wenig wundern, wenn man bemerkt, wie man auch mit diesem Zweige hier schon auf's Neins gekommen ist. Rusiland ist in Beziehung auf militärische Fortification in 10 Kreise getheilt. Den auf Fortification bezüglichen Gegenständen jedes Kreises ist ein Saal gewidmet. In dicsem Saale liegen zunächst in großen Schranken alle Plane der innerhalb des Kreises bereits befindlichen oder neu projectirten Festungen, Generalplane sowohl als vollständige Specialplane. Alsdann hat'jede Festung noch ihren eigenen Materialschrank, in welchem man Proben von den Ziegelsteinen, den Crdarten und den verschiedenen Felsen findet, welche in der Nahe der Festung vorkommen, und aus denen sie gebaut ist oder doch gebaut werden könnte. Endlich stehen auf großen Postamenten in der Mitte der Sale alle befestigten Städte Rußlands in Holz und Thon nachgebildet, und zwar mit einer solchen Genauigkeit, daß nicht die geringste Erhebung oder Senkung des Bodens, kein Haus und kein Baum 332 Die Kaistrpaläste. vergessen ist. — Auf diese Weise sieht man hier Kiew, Reval und Riga in dem deutlichsten Bilde von der Welt vollkommen nachgebildet. Sehr bemerkenswert!) ist es, daß sich darunter auch eine ganz vollständige Nachbildung der Dardanellen-Schlöffer mtt allen ihren verschiedenen Bastionen und Mauern und mit genauer Nachformung aller kleinen Buchten des Hellesponts und der benachbarten Höhen und Felsen befindet. Mittels dieser Darstellung kann man von Petersburg aus den ganzen Angrisssplan auf die Dardanellen dirigiren. Es ist die Frage, ob die Engländer auch schon so aufmerksam voi> gesorgt haben und ähnliche detaillirte Bilder besitzen. Auf dem blanken Spiegel des Hellesponts segeln viele türkische und russische Schiffe hin und her, und man sieht daraus, daß die russische Phantasie stets thätig ist, sich deutlich ihres Interesses bewußt zu werden. Die Vermischung der Dardanellen-Schlösser mit den von russischen Truppen besetzten deutet darauf hin, daß die Russen sie gewissermaßen schon als die ihrigen betrachten, und so wird denn das Andenken an Alexander's Ausspruch immer frisch erhalten: ,>Il nou« luut »voir Ie« ölet'« 6u nutre mm^on clm>« lu ziocils" (wir muffen die Schlüssel zu unserem Hause in der Tasche haben). In einem anderen großen Saale befindet sich eine außerordentliche Menge von Ukasen und militärischen Verordnungen, die auf Festungsbaucen Bezug haben. Eie sind von den verschiedenen russischen Kaisern und Kaiserinnen eigenhändig unterschrieben und zum Theil auch Die Kaiserpaläste. 333 corrigirt. Besonders viele Correcturen fügte Katharina mit ihrem Nochstifte hinzu; auch der jetzige Kaiser hängt immer eigenhändig seine Verbesserungen, Aenderungen, Annotationen und Verfügungen den Gesetzen, Decreten und Richtcrsprüchen an. Ich sich hier in hundertfältigen Wiederholungen die so gewichtigen drei Worte; „Umt po s^emu" (es sei dem so —> nmsi e«!, notre plni«!,-), die jedem Ukcise hinzugefügt werben. Katharinens Handschrift ist sä)lecht, obgleich ihre Unterschriften nie flüchtig sind, im Gegentheile scheint sie sich Mühe bei'm Malen der russischen Buchstaben gegeben zu haben. Alle langen Buchstaben haben unten einen kleinen Schnörkel, der mit zitternder Hand ausgeführt ist, doch zeigen einige auch eine ganz schiefe und abweichende Richtung, und es stehen nicht alle Buchstaben auf einer Linie. Dabei sind sie ohne Verbindung mit einander, und fast jeder Buchstabe sieht isolirt und ziemlich senkrecht ohne Fluß und Rundung. Man glaubt die Handschrift eines älteren Mannes vor sich zu haben. Zuweilen verfallen sogar die einzelnen Buchstaben wieder in gesonderte, unzusammenhang-ende Striche. Das Ganze ist ohne Schmuck und ohne einen verschönernden Zug. Hinter ihrem Namen „Ie-kathrma" steht alle Mal ein dicker Punct, als hätte sie sagen wollen- „Und damit Punctum — Basta!" — Der Kaiser Alerander schrieb eine schöne Hand, sein Name fängt immer mit einem großen, eleganten „A" an. Die übrigen Buchstaben, obgleich schlank geschrieben, sind keineswegs leserlich, biS zum Schlüsse, dem „r", das wieder sehr deutlich und schön gemacht ist. Unter dem gZ4 Die Kalscrpaläste. Namen befindet sich ein aus Spiralen und Zickzackzügen aufierst bunt zusammengcsehrcr Schnörkel, der anfangs sebr verwirrt aussieht, durch den man aber doch sehr leicht den Faden findet, weil er immer sehr regelmä« ßig und auf dkselbe Weise gemacht ist, und die sich kreuzenden Züge sich immer bestimmt von einander sondern. Nikolai schreibt von allen russischen Kaisern entschieden die schönste Hand. Sie ist kalligraphisch untadelig, deutlich, geläufig, gleichmäßig und gcnan. Der Kaiser beginnt mit einem einfachen, von unten nach oben gebogenen Feberzuge, unter dem sein Name wie unter einem Dache steht; der Name selbst ist ganz einfach, aber sehr deutlich in wohlvcrfließenden Buchstaben von Anfang bis zu Ende ausgeschrieben. Der letzte Str!ch des „i" lmgl sich in einem schlanken Bogen nach unten, der sich unten zwei Mal in wohlgefälligen Linien hin-und herwiegt, dann in Spiralen sich an den zuerst gemachten einfachen Feberzügen hinaufrankt und zuletzt über dem Namen in einem dicken, nachlässigen, aber nicht mißfalligen kühnen Striche endigt, welcher mit starkem Drucke der Hand und mit der ganzen Breite der Feder gemacht wird. Von allen Seiten erscheint so der zie^ Ilche Name in einen hübschen Rahmen gefaßt. Es leidet, glaube ich, keinen Zweifel, daß das neue Michailow'schc Palais, die Residenz des Großfürsten Michael, das eleganteste Gebäude in Petersburg ist. Es wurde dasselbe im Anfange der zwanziger Jahre von einem Italiener Namens Rossi gebaut. Das Innere ist entschieden das Schönste und Geschmackvollste in Decoration Die Kaiserpaläsic. 335 und Möbliruna,, was in Petersburg zu sehen ist, dock ist es auch schon ein Genuß, das Auge an den herrlichen architektonischen Verhältnissen des Aeußeren zu weiden. Es gekört erstaunlich viel dazu, daß ein königliches Gebäude sich so vortheilhafte Umgebungen und Avenues verschaffen kann, wie dieses Palais sie besitzt, selbst der kaiserliche Winterpalast hat sie nicht. Von allen Seiten frei und durch nichts gehindert, breitet es sich mit allen seinen verschiedenen Flügeln und Gehöften auf das Gemächlichste aus und präscntirt sich in cincm vollständigen und abgeschlossenen Bilde den Augen mit all seinen schönen Proportionen, ohne daß irgend eine Thurmspitze, irgend ein An- und Nebenbau störend eingriffe. Hinter dem Palaste liegt der sogenannte kleine Sommergartcn, dessen hochragende Baume und Laubpartieen in wohlgefälligen Contrast treten mit den artigen Winkeln der architektonischen Linien. Vor der Hauptfronte legt sich dem Palaste ein großer freicr Platz zu Füßen, der mit eleganten kleinen Gebäuden bedeckt und dessen Teppich mit hübschen Blumen- und Buschpartieen gestickt ist. Der innere Vorhof des Palastes ist davon durch ein so äußerst geschmackvolles und großartiges Eisengitter geschieden, wie man deren nur hier in Petersburg zu schen bekommt. Zwei elegante Eisenthore führen zu einer magnifiken Auffahrt, der Thüre des Hauptgebäudes. Die Proportionen dieses Hauptgebäudes, das Verhältniß der Höhe zu der Länge, das Verhältniß der verschiedenen Etagen zu einander und dann wieder das Verhältniß der Größe des Ganzes zu d^n umgebenden PlalM, sie beweisen, daß der Z36 Die Kaiscrpaläste. Architekt auf Alles Rücksicht nahm und seine Aufgabe in ihrem ganzen Umfange kannte. Zwölf große Säulen tragen über dem Haupteingange ein etwas hervorragendes Frontispiz, das mit Sculpture« reich verziert ist, eine elegante Balustrade lauft über dem Gesimse