X^H^onWWüäts - PreijxHMHzBA/ ^ Il^^Mnd. L Diindc. '3MM7'4Mnde. Fr. , «5. Fr. (,i. Fr. C. Fr. , C. Jährlich ... 7 — 12 - 1? 50 21 — halbjährlich . 4 — 7 — « 50 12 — Vicrtrljälirlich 2 50 4 — 5 50 7 — Monatlich . . , — 1 ?5 2 50 3 -Täglich ... — 5 V. Abonnements - Preise für Auswärtige. 2Mnde. 3Mnde. 4Dnndc. 6Mnde. Fr. C. Fr. E. Kr. E. Fr. <§. Jährlich ... 10 — 12 50 15 - 19 ^ halbjährlich . 6- 7- 6- 9 50 Vierteljährlich 3 50 4 25 5 - 6 - Für Frankatnr der Mappen uuissl-tt wir unsnn auowärtiqm Hrn. Nbonncntcil nach dem cidg. ^osttarif für dcu rrstm und zwenm OriefkreiS (l — 10 Stunden) bis zu nncm Gewichte von 3 Pfund 15 (ient., für dcn dritten Vricfkrcis 30sscnt. l'crechnen. — Mappen über 3 Pfund schwor zahlen die gewlihuliche Tare. Den Portobetraq erlauben wir uns mit der letzten Sendung eines jeweiligen Abonnements nachzunehmen. Petersburg in V i l d e r n und Skizzen /^ 5:" 5^ X^ von I. G. Kohl. „2iübc war bas Wett«/ „Und wic schlaffc Nlält« „Mil zur l»rde Hinzen die Gedanken/ Zweite vermehrte und verbesserte Auflage. Wriller Theil. Dresden und Leipzig, 51ll!jc:lliili »Nll^." — Die Nothwendigkeit zu dienen. — Die russische Armec eine Straf- und Besse>una,6anstc>lt. — Degradationen. — Rasches Avancement. — Fremde Offiziere in der russischen Armee. — „Hübsch deconrt." — Gehalt der Offiziere.— ,,!'<» ts^Iliüini" und,,pu ciu^!>>l<>,>>li." — NcbenlReoenucen. — Abzüge. — Die Gehalte der Garden. — „Sich überführen lassen." — Der militärische Narr. — Revue en. — Großartige militärische Schauspiele. —- Erercir-und Manovrirfettigkcit. — Poesie der Reoueen. — Scharfer Blick der Oberbcfehlshaber. — Die Macht dcs Commandowortes. — Das Heer auf dem Petersburger Marsftlde. — Genaue Beol,, achtung der äußeren Regelmäßigkeit. — Uniform-irte und rcgimcntirte Völkerwanderung. —Militärische Institute, Kasernen, Hospitäler, Cadettencorps. — Große Ordnung X Inhaltsverzeichniß. Seite 195 — 274 und äußere Eleganz. >—> Zweckmäßige Einrichtungen in den Casernen. <— Mangel an militari» schen Bibliotheken und Fecht- und Turnirsälen. — Luxus in den Hospitälern. — „ßucliopl'tnoi-NuspiwI." — Scorbutischer Charakter der Krankheiten. — Heimweh. — Militärische Hon, nmrS der Kranken. — Die technologische Militär» schule, — Die Cantonnistcn. Kronstadt..........275 — 305 Die Kesselinsel. —> Befestigungen. —> Häftn. — Die baltische Kriegsflotte. — Kurze Geschichte ihrer Entwickelung. —> Zukunft der russischen Flotte. Miscellen, Notizen, Zugaben und Nach.- träge..........306 — 449 Die deutschen Musikanten. — Die Siäschen. — Die Theater. — Das kränkelnde Rennthier. — Die Kopfbänder der Russen. — Statistische No« tizcn: Steinkohlen, Salz, Selbstmörder, Ausländer, Garde, Elemente der Bevölkerung, städtisches Vermögen, städtischer Grund und Bo» den, Bewegung der Bevölkerung, Anzahl der Kirchen. — Ein Stück einer Petersburger Straße. — Winde. — Temperatur. — Sonne. — Rus. sisicirte deutsche Namen. — Die Räschtschits. — Die Rasnoschtschiks. —Das Pagcncorps. — Pe» tersburger Carrieren. — Kleidung der Hofda, men. — Pferdezahl bei'm Angespann. — Arbeiter an der Staatsmaschine. — Hauseinweihung. — Inhaltsverzeichnis. XI Seite 306 — 449 Spielkarten. — General ... kow. — Manch-faltige Bedeutsamkeit Petersburgs. — Vrülow's Gemälde von Pompeji. — Flußschiffe. — Gesinge. — Scene. — Taschendiebe. -—- Leihbibliotheken. — Wandernde Buchhändler. — Eis als Baumaterial. — Bureau für Ausländer. — Physiognomisches. — Eisendächer. >—- Der Vater der russischen Flotte. — Petersburgs Glanz und Name. — Dampfbäder. — Russische und deutsche Accentuation. — Ein Russe über den Winter Italiens. — Kaffeehäuser. — Der große Prospect auf Wassili-Ostrom. — Die Die Verwiesenen. Petersburg und die Provinz . . 450 — 462 Verschiedene Sprech- und Schreibweisen des Na« mens Petersburg. — Plan Peter's des Großen bei der Gründung von Petersburg. — Die Einwirkung Petersburgs auf die Städte des In- XII Inhaltsvlrzeichniß. ' ^. Seite ^ 450 — 462 neren. — Die Physiognomie der Provinzstädte. — Das Petersburgisiren d«r Provinzen. — Verordnungen der Regierung-. — Die geselligen Cir-kel in den Provinzstäbtm. Treibhäuser „Tu neque vcr «culia cinclum florente corooa. „Nee tibi pauipiucas autumnus porrigit uvaa.u v^icht ästhetischer Sinn, nicht Freude am Schönen und Liebe zur N^tur, sondern Luxus, Prunksucht und Großthuerei sind vorzugsweise die Götter, welche Petersburg schmückten; daher der eitle Glanz seines Schmuckes, nicht still pflegende, langsam schaffende und überall thatige Neigung der Einwohnerschaft, sondern Befehle der Machthaber, die rasch ausgeführt werden müssen, Launen der Großen, die augenblicklich Befriedigung suchen und keine Mittel dazu scheuen, schnell wechselnde Moden und Begierden der Reichen, die das Alte bald verlassen und stets zu Neuem greifen. Daher erklärt es sich, daß von allen Zweigen der Gartenkunst sich keiner hier so hoch erhob als die Treib-hauscultur, und daß man in diesem Fache hier zuweilen sogar mehr leistet als anderswo. Petersburg liegt un- Kohl, Petersburg. III. 1 2 Treibhäuser. ter einem Breitengrade, der nur den Birken und niedrigen Dornenstrauchen eine schöne Entwickelung gestattet und der freiwillig nichts giebt als Beeren und ungenießbare Tannenfrüchte. Fast alles Genießbare muß die raffi-nirteste Kunst ihm abtrotzen, und es gewährt ein nicht geringes Interesse, die Begierden und den Verstand der Menschen mit den rohen unschöpferischen Natmkraften des Nordpols in einem Kampfe zu beobachten, aus dem der Mensch, wenn auch nicht mit Loorbeeren, doch mit Kirschen, Erdbeeren und Nosen geschmückt hervorgeht. Es war draußen eben der härteste Winter, als es dem Kaiser Paul aus den Fenstern seines wohl geheizten Winterpalais auffiel, daß in der großen Perspective, der schönsten Straße seiner Nesidenz, keine Baume ständen; er befahl darauf sogleich, zur Verschönerung derselben unverzüglich daselbst eine Allee von Linden zu pflanzen. Die Machthaber, an welche dieser Vcfchl erging, brachten ihn weiter zu den Gärtnern und Arbeitern, und als diese zurückmelbeten, es sei tiefe Winternacht, Alles liege unter dem Leichentuche des Eises erstarrt, und die Natur sei in unthatigem Schlafe befangen, erwiderten sie, dieß hebe den kaiserlichen Befehl nicht auf, der vollzogen werden muffe. Man solle auf irgend eine Weise Rath schaffen, die faule Natur aus dem Traume rütteln und die schlummernden Kräfte wecken, und es wurde darauf in dieser Stadt, deren Potentaten Gebote erlassen, die sonst nirgends in der Welt gewagt werden, und deren Publicum sich aus dem Gehorchen ein Vergnügen macht wie kein zweites, ein Unternehmen aus- Treibhäuser. H geführt, das in jeder anderen menschlichen Gesellschaft unmöglich erschienen ware und in den Annalen der Gartenkunst wahrscheinlich einzig in seiner Art ist. Man hob aus den Baumschulen junge Baume aus, ließ langsam in eigens dazu vorgerichteten Gebäuden die gefrorene Erde an den Wurzeln aufthauen und reinigte sie; man hackte mit Beilen und Brecheisen in das blanke Eis der Perspective geräumige Löcher, die mit frischer und warmer Erde gefüllt wurden; die. Zweige der Baume wurden verpackt und diese, sorgfaltig umwickelt, in die für sie bestimmten Löcher gepflanzt und mit einem kleinen Strohdache umgeben; um die Wurzeln jedes Baumes wurde ein kleiner Treibofen gebaut, und so wurden mit unsäglicher Mühe wirklich die schlummernden Naturkräfte geweckt, die Bäume zum Keimen gebracht, und nach wenigen Monaten konnte der mächtige Autokrat durch eine schattige Allee grünender Bäume reiten, als Sieger gleichsam über die Natur triumphirend. Schwerlich hat ein Kunstgartner je einen merkwürdigeren Triumph gefeiert. Die Baumallee aber, welcher dieser Triumph galt, ist jetzt umgehackt. In manchen südlicheren Landschaften ist die Natur so fruchtbar und kräftig, die Atmosphäre so reich an keimeschwangeren Dünsten, daß sich die Pflanzen überall in Fülle zeigen, wo man sie wünscht und nicht wünscht. Epheu, Immergrün, wilder Wein und Aloe ranken in Italien an den Gemäuern hinauf, und allerlei Graser und Kräuter siedeln sich auf den Dächern an und fassen das starre Menschenwerk in schmückende, zierliche Rah- 1^ 4 Treibhäuser. men. In Petersburg haben die Architekten mit dergleichen vegetabilischen Parasiten nicht zu kämpfen, alle Gebäude sind hier rein und kahl, und es wächst nirgends ein Grashälmchen auf einem Petersburger Dache. Die einzige Ausnahme davon bildet ein kleines Virken-büschlein, das auf cinem der vier niedrigen Thürme der Semeonow'schen Brücke steht und, wenn es im Sommer ergrünt, gar malerisch die Kuppel dieses Thurmes verziert. Es ist dieses Virkenbaumchen, das, Gott weiß wie, seine Nahrung zwischen den Steinen findet und das bisher schon seit manchem Iahrzehend dcn uniform-irenden und Alles egalisirenden Blicken der Petersburger Polizei entgangen ist, eine nicht geringe Merkwürdigkeit der Stadt, welche als solche nicht nur der ganzen Nachbarschaft, sondern auch der ganzen Einwohnerschaft wohlbekannt ist, da es gerade in einem der besuchtesten Stadttheile sich findet und schon von manchem Fremden als Wahrzeichen benutzt wurde, um sich zwischen den vielen, einander völlig gleichen Brücken der Fontanka zurecht zu finden. Wenn die deutschen Gilden und Zünfte in Petersburg blühten, so könnten sie jenes Virkenbäumchen füglich zum Wahrzeichen dieser Stadt echcbcn, und zwar mit um so mehr Recht, da die Birke gerade der Baum ist, der in dem Petersburger Erdgürtel seine schönste Entwickelung erhalt und dabei hier häufiger erscheint als irgend ein anderer Baum der Wälder. Die Inseln der Newa, die der Hauserandrang noch nicht überfluthete, sind meistens mit Virkenwäldchen bedeckt, und fast alle Treibhäuser. H Chaussecen und Wege um Petersburg herum, sowie alle Walder und Haine, mit Birken besetzt. Da das Holz des Baumes sowohl im Ofen als auf der Hobelbank viele treffliche Eigenschaften offenbart, so ist er für die Stadt von ungemeiner Wichtigkeit, und der Verbrauch dieses Materials in Petersburg ungeheuer. Entschieden die meisten hölzernen Möbeln, Utenstlien und Instrumente der Stadt find aus Birkenholz gefertigt, und fast Alles, was im Winter der Wärme bedarf, wärmt sich an Virkenholzkohle. In ästhetischer Hinsicht erscheint der Baum zierlich und besonders im Frühlinge, wenn sein zartes, frisches Laub hervorbricht, äußerst artig und fein, zumal wenn er dunklem Fichtenwalde beigemischt erscheint; doch ist sein Laub zu dürftig, feine Verästelung zu unbedeutend, und die Massen, welche er, in große Gesellschaften vereint, bildet, sind zu geringfügig, um in der Landschaft und in den Gärten von großem Effecte zu sein, und da er bei Petersburg gewöhnlich allein, ohne Verbindung mit anderem Laube, auftritt, so gereicht er der Landschaft, im Ganzen und Großen genommen, zu geringem Schmucke und hat nicht Kraft und Reichthum genug, den traurigen Charakter der Armuth aus dieser Gegend zu bannen. Nur die machtige Eiche und die dichtlaubige Linde waren geeignet, diesen großen Palästen einigen Schatten zu gewähren und diesen Sümpfen ihre Einförmigkeit zu nehmen. Allerdings kommen hier und da noch einige schöne Eremplare jenes Königs unter den Bäumen auf der Newainsel vor, und es stehen hier H Treibhäuser. Eichen, die schon Schweden-, Nowgoroder- und Moskowiten-Herrschaft an der Mündung der Newa einander abwechseln sahen und vielleicht auch noch den Fall Petersburgs erleben werden; doch sind es nur noch die letzten Reste und Brocken der schönen Eichenwälder, wie sie in Deutschland erscheinen, und ihre äußersten spärlichen Ausläufer gegen Norden, und in Gruppen erscheint dieser bei uns so gesellige Baum hier nirgends mehr. Die Linden verpflanzte man allerdings hierher, und sie gediehen recht gut, doch sind den alten, die schon Peter der Große in seinem Sommergarten und im Peterhof'-schen Garten anpflanzte, wie es scheint, später wenige nachgefolgt, und es ist mwerzeihlich, daß Petersburg bei der Dürftigkeit und Unduldsamkeit seiner Natur nicht eifriger bemüht gewesen ist, mit diesem hier wohl gelittenen und gut gedeihenden Baume seine öden Räume buschig und malerisch auszufüllen. An italienische Pappeln ist in Petersburg nicht zu denken, die wenigen, die man zu pflanzen versuchte, töb-tete die rauhe Natur oder ließ sie nur als Krüppel am Leben. Außer den genannten Waldbäumen und einigen Weidenarten, welche das Klima hier noch im Freien duldet, fallen alle andere Baume und die meisten der Ziersträucher den Klmstgärtnern und Treibhäusern anheim, und selbst manche von ihnen, die man noch im Freien laßt, erfordern die sorgfältigste Pflege und Aufsicht, so die Trauerweiden, dercn Zweige man schon im October mit Stroh und Matten umwinden muß, um sie überwintern zu können. Treibhäuser. 