herum und maskirt das Dach, und eine hübsche Reihe korinthischer Säulen tragt das Gebalke der Vele'tage; zwei von hohen Thorwegen unterminirte Flügel streben bis zum vorderen Gitter hinan und schließen die Area von beiden Seiten ab. Alle anderen Nebengebäude und die zahlreichen Gehöfte zwischen ihnen stehen in eben solcher Harmonie unter einander und mit dem Hauptgebäude, und es zeigt sich, daß das Ganze ein einziger Plan und ein Guß war, und daß hier nicht zu verschiedenen Zeiten geflickt und hinzugefügt wurde. In der ganzen Umgegend zeigen sich noch weit und breit die verschiedenen Gebäude und Etablissements des Großfürsten Michael, die Wohnungen seiner Beamten, seine Stallungen, seine Reitschule u. s. w., und man könnte dieses Stadtquartier sein ihm zugetheiltes Reich nennen. Die Ncitschule verdient eine besondere Erwähnung und Beschreibung. Diese Anstalt unterrichtet 50 junge Leute in der Reitkunst und in allen Wissenschaften, welche in entfernter oder naher Beziehung zu Pferd und Reiter stehen. Für diesen Zweck wie für die Carroussels in der schönen Reitbahn des Hauses, an dc-nen der Hof oft Theil nimmt, werden hier viele der vortrefflichsten Pferde unterhalten, und Beide, Pferde wie Schüler, sind so gut beköstigt und logi«, daß Die Kaiserpaläste. 337 man nicht ohne Fronde die Reihe von reinlichen und eleganten Schlafkammern, Wohnstuben, Schulzimmern, Sattelkammern, Pferdeställen u. s. w. durchschreiten kann, die sich hier in ununterbrochener Suite an einander schließen. Alle diese Räume haben in der Mitte doppelte Flügelthüren, die den ganzen Tag offen stehen; «in langer Teppich führt auf dem Boden auch durch die Pferbe-ställe hin, so daß die Inspectoren mit einem Blicke Alles übersehen können, sowohl, ob der edle „Asir", der schöne Schimmel arabischen Geblüts, der wegen seines feinen Seidenhaares und seiner breiten Stirn so berühmt ist, und der feurige „Kaimak", englischen Stammes aus einem Orlow'schen Gestüte, der wegen seines zierlichen Maules und seiner wundervoll leicht geformten Veins so geschätzt ist, wohlauf sind, als auch, was die jungen Ca-detten der Reitkunst, die sich auf ihre Rosenwangen und ihre hübschen Bärtchen so viel einbilden und halbe Stunden lang vor dem Spiegel ihre Haare zurecht legen, in ihren Zimmern beginnen. Es ist fast unbegreiflich, wie trotz dieser geringen Sonderung so verschiedenartig duftender Räume doch eine so reine Luft erhalten werden konnte, als parfumirten sich auch die Hengste mit 1?nu-— Gewöhnlich sieht man die Tscherkessen mit Neiterkünstcn und Scheibenschießen in diesem Gebäude beschäftigt, wobei auch der Akustiker noch manche Beobachtung für seine Wissenschaft gewinnen könnte. Ein Pistolenschuß regt hier in so ungeheuerem Grade das Echo auf, daß man auf der Straße meinen könnte, das ganze Gebäude falle krachend zusammen. Als Potemkin, der Taurier, Besieger der krim'schen Chane, noch in dem von Kathariuen ihm geschenkten und nachher ihm wieder abgekauften tamischen Palaste residirte und mit seiner unerhörten Prachtliebe alle 15' 340 Die Kaiferpalast«. diese jetzt ziemlich öden Räume schmückte und belebte, mag dieses Kaiserhaus allerdings scinem, mancherlei Erwartungen rege machenden Namen entsprochen haben. Man mußte es an einem solchen Tage sehen, wo jener übermüthige und verschwenderische Günstling seiner Kaiserin hier ein zauberisches Triumphfest gab. Jetzt sieht sein Inneres wie ein Vallsaal am Morgen nach dem Feste aus. Sein Acußeres konnte nie auf besondere Schönheit Anspruch machcn; des beßten Inhalts beraubte man es, um andere Paläste damit zu schmücken. Obgleich es noch dann und wann, aber höchst selten, im Frühlinge von der kaiserlichen Familie bewohnt wird, so ist doch selvst sein Ameublemcnt sehr gewöhnlich, die großen Spi^ gel sind erblindet, die Tische und Stühle in einem veralteten Style gearbeitet, die Sammlung von Antiquitäten, die in den ersten Sälen aufgestellt ist, enthält wenig Ausgezeichnetes und Originelles, und ebenso sind die Gemälde meistens nur schlechte Copicen guter Originale. Der ungeheuere Vallsaal, der grösite Petersburgs, ist das Einzige, worauf sich der Palast noch» etwas zu Gute tlmn könnte. Man wird sich einen Begriff von der Größe dieses Saales machen können, wenn man hört, daß zu seiner vollständigen Illumination nicht weniger als 20,000 Wachskerzen verwendet werden müssen, und daß man die an dem einen Ende aufgestellte kolossale Laokoongruppe von dem anderen Ende nm mit dem Teleskope deutlich erkennen kann. Das letzte große Fest, welches hier gegeben wurde, war die Hochzeit des Großfürsten Michael, von dem sich noch die jetzigen Decora- Die Kaistrpaläste. 341 tionen des Saales herschreiben. Uebrigens ist aller Marmor hier falsch, aller Silberglanz nur übersilbcrtes Kupfer, alle Säulen sind Ziegelsteine, alle Statuen und Gemälde Copieen. Die Spiegel im Palaste, obgleich 10 Schuh breit, I Zoll dick und verhaltnißmasiig hoch, sind so schlecht gemacht, daß ihre Oberflache, wenn man darüber hinblickt, förmliche Wellen schlagt und voll Blastn ist-, sie stammen noch aus der alten Zeit der Petersburger Spiegelfabrikation, und man sicht im Vergleich mit den neueren Producten, welche Fortschritte man jetzt gemacht hat. In einem der zahlreichen Zimmer, tvelches vom Kaiser Alexander bewohnt gewesen war, fanden wir Ge-leqenheit, die Titel der großen russischen Staatsamter zu studiren. Denn in den Bureaus und Schubladen lagen noch große Haufen von Vriefcouverts mit darauf gedruckten Adressen: „^ul^ollnlmku Mn^^'o ßMnbn mo-^^l)'' (dem Chef meines Marinestabes), „6lnniwnkl-te,l)l,ul5lv^li5ol>t5i«)llomli Nl>ä ziotscllltnvüm vep»!'lem«l!" ll-m" (meinem Oberpostmeister, wörtlich: dem Obervorsteher im Postdepartement). Eine Tischdecke mit Wachsflecken vom Lichte des Kaisers Alexander, mehre Pastellzeichnungen seiner vortrefflichen Gemahlin Elisabeth und noch einige andere Sachen der Art wird man nicht ohne Interesse betrachten. Weit häufiger als der taurische Palast wird der An-nitschkow'sche von der jetzigen kaiserlichen Familie be» wohnt, er liegt an der großen Perspective in der Nähe der Fontanka und beschließt hier die brillante Palastreihe „Glawnona- tsehulsLwujuscIilschemu nad potschlowiim Deparlemen-lem" (meinem Oberpostnmster, wörtlich: dem Obervorsteher im Postdecrement). Eine Tischdecke mit Wachsflecken vom Lichte des Kaisers Alexander, mehre Pastellzeichnungen seiner vortrefflichen Gemahlin Elisabeth und noch einige andere Sachen der Art wird man nicht ohne Interesse betrachten. Weit häufiger als der taurische Palast wird der An-nitschkow'sche von der jetzigen kaiserlichen Familie be» wohnt, er liegt an der großen Perspective in der Nähe der Fontanka und beschließt hier die brillante Palastreihe 342 Die Kaistrpaliste. dieser Straße. Er wurde ursprünglich von Elisabeth gebaut und dem Grafen Rasumowsky geschenkt, dann von Katharinen zwei Mal angekauft und zwei Mal an Po-temkin vergeben und ist nun der Licblingspalast des jetzigen Kaisers, schön eingerichtet, doch ohne besonderes Historie sches Interesse. Er heißt officiell.' „d'as eigene Palais Sr. Kaiserl. Majestät", weil er dem jetzigen Kaiser schon als Großfürsten gehörte und dessen Wohnung war. Ein Theil des Hofes ist bestandig in diesem Palaste gegenwärtig; auch werden die meisten Verathungen des Kaisers mit seinen Reichsrathen, mit den Gesandten u. s. w. hier gehalten, und man müßte daher das Petersburger Kabinet eigentlich das Kabinct von Annitschkow nenner, wie man das Londoner das Kabinet von St. James und das Pariser das Kabinet der Tnilerieen nennt. Seitdem die Flammen von 1837 das ganze pracht» volle Innere des großen Win terpa lastes zerstörten, den „weißen Saal" und „dcn Saal beS heiligen Georg" mit ihren kostbaren Dccorationen verzehrten, den Saal der Feldherren mit allen den 400 Portraits der Feld-marschallc, Admirale und Generale der russischen Kriegsmacht in Nuß verwandelten und die Zimmer der Kaiserin mit ihrem brillanten Inhalte, mit allen den wunderbaren Kostbarkeiten, an denen tausend Künstlerhande Jahre lang mühsame Arbeit verschwendeten, mit ihrer ganzen fabelhaften Pracht, mit den wundervollen Malachitvasen, den schönen Iaspissaulen und Kaminen, an deren seltenem Material ein halbes Jahrhundert lang gesammelt wurde, zu Asche und Staub zerbröckelten, seitdem sie Die Kaiscrpaläfte. 343 auch in den Zimmern der erschreckten Hofdamen mid Gouvernanten, der Küchen«, Stall- und Anisbeamten einbrachen und hier in wenigen Augenblicken ruinirten, was der Zahn der Zeit noch auf manchcn Erben hatte kommen lassen, hat eine betaillirte Beschreibung des Winterpalais weniger Interesse. Wer je die frühere Ein^ richtung des Winterpalastes gesehen hat, kann schwerlich ohne Tlmlnahme an all die Zerstörung denken, welche die gefräßigen Flammen hier unter diesem so erstaunlich reichlich ihnen gebotenen Material angerichtet haben-müssen, an diese ungeheuere Masse von Möbeln aller Art, die nicht nur in den Zimmern aufgestellt, sondern auch in den großen Magazinen des Hauses als Vorrathe aufgehäuft waren, an diese tausend und abertausend Ellen von Sammet, Seiden- und Goldstoss, die, von den Flammen ergriffen, in einem Momente ihr erfreuliches Dasein einbüßten, und an diese hundert und aberhundert Ubr,-werke, an deren Composition sich tausend Augen blind sahen und die in der Umarmung des Feuers auf einmal zu ungestalten Klumpen zusammensanken, an diese zahllosen Product« des Hammers, der Feile, des Hobels, des Pinsels, des Meißels, des Beils, der Feder, des Gedankens, des Gemüthes, der Hand, des geistigen und leiblichen Schweißes, die hier in einer Nacht in schwarzen Dampfmassen zum Himmel rollten. Es fragt sich, ob seit dem Brande von Persepolis je wieder so viele und kostbare Schatze menschlicher Arbeit und Kunst binnen 24 Stunden in Rauch aufgingen. Die prachtvollen Höfe l«nd Negierungen Elisabeth's und Katharmens, Aleran-^ 344 Die Kaiserpaläste. der's mid Nikolai's hatten fast cm Jahrhundert an ihrer Anhäufung gesammelt. Nicht gering muß der Einfluß dieses einzigen Hausbrandes auf die Industrie und den Kunststeiß Petersburgs gewesen und noch jetzt sein. Denn Millionen müssen verausgabt werden, um alles Verlorene zu restaurircn. Manches Familienglück, manches grosie Vermögen, ja die Begründung manches neuen I»du-sttiezwciges, sie sind als Phönixe aus der Asche des Win--terpalais emporgetaucht, und es macht dieser Brand eine Epoche in der Geschichte der Stadt. Einige Familien datiren von diesem Brande her ihre Diplome und Titel, ihr Emporkommen und Glück, andere ihren Fall und ihre Abdankung. Die Zimmersuiten des Winterpalais waren wahre Labyrinthe, und man sagt, daß nicht weniger als 6000 Menschen darin gewohnt haben. Selbst der Minister des kaiserlichen Hauses, der schon zwölf Jahre auf seinem Posten war, soll keine vollständige Kenntniß von allen Theilen des Gebäudes gehabt haben. Wie in den Walbern der weiten Gutsbesitzungen russischer Grundherren sich oft Colonisten ansiedeln, von denen die Eigenthümer Jahre lang keine Notiz nehmen, so nisteten sich in diesem Palaste manche Ansiedler ein, die nicht als regelmäßige Einwohner verzeichnet wurden. Die Wachter auf den Dachern des Palastes, -die zu verschiedenen Zwecken dort postirt waren, erbauten sich Hütten zwischen den Schornsteinen des Hauses, gleich den Sennhütten auf eincm Gebirge, holten ihre Frauen und Kinder hinauf, ja hieltm sogar Geflügel und Ziegen daselbst, die das GraS des ' Die Kaiserpaläste. 345 Daches abweideten; es soll.-n sich hier einmal sogar einige Kühe eingesä)lichen haben, welchem Mißbrauche mdcß schon vor dem Brande Einhalt gethan worden war. Das innere Leben jener 60U0 Menschen, die unter einem und demselben Dache alle möglichen Formen der Persönlichkeit darstellten, von dem unbedeutendsten Küchen-und Stalljungen bis zu dem allermachtigsten Potentaten, aller dieser eleganten Offiziere, dieser bärtigen Kutscher, dieser geschmückten Hosdamen, dieser weißgetleidettn Köche, dieser hoch und dürftig besoldeten Beamten, würde zu den interessantesten Darstellungen Stoss genug bieten, und man könnte eine eigene Topographie und eine besondere Statistik dieser merkwürdigen Commune schreiben. Doch möchten die Data dazu schwer zu erhalten sein. An das Winterpalais schließt sich gegen Osten die Eremitage zur Seite an, an diese das kaiserliche Theater, an dieses stoßen mehre andere Palaste von Priuat-personen und zuletzt folgt der Marmorpalast. Ohne Zweifel stellt sich Jeder bei diesem freundlichen Namen einen schmucken, weißen, wohlgefälligen Palast vor, den fernhin leuchtet und wie der Tempel Salomon's am Ufer der Newa liegt, und wird daher nicht wenig erstaunen, ein dunkles und ftstungsattiges Gebäude darin zu sin-den. Wenigstens erscheint er so mitten unter den hellen und lachenden Palästen Petersburgs, wenn er auch in unseren fmsteren Städten eben nicht sehr auffallen würde. DaS Haus sollte passender „Granitpalast" genannt werden; denn es ist daran mehr Granit und Eisen als 15" A46 Die KaiserMäste. Marmor verschwendet. Der untere Theil der Mauern ist außerordentlich massiv aus großen Granitblöcken zusammengesetzt, Holz ist zu seiner Construction gar nicht verwendet worden, der Dachstuhl besteht ganz aus eisernem Gebalke, das Dach selbst bilden Kupferplatten, und die Fensterrahmen sind vergoldetes Kupfer. Das Haus wurde zuletzt vom Großfürsten Constant!« bewohnt und befindet sich jetzt offenbar in einem Zustande der Vernachlässigung. Die genannten Paläste waren bisher die einzigen kaiserlichen Wohnhauser in der Stadt. Einige auf den Inseln liegende werden wir spater erwähnen. Bei der jetzigen Größe der kaiserlichen Familie — noch nie war der russische Thron von so vielen Prinzen und Prinzessinnen umgeben wie jetzt — läßt es sich aber vermuthen, daß spätere Reisende bald noch mehre kaiserliche Paläste werden zu nennen haben. Die G r e m i t a g e. ,,I>i dem liedlichsten Gcwirre, Wo das Bild um Bilder summt, Dichterblicl wird scheu und irre. Und die Leier, sie verstummt." >3s ist eine bekannte Sache, baß Katharina sich eine Eremitage, baute wie Friedrich Nr Kroße ein Sanssouci, wie Numa Pompilius eine Egeriagrotte. Doch ist diese Petersburger Eremitage — hundert Male ist es gedruckt und zum letzten Male (?) sei es qesagt — keine stille Klausnerhütte, keine verborgene Felsengrotte, in der Einsamkeit etwa an den murmelnden Quellen der Newa versteckt, sondern ein prächtiger Palast, hoch, qroß, stolz an der Mündung des breiten Stromes thronend. Außer den Mastenwaldern der Schisse umher findet man keine Waldungen und außer den Bären, Wölfen und Füchsen, welche die Petersburger Elegants auf dem Höft quai tragen, keine Thiere in dieser Wildniß; die Felscn dieser Einöde sind lauter polirte, gemeißelte und von be- 348 Die Ermitage. wohnten Sälen durchbrochene, und die Ercmitin selbst im Inneren der Einsiedelei war eine Kaiserin; die Mu-fcn, Nymphen und Waldgötter waren lauter sichtbare, warmblütige und lymphenlose, von der Ambrosia und dem Nektar der kaiserlichen Tafel sich nährende Hofdamen, Grafinnen, Fürstinnen, Gelehrte und Künstler, die Daschkow, Diderot, Voltaire, Numjanzow und Der-shawin. Die Kaiserin