1 Was die, genießbare Früchte tragenden Gewächse betrifft, so giebt es auch unter ihnen allerdings einige, denen das Newaklima besonders convenirt, denn die Natur verlaua.net doch auch hier ihr menschenliebendes Mutter« herz nicht ganz. Wenn sie im Süden ihre zarten, süßen Säfte in schsnen, vergoldeten Schalen und großen, festen Bechern an großen Gewächsen aufhing und die hohen Bäume mit den erfreulichen Gaben der Pomona schmückte, so erbarmte sie sich im Norden der niedrigen Gesträuche, hing, in Moos versteckt, die röthlichs Erdbeere auf und besäete alle Gebüsche mit Beeren der manchfaltigsten Arten und der beßren Qualitäten. Es tritt schon in Kurland und Livlano und noch mehr bei Petersburg hervor, baß, je seltener die Obstbaume werben, desto reich» licher und häufiger die Gebüsche mit ihren Gaben sich anbieten. Von Erdbeeren, dem Anscheine nach so zarten Früchten, sind alle esthnischen und sinnischen Wälder voll, und sie liefern ganze Ladungen auf die Märkte der Residenz. An Heidelbeeren, Preißelbeeren und vielen anderen Beeren, für die wir im Deutschen keine Namen haben, weil sie bei uns gar nicht vorkommen, ist großer Ueberfluß; auch die Beeren, welche wir bei uns kennen, die Stachelbeeren, Himbeeren und Johannisbeeren, gedeihen hier zu emer bei uns unbekannten Größe und Vollkommenheit*). Die Russen und Finnen k<- *) Ick sah einmal ein Kästchen mit Stachelbeeren verpacken, deren jede größer als ein Taubenci war, und die mit der Post in's südliche Polen gehen sollten, um einen Ungläubigen eine Wette 8 Treibhäuser. dienen sich der manchfaltigen Beeren ihres Vaterlandes auf vielfache Weise in ihren Haushaltungen, und ein Petersburger Laden, in dem eingemachte Beerensäfte ver-kauft werden, hat fast nicht weniger Artikel als eine Apotheke. Doch ist Petersburg noch nicht einmal die Gegend der beßten Veerenproduction. Die delicateste, gewürzigste und zarteste aller Beeren tragt einen sinnischen Namen und kommt noch weiter aus dem Norden her, es ist dieß die bei den Feinschmeckern Petersburgs so beliebte Manmra (rudus nlcticus), die unter dem Moose des nördlichen Finnlands am beßten gedeiht und der südlichen Newa nur eingezuckert zugesandt wird. Unsere deutschen Obstsorten stehen in Petersburg zum Klima beinahe in derselben Beziehung wie die Südfrüchte, die Granatapfel, Citronen, Orangen u. s. w., in Mailand und Florenz zu dem Klima des nördlichen Italiens. Nur die Aepfel und einige Birnenarten wagt man noch dem Winter im Freien auszusetzen, obgleich sie auch so nur eine schlechte, jedoch wegen ihrer Seltenheit und der angewandten Mühe hoch erfreuende Frucht bringen. Alles Steinobst aber, — mit Ausnahme einiger saueren Kirschen, die doch auch wohl im Freien fortkommen — die Pflaumen, Aprikosen, süßen Kirschen u. s. w., zieht man in Hausern, die man „Kirschenhauser" nennt und die, wie in Florenz die Citronenhauser, im von hundert Ducaten verlieren zu machen, die er gegen einen Petersburger darauf verwettet hatte, daß es in Petersburg keine solchen Stachelbeermonstra gäbe. Treibhäuser. 9 Winter dicht verpicht und vernimmt und nur in der heißen Sommersonne der frischen Luft ausgesetzt werden, indem man die gläsernen Dächer und hölzernen Wände abträgt. Solche luxuriöse Kirschenhäuser legen sich die Reichen in den Gärten ihrer Villen an und erleben dann an ihren Pflaumen- und Kirschbäumen, die bei uns jeder Bauer in Ueberfluß besitzt, eben so viel Freud und Leid wie wir an unseren beforglich gepflegten Feigen und Orangen, derentwegen uns wieder der Sicilianer bespöttelt. Uebrigens stehen auch in Bezug auf Süßigkeit und Feingeschmack diese Treibhaus-kirschen und Treibhauspflaumen der Petersburger ganz in demselben Verhältnisse zn unseren freien Kindern der Natur wie unsere erzwungenen Treibhauscitronen und Treibhausapfelsmen zu den freiwilligen Geschenken der Hesperibengarten. Sie können nur dem große Freude bereiten, der sie selbst pflanzte und pflegte. Man zieht auch die Kirsch- und Pflaumenbäume in Töpfen und hat ,es darin, an kleinen Väumchen einen außerordentlichen Reichthum von Früchten zu erzeugen, zu einer unglaublichen Kunst gebracht. Vei den splendiden Fe' stins und Diners, wie sie täglich in dem nordischen Vabylon vorfallen, gehört es zu einem nicht ungewöhnlichen Lurus, die Tafel mit solchen fruchttragenden Bäum-chm zu besetzen, an denen oft jede Frucht, welche die Gäste davon ernten, so theuer zu stehen kommt, wie in unseren gesegneten Ländern ein ganzer Korb voll. Es ist eine bemerkenswerthe Thatsache und sowohl für die Rauhheit des russischen Landes, als für 1" 10 Treibhäuser. die Rohheit des Voltes charakteristisch, daß man in ganz Nußland kaum eine einzige völlig zur Reife gedieheue und hinlänglich durchkochte Frucht, sie sei denn von deutscher Hand gepflegt, zu essen bekommt. Man sollte denken, da, wo das Klima schon ohnedieß selbst bei vollständiger Erschöpfung seiner Kräfte so Weniges zeitigt, müsse der Mensa) um so geduldiger sein und alle Vortheile nutzen. Dieß ist aber bei den Nüssen nicht der Fall. Sie können die Reife keiner Frucht erwarten und bringen, um so hastig als möglich Alles in Waare und Gold zu verwandeln, es unzeitig zu Markte. Wie «s mit ihren Pflaumen und Birnen ist, eben so ist es auch mit allen anderen Früchten ihrer Cultur. Die reifen und vollkommenen Früchte bekommen sie theilweise nus dem Auslande. Für die Trauben sind Astrachan am caspischen Meere und Malaga in Spanien die Hauptpuncte. Doch gehen unter dem Namen der Astrachaner und Malagaer Trauben auch noch sehr uiele aus den benachbarten Provinzen in den Handel. Für die Aepfel sind zwei andere Gegenden die Hauptpuncte, die Krim und Stettin. Aus dem letzteren Orte werden in jedem Herbste ganze Schiffsladungen deutscher Aepfel aus allcn Gegenden unseres Vaterlandes für Petersburg verladen, und man beißt hier schon ganz anders in die Frucht, wenn es bei einem prasentirten Apfel heißt: Es ist ein Stet» tiner. Die „Krimskije Iabloki," die krim'schen Aepfel"), *) Das Wort „Iadloko" ist offenbar cm russificirtes deut» schcs, und wic wirfurdiePculeranzm, Citronen und ^rangcn von Treibhäuser. -11 gehören zu den Früchten von äußerst angenehmen Eigenschaft ten. Sie haben ein festes, der Faulniß äußerst lange widerstehendes Fleisch, ungemein viel Saft und dabei ein stets untadeliges, rothwangiges Aeußere und sind von der Größe und Form der Gansecier. Sie werben von der Krim aus, wo die Tataren sie in ihren großen Obstgärten reifen lassen, mlt den langen Obstkarawa-nen in gan; Nußland Umfahren und sind in Moskau wie in Petersburg sehr beliebt. — Eine dem russischen Norden eigenthümliche Aepfelart sind die Glas-apfel, die wir bei uns kaum kennen, die dort aber vorzüglich gut gedeihen. Vollkommen ausgebildet, ist ihr Fleisch und ilne Haut ganz durchsichtig, wie mattes, grünliches Krystallglas, und man kann dann bis auf das, innere Gehäuse hinabblicken. Es gewahrt ein eigenes Vergnügn, diese bei'm zauberischen Scheine der hellen nordischen Sommernachte gereiften Apfelkrystalle von lieb' lichem Geschmack zu genießen, und es sollte mich wundern, wenn es keine russischen Sagen von den Gärten, in denen sie wuchsen, ahnlich den Mythen von den Gärten der Hesperiden, gäbe. An Birnen, Aprikosen und Pfirsichen ist in Petersburg der Mangel weit größer, weil ihre von der Natur in eine zarte Hülle schlecht verpackten Safte sich schwer transportiren lassen. Die Birnen tommen aber gezuckert aus Kiew, und die Apri- den südlicheren Italienern und Franzosen die Name» empfingen, so erhielten die Nüssen für die Acpfel die ihrigen von den für sie südlicheren Deutschen. 12 Treibhäuser. kosen und Pfirsichen, getrocknet und eingemacht, überschwemmen ganz Rußland von Persien und dem Kaukasus her. In der Kunst, die Gemüse und Früchte früh zu zeitigen, thun es die Russen allen anderen Nationen zuvor. Sie sind daher auch nicht nur in allen ächt russischen, tatarischen, finnischen und polnischen Städten, sondern auch selbst in den deutschen der Ostseeprovinzen die vornehmsten und fast ausschließlichen Gemüsegnrtner. Kaum ist eine neue Partie von Städten dem welterobernden Reiche zugefügt, so nistet sich sogleich eine Menge bärtiger Gärtner in ihren Vorstädten ein, und es umziehen alsbald weitläufige Kohlgärten ihre Mauern. Kohl und wieder Kohl, dann Zwiebeln und noch ein Mal Zwiebeln, ferner Gurken, Kürbisse, Melonen, alsdann Erbsen und Bohnen sind die gewöhnlichen ?lrtikel in diesen Gärten. In der Negel findet sich eine Partie solcher Leute zu einer Gesellschaft zusammen, pachtet ein Stück Land von einer halben Quadratmeile und besäet es mit Kohl und Zwiebeln. Für die Gurken, Bohnen u. s. w. machen sie sich kleine Mistbeete zurecht, kaufen sich ein paar alte Fenster, auS denen sie kleine Treibhäuser zusammensetzen, siechten Strohmatten zur Bedeckung der zarten Keime und sind dann in Venuftung jedes Januar- und Februar-Sonnenblicks und in Beobachtung und Vekampftmg jedes Frühlings-Nachtfrostes so »mennüdlich, daß es ihnen weder Dcittsche, noch Franzosen darin gleich thun können, und daß sie immer die ersten Spargel und Vobnen zu Markte bringen. Mit Treibhäuser. Ml großem Eifer auf ihren Gewinn bedacht, verlassen sie ihre Pflanzen nie und leben, schlafen und essen bestandig in ihren Garten. Sie essen trockenes Brot, Zwiebeln und allenfalls warme Kohlsuppe, die sie sich im Freien oder unter einem nothdürftigen Nomadenzelte kochen. Bei jedem Sonnenstrahle, der sich zeigt, werden die Matten abgenommen, damit den Pflanzchen die Warme und frische Luft zu Gute kommen möge, bei jedem Sturme oder Hagel wird Mcs wieder verhüllt, und so oft zwanzig Mal an einem Tage ihr Treibhaus abgetragen und wieder aufgebaut. Im Frühlinge, wenn es nur etwas warmer wird, schlafen sie, in ihre Schafspelze gehüllt und allenfalls noch mit einer Strohmatte bedeckt, im Freien, damit sie bei einfallendem Nachtfroste sogleich bei der Hand seien. Ein R^mmur'sches Thermometer ware ihnen dabei unnütz. Sie bedienen sich eines andercu von eigener Erfindung, das nicht bloß den Gefrierpunct deutlich angicbt, sondern die unaufmerksam Schlummernden auch zugleich eriunert und weckt. Sie stecken nämlich den einen Fuß aus dem Pelze in's Freie hervor, dcr dann zugleich mit den Pflanzchen zu frieren beginnt und die Gartner mit empfind'-lichem Schmerze zur Hilfe stachelt. Da hatte denn ein deutscher Gartner, den ich fragte, warum die Deutschen es den Russen in frühen Gemüsen nicht gleich thun könnten, allerdings gewissmnaßcn Recht, wenn er antwortete' „wcil die Deutschen nicht wie die Hunde leben können." Trotz diesem großen Eifer der Russen bei Zwiebeln IT Treibhäuser. und Kohlpflanzen sind sie doch keineswegs die beßten Kunstgärtner in Rußland, vielmehr sind alle Pflanzen-Handlungen und Kunstgartnereien im Besitze von Deutschen, so wie auch alle Gartnerstellen, bei denen größere Ansprüche gemacht werden, wo ästhetischer Sinn u. s. w. nöthig ist, im ganzen Reiche von Deutschen besetzt sind. Denn es ist eine sonderbare Erscheinung und eine allgemein giltige Bemerkung, daß die Nüssen, die vorzugsweise in allen Anfangen der Künste so Ausgezeichnetes leisten, keineswegs in demselben Maße auch ihre Gcschicklichkeiten zur Vollkommenheit entwickeln. Man gebe dem Russen, der mit seinem einfachen, dreikantigen Beile Wunderdinge verrichtet und dasselbe höchst geschickt als Axt, Sage, Bohrer, Hobel, Stoßhobel, Platthobel, Polirhobel u. s. w. zu gleicher Zeit zu gebrauchen weiß, einen ordentlichen vollständigen Apparat von Tischlerwerkzeugen in die Hände, er wird sie allesammt verderben, und wenn sie von englischem Stahle waren, aber keinen haltbaren Tisch damit zu Stande bringen; man gebe demselben Menschen eine Flinte, er wird in vierzehn Tagen ein vollkommen einexercirter Soldat sein; man bringe ihm eine Flöte und gebe ihm noch 14 Tage, er wird im Chore mitspielen können, eine Feder und noch ein paar Wochen, er wird ein brauchbarer Schreiber sein; aber cin Virtuose, ein Erfinder, «in Verbesserer und Reformator wird in keiner Kunst aus ihm werden. Die Russen sind die gewandtesten Kramer von der Welt, aber zu Großhändlern, Banquiers und Spe-culanten werden sie sich nie emporschwingen. Wenn ich Treibhäuser. 