ließ diesen Zlmbertempel für die Musen und die Muße, für die Conversation mit den Gelehrten und die Conservation der Kunstproducte erbauen, und es ist bekannt genug, wie reizend, wie geschmackvoll, wie prachtig und üppig sie barin die Abende verbrachte, wenn sie die Geschäfte in dem von Elisabeth erbauten WinterpaKiste beendet hatte und über die bedeckten Gänge und Vrückenwege, durch »vclthe derselbe mit der Eremitage in Verbindung geseht war, in die schönen Räume ihrer zauberischen Schöpfung eintrat, wo sie unter ihren Auspicien und im Schatten ihrer Macht eine Republik von Gelehrten und Künstlern gegründet hatte. Wir besitzen manche reizende Schilderungen von Schriftstellern, die an diesen schönen Abenden Theil nahmen, an denen, einein in allen Sälen des Hauses angeschlagenen Ukase zufolge, völlige Freiheit und Gleichheit herschte. Musiker ließen sich hören, Maler producirten ihre Werke und kluge Männer ihre Meinung, und die Bilder, die wir sonst nur als allegorische Darstellungen von solchen Fürsten, welche Wissenschaften und Künste beförderten, sehen, wurden hier alle Tage Wirklichkeit. Auf dem Dache des Tic Eremitage. 349 Gebäudes hatte die mächtige Semiramis des Nordens einen Garten mit Blumen, Gebüschen und hohen Laub-bäumm geschaffen, der im Winter durch unterirdische Gewölbe geheizt und im Sommer illuminirt wurde, und Manchem mochte es hier in der That herrlicher zu sein dünken als auf dem griechischen Olymp. Zwar ist in der Einrichtung des Hauses, das bei dem Brande des Nmterpalais beschädigt wurde, Manches geändert, doch sind die Sammlungen, der kostbarste Inhalt dieses Gebäudes, im Ganzen dieselben geblieben. Den stärksten Theil der von der Kaiserin hier aufgehäuften und von Alexander vermehrten Sammlungen bildet die große Gemäldegalerie, welche weltberühmte Stücke enthält und wohl geeignet ist, kunstliebende Augen manch-fach zu entzücken, besonders wenn sie Freunden der niederländischen Meister angehören. Denn im Ganzen giebt es hier weit mehr holländische Vauerhütten, wie Qstabe sie matte und wie sie im grellsten Contraste mit dem Palaste, dem sie einverleibt wurden, stehen, als vene-tianischs Paläste und römische Kirchen, mehr norddeutsche Viehweiden als südliche Alpen, mehr gebratene und un-qebratene Hühner als geröstete Märtyrer, mchr vom Bratspieße der Köche durchbohrte Hasen als von Pfeilen der Heiden getroffene Sebastians, mehr Hunde, Pferde und Kühe als Heiligenscheine, Priester und Propheten, mehr Natur- als Menschenleben. Von einigen niederländischen Meistern sind so ungemein viele Production«» hier, daß man ihnen eigene Sale widmete und daß man 350 Die Gremitage. kaum begreift, wie noch für andere Sammlungen Bilder von ihnen übrig bleiben konnten. Van der Neer hat den Mond so oft gemalt, als wäre er ein Dianapriester gewesen; überall erscheint auf seinen Bildern der Mond und wieder der liebe Mond, der Viertel-, Halb- und Vollmond, hinter Wolken, unter Baumzweigen, über Stroboachern, am klaren Himmel schwebend, und zwischen Ruinen schimmernd. Gewöhnlich ist das Meer, oder ein See, oder sonst ein Waffer in der Nähe, auf dem die lange strahlende Straße des Wiedcrscheines weit in die dunkle Ferne hincingleitet, Fischer sind im Vordergründe geschäftig, und Nachen schaukeln auf der silbernen Fluth. In der That ist auch von allen himmlischen Gestirnen der Mond das einzige, welches den Malern angehört. Die Sterne am Himmel sind zu klein und fern von der Erbe, um auf dem Bilde einen größeren Effect zu machen, als die auf einem gestirnten Fürstenmantel, sie gehören den Astronomen, Philosophen und Denkern, und ich glaube auch, baß noch kein vernünftiger Maler es versuchte, mit ihnen seine Gemälde zu begeistigen. Die Sonne aber ist zu prachtvoll, glänzend und feurig, um anders als in ihrem Wiederscheine gemalt zu werden, und die Maler, welche sie darstellten, scheinen mir in denselben Fehler verfallen zu sein, wie der, welcher des lieben Gottes Antlitz selbst zu malen versuchte; Gott und die Sonne darf man nur in ihren Werken, in denen sie sich reflectiren, malen, auch ist uns ja die Sonne beinahe ebenso unsichtbar wie der liebe Gott, da Nie- Die Eremitage. 351 mand ibr am hellen Tage in's Antlitz blicken und sich ihres herrlichen Zirkclrundes freuen kann, es sei denn, daß, wie bei'm Untergänge, sie von Nebeln verschleiert werde. Mit dem Monde, dessen schöngestalteter Phasen sich jedes Auge freut, und dessen große, schöne Kugel überall lieblich, mild und menschlich am Himmelsgewölbe schimmert, ist es etwas ganz Anderes. Als wolle er unsere Betrachtungen bei den van der Neer'schen Mondscheinlandschaften desavouiren, kam gleich im folgenden Zimmer Claude Lorrain mit seinen berühmten vier Tageszeiten, wo nicht nur am Abende und Morgen, sondern auch am hellen Mittage die gewaltige, göttliche Sonne am Himmel strahlte und mit einem zwergartigen Klecks rother Farbe angedeutet war. So schön wir übrigens die Landschaften des berühmten Lothringers fanden, so vermochten wir uns doch nicht mit seinem winzigen Apollo zu versöhnen und bedauerten Claude, daß er diesen Mißgriff nicht vermieden. — Diese vielgepriesenen Tageszeiten wurden in Italien gemalt und gingen in Italien und Frankreich durch verschiedene Hände, bis sie in den 'hercynischen Wald auswanderten und lange Zeit in Kassel weilten, wo sie der korsische Cäsar raubte und sie seiner Gemahlin in Paris zu Füßen legte. Von hier entführte sie der Wiederhersteller des Friedens und hing sie in seiner nordischen Palmyra ,n«f, wo sie den Hyperboräern «nter Eis und Schnee von der Pracht der südlichen Gefilde erzählen. Sie scheinen hier ganz an ihrem Platz« zu sein und sollten hier inmitten der sinnischen Sümpft gewiß besser verstanden und genossen 352 Die Eremitage. werden als irgendwo anders, weil man hier mehr als irgendwo anders alles Das entbehrt, was sie verherrlichen. Es wird auch wohl lange dauern, bis die starke Hand geboren wird, welche sie von hier aus eine neue Reise unternehmen ließe. In unseren Gemaldegalerieen hangen die verschiedensten Gegenstände gewöhnlich so bunt durcheinander, daß der Geist ein wahrer Proteus sein muß, wenn er nicht alles Genusses verlustig gehen will. Bald muß er sich in eine idyllische Stimmung versetzen, um cine Landschaft von Ruisdacl aufnehmen zu können, bald in eine elegische, um mit den Frauen zu trauern, die über dem Grabe des gestorbenen Christus weinen; bald muß er kriegerisch gesinnt sein, um in den Gefechten Wouver-mann's nicht den Muth zu verlieren, bald wieder jedem Gedanken an Kampfund Gefecht entsagen, um sich an Scenen hauslichen Stilllebens zu erfreuen; bald muß er sich einen unauslöschlichen Durst und unersättlichen Appetit einbilden, um die zerschnittenen Heringe, die Braten, Butterbrote und Weintrauben der Brüsseler und Antwerpener de-licat zu finden, bald den fastenden Klausner spielen, um sich mit dem heiligen Antonius bci'm Gebetbuche zu erbauen, oder zu jenem unschuldigen tändelnden Kinde werden, das die Hühner und Tauben Hondcköter's gern und spielend füttert. — Wer da nicht schwindelig werden, wer seine Seele retten will, der muß stark sein, der muß es verstehen, mit den Madonnen Rafael's entzückt zum Himmel zu schweben, mit den Schissern des Meeres die wüthenden Wogen Salvator Rosa's unerschrocken zu befahren, in Die Eremitage. " 953 dem einen Augenblicke der gewaltigen Scmiramis den Hof zu machen, in dem anderen das seidene Wachtelhündchen der Gemahlin Ruben's zu streicheln, hier mit den Bachanten Ostade's zu taumeln und doch seine Nüchternheit für die Anbetung der Caraccischen Ecce-Homos zu bewahren, in den Viehstall von Paul Potter zu treten und doch keinen Geruch davon zu den goldigen und seidenen Damen Van-Dyk's mitzubringen. Mit unseren heutigen Malern muß er die poetische Seite der Mitwelt auffassen und mit den älteren sich an's andere Eude der Weltgeschichte zu Adam und Eva in's Paradies schwingen. Alle Zeiten, alle Volker und alle Menschheitszustande müssen ihm nahe sein, denn hier verlangt ein römischer Consul Achtung und Ehrfurcht, dort heischt eines persischen Königs Majestät Unterwerfung und Gehorsam, hier sieht Bethlehem um Mitleiden für seine armen gemordeten Kinder, dort bittet auch das weit entfernte China noch um Theilnahme für seine gepeitschten Sclaven. Uns in der Petersburger Eremitage Wandernden begegnete zunächst nach jenen Claude-Lorra'm'lchen Landschaften ein liebliches Mädchen vor dem leidenden Christus von Pordenon Ist es Anna, ist's Maria, die Oel-verschwenderin oder die Ehebrecherin? Sie ist reizend und schön und wird bei keiner fühlenden Männerbrust vergebens um Theilnahme flehen. Es ist eins der schönsten Madchenangesichter, das je auf der Leinwand athmete, und werth, daß ein Fremder es unter Tausenden aufsuche. Wir versprachen der Jungfrau, sie nie zu vergessen, leg- 354 Die Eremitage. ten ihr Andenken zu dcn übrigen und gingen weiter, wo eine alte Frau von Denner entweder lins oder ihrem alten Ehegemahle, der neben ihr hing, eine Prise anbot. An Beiden wurde das Wort wahr: die Haare auf euerem Haupte sind gezählt, ja sogar die Haare auf den Hautpusteln der Wangen. Es ist unbegreiflich, daß Den-ner, der doch gewisi ein guter Maler ist, sich immer mit diesen Kleinigkeiten, mit den Varthaaren, mit allen Verästelungen der Runzeln und jeder Warze so viel Mühe gegeben hat. Es wird Einem übel dabei, und es ist, als wenn man sähe, wie Gram und Kummer sich Jahre lang müde arbeiten, alle diese Furchen in die Haut zu graben. Hat doch Claude Lorrain nicht jede Stoppe! auf seinen Getreidefeldern gemalt? — Caracci's kreuztragender Christus und Dominichino's Pfeilvergifterin sind treffliche Gemälde, die man noch mehr genießen würde, wenn nicht aus dem folgenden Saale ein gar zu lau-tes Geschrei und Geschnatter von Wynant'schcm und Hondeköter'schem Geflügel hervortönte. Dieser ganze Saal ist ganz voll davon, von Hühnern, Küchlein, Enten, Gänsen, Pfauen, Fasanen uno kalkutischen Hahnen, wie der Petersburger Vogelmarkt, Gern laßc man sich auf der hölzernen Bank unter dem schuldenden Strohdache, das Wynant's Pinsel baute, nieder. Dichtbelaubte Eichbaume und frische Hollunderbüsche beschatten den Wanderer, und das liebe Federvieh schnallt und zankt sich, frißt Körner und schnappt nach den Mücken im Grase. In den Seelen von Wmuutt und Hondcköter muß ein unbezahlbarer Frieden geherrscht ha. Die Ercmitagc. 355 ben. Sie scheinen sich nur mit den armen stummen Seelen, die wunderbar in die Leiber der friedlichen Haus-thiere gebannt sind, beschäftigt und ausschließlich von Tauben Kapaunen, Rindern und Kalbern geträumt zu haben. Selbst der Streit und Krieg ihrer Vögel konnte jhre Gemüthsruhe nicht stören, denn nur die Leidenschaften und Kriege der Menschen gehen uns zu Herzen. An Wynant schloffen sich Kuop und Rosa bi Ti-voli an. Die Bilder des Letzteren sind gewöhnlich etwas überladen, und seine Schafe blicken oft gar zu vorwitzig und klug den Beschauer an. Aber Kunp macht Einen wahrhaft lecker auf das schöne Glas, das er seinen Schafen giebt, und es ist ein wahres Glück für die armen Petersburger Kühe, daß sie von gemaltem Grase nichts verstehen, sie würben aus Aerger und Neid ihr ingri-sches Moos nicht mehr amübren wollen. Die berühmte Potter'sche Kuh, die man höchstens berüchtigt nennen sollte, könnte etwas schicklicher sein, und sie. würde gewiß dadurch in unseren Augen noch gewinnen. Sie ist eben so unästhetisch wie der von Jupiter's Adler emporge-tragene Ganymed und der kleine trinkende Bacchus in Dresden. Es ist unbegreifiich, daß sie ihre Stelle in der Eremitage einer Dame verdankt. Die Hühner von Wynant, die Kühe von Klwp und Porter, alle fühlen sich in ihrer festen Umzäunung — ich meine in ihren dicken, schweren, goldenen Rahmen — ganz sicher und kümmern sich wenig um das ewige Scharmutziren und das unaufhörliche Plänkeln und Plündern der Wouvermann'schen Soldaten, in das der arme Z56 Die Eremitage. Zuschauer in dem nächsten Saale mitten hinein gerath. Es sind hier so viele Schlachtengemalde von Wouver-mann, daß man über die Fruchtbarkeit dieses kriegerischen Geistes erstaunen muß; überall der siegreiche Schimmel, überall die wilden Vanditen-Phyflognomieen der Soldaten des dreißigjährigen Krieges, überall die armen geplagten Bauern, das gestörte Hühnervolk, die brennenden Hütten, die vertriebenen Heerden, das zertrümmerte Werk des Friedens. In der That, es ist die Frage, ob Wouuermann oder der dreißigjährige Krieg mehr Hauser in Vrand gesteckt hat, und hatte man alles das Pulver, das er nun schon seit 200 Jahren auf seinen zahl« losen Gemälden verpufft, man könnte schon manchen Frieden damit stiften. Die Gemaide von Wouvermann gleichen sich alle so sehr, daß, wenn er nicht so gut ge^ malt h.itte, er aus ciimn einzigen Gcmulde Alles batte sagen können, was scin Geist zu sagen hatte. Dabei bleibt es ungewiß, ob er mit diesen Darstellungen, wo die räuberischen Soldaten alle so flott und fix zu Pferde sitzen, baß man Lust bekommt, sich unter itmm anwerben zu lassen, die armen zerlumpten Bauern mit zerzausten Haaren und Hosen oft so lächerliche Figuren bilden, daß man sie weniger bemitleidet als belächelt, dem Mars oder der Ceres einen Dienst leisten wollte oder ob er, wie wohl am wahrscheinlichsten, blos dem Historiker sich gefällig erweisen wollte, indem er die graulichen Scenen des Bürgerkrieges getreulich überlieferte. Vor Nouuermann's wilden Landsknechten retteten wir uns zu den ehrwürdigen Häuptern der alten Maw Die Eremitage. 357 ner, der Weisen und Schnftgelehrten Rembrandt's, von denen hier eine so große Gesellschaft beisammen ist wie vielleicht nirgendwo. Zwischen Rembrandt's und Den-ner's Greisen ließe sich cine sehr fruchtbare Parallele ziehen. Welche erhabene Größe, welche Kernigkeit, welche Klarheit des Geistes noch in jenen, welche Schwächlichkeit und Weichheit bei diesen. Dennei's Alte sind gutmüthige alte Leute, aber sie haben alle das Gedächtniß verloren, lallen mit schwachen Stimmen unverständliche Worte und sitzen, in Schlafröcke und Pelze gehüllt, bci'm Kaffee hinter dem Ofen. Die von Rembrandt dagegen haben ein thatenreiches Leben geführt und sich Verstaub, Kraft und Klarheit bis in's achtzigste Jahr erhalten, lauter Manner, viri ennsulnre.