15 irgend etwas schnell und behende zurecht zu sticken hätte, wenn ich z. B. den Wagen auf der Chaussee zerbrochen hatte und dabei Fortunatus Wünschelruthe besäße, so würde ich mir nichts Besseres herbeizuwünschen wiffen als ein paar Russen, die mir sicher bald und geschickt aus der Verlegenheit he!sen und meinen Wagen, wenn er auch in tausend Stücke auseinandergcf.illen ware, so erfinderisch und zweckmäßig wieder zusammenzimmern würden, daß ich damit ganz siche, bis zur nächsten Poststa-tion, vielleicht auch noch etwas weiter gelangen könnte. Die Russen haben Talente und Anlagen zu Allem, aber sie haben kein Genie. Sie sind schmiegsam und bildsam, aber es fehlt ihnen die zum Ende durchführende Ausdauer und Energie. Sie machen sich an jedes Unternehmen, beginnen jede beliebige Arbeit und scheuen sich vor gar nichts als —> vor dem Ende. Daher kommt es denn auch, daß die Gärtner mit ihrem Fuße als Wärmemesser bei den Kohlpflanzen Wunderdinge leisten, und doch alle höhere Treibhausgärtnere! in ihrem Vaterlande von Ausländern betrieben werden muß. Da die russischen Reichen keine Ausgabe scheuen, wenn es gilt, eine Laune zu befriedigen oder Pomp zu machen, und da man sich auch im ganzen Lande auf Alles, was Heizung und Warmhalten betrifft, trefflich versteht, so kann man sich denken, daß alle Gewächshäuser Petersburgs zu den vollkommensten Einrichtungen dieser Art gehören. Gewöhnlich sind sie in eine Menge kleiner Abtheilungen getheilt, um die Hitze, wie in den Dampfbädern, so stickend als möglich zu 19 Treibhäuser. machen. Die Bohnen, Erbsen, Gurken u. s. w. setzt man wie Zierpflanzen in besondere kleine Topfe, damit man sie, je nachdem es die Sonne erfordert, leicht bald so, bald so stellen und drehen könne, und damit jede Frucht recht von allen Seiten von den Strahlen bebrütet werden könne. Man macht die Glaser der Gewachshäuser zuweilen aus dickem Spiegelglase, damit die Strahlen der Sonne sich concentriren, und bringt die Gewächse so dicht als möglich unter die Fenster, wie unter Vrennglascr. — Da jede Vlüthe, wenn sie im Winter Frucht bringt, einen namhaften Gewinn verspricht, so kann man jeder Knospe eine besondere ?luft merksamkeit widmen. — Im December giebt es in Petersburg keine Sonne, und da ohne sie alle Kunst verloren ist, so giebt es in diesem Monat freilich auch keine Früchte. Kaum aber hat sie im Februar einige Male freundlich gelächelt, so erscheinen schon frische Gemüse, Spargel, Salat und Spinat auf dcn Tafeln der Reichen, die sie indessen jetzt nur noch aus eigenen Trcibbauscm oder durch freundschaftliche Connexioncn beziehen. Für jedes Paar grüner Salatblatter mußten ein paar blaue Vanko-zettel zum Gärtner wandern. Gcgen Mitte und Ende März erscheine»' schon die Sonnenstrahlen, zu röthlichen Erdbeeren und polirten Kirschen verkörpert, an den Fenstern der Fruchtbuden auf der Perspective, alle auf zierlichen Tellern hübsch zur Schau ausgestellt, alle gezahlt und im Buche stückweise verzeichnet, als waren cs ächte Zahlperlcn. Noch ein paar Tage Sonnenschein, und sie zeigen sich in Ucberstuß und werden in Menge Treibhäuser. 17 gekauft, obgleich die Assiette noch immer ihre IN bis 20 Rubel kostet. — Im April schon sind die Erdbeeren und Spargel veraltet und nicht mehr fashionable. Bohnen, Kirschen und halbreife Aprikosen treten an ihre Stelle, die nicht des Feingeschmacks, sondern der Seltenheit und des Namens wegen mit Golde aufgewogen werden. Mit Stachelbeermuß und Pflaumenkaltschale hat man sich schon langst den Magen verdorben, und damit die Gewächshäuser sich nicht erschöpfen, ist es Zeit, daß im Mai das Messina-Schiff bald landet und sich seiner Feigen, Apfelsinen und Orangen entladet, mit denen es schon lange im sinnischen Meerbusen kreuzte, um das Loseisen der Hafen zu erwarten. Eins der größten Gemüsetreibhauser Petersburgs enthalt die Orangerie des taurischen Palastes, die für die kaiserliche Tafel arbeitet. Ich besuchte sie am 23. Februar. Es waren 30 große und kleine Säle mit Tafelblumen, Gemüsen und Obstbaumen gefüllt. ^-Die Weinstöcke, die in einigen langen Räumen in allerliebsten Lauben und Alleeen ganz nach Art der am Rhein üblichen Weinstockpsianzungen aufgestellt waren, blühten zum Theil, zum Theil hatten sie schon abgeblüht und kleine Früchte angesetzt, denen man im Anfange des Juni völlige Reife versprach. Man hoffte, hier in diesem Monate 50 Centner Trauben ernten zu können. — In anderen Gangen waren ganze Reihen von Aprikosen- und Psirsichbaumen in schönster Blüthenpracht aufgestellt. Alles war in der saubersten Ordnung, von allen den Millionen Blattern der Bäume war kein «in- 1^ Treibhäuser. einziges zerknickt ober beschädigt, und an den Weintrauben stellte und bog man die Blätter, damit jede Beere in d^s rechte Licht komme oder den nöthigen Schatten empfange. Man hoffte, Ende Mai's 20,000 Stück reife Aprikosen pflücken zu können. In 15,000 Töpfen waren Erdbeerenbüsche gepflanzt. Die meisten trugen schon genießbare Früchte, und der Gärtner hatte schon zwei Mal ganze Partieen in die kaiserliche Küche geliefert. Die Bohnen, in 6000 Töpfe vertheilt, hatten schon hübsche längliche Schoten, und 10 Pfund waren bereits auf den nächsten Tag dem Oberküchenmeister' versprochen worden. Die Levkoien und anderen Blumen, in 10,000 bis 11,000 Töpfen prangend, waren in der lebendigsten Entwickelung ihrer Far« ben begriffen, aber in dem schönen reichen Rosenflore war keine einzige blühende zu bemerken, weil, sagte der Gartner, die aufblühenden immer sogleich an die Kaiserin verabfolgt werden müssen, die diese Königin der Blumen vor allen liebt. Draußen sollte der Krystall des Winter-schnee's noch 6 Wochen lang ungefchmolzen als Leichen» tuch über den Fluren liegen, und hier in diesem zauberischen Blumengeft'lde hatte sich der Sommerschnee der Magnolien und Lilien schon langst in den grünen Lauben eingenestelt, und man hatte sich einbilden können, als Zwerg in dem Riesenfüllhorn der Pomona und Flora umherzuklettern, das sie dem rauhen Norden zugeworfen. Aehnlichen Reichthum und Ueberfluß, gleiche Kunst und Frühzeitigkeit sieht man in den Treibhäusern der wohlhabenden Privatleute, die nicht nur in Petersburg, Treibhäuser. 19 sondern auch auf ihren Privatbesitzungen, Sommerwohnungen und Landgütern in Treibhäusern der Dürftigkeit ihres nur Beeren und T^nnenapfel erzeugenden Landes zu Hilfe zu kommen suchen. Doch unterscheiden sich diese russischen Gewächshäuser von denen in London und England, wo die Großen ebenfalls sich viel Mühe geben, unter Anderem auch dadurch, daß, wahrend in diesen alle Weltlheile durch rare und schöne Pflanzen, die den Blumisien und Botaniker erfreuen, reprasentirt sind, in jene mehr solche Gewächse aufgenommen werden, die dem Gesellschaftszimmer und der Tafel zum Nutzen dienen können. Die Fruchtladen Petersburgs, die sogenannten ,,l>ul<-lo>vu>i'« lll>vk»"*), finden sich in der ganzen Stadt zerstreut, die vornehmsten aber lieget» in ciner langen Reihe von Nr. 1 bis Nr. 20 an der Perspective hin, wo sich überhaupt alles Delicate der Stadt befindet. Da sie nicht blos frische, sondern auch eingemachte und gezuckerte Früchte, einheimische und fremde verkaufen, und da sie ihre Reichthümer mit großem Geschmack und unverkennbarer Originalität anordnen, so gewahren diese Laden den eigenthümlichsten und interessantesten Anblick, dessen man in diesem Genre' irgendwo theilhaftig wird. Die Russen verbrauchen, wie wir bereits sagten, große Quantitäten von Süßigkeiten und besonders von süßen Fruchtsaften. Jene hübschen Fruchtladm bieten nun *) Auch das dcutsche Wort Frucht (frultti) ist in die russische Sprache übergegangen. 20 Treibhäuser. solche leckere Waare, die aus allen Weltgegenden zusammenströmte, in Menge dar, Kiew'sche Confecte, Nie-schm'sche Safte, Moskau'sche eingemachte Beeren, amerikanische Sweetmeets, tatarische Alwahs aus Aepfelmuß, russische Pastelus aus Beeren, türkische Gebäcke in Schachteln, daneben Rosinen, Mandeln und Feigen aus Smyrna, krim'sche Nüsse, sicilianische Apfelsinen, Alles von ausgesuchtester Qualität und den wünschenswerthesten Quantitäten. Ferner sieht man in diesen Laden jene oben bemerkten Stettiner und taurischm Aepfel und frische Bohnen, Kirschen, Erdbeeren, Ananas und Aprikosen in den Monaten Februar und März, so lange sie als Raritäten und Kostbarkeiten gelten können, bis sie später, häufiger, gemeiner, aber schmackhafter geworden, bei den gewöhnlichen Obsthändlern auf den Straßen zu haben sind. Die Ostentation, welche die Pomp liebenden Russen sowie überall auch in der Aufstellung ihrer unbedeutendsten Waaren in den Buden zeigen, findet sich denn auch in diesen Fruchtladen, in denen sich die Phantasie erschöpft zu haben scheint, um aus Früchten, Saftflaschen und Confectfchachteln alle möglichen wohlgefälligen, barocken und auffallenden Zusammenstellungen, Gebäude und Monumentchen zu machen. Alle die de-licaten Waaren, die der vorsorgliche und bedenkliche Deutsche größtmthcils in den Kellern seines Magazins oder doch in den Schubkasten seines Ladens wohl verwahrt halten würde, reiht der Nüsse an Schnürchen und bekränzt damit die Fenster und Wände seiner Boutique, stellt sie in geöffneten Fenstern, zu lockenden Pyramiden Treibhäuser. 21 gehäuft, vor die Thüre ober schmückt mit ihnen, indem er sie in zierliche Reihen, Figuren und malerische Gruppen zusammenstellt, seine Tische und Schranke. Als wenn Kinder diese Fruchtbuden, in denen Großhandel mit dem Obste getrieben wird, aufgeputzt hätten, stehen die glitzernden Süßigkeiten in blanken Flaschen compag-nieemveise bei einander. Einem jeden der saulenartigen Gefäße dient eine Confectschachtel als Piedestal, und auf jeder Säule liegt eine Ananas oder eine Citrone, als Knauf sie krönend. Blumensträuße und fruchttragende Erdbeerenbüsche oder Kirschbaumchen dienen, überall symmetrisch vertheilt, zur Ausfüllung der Zwischenraume. Der russische Kaufmann weiß wohl, von wie vielen Gelüsten und Begierden seine Kunden immer umlagert sind, UNd daß es nur cmeS Blickes in eine so rcich gezierte Bnde bedarf, um ihrer sogleich eine Menge zu wecken, zu deren Befriedigung er dann eine kleine Partie aller seiner Waaren auf ein Mal absetzt, mit welcher die armen Bedienten beschwert werden. Wie hoch die Preise der frischen Früchte in diesen Buden selbst noch im April sind, erfuhr ich eineS Tages durch einen guten Bekannten, der mir eine kleine Rechnung von einem in einer derselben verzehrten Frühstücke mittheilte. Es halte ihn eines Tages ein Wintergelüst nach frischen Pflaumen und Kirschen angewandelt, und er hatte den Entschluß gefaßt, sich einmal mit Obst recht gütlich zu thun. Weil er von Anderen gehört hatte, daß die Früchte auf dcr Perspective um diese Zeit sehr theuer seien, so versah er 22 Treibhäuser. sich tüchtig mit Geld und steckte eine Banknote von 25 Rubeln in die Tasche. Da er bei dem Fruchtladen ein paar gute Freunde traf, so gab dieß seiner generösen Laune noch einen größeren Aufschwung, und er lud sie ein, an seinem T^jeün« Theil zu nehmen und sich auf seine Kosten beliebig mit Früchten zu tractircn. Als sie fertig waren, gab er dem Kaufmanne seine Banknote und bat, ihm den Rest herauszugeben, worauf ihm dieser aber folgende Note überreichte, von der er behauptete, keinen Kopeken ablassen zu können: 6 Metten mit Erdbeeren ü 15 Nubel . 90 Rubel 250 Stück Mrschen ü 50 Rubel das Hundert 125 , 2 Pfd. Himbeeren i. 20 Rubel .... 40 - 3 Ananas ü 40 Rubel........ 120 - Summa 375 Rubel. Hätte der Gute nur noch 2, 3 oder 4 bald darauf folgende Sonnentage abgewartet, so hätte er seinen Imbiß ein paar hundert Rubel billiger haben können, denn in jener Zeit fallen die Früchte mit jedem Sonnenblicke um ein paar Kopeken das Stück im Preise. In der Umgegend von Petersburg, wo bestandig viele alte Garten wegfallen und verkümmern und viele neue lmgelegt werden, wo jeder harte Winter wie ein wildes Thier den Menschen in ihre Anpflanzungen fallt, ist der Verbrauch von Sämereien und Stecklingen zum Anpflanzen nicht gering. Von Holland, Stettin und Hamburg aus werden daher jährlich viele Blumen und Väumchen zur Recrutirung und Ver- Treibhäuser. 23 forgung der Petersburger Datschen (Landhauser) nach der Newa verschifft. Auf Wassili-Ostrow wohnen viele deutsche und englische Kaufleute, die ihren Stolz darein sehen, einen prachtigen Hyacinthen- und Tulpenflor zu unterhalten. Die russischen Großen consumiren große Blumenquantitaten bei ihren Vanqueten und versorgen außerdem von hieraus alle ihre Landgüter im Inneren des Reichs noch mit ausländischen Pflanzen verschiedener Art; ja das halbe Reich besamt sich von Petersburg aus mit neuen Vegetabilien, und es ist daher der Blumen-, Pflanzen- und Samereienhandel an keinem Orte der Welt so lebhaft als in Petersburg; doch laßt sich nichts Genaueres darüber sagen, weil alle näheren Data dazu fehlen. Auch haben sich natürlich in der Stadt selbst und ihrer Nähe schon viele Baumschulen gebildet, welche Waare dieser Art zu Markte bringen. Es eri-stirt ein eigener Stecklings- und Vaummarkt m Petersburg, der für gewöhnlich auf dem Heuplatze abgehalten wird. Er beginnt im Frühlinge, sobald die aufge-thaute Erde es nur einigermaßen erlaubt, die jungen Baume dem Boden zu entheben. Sie werden uorsich« tig der Mutterbrust entrissen und, in Erde und Moos verpackt, fuderweise zu Markte gebracht. Die deutschen Kolonisten aus Ingermannland und die Bauern von Pul-kowa bei Zarskoje Sselo in den Duderhöf'schen Bergen erscheinen am hausigsten damit. Sie bilden kleine Walder von Büschen und Bäumen ails dem Heuplahe, wo wan sie in temporären Mistbeeten in langen Reihen neben einander aufpflanzt, Pflaumen-, Kirschen- und 24 Treibhäuser. Birnbäume für die Kirschcnhauser der Liebhaber, Aepfel-baume, Stachel-, Iohannis- und Himbeerensträucher für die Obstgarten, Trauerweiden, Kastanien, Ahorn- und Lindsnbäume für die Parks und unzählige Massen von Blumen, Leukoien- und Nosenstöcken, Magnolien u. s. w. für die Ausschmückung der Zimmer oder zum Ankaufe und Anleihen für die Tafeln und Ballsale. Außerdem eristiren noch vlele Blumanhanblungm und Kunstgärtner, deren Vorrathe so groß sind, daß sie sehenswerthe Merkwürdigkeiten bilden. Doch macht keine Anstalt in diesem Artikel großartigere Geschäfte als der große „1»oilv" (der Apothekerinsel). Diese Upothekermsel ist ein Theil der großen Petersburg'schen Insel und wahrscheinlich des botanischen Gartens wegen vom Volke so genannt, das sich wohl einbildet, daß alle dort gezogenen Pflanzen für die Apotheker bestimmt sind. Dieser Garten mit seinen Gewächshäusern, der schon seit längerer Zeit unter der Leitung eines bekannten deutschen Botanikers steht, umfaßt vielleicht die Pflanzen aus so vielen geographischen Zonen der Erdkugel wie kein anderer in irgend einem Lande, denn es sind mit einem Worte hier geradezu alle repräsentirt. Nicht nur für die schlanken Zöglinge der Äquatorialgegenden und für die Schößlinge, die im Schooße der gemäßigten Zone Wurzel treiben, sondern auch für alle die krüppeligen Gewächse, die auf den sibirischen Tundern, auf Nowaja Semlja und Spitzbergen bis in die Nahe des Nordpols ihr kümmerliches Leben fristen, sind hier Räume Treibhäuser. 25 gebaut. Die Sommerwarme läßt sich mit Nachhilfe einigen Sonnenlichtes, dessen Neiz ja Summa Summarum im Laufe des ganzen Jahres auf jedem Erdflecke so ziemlich derselbe ist, wenn er auch .mders vertheilt erscheint, noch einigermaßen durch künstliche Wärme ersetzen, die Kalte aber, deren die nördlichen Pflanzen bedürfen, laßt sich in wärmeren Gegenden schwerer erzeugen. Wie daher die Löwen und Schlangen der Tropenländer selbst in den Menagerieen Petersburgs erscheinen und erhalten werden können, den Eisbaren des Nordpols aber m Ost- und Westindien kaum eine ertragliche Existenz bereitet werden kann, so ist es auch leichter, in Petersburgs Gewächshäusern die Palme zu ziehen, als den sibirischen Vegetabilien in Calcutta oder Rio Janeiro das Leben zu fristen. Der sibirische Saal in dem Petersburger Gewächshause mit den verschiedenartigen Moosen und Flechten der Tundern und mit den zwerghaften Strauchern und verkrüppelten Bäumen Spitzbergens, die an die kleinen untersetzten Eskimos und Samojeden erinnern, welche unter ihnen lustwandeln und aus ihren Dornenzweigen sich ihre Hundepeitschenstöcke schneiden, gewahrt einen eigenen Anblick. Es wird darin eine beständig kühle Temperatur unterhalten, was nur hier in Petersburg gelingen mag. Man muß den langen Po-larwinter nachahmen und die Pflanzen nicht überreizen, damit sie ihre Kräfte nicht zu frühzeitig vergeuden. Es macht daher einen merkwürdigen Eindruck/ wenn man auf ein Mal aus der stets heißen und stets blüthentreibenden und fruchtreichen Palmenzone in die Kohl, Petersburg III. 2 36 Treibhäuser. dunkeln und schauerlich kalten Naume der sibirischen Vegetation tritt, wo alle die kleinen Pflanzenzweige selbst noch im Maimonat in tiefem Schlummer liegen und noch kein Knöspchen grünt, ^ einen Eindruck, den man so frappant nur gerade hier in diesem Petersburger Gewächshause haben kann. ^ Ucbrigens aber finden wir diese gepriesenen Petersburger Gewächshäuser in der Wirklichkeit weit unter ihrem Rufe. Nicht nur die Gebäude sind unelegant aus ^roßten-theils nur mit Kalk übertünchten Tannenbaumen ausgebaut, sondern auch die Ordnung und Sauberkeit schien uns Vieles zu wünschen übrig zu lassen. Viele schöne Bäume stießen mit ihren Wipfeln an die niedrige Decke und konnten ihre Krone nicht gehörig entfalten, und was die Reichhaltigkeit der Sammlung in jedem einzelnen Fache betrifft, so kann sie z. V. mit den Wiener Gewächshäusern in keiner Hinsicht auch nur eine entfernte Vergleichung aushalten. Uebrigens ist, wie gesagt, das ganze Institut für Petersburg sehr wichtig, besonders durch seine großen Baumschulen, in denen eine unge« heuere Menge von gewöhnlichen Gartenbäumen erzogen und verhandelt wirb*). Die Noth, die das Genie zur Anstrengung zwingt, ist überall dic Erzeugerin großartiger Idceen. So kam " *) Dle Idee zu diescm Garten ging vom Kaiser Alexander auS, dcr zu gleicher Zeit auch in der Krim den bekannten botanischen Handelsgartcn von Nitita und in den Steppen dm von Odessa anlegte, welche beide für den Süden Dasselbe leisten sollten, was der Petersburger für den Norden zu thun bestimmt war. Treibhäuser. 2? Semiramis, weil es in dem völkerwimmelnden Babylon an Platz gebrach, auf den großen Gedanken ihrer hängenden Gärten, die, in der Luft schwebend, einen weiten Raum unter sich liesien, der zu mancherlei anderen Zwecken benutzt werden konnte. So gruben die Engländer, in ihrem winkeligen London in d!e Enge getrieben, ihren großartigen Tunnel unter dem Strome weg und führten ihre Eisenbahnen über die Dacher hin. So schufen denn auch die Petersburger, von ihrer rauhen und wenig üppigen Natur immer in den Zimmern eingesperrt, sich in ihren Häusern selbst den Genuß, der ihnen draußen versagt war, und kamen auf die Erfindung der „Wintergarten," mit denen sie ihre Salons schmückten. Den ersten Garten dieser Art ließ der prachtliebende Potemkin im taurischen Palais anlegen, in welchem er seiner Geliebten, der Kaiserin aller Reußen, dle berühmten feeenartigen Feste gab. Es befindet sich derselbe in der Nähe des Vallsaales, mit dem er eigentlich Eins ist, da er nur mittels einer Reihe von Arcaden, durch welche man sogleich aus dem hellerleuchteten Raume in die schönen, schattigen Gebüsche und Vaumgruppen eintreten konnte, davon getrennt ist. Die höchsten Baume in diesem Garten sind über 30 Fuß hoch, kleine Nasenplatze, auf denen der Rasen höchst mühselig durch häusiges Vcgiesien selbst mitten im Winter grün erhalten wird, wechseln mit Lauben und Blumenbeeten ab. Die Baume stehen alle in großen hölzernen Kasten, tief in die Erde eingelassen, und man kann sie für den Sommer zum Theil herausnehmen und in's Freie setzen. ?luch 2^ 23 Treibhäuser. kann man einen Theil des Daches und der Wände im Sommer ausheben, um Licht und frische Luft zuzulassen. Große, überall vertheilte Oefen verbreiten hier im Winter gelinde Stubenwarme, und die Wege, die sich in verschiedenen Schlangelungen zwischen den Fon-tainen und Anlagen hinwinden, sind mit Grand und Lehm fest angeschlagen. Ein eben solcher Garten befindet sich in der ersten Etage des Winterpalais, und ahnliche haben die vornehmen Russen in ihren Häusern nachgeahmt. Wenn die Kinder dann bei 20 Grad Kalte nicht in's Freie gehen dürfen, so spielen sie auf den freien Rasenplätzen des Stubengartens, und die Ball' damen, die, in Pelze gehüllt, herangefahren kommen, tanzen inmitten der nordischen Winternachte im Schatten zauberischer Haine und, wie die Houris unter den Rosengedüschen des Paradieses, im Schimmer mehr als eines Mondes, denn für zauberische Mondschein-Lampen» illumination in diesen wundervollen Garten ist reichlich gesorgt Man sieht, daß man es im dürftigen Lande der soräidissim« k'onornm Föns heut zu Tage aushalten kann, und daß es sich bei solchen Surrogaten und Supplementen der Naturarmuth doch leben laßt. Die Garten und Datschen. „Eilig, baß in Laub und Gängen „Sich ein Garten offenbare!