«, greise Kriegshaupter, prophetische Moftskopfe, erfahrene Gesetzgeber, ergraute Kaiser. Das berühmteste Vild von Nembrandt, das hier hangt, ist die Kreuzabnahme, ein machtig ergreifendes Gemälde, das jeden Betrachter mit nnigem Schmerz und tiefer Trauer erfüllt. Jenseits des Rembrandt'schen Saales setzt man sich zu Schiff und durchfahrt die Meereswellen des Vernet'-schen Pinsels, lauter schöne grünliche krystallene Wogen, mit denen die Fischer im Kampfe, trotz des Zürncns der Nereiden, die wohlschmeckende Vntt herauszulocken in Todesgluch. Auch vom Pferde-Vernet sind viele Gemälde hier; er war selbst in Rußland und konnte in Europa wohl schwerlich ein Land finden, wo er besser die Narur dieser edlen Thiere zu studiren vermochte. Denn Ruß-laud bietet vom wilden rauhbepelzten sibirischen Rosse bis 358 Die Eremitage. zum gezähmten und gezäumten Parade- lind Kutschpferde alle mögliche Arten und Formen derselben, dic halbwilden Pferde der Steppen, die schlanken und feurigen, ihr eigenes heißes Blut trinkenden Kosakenpferde, die kleinen, winzigen, aber mutigen Pferde der Polen und Lithauer, die gewandten und unermüdlichen Bergpferde der Krim und des Kaukasus. Dabei hat die ganze Natur der Pferde überall in Nußland noch etwas überaus Wildes, besonders im Gegensatze zu den sehr geschulten, stetS auf mnßiqe Entfernungen ^brauchten deutschen Rossen, und endlich ist das russische Angespann so ästhetisch schön und malerisch, daß es scheint, als seien hier die Kutscher Maler. In dem Zimmer, in welchem die Vernet'schen Wogen branden, schwatzten und schrieen auch mehre Papageien, d. h. lebendige. Wir kamen auf die Idee, daß sie noch aus den Volieren K.itharinens sein kannten, und lwfftcn, baß uns noch einige Sylben aus jener verschwundenen Zeit zutonen sollten; allein zu unserer Betrübnis, vernabmcn wir, daß gerade im vorletzten Jahre Katha-rinens letzter Papagei gestorben sei. Schade, daß Nic-manb dieses kaiserlichen Schülers letzte Worte mehr zu sagen wußte. Grüne Wellen, grüne Papageien und auch grüne Malachituasen in demselben Zimmer, d. h. Alles durch einander gewürfelt! Aber es ist doch Alles grün. — Die Malachitvasen sieht man nirgends prachtiger als hier, wie denn in der Tl'at der ganze russisch kaiserliche Palast uon edlen Steinen, von Iaspissäulen, von Porphyrgesimsen, uon kapislazuli-Gebilden und anderen polirten Die Eremitage. 359 Vi'rgwundcrn so zauberisch strahlt, »vie kein anderer. Die Lapislazuli-Vase jenes Zimmers war einzig in ihrer Art. Auch die Petersburger Porzellanfabrik hat eine Menge riesengroßer Prachtstücke, die aus ihren Werkstätten hervorgingen, hinzugefügt, und man muß gestehen, daß sie wenigstens an Große und Kühnheit der Arbeit alles anderswo Geschaute weit übertreffen. Neben diesen prunkenden Kunstprodukten neuerer Zeit prangen in einigen Nebenkabinetten die Trophäen, welche russische Antiquare den Gräbern Taurims entrissen, goldene Lorbeerkränze, goldene Ketten, Ohrringe, Fingerringe und Gürtel taurischer Griechen und bospo-ranischer Könige. Es ist eine der interessantesten Sammlungen, die man scken kann, und man muß das Glück bewundern, daß aus so entlegenen Jahrhunderten noch so vieles Kostbare und Schöne zu uns herübergerettet worden ist. Seit alten'Zeiten — ohne Zweifel waren die Vandcn der Völkerwanderung nicht weniger habgierig als die heutigen Kosaken — sind die zahllosen Gräber der Griecken in Taurien und der Urvölker am Kaukasus und in Sibirien der Gegenstand der eifrigsten Nachforschungen gewesen. Die Alanen, die Hunnen, die Tataren und heutiges Tages die Kosaken plünderten sie und schmolzen die gefundenen Schatze zusammen, die dann vergeudet wurden. Die meisten Grabhügel Südrußlanbs sind schon seit langer Zeit wie Kamnchenhügel minirt und wie Bergwerke durchsucht worden, und mit den dar-auS gewonnenen Schätzen wurde und wird noch jetzt ein nickt nnbedeuN'ndkr Handel getrieben. Das Meiste ver- 350 Die Eremitage. liert dabei seme antiquarisch so interessante Form. Was der Aufmerksamkeit der Negierung den so mihistorischen Kaufleuten und Raubern zu entreißen gelang, ist in der Eremitage aufgestellt. Besonders viel haben die Graber von Kertsch an der Mündung des taurischen Bosporus dazu geliefert, die Vegrabnißplahe des Mithridates und seiner Nachfolger, dcr bosporanischen Könige, dann die Ruinen der chersonesffchen und olbiopolitanischen Grie^ chen. Das Zierlichste darunter sind die schönen Lorbeerkränze nus feinem Ducatengolde. Mehre sind noch völlig unversehrt, von den goldenen Vlattchen und Zlveiglcin fehlt kein einziges. Diese Kranze müssen schöner das Haupt eines Siegers geschmückt haben als alle unsere Ordensbänder und Sterne. Das Haupt, das die Alten zierten, ist weit mehr der Sitz des Ursprungs großer Thaten als die Brust, die wir schmücken. Dazu verzieren wir eigentlich nur unsere Kleiber, weil es sich bei der Vrust nicht wohl thun laßt, daß die Decoration unmittelbar das warme Herz berührt, wahrend bei'm Haupte nicht die Kleiderhülle, fondern der Körper selber geschmückt erscheint, und endlich ist auch die Erscheinung des Gekrön^ ten eine viel malerischere als die des auf der Vrust Besternten. Welchen schwachen Eindruck machen unsere mit Bändern in den Knopflöchern gezierten Generale'. Wie erhaben erscheint dagegen ein hauvtumkränzter römischer Triumpha-tor! Es ist daher auch keinem Maler eingefallen, den Hei-liqcnkranz seiner Märtyrer auf der Brust anzubringen. Den Herrschersitz des Geistes muß er umstrahlen. Unser kaltes Klima, das keinen entblößten und blos bekränzten Kopf Die Eremitage. 361 duldete, mag die Decorationen auf die Brust hinabgedrückt haben. Auch unsere knappanliegenden Kleider mögen der Veränderung der Sitte Vorschub geleistet haben. Bei den faltigen Gewändern der Griechen und Römer war eS nicht möglich, auf der Brust etwas anzubringen. Viele Kränze waren schon entblättert, und man hatte sorgfaltig die einzelnen Blatter in kleinen Kasten gesammelt. Ganze Häufchen solcher abgefallenen dürren Goldblatter der entlaubten griechischen Siegeskranze lagen in den Schranken umher. Schönes Laub eines edlen Vau-mes! Wenn unsere Baume sich doch auch so golden entlaubten. Aber hier im Norden blühen keine griechische Lorbeeren. Der Korb voll goldener Blatter, der in den Kindermährchen von Rübezahl vorkommt, hat gewiß schon manches Deutschen Phantasie beschäftigt. Wer ihn noch nie sah, der kann sich hier in der Eremitage den Anblick verschaffen. Aus der französischen Revolution und den Verschleuderungen von Kunstschatzen, die zu jener Zeit in Paris statthatten, haben die Sammlungen der Eremitage nicht wenig Vortheil zu ziehen gewußt. Einer der bedeutendsten Ankaufe war der der Schatze des Herzogs von Orleans, dessen berühmte Collection geschnittener Steine unter anderen der Eremitage einverleibt wurde. Es sind darunter so viele rare Sachen, daß Gelehrte und Aesthetiker mit ihrer Interpretation und Commentirung ihr ganzes Leben von ihrer Doctorpromotion bis zu ihrem Tode Hinbungen könnten. Die meisten dieser Sachen werden aber nur flüchtig von Neugierigen bttrach- Kohl. Petersburg. I. 16 362 Die Eremitage. let, und noch mehr liegen sogar in der Finsterniß verschlossener Schränke begraben. Die Sammlungen unserer Tage sind überfüllt. An Verdauen und Genießen des Einzelnen ist gar nicht mehr zu denken. Man muß ganze Massen auf ein Mal verschlingen, sechstausend Intaglios aus Italien, sechszehntausend Kameeen aus Griechenland, den Inhalt von 666 antiken Grabern, die ganze niederländische Malerschule, 209 riesengroße Urnen und Vasen, die Bibliothek von Voltaire, den Nachlaß von Diderot und die Kronjuwelen einer Reihe von Kaisern. Daß man sich den Magen dabei nicht verdirbt und daß die Augen darüber nicht erblinden, liegt nicht an ihrer Energie und Güte, sondern an ihrer Verwöhnung und Gleichgültigkeit im Aufnehmen des Schönsten. Aus dem Saale der goldenen Lorbeerkranze der Griechen und der italienischen Kameeen traten wir von Neuem unter andere Zauberwerke der Farben, die größten-theils ehemals den Sammlungen von Malmaison angehörten. Als der Kaiser Alexander 1^14 in Paris war, besuchte er die ehemalige Gemahlin Napoleon's, die ihm von der Geringfügigkeit des ihr gebliebenen Vermögens und von der Unsicherheit ihres Besitzes erzählte. Ihr kaiserlicher Gemahl hatte ihr so manche den deutschen und italienischen Sammlungen entnommene Spolien zu Füßen gelegt, und sie war in Furcht, daß bei der zu erwartenden Reclamation der rechtmäßigen Besitzer ihr wenig bleiben möchte. Alexander kaufte ihr daher die ganzen Schätze von Malmaison ab und bereicherte damit Die Eremitage. 