^ ^)er sechszigste Grad nördlicher Breite kreuzt bekanntlich die Vorstädte Petersburgs. — So lange die Welt steht, hat in so hohem Norden, so nahe dem ewigen Eise des Pols, noch keine menschliche Ansiedelung es versucht, den ganzen Glanz einer Kaiserresidenz zu entfalten, wie Petersburg es gethan hat. Auch ist die milde baltische See, an welcher Städtebau und Cultur höher hinaufgehen als an irgend einem anderen Meere, die einzige, die allenfalls noch einen solchen Versuch gestattete. An allen anderen Meeren des Globus hat unter derselben Parallele alle Garten-, Baum- und Blumenzucht längst völlig aufgehört. Jene Parallele, auf der Petersburg seine Palaste gründete und seine Garten anlegte, ist dieselbe, unter welcher in Sibirien die Ostjaken und Tungusen ihre 30 Die Gärten und Datschen. Rennthierherden auf kümmerlichen Moosweiden hüten, dieselbe, unter der die Kamtschadalen auf nie schmelzendem Eise mit Hunden spazieren fahren '). — Auf demselben Kreise, auf welchem sich der Petersburger aller Genüsse der ciuilisirten und uncwilisirten Welt erfreut, nährt in Amerika der Grönländer und der Eskimo das Flämmchen seines vegetativen Lebens kümmerlich mit Thran und Robbenfett"). Auf diesem ganzen großen Cirkel von 3000 Meilen Länge ist diese Anhäufung von einer halben Million Residenzstadtern einzig, und Petersburg, so weit es schauen mag, sieht sich einsam unter Eis- und Schneefeldern und unter blumcnlosen Tundern *"). Das sumpfige Livlanb, das sogar der Pole hart und rauh nennt, die Provinz, aus der dem Preußen die unbarmherzigen „kurischen Wetter"-j-) kommen, sind *) Der größte Theil der Tungusen wohnt sogar noch südlicher. Ochohk liegt einen Grad, Tobolsk zwci und die südöstlichste Spitze von Kamtschatka fast neun Grade südlicher als Petersburg. **) Der Breitengrad der Petersburger Vorstädte geht durch die südliche Spitze v?n Grönland und durch die nördlichen 2heilc Labradors und dcr übrigen Hudsonsbai-Länder. *") Di« Schwcstcrstadt Petersburgs, Stockholm, bildet auch kcine Ausnahme. Freilich liegt sie nur wenige Meilen südlicher als Petersburg, aber zugleich auch achtzig Meilen wcstlichcr, und diese können ihr so zu Gute gerechnet wcrdcn, als wäre es eine eben solche Distanee nach Süden. -j-) In Ostpreußen nennt man „kurisches Wetter" ein wildes Schncewcttcr aus Norden (aus Kurland). Die Gärten und Datschen. 31 für den Petersburger recht unmuthige und leidlich warme, südliche Provinzen. In Polen schon sieht sich der Petersburger nach tropischer Vegetation und südlichem Klima um. Ja und von der »ebulosn Kui-muni», bei dessen I^orn und Graubimmel der Italiener schauernd seine elegische Harfe anschlagt, um poetisch zu klagen, phantasirt der Petersburger wie wir von dem Lande, wo die Citronen blühen. Sibirien reicht bis an die östlichen Küsten des baltischen Meeres. Mit seinen Birken und Tannen, mit seinen Moosen und Tundern, mit seinen Schneestürmen, mit feinen Wölfen und Bären geht es bis vor die Thore von Petersburg. Ja auch mit seinen Wölfen und Bären! Denn was dieß betrifft, so steht keine Stadt Eu« ropas in einem so engen Verhältnisse zu den Thieren der Wildttiß wie Petersburg. -^ Von Berlin aus schlug man sie weit aus dem Felde. Paris und London sind durch dichte, völlig wildlose, cultivirte Ländermassen vor ihnen sicher gestellt. Von Wien und Stockholm aus hat man bis zur ersten Wolfshöhle eine ziemliche Neihe von Meilen. Bei Petersburg liegen die Lagerstätten dieser Thiere und der Fürsten ganz nahe bei einander. Es ist ein merkwürdiger Beweis von der Wildheit des Petersburger Weichbildes, daß man zwischen Morgen und Abend von der Perspective oder der kleinen Morskoi auS noch eben so auf die Wolfs- oder Bärenjagd gehen kann, wie von Berlin aus auf die Wildbahn der Hasenhaide oder wie von 32 Die Gälten und Datschen. Paris und London aus auf daS Enten« und Schnepfenschießen. In harten Wintern haben sich hungrige Wolfe sogar bis an die Vorstädte Petersburgs gewagt, ja man sah hier zuweilen größere Haufen solcher Diebe, die sich aus der Nähe der Kaiserpaläste ihre Nahrung raubten. Von den kaiserlichen Courieren, die zwischen dem Winterpalais und den Nachbarschlöffern die erforderliche Verbindung erhalten, find noch in neuester Zeit nicht wenige eine Beute der Wölfe geworden. Es giebt in Petersburg Damen genug, deren feine Pariser Toilette mehr als ein Mal mit einem solchen zottigen und ungeleckten Walbherrn in Berührung kam. Eine erzählte mir, wie sie in einem Garten einen am Rande oeS Waldes schleichenden Wolf mit ihrem Sonnenschirme verscheucht, und eine andere, wie sie einem Baren, der sie bei der Lecture auf der Gartenbank einer ihrer Petersburger Villen gestört, einen Roman von Georges Sand an den Kops geworfen habe *). *) Die Nüssen behaupten, daß der Vär tin großer Pol, tron sei und nie anders als gereizt oder verwundet den Men« schen angreife. Sie erzählen in Bczug auf den Effect, den plötzlicher Schrecken auf ihn äußert, sehr komische Sachen von ihm, die, so merkwürdig sie auch einem Natm forscher sein mdgen, hier doch kaum wiedererzählt werden können. — Auf einem russischen Landhause hatte man lines Tages einen Burschen ausgesandt, um Brot zu holen. Der Junge kam allerdings zurück, aber ohne Brot und erzählte, es sti ihm unterwegs cin Bär begegnet, dem er es im Schrecken an dcn Kopf geworfen. Als man zu der bezeichneten Stelle zurückging, fand man das Brot und nicht weit davon drn Bären Die Gärten und Datschen. O6 Es beweist dieß Alles, wie sehr noch die Faunen der Wälder in dem Petersburg'schen Stadtgebiete die Oberhand haben über die Ceres und Flora, die sich hier noch nicht wie bei allen anderen Hauptstädten Europas zu Herren des Bodens machten und heimathlich niederließen. „Großer Gott! schicken Sie mir doch einmal eine Abbildung der Sonne," sagte zu mir, als ich nach Süden (nach Deutschland) abreiste, ein Freund, den ich im Norden zurückließ, „fast kommt es mir vor, alS hatte ich seit Jahren nicht das Antlitz dieses holden Gottes geschaut." — Wenn nun schon in der europäischen Welt der deutsche Apollo nicht eben für ein Wesen von der anmuthigsten Gesichtsbildung gilt, so kann man sich nach dieser Sehnsucht, die im Norden Wohnende nach ihm haben, einen Begriff machen, wie wenig lieblich des Petecsburg'schm Helios Physiognomie sein mag. Um das recht zu begreifen, muß man es selbst erlebt haben, man muß selbst aus dem bleichen Grau des Petersburger Himmels nach Süden hervorgetaucht sein, um zu wissen, wie reizend, wie schön und hoffnungsvoll man den deutschen Himmel, an dem die Italiener und Franzosen so Vieles auszusetzen haben, finden üum. Uns pocht das Herz vor Freude, uns tritt eine Thräne poetischer Rührung in's Auge, wenn wir in seinem Blute. Die Leute bildeten sich ein, er habe cinm Blutsturz bekommen und fti vor Schreck gestorben. 2 55 34 Die Gärten und Datschen. von dem Lande singen, wo die Citronen blühen, eben so den Petersburgern, wenn sie von dem Lande träumen, wo die Kirschen- und Pflaumenbaume an allen Chausseeen stehen. Uns hüpft das Herz vor Freude, wenn wir in Domo d'Ossola, in Vormio oder sonst in einem der berühmten und vielbesprochenen Alpendörfer, welche die Thore nach dem transalpinischen Südlande bilden, anlangen. Ebenso geht es den Petersburgern, wenn sie bei Polangen oder Tauroggen oder einem an» deren der eben so berühmten und eben so ärmlichen lithauischen Granzorte über die deutsche Gränze treten und nach den Schönheiten des neuen Landes begierig ausblicken. — Dem Petersburger Kalender zufolge giebt es nur an neunzig Tagen im Jahre Sonnenschein, und selbst dann noch ist das süße Lächeln des Himmels mit nicht geringer Bitterkeit gemischt. Das Petersburger HimmelSsirmament ist kein festes, hohes und sicheres Domgewölbe, sondern ein graunebeliges Zelttuch, das beständig im Winde flackert. Wie der Schaubühne, auf welcher Petersburg agirt, also die Decke fehlt, so fehlt ihr sogar auch der Grund und Boden, der bei Wien und bei Paris ein festes Felsenparquet ist, bei Petersburg aber ein unergründlicher Sumpf. Der Morast quetscht sich im Frühlinge und Herbste überall zwischen der Zimmerung und Pflasterung der Straßen hervor, und obgleich sich jährlich Mil-lionen über Millionen als Pflaster, Grandwege, Brücken, Canale, für Entsumpfung, Pilotis, Hausergrund u. s. w. an den Ufern der Newa niederlassen, so ist doch die Die Gärten und Datschen. M Quadratmeile, welche die Stadt einnimmt, noch so wenig bewältigt und befestigt, baß überall der alte Ursumpf rauh, holperig, wild, moosig und morastig, wie die Titaniden der Vor« zeit ihn sahen, gleich hinter jeder Gartenmauer hervorblickt. — Bei unseren Städten, wenigstens in den Vorstädten, steckt jedes Haus zwischen Bäumen, Reben und Büschen, und aus jedem verlassenen Winkel blüht und sproßt es duftig hervor. In Petersburg aber steht jeder Garten im Sumpfe, und aus jedem Winkel, wohin die Schaufel nicht kam, blickt das alte häßliche Angesicht des Morastes hervor. Bei uns — ich meine bei Nien, Dresden, Hamburg, Frankfurt, ja bei fast allen unseren deutschen Städten, — giebt die Natur schon von selbst halbe Gärten, Berge, Thaler, oder schöne blumige Wiesen, manchfaltige Baumgruppen, oder doch wenigstens festen Grund und Boden und einen leidlichen Himmelsbaldachin darüber, und um den Garten vollständig zu machen, hat man oft nichts zu thun, als die Wege auszutreten. Bei Petersburg aber giebt sie freiwillig von dem Allen nichts, gar nichts. — Den festen Voden muß man sich künstlich schassen, Grandwege und Chaufseecn mühsam zimmern. Will man Wiesen, so muß man sich den Nasen Pflanzchen bei Pflänzchen anlegen. Will man einen Berg, so muß man ihn aufwerfen. Wünscht man ein Thal, so muß man es graben. Will man warm sitzen, so muß man einheizen. Will man einen Himmel, so muß man im Salon ihn malen. Nur zwischen den vier Wanden findet man in 36 Die Gärten und Datschen. Petersburg Windstille und Naturgenuß, nur an den Gebäuden helle Farben und freundlichen Glanz. Die Auen und Wiesen sind schmuzig, grau und gelblich, nur die Dächer der Häuser lachen in freundlichem Grün. Der Himmel ist nebelig, verschwimmend und verwischt. Die Sterne sielen auf die blauen Kuppeln der Kirchen herab, am Himmel selber blinken keine. Je bleicher die Sonne, desto goldener die Thurmfpitzen, je matter der Mond, desto heller die glänzenden Paläste. Großer Gott, welche Kostcn, welche Mühe, welche Noth hätte Peter der Große den jetzigen Petersburgern, ihren Vorvätern und allen ihren nachkommenden Geschlechtern ersparen können, wenn er seine anfängliche Idee, seine neue Residenz an die Ufer des schwarzen Meeres zu verlegen, ausgeführt hätte. Petersburg hätte alsdann ein beständiges schönes Klima und ein dunkles, aus Erz geschmiedetes Himmelssirmament, und es wäre, wenn es auch nur den dritten Theil von dem, was es bis jetzt dafür aufwendete, für Garten verausgabt hätte, von den zauberischesten Anlagen uma/ben. Millionen von Menschen hätten dann nicht nöthig, ihr halbes Leben mit den Sorgen hinzubringen, wie sie sich und die Ihrigen vor Frost schuhen sollen *). Es würden dann nicht so viele spanische, italiem- *) Peter der Große trug sich lange mit diesem Plane herum und hatte auch schon die Stelle an der Küste dcs schwarzen Meeres bezeichnet, an welcher seine neue Residenz erblühen sollte. Die Gärten und Datschen. ^M sche und französische ?lmbassadeure so rasch gealtert sein *). Petersburg hatte frischere Mädchen. Der warme Thee- und Pelzhandel, den diese Stadt führt, wäre nicht so bedeutend und die Verbindung mit China viel« leicht nicht so innig geworden. Petersburg würde dann eben so viele Akazien, Lorbeeren und Granaten in seinen Garten blühen sehen, als es nun Birken, Tannen und Heidelbeeren darin besitzt. Freilich würde dann auch, hätte der Zaar seinen Plan nicht weislich geändert, die ganze Kulturgeschichte und auch die politische Geschichte Rußlands eine andere sein. Petersburg, welches jetzt an dem Rande des Braukessels germanischer Cultur steht, würde dann in die Mitte türkischer und griechischer Me«e und Lander geworfen worden sein. Wie in dem baltischen Petersburg die Deutschen, so würden in dem pontischen die Griechen die Hauptrolle spielen. Wie jetzt Finnen, Schweden und Dänen sich mit den russischen und deutschen Residenz-siädtern mischen, so würden dann Tataren, Tscherkessen und Kosaken noch mehr als jetzt sich in ihr zeigen. Den europaischen (Illlturlandern mehr entrückt, würden die Fortschritte der russischen Bildung nicht so bedeutend gewesen sein. Der Bau der langen Chaussee von dem baltischen Petersburg nach Moskau, welche beide Städte in rasche Verbindung setzt, würde von dem pontischen Petersburg aus in den völlig stsmlosen und alles Chaussee-Materials entbehrenden Step- 5) Alle fremden Nefandtm, wenn sie von Petersburg m ihr Vaterland zurückkchrttii, wundern sich übcr die Napj. dität, mit der sie dort altcrttn. 38 Die Garten u«b Datschcn. pen unmöglich gewesen sein, und fremde Cultur hätte daher dem inneren Kerne des Reiches nicht so energisch eingeimpft werden können. — Schweden wäre vielleicht unangetastet und Finnland unerobert geblieben. Dagegen wäre die orientalische Frage wohl schon längst entschieden und das schwarze Meer schon völlig russisch. Ja vielleicht hätten dann die russischen Zaaren gar noch einen Sprung gemacht und am Bosporus selber auf den Trümmern des alten Byzantiums, Konstantinopels und Stambuls, ihres nicht weniger als Moskau heilig gepriesenen „Zaregrads", ihren Kaiserthron er» richtet. Das Einzige, was den Petersburgern bei der Ausschmückung und Bepflanzung der Umgegend ihrer Stadt zu Hilft kam, sind die schöne, tiefe, klare Newa und die Coupirung des Terrains durch die vielen Arme die« ses herrlichen Flusses, — die Hügelgruppe der sogenannten Duderhöf'schen Berge — und endlich die Meeresküsten des finnischen Busens. Alles, was Land« lichkeit, Naturgenuß und Gartenleben sucht, hat sich daher auch entweder auf die Inseln oder an die Meeresküste oder in jene Hügelkette, als daS einzige einigermaßen genießbare und der Zubereitung fähige Terrain, geflüchtet. Und wir können somit auch, wenn »vir Alles, was in Bezug auf Gartenkunst in der Umgegend von Petersburg geschehen ist, einigermaßen überschauen wollen, es in die drei Classen zerfallen lassen, nämlich in die Garten der Inseln, der Meeresküsten und der Duderhöf'schen Berge. Die Gärten und Datschen. W Die Inseln. Rechnen wir jedes kleine, von Wasser umfloffene Landstückchen mit, so giebt es im ganzen Delta der Newa mehr als 40 kleinere und größere Inseln. Einige von dlesen Inseln, obgleich sie sämmtlich zum Weichbilde der Stadt gehören, sind noch völlig wüste, abwechselnd von den Meeres- und Newafluthen über« schwemmt und bald von Wölfen, die über das Eis kommen, bald von Seehunden besucht — so die kleine Gruppe der Wollnyjeinseln, die Truchtanossinsel und ihre Nachbarn. Sie sind sumpfig und von Virkengebüfch bewachsen, und kein Mensch kennt sie in Petersburg. — Andere kleine Inseln enthalten Magazine für Pulver und andere Sachen. Die größten sind die schon oft genannten, Wassili-Ostrow, die Petersburg'sche Insel und die durch die Canale Moika, Fontanka lc. gebildeten Inseln. Sie sind fast ganz von den Häusern Petersburgs eingenommen und bilden den Hauptkern dieser Inftlstadt. Endlich aber liegen im Nordwesten der Petersburg'schen Insel noch fünf Inseln mittlerer Größe, von den Armen der kleinen und großen Ncwka und der Newa gespalten, neben einander. Es sind dieß die ausschließlichen Garteninseln Petersburgs und die vorzugsweise so genannten -^ „Inseln." Sie heißen Krestowst'y, die Kreuzinsel, — Kammennoi-Ostrow, die Steininsel, — Ielaginskoi-Ostrow, die Ielagin'sche Insel, -— Petrowsky, die Petersinsel — und die Apothekerinsel*). *) W«nn man in Petersburg sagt: „Wir wollen diesen W Die Gärten und Datschen. Ursprünglich boten diesc Inseln nichts als Gestrüpp, einige wenige alte Eichen, die ältesten Greise in Petersburg, dann vor allen Dingen Tannen und Birken, die auch noch jetzt den größten Theil der Inseln bedecken. — In diesc Urwälder und Ursümpfe rückte nun seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts die Gartenkunst ein, schaffte hier und da Gestrüpp auf die Seite, bahnte schöne Grandwege an, pflanzte neue Baume, die in einem Parke der 60sten Parallele gedeihen mochten, hinzu, — ließ aber die alten Eichen, unter denen noch die Ingren opferten, stehen, ^ und eben so hier Sommer auf den Inseln wohnen," oder „cinc Partie zu den Inseln machen," so meint man von allen 40 Peters-burg'schen Inseln eben keine anderen als jene Garten-Inselgruppe. — (§ine kleine Besonderheit ist es noch, daß die Pctersburg'schcn Deutschen fast jeden der russischen Namen dieser Inseln auf eine andere Weise bei sich eingebürgert haben. Eo nennen sie Krccitowsky-Ostrow (o. h. die Krcuz-insel oder eigentlicher die Kreuzische Insel) schlechtweg: Kres» towsky (buchstäblich: die Krcuzische), ebenso Pctrowskoi (die Peter'schc). Ielaginskoi-Ostrow (die Ielagm'sche Inscl) nen-ncn sie noch kürzer bloß: „Ielagin."— Bei Wassilicwskoi-Ostrow (der Basililis'schen Insel) dagegen wird immer Ostrow hinzugesetzt, das russische Adjectivum aber etwas abgekürzt, woraus Wassili-Ostrow entsteht. Kamnnnnoi-Ostrow bleibt ganz so, wie die Russen cs gekxn: Kammcimoi-Ostrow. Apo-thekerskoi - Ostrow dagegen wird nie auf Russisch genannt, sondern immer auch Deutsch: „die Apothekerinsel." Alles di«ß, so wi« es der deutschen Zunge bequem war. Wir werden in dem Folgenden mit Recht diese Bcnennungsweift der tereburger Deutschen beibehalten. Die Gärten und Datsche,:. 41 und da ein kleines finnisches Fischerdorf, das mitten unter dem entstehenden Luxus den Contrast der Zeiten und der Extreme der geselligen Zustände auf eine pi-quante Weise offenbarte, ^- schlug Brücken von Insel zu Insel, - zog Canale, — grub Teiche, — und baute vor allen Dingen kaiserliche Lustschlösser und hübsche Villen, die hier „Datschen" genannt werden, an den Ufern des Flusses. Das Meiste für diese Gartenanlagen geschah unter Alexander und Nikolai, denen überhaupt fast jede russische Stadt jetzt den Genuß eines öffentlichen Gartens verdankt. Doch fing die Entwickelung dieser Gärten schon unter Katharina an, unter der wahrscheinlich auch der Name Datscha *), Gabe, für Villa entstand. Denn sie verschenkte hier überall große Grundstücke und ganze Inseln an ihre Günstlinge, entweder zum Bauen und Anlegen von Villen und Gärten, oder schon mit solchen versehen. So wurde die Insel Ielagin erst an einen gewissen Melgunoff geschenkt, dann an einen Mischins» koi, dann an Ielagin, und jetzt gehört sie der Kaiserin Alexandra Feodorowna. So gehörte Krestowsky anfangs den Nasumowskys und spater den Bieloserokys. So wurde Kammennoc-Ostrow an Bestuscheff gegeben und gehört jetzt dem Großfürsten Michael. Jede der Inseln hat eine verschiedene Bestimmung, und jede widmet sich einer besonderen Klasse von Menschen. So ist Ielagin fast ausschließlich für den *) Sßon dawatj -- geben, schenken. die Vaucrhauser in manchen Gegenden Deutschlands um Pfingsten mit Maibaumen. Die Gärten und Datschen. 4s Krestowsky oder die Kreuzinsel legt sich dew eleganten Ielag'n und Kammennoi - Ostrow gegen das Meer hin vor und ist größer als beide zusammen. Endlose Alleeen durchkreuzen diese Insel und eröffnen durch die dichten Urwalder der Birken und Fichten Aussichten auf den sinnischen Meerbusen. Dieselbe ist uorzugs-weise der geringeren russischen Bevölkerung Petersburgs gewidmet, und der Mushik und der Kupez kommen auf bunten Gondeln hierher gefahren, um in den Waldern der Insel ihren Nationaluergnügungen, dem Rutschen und Schaukeln, sich hinzugeben. Katschcli und Rutsch-berge sind hier überall errichtet, und Sonntags dampft unter jeder Fichtengruppe im Grass das geliebte Ssa-mowar, um welches lärmend, singend und schwatzend eine Partie von Bartrussen gelagert ist. Die deutsche Bevölkerung Petersburgs hat sich wiederum eine andere Insel gewählt. Es ist vorzugsweise Petrowsky, wo der deutsche Bürger seine Taffe Kaffee trinkt und seine Pfeife dazu raucht. Die Anlagen gehen hier mehr in's Kleine, und nut hier giebt es Milch- und Kuchengarten, Kaffeehäuser und Schenken wie bei unseren Städten. Uebrigens ist dieß Alles natürlich nicht so ausschließlich zu verstehen, und Russen, Datschen und Schlöffer mischen sich auch hier wie überall ein. Wie die achten Petersburger denn überhaupt der Meinung sind, daß keine zweite Stadt der Welt sich ihrer Residenz an die Seite stellen könne und wie sie von vorn herein gegen alles Nicht-Petersburgische Vor- 44 Die Gärten und Datschen. urtheile haben, so halten sie auch auf ihre zauberischen Inseln die größten Stücke und verwundern sich nicht wenig, wenn ein Ausländer, dem sie ihre Herrlichkeiten zeigen, in ihre Lobpreisungen nicht so recht einstimmen will. Sie begreifen nicht, daß man nicht sogleich einwilligt, ihre Inselgärten den Gärten von Damascus, Babylon oder Schiras an die Seite zu stellen und Petersburg den vier Paradiesen des Orients als fünftes zuzugesellen. Sie, die sich ihr ganzes Leben lang auf der Droschke oder im Vierspänner tummeln, die nie mit einem Buche in einer stillduftenden Jelängerjelieber-Laube in Ideeen vertieft saßen, weil es solche stille Winkel und Lauben gar nicht bei ihnen giebt, sie begreifen nicht, was dem Deutschen in ihren schönen Gatten fehlt, der überall gesteht: „Ja es ist recht schön, aber es ist doch halt nit so lieblich wie daheim bei uns." Bei m,S übernimmt es die Natur selbst, alle die Lücken auszufüllen, welche die Kunst in ihrem Gartenteppiche laßt. Auch hilft jeder kleine Bürger und Bauer bet uns nach, das Gemälde vollständiger und üppiger zu machen. In Petersburg bleiben aber die Lücken, welche das Gouvernement und die Reichen lassen, überall unausgefüllt, kein allgemein verbreitetes, gartenpflegendcs Genie kommt zu Hilfe, und überall pfeift der Wind durch. Einer Dame, die Frankreich, Italien und Deutschland bereist hatte und über die Ostsee zum Petersburg'-schen Inselarchipel herangeschifft war, und der nun ihre dortige Freundin die Inselgarten und die Datschen, die Die Gürten und Datschen« 45 kaiserlichen Schlösser, die Alleeen und Treibhauser zeigte, siel diese Freundin plötzlich um den Hals, indem sie ihr einen heftigen Kuß auf die Wange drückte.