363 die Eremitage seiner Großmutter, von woher sie so leichi Niemand reclamiren wird. Auch sogar ein Theil des Kaufpreises ist nun wieder durch den jungen Enkel Io-sephinens nach Rußland zurückgekommen. Es waren darunter wieder viele Claude-Lorrains, kraftvolle Dommichinos, mächtige Tintorettos, honigsüße Carlo-Dolces, schönes Marmorfleisch von van der Werft, Strohhalme, Eier, Fische und Fischverkäuferinnen von Dow, Atlasgewander, saubergestickte Decken und wunderliebliche Gesichter von Mieris. Angeschnittene Zwiebeln, Rüben und Wurzclgeschabsel aus des Letzteren Schule sind in Menge vorhanden. Daneben lacht das fidele Gesicht eines Barbiers und seines eingeseiften Kunden von Schalken, der mit dem Daguerreotype gearbeitet zu haben scheint, denn jedes Bläschen laßt sich im Seifenschaume deutlich wahr^ nehmen. Aber doch hat bei der naturgetreuen Ausführung des Einzelnen der Geist des Ganzen nicht gelitten. Der Rechnenmeister von Quintin Messis hat, so klug er zu sein scheint, so scharf er nachdenkt, noch immer sein Exempel nicht gelöst. Messis wollte vielleicht damit auf den menschlichen Geist hindeuten, der auch nun schon seit Jahrtausenden denkt und rechnet, ohne daß seine Rechnung herauskommt. Der Van-Dyk'schen und Rubens'-schen Bilder sind hier so viele, daß man sich durch das Gedränge ihrer Personen mit Mühe hindurch arbeitet; besonders zahlreich sind die Nubens'sc^en, wo jede Person so beneidenswert!) wohlgenährt ist, daß sie nicht geringen Raum für sich in Anspruch nimmt. Auch mehre mythologische Gegenstände von Rubens sind hier, mit denen er sich 16* 364 Die Eremitage. offenbar nicht hätte abgeben sollen. Viele von ihnen scheinen eine Satire auf die griechische Mythologie zu sein. Eine Nubens'sche Venns hat immer zu viel Bra-banter Bier und Braten gegessen, und es ist so wenig Antikes, Plastisches und Göttliches darin, wie in Shakespeare's Troilus und Cressida. —> Weiterhin traten wir in die Frucht- und Blumenfülle von Snyders, Breughel, Heemskerk und Anderen. Kohlköpfe und Tulpen, Zwiebeln und Trauben, Thautropfm und Aprikosen, Wurzeln, Vögel und Fische, Bohnen, Erbsen und Hyacinthen, erscheinen hier so idealisch schön, wie sie nur im Füllhorns der Göttin des Ucberflusses vorkommen. Freilich thut es Einem leid, daß alle diese Wunderdinge immer nur in der prosaischen Küche und Speiscstube erscheinen. Doch wollte man sie einmal malen, so ließ es sich wohl nicht anders machen. Die meisten ließen sich in ihrem Zusammenhange mit der Natur nicht wohl darstellen, die Fische nicht im Waffer, die Vögel nicht in der Luft, die Wurzeln nicht in der Erde, die Kohlköpfe nicht im Gemüsegarten, die Früchte nicht auf dem Baume, wo sie alle sich den Blicken zum Theil oder ganz entziehen. Auffallend ist es, daß sich fast auf jedem Gemälde von Snyders zwei Thiere unter dem Tische zanken, die sonst wohl in der Wirklichkeit nicht viel Gelegenheit zum Zanke finden, weil sie in zwei ganz verschiedenen Elementen leben. Ueberall sieht man nämlich eine Hauskatze und einen Seehund sich um die Ueberreste der Speisen streiten. Die Katzen könnten doch blos seines Namens wegen auf jenes Seethier ihren Hundehaß über- Dir Eremitage. 365 tragen, und es ware merkwürdig, wenn Snyder's Bemerkung, daß sie barin so weit gingen, richtig wäre. Die Sale der spanischen Schule mit geistreichen Gemälden von Murillo, Velasquez, Ribalta und Anderen boten wieder neue Schatze dar. Es ist ein Gegenstand unerschöpflichen Interesses, die Eigenthümlichkeiten jeder Schule und jeder Nationalität, ja jedes Meisters und seines Geistes sich in den Bildern mit unverkennbarer Treue abspiegeln zu sehen. Der originelle Geist, der uns aus den Werken jeder Zeit und jedes Pinsels anhaucht, refiectirt sich in den unbedeutendsten Dingen. So gab es eine Zeit, wo man in ganz Europa dieß oder jenes Genre vorzugsweise liebte. Spanien, Italien und die Niederlande wählten sich aus jenem beliebten Kreise vorzugsweise gewisse Themas, die sie mit Vorlieb« behandelten; Velasquez, Murillo, Tizian und Rafael wähl' ten aus dem von ihrer Nation Erkorenen wieber das ihnen besonders Zusagende, und so läßt sich weder Zeit, noch Nation, noch Meister verkennen. Die spanischen Meister haben eine gewisse Art von Kleiderfärbung, Faltenwurf, Farbenmischung und Fleischteint, die spanisch ist und sich ganz von dem Fleische, Kleiderschnitte und der Manier der Niederlander und Italiener unterscheidet. Unter den Spaniern hat aber wieder Murillo ein anderes Fleisch als Nibalta, Ribalta ein anderes als Velasquez, und so laßt sich spanischer, italienischer Teint, R.,» Fetisches, Van-Dyk'sches, Tizian'sches und Rubens'sches Kolorit unterscheiden, und dabei ist Alles so fest, so bestimmt und deutlich gesondert, wie die Abtheilungen in 16" 366 Die Eremitage. der Natur, wie das Tigerfell von der Bärenhaut, wie der Karpfen vom Hechte, wie der Pavagai von der Nachtigall. Man begreift nicht, wie bei der geringen Anzahl der Farben des Prismas und der Palette solche ungeheuere Manchfaltigkeit möglich war, und muß in den Kunstwerken der Maler die unergründliche Tiefe der Natur bewundern, die in den Geschöpfen ihrer Geisterwelt eben so überschwänglichen Reichthum zeigt, wie bei der Production ihrer sichtbaren Welt, und hierin eine eben solche ManclMtigkeit b«r Classen, Geschlechter und Individualitäten offenbart. Der Besuch der Eremitage ist nicht sebr lebhaft, da Fremde wie Einheimische besondere Billets dazu lösen müssen. Dttse werden freilich ohne Weiteres ertheilt, aber doch ist dieß kleine Hinderniß allein hinreichend, eine Menge von Menschen davon fern zu halten. Denn die Liebe zur Bequemlichkeit ist nach der Eitelkeit die stärkste Triebfeder zu allen unseren Handlungen oder wenigstens gewiß zu unseren Unterlassungen. — Es giebt in Petersburg eine Menge gebildeter Familien, welche noch nie die Eremitage besuchten, und selbst bei denen, welche sie besuchen, wie gering ist im Vergleich mit dem Gebotenen der Vortheil, den sie nach Hause bringen, und wenn man die, wenn auch nicht gähnenden, doch völlig gemüthsruhigen Gesichter des Publicums sieht, die schau-» gesättigt an den Gemälden vorüberstreifen, so fragt man sich mit Recht, wie es noch möglich sei, daß so viele Maler zu so außerordentlicher Berühmtheit gelangen konnten. Wo ist denn otese große Begeisterung für ihre Werke, Die Eremitage. 367 dteß Entzücken, mit dem sie erfüllen? Für 4000 Oel-gemälde, auf denen sich die halbe Natur- und Menschenwelt reflectirt, ein zweistündiges Schlendern, für 30,000 Kupferstiche ein paar Augenblicke, für 3 Sale voll Statuen drei flüchtige Blicke, für die Alterthümer Griechenlands zwei „Ahs" und „Os!" für 12,000 Kameeen, Gemmen und Pasten kaum ein halb geöffnetes Auqc-Es geben diese Schatze im Ganzen so wenig Ncvenueen an Ideeen und Gcdankcnauffrischung wie die Goldbarren in den Kcllergewölbm der englischen Bank an Gold. Was noch am meisten rentirt, sind wohl ohne Zweifel die Kronjuwelen und die mit ihnen in einem besonderen Kabincte aufgestellten anderweitigen Kostbarkeiten. Denn, obwohl wir uns einer höheren Bildung rühmen, so ist der alte Adam doch noch so wenig aus seinem Reiche verjagt, daß wir alle wie die Wilden und Kinder begieriger nach Dem greifen, w,is glänzt und strahlt, als nach dem, was Leben und Anmuth haucht. Was ist alles Waffer der Ruisdael'schcn Watdbache gegen das Wasser dieser kaiserlichen Krondiamanten, was aller Schmelz der Carlo-Dolces gegen den Schmelz dieser Perlen? Was sind die Rosen, Aprikosen und saftigen Granaten Heems-kerk's gegen die Rosetten und orientalischen Granaten der Diademe? Nas ist aller Thau der gemalten und nicht gemalten Fluren gegen die krystallenen Tropfen, die in dem Gezweige der Kronen thauen! Das Grün der Kuyp'schen Wiese lacht selten Jemandem zu Herzen, aber das Grün der Smaragden des Scepters scheint Alle mit Hoffnung zu erfüllen. 