— „Aber, ich bitte, was ist's, Liebe, warum küssen Sie mich?" — „Ach, Theuerste, Sie hören ja nicht auf, zu seufzen. Ich sehe, es gefällt Ihnen hier nicht!" — „Seufzte ich? O, verzeihen Sie!" — So ist es, sie seufzen hier, die Deutschen und eben so die Englander, die Franzosen, die Italiener, die Dänen und die Schweben — sie entbehren hier alle etwas. Die Petersburger, wenn sie nicht so liebevoll sind wie jene küssende Freundin, nehmen dann Aerger« niß an den eigensinnigen, melancholischen Fremden, die nicht anerkennen wollen, was so ganz auf flacher Hand liegt, indem sie dabei verkennen, wie sehr die Fremden fühlen, baß hier eben Alles so sehr auf flacher Hand liegt und nirgends Fülle und Innigkeit tief und üppig in dichten Gebüschen wurzelt. Nichtsdestoweniger aber und troß den Seufzern von uns Fremdlingen habm doch die Petersburgischen Inseln, wie aus unserer obigen Darstellung schon hervorgeht, auch ihre sehr schönen Seiten, ihre sehr zauberischen Tage, und es kommt nur darauf an, daß man Zeit und Gelegenheit richtig wähle. Vor allen Dingen begebe man sich nicht zu Fuß Hieher, als wolle man in den Berliner Thiergarten oder in den Wiener Prater gehen. Man bedenke, baß in Petersburg Alles auf die Droschke berechnet ist, daß hier alle Garten und alle Gebäude sich auf großen Räumen ausdehnen 4G Die Gärten und Datschen. und daß man sich ihre weitläufigen Tableaux, wenn man es auf keine andere Weise thun kann, durch die Schnelligkeit, mit der man an ihnen vorüberrauscht, genießbar und überschaubar machen muß. Man spanne also, wo möglich, einen Vierspänner an, durchbrause die öden Quartiere von Petersburgs?» Ostrow mit Windeseile und ga-loppire ebenso in den Alleeen von Ielagin und Krestowskv inmitten des Equipagenstromes, der dort an Sonn- und Festtagen gewöhnlich fluchet, auf und ab, lasse die brillanten Decorationen der hölzernen Villen an seinen Augen vorüberstiegen, kehre etwa bei einem Freunde, den man in einem dieser eleganten Sumpfpaläste hat, ein und laffe sich auf seinen üppigen Divans und in seinen mit Kostbarkeiten gefüllten Gesellschaftszimmern den Thee oder das Abendessen wohl schmecken. Indessen rüste man sich gegen Sonnenuntergang eine Gondel, bemanne sie mit einem halben Dutzend rascher und starker Gondeliers und fahre dann auf den Newaarmen hinab auf den finnischen Golf hinaus. Dort sehe man den Ballon der nordischen Sommersonne gegen Mitternacht zu der Thetis hinabsteigen und durchtaumele dann, die Voot-führer treibend, punschend, jubelnd und singend die laue zauberisch helle Nacht des Petersburger Juli und umkreise einige Inseln, aber immer rasch und behende, denn auch, hier auf dem Wasser ist AlleS weit. Alsdann horche man vom Nasser auS, was sich in den dichten Waldern bewegt, schaue die nächtlichen Lichter in den Fischerdörfern, die späte Illumination in den Datschen, lausche dem mitternächtlichen Treiben auf den In- Die Garten und Datschen. H7 seln, das so laut ist wie am Tage, und begebe sich endlich, wenn um 1 Uhr Nachts der kalte Thau das Rückkehren der Sonne verkündet, wie ein Nachtgeist heim. Auf dem Heimwege zur Perspective bewundere man die vom nächtlichen Sonnenreflexe hell schimmernden Palaste und erinnere sich dann am folgenden Morgen, wenn man um elf Uhr seinen Bettvorhang aufzieht, der wunderbaren Träume der Nacht, — man wird dann begreifen, warum der Petersburger seine Inseln so enthusiastisch preist. Fahrt um Mittag dann dein Petersburger Freund vor, um dich zum Frühstück beim Traiceur Talon und zur Promenade am englischen Quai abzuholen, so wirst du ihm zugestehen müssen, daß allerdings die Petersburger Inseln ihre brillanten Seiten, ihre großen Reize haben. Ist aber dein Freund schlau, so wird er sich damit begnügen und dir keinen Spaziergaug in die Petersburger Dörfer vorschlagen. Doch giebt es Unsinnige genug, die auch diese dem Fremden nicht schenken. Die Dörfer, welche unsere Residenzen umgeben, sind das Reizendste, was man sich wünschen kann, die Hamburger Dörfer in den Marschen der Elbe, oder die Dörfer in den Dresdener Gründen, oder die Mainbörfer bei Frankfurt, selbst die rübenbauenden Dörfer unseres Sandjerusalems find lieblich, voll Landlichkeit, Anmuth und voll Tableaux für das Skizzenbuch eines Malers. Die berühmten, in Petersburg tausend Mal genannten Dörfer, denen das Verlangen der Petersburger nach W Di« Gärten und Datschen. Kohl, Gemüse und Landleben, Existenz und Berühmtheit gab, sind vornehmlich folgende fünf: Groß- und Kleinochta, Nowaja-Derewnja, Staraja-Derewnja und Tschornaja-Retschka. Sie liegen in langen, endlosen — Alles ist in Petersburg ohne Ende — Zeilen an der Newa hin, die beiden zuerst genannten dem oberen Theile, die beiden letzten dem unteren Theile der Stadt oder dem Inselarchipel gegenüber. Die Hauser dieser Dörfer, aus Tannenbaumen zusammengeschlagen, sind in einförmigen Reihen wie ein Regiment Soldaten hier auf« gestellt. Von den Hausern, die meistens ohne die verschönernde Zuthat eines Baumes dastehen, landeinwärts erstrecken sich große Kohl- und Gurkengarten, und am Flusse hin lauft eine Chaussee, auf der des Sonntags der Strom der Equipagen wie in den Alleeen der Inseln auf und niederwogt. All« Die nun, deren Revenueen für eine gothische oder chinesische Datsche zu maßig sind, miethen sich im Sommer auf einige Monate in den Tanmnkaus-chen dieser Dörfer ein und genießen des Landlebens, so viel sie dessen bei Thee, Kartenspiel und Wagengeraffel habhaft werden können. Man muß ihre bescheidenen Anforderungen in dieser Hinsicht bewundern. Bei Nowaja-Derewnja steht die neue Struve'sche Mineralwasseranstalt, ein prachtiges HauS mit schönet« Salons und eleganten Promenaden unter Dach, mitten im nackten platten Sumpfe, fast eine deutsche Meile von dem Mittelpuncte der Stadt entfernt. Durch sie ist diese Gegend in neuerer Zeit noch mehr in Aufnahme Die Gärten und Datschen. 4V gekommen, und im Sommer ist der Garten der Anstalt ein sehr beliebter Sammelplatz der vornehmen Welt der Inseln. Ich begreife nicht, warum man diese so nützliche Anstalt so weit von dem Mittelpuncte der Stadt verlegt hat. Sie liegt eine deutsche Meile von dem Anfange der Perspective, und Die, welche alle Tage hier hin- und herfahren, um den unächten Karlsbader zu genießen, würden wohl für denselben Aufwand von Geld und Zeit zu dem ächten Sprudel hin- und zurückreisen können. Auch der schöne Stroganow'sche, dem Publicum geöffnete Garten, der Vesborodko'sche und andere haben hier den Leimoniaden und Sumpfgottheiten zimlich große Terraingebiete entrissen und sie für humane Genüsse gewonnen. Rechnet man Alles, was Petersburg in ihnen, im Sommergarten, im tamischen Garten und auf den Inseln jetzt als Gartengebiet besitzt, zusammen, so giebt dieß, nach dem großen im Generalstabe herausgegebenen Plane von Petersburg berechnet, etwa eine Oberflache von 25 Millionen Quadratyards*). 5) Man könnte dieß im Vergleich mit dem Garrcngebicte anderer Städte sthr bedeutend ncnnrn. Dresden z. V. hat in seinem großen Garten und allen Prwatgärtm der Stadt zusammen ungefähr 7 Millionen Quadratellen Gartengcbict, allein wenn irgendwo, so sind hier die statistischen Zahlen trügerisch. Sieht man mehr auf die Intcnsiuität als auf die Extension, so haben alle deutschen Hauptstädte, die jcdcs Fleckchen genießbar machen, vor Petersburg, das nur große Massen oberflächlich cultwirt, viel voraus. Kohl, Petersburg. III. 3 50 Die Gärten und Datschen. Die Dörfer Groß- und Kleinochta sind noch dadurch bemerkenswerth, daß sie den Boden der kleinen Vorfahren des großen Petersburgs einnehmen. Es stand hier die alte schwedische Festung Nyenschanz oder Schanz ter Nyen und noch früher Landskrona oder russisch: We-netz Semli (d. i. die Krone des Landes). Um den Besitz dieser kleinen Festung und Handelsstadt stritten sich die Schweden und Russen (damals noch nicht die Moskowiter, sondern die republikanischen Nowgorober) schon seit dem dreizehnten Jahrhunderte (gewöhnlich war sie indeß im Besitze der Schweden). Zuweilen trieben sie auch durch die Vermittelung dieses Städtchens friedlichen Handelsverkehr unter einander. Sie ist jetzt bis auf die letzte Spur verschwunden und vergessen"). Die Meeresküsten. Peter der Große — eigentlich müßte man jedeS Kapitel, das über irgend ein Verhältniß Petersburgs oder auch ganz Rußlands handelt, mit Peter dem Großen 5) In den alten Papieren und Archiven eines reval'schm Kaufmanns las ich deutsche Handelsbriefe aus Nyenfchanz an der Newa datirt, aus denen hervorging, daß die Neoalenser hier «b«n solche, nur natürlich minder großartige Handelsetablissements und Comptoire hatten, wie sie solche jetzt auf Wassili-Ostrow haben. Auch hab« ich m Petersburg noch einen antiken, aus dickem Eichcnholze gearbeiteten Kleiberschrank aus Nycnschanz gesehen, vielleicht die einzige Antiquität, die Petersburg aus der Urzeit seiner Geschichte besitzt. Die Gärten und Datschen. » anfangen, denn nicht nur Petersburg, nicht nur ganz Rußland, sondern auch alle Zweige und Branchen des russischen Staats- und Volkslebens fangen bei Peter dem Großen an, die Geschichte vieler russischen Städte, Chausseeen, Lanäle, öffentlichen Anstalten, ja die Annalen unzähliger Gärten, Gebäude, Fabriken, Bergwerke und Mühlen beginnt mit Peter dem Großen — Peter der Große also baute, was gewiß vor ihm noch keinem Herrscher eingefallen war, die neue Capitale seines Reichs auf Feindes Land. Wahrscheinlich dachte er wie jener Offizier, der, um seine Krieger bei'm Angrisse zu befeuern, die Fahne mitten unter die Feinde warf — sehen wir das Kostbarste, was wir haben, auf Feinbesboden, so werden wir um so eifriger streben, ihn zu unserem eigenen heimischen zu machen. Er war daher während des Baues mehre Male gezwungen, Meißel und Mauerkelle mit dem Schwerte zu vertauschen und die Feinde vor den Thoren seiner neu erstehenden Residenz aus dem Felde zu schlagen. Auf einem dieser Schlachtfelder, durch welche der Boden der PeterS-burg'schen Vorstädte geweiht wurde, errichtete er im Jahre 1711 zum Andenken an einen über die Schweden hier erfochtenen Sieg das Schloß und den Garten Katharinenhof schon außerhalb der Stadt, dicht am Meere. Es war anfangs nur der Sommersitz seiner Gemahlin Katharina und der Großfürstinnen Anna und Elisabeth. Ihr hölzerner Palast steht noch in diesem Augenblicke, doch haben sich die Gartenanlagen auf dem alten Schlachtfelde sehr erweitert. 3* 52 Die Gärten und Datschen. Lange Zeit hindurch waren die Katharinenhof'schen Gartenanlagsn, welche neben dem Sommerglitten die ältesten der Stadt sind, die einzigen Delicen der Petersburger, und auch noch jetzt, wahrscheinlich in Folge alter Gewohnheit, sind sie die Garten, mit deren Besuche man im Frühlinge den Genuß der wiederauflebenden Natur eröffnet. Für die Promenade des ersten Mai, der in ganz Nußland in jedem Dorfe mit Ningeltänzen und in jeder Stadt mit pomphaften Spazierfahrten gefeiert wird, hat man in Petersburg die Kathariuenhof'schen Gärten bestimmt. Es strömt an diesem Tage Alles, was in Petersburg noch einige Lebenslust verspürt, — die Armen zu Fuße, die jungen DandyS zu Pferde, die Damen und alten Herren in Carrofsen — nach Ka-tharimnhof hinaus, um sich des Beginns, wenn auch nicht der guten Jahreszeit, doch eines Monats von so gutem Renommee, wie der Mai es ist, wenn auch, wie zuweilen rathsam, in Varenpelze gehüllt, zu freuen. Es geht hier dann eben so zu wie auf den Spazierfahrten des Admiralitätsplatzes, die wir oben bei den Osterfeierlichkeiten beschrieben. Der Garten ist voll Nasengründe und Restaurationen, und laßt man sich, eine Ggarre rauchend, auf einem dieser Rasengründe vor einer dieser Restaurationen in der Nähe der Alleeen nieder, so kann man das Vergnügen, die halbe Herrlichkeit des russischen Kaiser-thums in prächtigen Vierspannern, die einer hinter dem anderen herfahren, sich langsam abspinnen zu sehen, mit Die Gürten und Datschen. 