368 ' Die Eremitage. Wir Menschen sind, im Ganzen genommen, höchst sinnliche, gewinnsüchtige und unästhetische Wesen, und wenn man Hunderte sieht, die „einem alten ehrwürdigen Greise" von Rembrandt geradezu in's Gesicht gähnen, so bemerkt man dagegen kaum hier und da einen Philosophen, dessen ganzes Wesen sich nicht belebt, wenn der Aufseher der Kronjuwelen zu seinen Schlüsseln greift, und der nicht lächelnd, freudig und hoffnungsstrahlend in das zauberische Kabinet hineintritt, wo ihm aus jedem Winkel die wunderbar qlimmenden Feuer der edlen Gesteine entgegen--leuchten, und wo jeder Funke den Werth von Hunderten und jedes Flammch«m den von Tausenden reprasen« tirt. In der That wird man selten irgendwo so viel edles Gestein beisammen finden. Die Geschichte vieler dieser Krystalle ist so weltbekannt, wie die des Sirius, des Aldebaran und anderer Fixsterne, und selbst die Steine fünfter und sechster Größe sind noch mehr bewundert und betrachtet, besprochen und beschrieben als manches im Weltenraume sichtbare Sonnensystem. Die alten Verbindungen Rußlands mit Indien und Persien haben von jeher viele Edelsteine in seinen Schatz geführt, und in neuerer Zeit haben auch die Rußland selbst unterworfenen Berge ihre Kammern geöffnet und so viel zierliches Gestein von sich gegeben, daß mancher Privatmann gern mit dem zufrieden sein könnte, was blos den kleinen Fingern der kaiserlichen Hände zugedacht war. Diademe, Scepter, Armbander, Gürtel, Ringe, Bouquets von Edelsteinen giebt's hier in erstaunlicher Fülle, und dürfte man sich nur einen Blumenstrauß in diesem Diamantengarten Die Eremitage. 369 pflücken, es wäre Manchem mit einigen solchen Hyacinthen über alle Sorgen dieses Lebens himuisgeholfen. Wie Petersburg in der Kasan'schen Kirche eine Copie des Peterdomes hat, so hat auch die Eremitage ihre Copie der Nafaelischm Logen. Diese Nachbildungen sind von den beßten italienischen Meistern ausgeführt in einem von dem berühmten Architekten Ritter Guarenghi eigens dazu erbauten Flügel. Die herrlichen Gemälde stehen hier in vortheilhaftercm Lichte als in Rom selbst, und man kann sie mit mehr Gemächlichkeit hier genießen als dort. — In den Gangen der Logen ist auf Tischen und Banken wieder eine Menge hübscher Gegenstände aufgestellt, die wieder auf andere Weise den Geist beschäftigen und das Auge reizen. Es sind zierliche Sachen aus Elfew bein und Wachs, zum Theil Darstellungen aus dem russischen Volksleben, die Jeder, der sich für das Studium Rußlands interessirt, nicht unbeachtet lassen wirb. Vorzüglich gefiel mir eine allerliebst gearbeitete Niederlassung russischer Landleute auS Wachs, ein Wohnhauschen aus Holz, von Virken beschattet, an einem kleinen Bache gelegen, wie man sie spater tausend Mal im Inneren zu sehen Gelegenheit findet. Am Bache.sitzt ein Fischer; auf dem Gehöfte hämmert ein alter bärtiger Bonier an seinem Wagen. Seine Tochter geht singend zum Brunnen, um Waffer zu holen, und die alte Mutter steht vor der Thür, das Geflügel zu füttern. Nur Schade, daß diese liebliche Idylle aus so vergänglichem Stosse gearbeitet wurde. Eine russische Schlitten-Troika, mit der drei brausende Pferde in Windeseile davon stiegen, zeigt, 370 Die Eremitage. wie äußerst malerisch das gewöhnliche russische Angespann ist. Wie Schade, daß die Hände, welche diese allerliebsten Gegenstände ausführten, nicht noch mehr dergleichen schufen. Wie würden sie das Interesse für die Kennttniß des russischen Volks mehren helfen, und wie würden sie in einer Petersburger Eremitage so ganz an ihrem Platze sein! Unter den Elfenbeinsachen befinden sich ähnliche Gegenstände, so eine Ansiedelung von Rennthierlappen mit allem H^usgeräthe bis in's geringste Detail. Es ist Abend. Ein paar von der Neise Zurückgekehrte spannen ihre Thiere aus; die Mütter, aus den Hütten tretend, bewillkommnen sie, und die Kinder hüpfen ihnen entgegen. Die Heerde ist um die Hütte versammelt, und die Mädchen sind mit Melken beschäftigt. Es ist sonderbar, daß man dergleichen Dinge oft viel besser und lebendiger im Bilde auffaßt als w der Wirklichkeit, und es mag Manchem so gegangen sein, daß er wohl hundert Lappenansiedelungen sah, und daß ihm erst bei dieser Darstellung in der Eremitage das Interessante derselben recht klar wurde. Eine einzige Nachbildung lehrt oft mehr als tausend Wirklichkeiten, aber freilich muß das Leben wieder mit seinen tausVnd Wirklichkeiten die Bilder recht interpreticen. Nicht nur den Künsten, sondern auch den Kunststücken und Künsteleien hat die Eremitage ein Asyl bereitet. Man sieht hier eine Menge von den letzteren, zu deren Verfertigung die Nüssen sehr viel Anlage haben. So findet sich unter Anderem ein Schiff mit Segeln, Die Eremitage. 371 Masten und der vollständigsten Takelage, aus Bernstein Elfenbein und Holzsplittern in dem Inneren einer gläsernen Flasche zusammengesetzt. Mit der unsäglichsten Mühe mußten alle einzelnen Theile des Baues durch den engen Hals der Flasche hinabgebracht und dann unten auf dem Grunde mit unbegreiflicher Geschicklichkeit befestigt werden. Es war, als hatte der Künstler sich in eine Spinne verwandelt; denn alle Theile waren so fcin wie Spinngewebe. Wieder eine andere Art von spielender Kunst hat das Theater der Eremitage geschmückt. Sein Saal ist in chinesischem Geschmacke dccorirt, und zwar mit Hilfe von Glasröhren. Riesengroße Körbe und Vasen von Glas zieren seine Raume. Gläserne Säulen streben an den Wänden empor. Gläserne buntgefarbte Lampen illu-miniren seine Finsterniß. Mit gläsernen geschliffenen Krystallen sind überall die Edelsteine nachgeahmt, und selbst die Wände sind mit gläsernen Tapeten bedeckt. Man verfertigte eine Menge von Glasröhren von allen Farben und verschiedener Dicke und Lange, die man auf Faden reihte und zu verschiedenen Geweben zusammenfügte. Die Fransen und Troddeln der Vorhange und Gardinen bestehen, ebenfalls aus Glasröhrenbündeln, und das Ganze mag bei' prächtiger Beleuchtung einen höchst merkwürdigen Anblick von brillanter gläserner Eitelkeit gewähren. Die Schatze, welche die große Bibliothek der Eremitage enthalt, sind, obgleich vom hellen Tageslichte beschienen, noch mehr begraben und versteckt als die der Kunstsäle. Unter anderen interessanten Dingen sieht man 372 Die Eremitage. hier den ganzen Nachlaß von Diderot, die vollständige Bibliothek Voltaire's, ganz so wie er die Bücher benutzte und abnutzte, mit den Zeichen, die er einlegte, mit den Annotationen seines Bleistifts, mit der Schattirung und mit den Ohren, die seine Finger dem Papiere gaben. Wir berührten in der That nur einige Schatze dieses Palastes und deuteten nur Weniges an. Doch »vird es genug sein, um zu lernm, daß ein Eremit immer dreist der übrigen Welt entsagen könnte, wenn er sich mit d«m Mikrokosmus der Petersburger Eremitage klaus-nerifch verschließen könnte, wo die halbe Natur- und Menschenwelt sich ihm auf Leinwand, in Farbe, Marmor, Glas und Elfenbein, gemalt, gemeißelt, gedruckt, gewebt und gefeilt darbietet. Ende des ersten Theiles. Druck der Teubner'schen Officin in Leipzig. ttT B-KTKisiSBäTKti. ,gMk. -M*i-H-s.si;ilii-. ^^ Ktmsl*iiH>« .Mass. "----------£1_______»;■> «ji« »yii i,,,,. ,,„,, ^|h, „;pi, ,-flll yji.