53 Muße genießen; die Senatoren, die besternten Generale, die bärtigen Kaufleute, die ausländischen Gäste u. s. w., All.'s ist ganz so wie oben auf dem Admiralitatsplatze; für einen Petersburger ein Schauspiel, dessen jährlich und bei vielen Gelegenheiten stattfindender Wiederholung er nie satt wird, und das auch für einen Fremden, wenn er erst ein wenig Geschmack daran bekommen hat, viel Anziehendes hat. Die Waa/n fahren in den Alleeen des Gartens nach einem gewissen vorgeschriebenen Plane den ganzen Tag über herum und wieber hemm wie die Pferde in einer Oelmühle. Es könnte Einem schwindelig werden, wenn man dabei denkt, daß alle vornehme Welt ganz Nußlands an diesem Tage in allen den tausend Städten des Reichs sich in einem solchen Mühlwerke tact- und vorschriftsmäßig herumbewegt. Die Gegenwart des Kaisers, der auch hier nicht fehlt, seht dem Feste die Krone auf; gewöhnlich erscheint er babel zu Pferde, von berittenen Prinzen und einem brillanten Generalstabe umgeben Die Petersburger, welche daran gewöhnt sind, alle ihre Feste mit ihrem angebeteten Kaiser und dem ganzen Hofe gemeinschaftlich zu feiern, können schon deßwegen allen unseren Festivitäten keinen Geschmack abgewinnen, weil diese Sonne dabei fehlt, in deren magmfiker Nähe ihnen Alles so prachtig beleuchtet erscheint und die zu bewundern ihnen eine liebe Gewohnheit geworben ist. Die Ankunft des Kaisers erwarten Alle, als wäre er der Repräsentant des Frühlings, und ist er vorübergerauscht, so verläuft sich Eines nach dem Anderen nach Hause HG Die Gürten und Datschen. wie die Tagfalter, wenn das Gestirn des Tages sich verbarg. Von Katharinenhof aus erstreckt sich an der Küste des finnischen Meerbusens eine Reihe von Landhäusern bis Peterhof und Oranienbaum. In der Nahe der Stadt ist das Ufer noch überall flach und niedrig, ein Theil des aufgeschwemmten Newadeltas. Die eigentliche alte hohe Küste des Meeres liegt mehr zurück im Inneren des Landes, weiterhin aber erhebt sich die Küste, die sich dann am ganzen südlichen Ufer des finnischen Meerbusens in einem etwa 2W Fuß hohen, schroff abfallenden Rücken hinzieht. Diese schroffe Kalkküste wird die „Klint" genannt. Auf dieser Klint liegt im Westen der Dom von Reval, weiter nach Osten stürzt von ihr der Waffechül der Norowa in zwei Meilen Entfernung vom Meere herab, ^ es giebt wohl nirgends in Europa einen zweiten so bedeutenden Wafferfall in solcher Nähe des Meeres, — an eben diese hohe Klint lehnen sich die Orte Oranienbaum und Peterhof, und die Gartenterrassen uieler Privatdatschen stufen sich auf ihr zum Meere hinab. Außer dem Wege nach Zarskoje-Sselo ist wohl entschieden diese Peter hof'sche Küstenstraße die lebendigste, befahrenste und bewohnteste des ganzen Peters-burg'schen Weichbildes. Sie ist breit, schön gebaut, mit trefflichen Brücken und mit aus Granit gemeißelten Werstpfahlen versehen. Wie einförmig indeß auch hier Alles ist, leuchtet schon daraus hervor, daß diese granitenen Werstpfähle die einzigen Mark- und Wahrzeichen Die Gärten und Datschen. üü in der Wüstenei der Gegend abgeben. So heißt es: „wir wohnen dieß Jahr an dem Peterhof'fch«« Wege auf der siebenten Werst," oder: „die Orlow'sch« Datsche steht auf der elften Werst," oder „wir können unterwegs bei dem Traiteur auf der vierzehnten Werst etwas frühstücken," — als wenn die Werstpfähle Pyramiden wären. Aber so ist es, man hat hier eben keine Gründe, Thaler, Bache oder reizende Dörfer, nach denen m.m wie bei uns die Bezeichnung machen könnte, und zahlt nun die Werstpfähle, um den Weg zu finden. Auf dem Wege nach Peterhof haben nun wiederum, wie auf den Inseln, zwischen Birken- und Tannen-Wäldchen und auf Moostundem die reichen Petersburger ihre Duschen gebaut, die Scheremetiews, die Demi' dows, die Schuwalows, die Chitrows, die einen auf der dritten, die anderen auf der vierten, auf der zehnten, zwanzigsten, fünfundzwanzigsten Werst. Man könnte diesen Weg einigermaßen in Parallele stellen mit dem Weg« von Hamburg noch Blankenese, nur mit dem Unter« schiede, daß die Vorwerke der Hamburger Kaufleute in mehrfacher Hinsicht den Vorzug verdienen vor den Datschen der Petersburger Reichen. Man kann, wie g<» sagt, nicht leugnen, daß man auch für sie viel gethan hat, aber es fehlt ihnen eben, wie Allem in Rußland, der Duft, die Blume, wie die Weinschmccker sagen. Der Nahmen ist da in diesen Garten, aber das Gemälde nicht; auch ist es sonderbar, wie auch in diesen Garten und Datschen überall Alles fortwahrend im Gestalten und im Beginnen ist. Ist dieß der gewöhn- M Die Garten und Datschen. lich« Zustand Rußlands, bestandig wieder bei'm Anfange zu sein? Das hiesige Baumaterial, daS Holz, ist freilich schon der Art, daß man nichts Dauerndes und Bleibendes damit fertig bringt. Ich habe weder hier noch in Peterhof etwas gesehen, was meine Bewunderung erregt oder meine Liebe qcwonncn hätte. Der kaiserliche Hof wechselt wahrend des Winters innerhalb der Stadt selbst zwischen dem Winterpalais und dem Annitschkow'schen Palais. Für letzteres scheint er eine gewisse Vorliebe zu haben. Zu allen hohen Festen, zu Weihnachten, zu Ostern u. s. w., wohnt er unweigerlich im Nintcrpalais, und im Frühlinge, gewohnlich etwas vor oder nach der Eröffnung der schönen Jahreszeit durch jene Katharinenhof'sche Spazierfahrt, zieht er auf die Inseln, und alle vornehme Welt, die nicht in die Bäder des Auslandes geflogen ist, geht mit ihm auf die Inseln. Gegen Ende Mai's zieht der Hof nach Peterhof und Alerandria, — letzteres ist ein reizendes kleines Landhaus der Kaiserin — und alle vornehme Welt folgt ihm dahin nach. Gegen Ende Junis beziehen die Petersburger Truppen ihr Sommerlager bei Krasnojc^Sselo, und der Hof wohnt dann in der Nahe, in Zarskoje-Ssclo, abwechselnd aber auch in Pawlowsk und wieder in Peterhof. Bach Beendigung dcr Manöver wird der Herbst gewöhnlich in Zarskoje-Sselo zugebracht, höchstens auf ein paar Tage besucht man noch einmal die Inseln und zieht dann, wenn die langen nordischen Nachte beginnen, zum Annitschkow'schen und Winterpalais zurück. Viele Große Die Gärten und Datschen. 57 folgen dem Hofe gewöhnlich in allen diesen seinen Bc-wegungen, und die, welche es ausführen können, haben neben ihren Palais in Petersburg ihre Datschen sowohl auf den Inseln als an der Meeresküste in Peterhof und in den Duderhof'schen Bergen bei Zarskoje-Sselo. Den Mittelpunct von Peterhof bildet das alte Schloß, das Peter der Große hier bauen ließ. Obgleich nach ihm alle Kaiser und Kaiserinnen neue Zusätze und Veränderungen daran machten, so tragt doch das Ganze noch den Charakter der Bauart aller der Häuser, die Peter der Große in Petersburg bauen ließ, des alten Sommerpalastes, des Menschikow'schen Palastes u. s. w.; sogar die gelbe Farbe des Schlosses wurde seit Peter dem Großen immer in derselben Weise erneuert. Wie alle diese Gebäude, ist eS von einer sehr wenig ausgezeichneten Bauart und verdient deßwegen neben Versailles und anderen französischen Schlöffern, die ihm als Muster dienen mochten, eben so wenig einer Erwähnung wie die Kasan'sche Kirche neben dem Petersdome. Je animirender aber die Aussicht von der hohen Küste herab auf den Meeresspiegel ist, der von Kriegs»-und Kauffahrtheischiffen bestandig belebt erscheint, mn so weniger begreift man, daß das Schloß seine Hauptfronte nicht dem Meere, fondern dem Lande zukehrt. Vom Schlöffe herab zum Meeresgestade geht es in mehren Gartentenaffen, auf denen Gewässer in verschiedenen Fon-tainen und Wasserfallen zu den tieferen Bassins hinabhüpfen. Die Bassins, die Neptunsgruppen, die Störche, Schwäne, Nymphen, die Tritonen, Delphine, die bemal- 3" 58 Die Gürten und Datschen. ten Felsen und Grotten sind alle den Kupfern zu Hirsch-feld's Gartenkunst nachgebildet, doch wird man nicht ungern unter dem Schatten der Eichen und Linden des Gartens umhergehen, die Peter der Große hier selbst pflanzte. Die kleinen Hauser, Marly und Monplaisir, die als Nebengebäude des Hauptschlosses unter diesen Bäumen liegen, bringen dem Beschauer noch einmal, wie es schon so manches Haus in Petersburg that, das bescheidene Bild der häuslichen Einrichtung des Zimmer-mannes von Saardam, des großen Kaisers von Nußland, des Reformators des europäischen Ostens, vor Augen. Das Hauptschloß hat einen äußerst interessanten Saal, der eine Sammlung von 368 Gemälden enthalt. Es sind lauter Portraits, die ein gewisser Graf Rotali zu KalharinenS Zeiten auf einer Reise durch die 50 Gouvernements von Rußtand ausführte, wahrscheinlich UM der Kaiserin den Reichthum ihres großen Reiches an Physiognomiken und namentlich an Schönheiten vor Augen zu führen. Es sind vorzüglich schone lunge Madchen, die der Graf in den verschiedenen malerischen Situationen und ihrem nationalen Costume, in dem er sie antraf, angeblich treu portraitirte. Man muß das erfinderische Genie des Grafen, mit welchem er allen diesen 368 Gesichtern verschiedene Stellung und verschiedenen Ausdruck gab, bewundern. Das eine junge Madchen strickt fleißig, das andere stickt mühsam; eine blickt schelmisch hinter einem vorhänge hervor, eine andere sicht erwartungsvoll zum Fenster hinaus; die eins scheint, über den Stuhl gelehnt, in Liebhaderunterrcdung D« Gärtm und Datschen. 5U begriffen zu sein, die lindere, auf das Polster zurückgeworfen, ist in Gedanken verloren; die eine schlummert so sanft und süß, daß man ein Lappe an Apathie sein müßte, wenn man nicht versucht würde, ihr einen Kuß zu geben, die andere steht vor einem Spiegel und kämmt ihr schönes Haar; die eine zündet ein Licht an, die andere hat sich bis über die Ohren in einen Pelz gehüllt und laßt nur ein zartes Nosmlippenpaar und zahme blaue Augen aus dem wilden Barenpelze hervorleuchten; diese steckt sich eine Blume an den Busen, jene beißt in einen Apfel, und so giebt es hundertfache und immer neue Variationen. Auch einige treffliche Alte kommen vor, ein greiser Mann am Bettelstäbe, eine alte Frau am Kaminfeuer. Diese Sammlung wäre einzig in ihrer Art und namentlich für Physiognomen und Ethnographen unschätzbar, wenn man gewiß sein könnte, daß sie so treu und genau wäre, als sie schön und geschmackvoll ist. Doch laßt sich daran zweifeln, denn alle Physiogno-mieen tragen mehr das Gepräge der französischen Malerschule als der russischen, tatarischen, sinnischen und der übrigen Rußland bewohnenden Nationalitäten an sich. Auch werden sie dadurch verdächtig, daß sie einer Dame von einem Herrn überreicht wurden. Wahrscheinlich war hinter jeder hübschen Attitüde aller jener russischen Schönen nur eine schmeichlerische Huldigung für die Kaiserin verborgen. — Die andren Säle und Gemacher dcs Schlosses enthalten wenig Rcmarquables, das eine die kleinen Tische und Bänkchen, mit denen die Kaiser Nikolaus und Alexander als Kinder hier spielten, das an- so Die Gärt«n und Datschen. dere Schnitzwerk und Drechselarbcit von Peter dem Großen, das dritte Tintenkleckse, die dieser oder jener Fürst als Schulknabe hier machte; das vierte l>ttte ein wunderliches Plafondgemalde, welches ein Eorps kleiner Engel vorstellte, die nach Noten musicirten, jedem Notenblatte diente zum Pulte eine Wolke, das fünfte zeigte an der Decke alle Götter Griechenlands, auf Wolken liegend. Der alte Russe, der uns herumführte, bemerkte dazu, indem er sich feiner Aufklarung nicht wenig freute, daß die Leute im alten Griechenland dumm und abergläubisch gewesen waren und geglaubt hatten, daß die Götter auf allen Wolken herumlagen, da man doch jetzt sehr wohl wiffe, daß dieß ein Unmöglichkeit fei. Die Fasanerie und andere Schloßzuthaten von Peterhof sind von so unbedeutendem Maßstabe, daß unsere kleinen deutschen Fürsten dieß Alles viel besser und luxuriöser haben als die russischen Kaiser. In der Fasanerie war uns nur eine Bemerkung interessant, welche wir durch den aus Kassel stammenden Fafanengartner erhielten. Man halte hier Fasanen aus dem Kaukasus und andere aus deutschen und englischen Fasanerieen kommen lassen. Die wilden kaukasischen waren alle gestorben, die zahme, an Zucht und nordisches Klima gewöhnte Race der englischen und deutschen Hähne hatte sich aber fortgepflanzt. Man sollt? Peterhos, um sich dort zu gefallen, wohl eigentlich nur in den ersten Tagen des Juli sehen, wo der Hof hier die brillanten und berühmten Feste giebt zu denen alle 50l),(10l) Einwohner der Residenz ein für Die Gärten und Datschen. 61 alle Mill eingeladen sind. In der ganzen übrigen Zeit des Jahres sieht es hier so aus, als ob die Herren nicht zu Hause waren. An jenen drei Tagen aber ist Alles Leben und Lust, Herrlichkeit und Pracht. Was dann hier in diesem kleinen Dorfe für Wohnung und Quartier bezahlt w,ro, steigt in's Ungeheuere. Es giebt Leute, die jeden Tag bloS für ihre Wohnung nahe an 20,000 Rubel verausgaben. Es klingt dieß unglaublich, und doch ist es buchstäblich wahr. Die Rechnung kommt so heraus. Für iinen Großen wäre es unschicklich, bei einem der kleinen Dorfwohnungsbesitzer zur Miethe zn wohnen, der Anstand erfordert es, daß man in seinen« eigenen Hause wohne. Man kauft sich daher ein Grundstückchen zu 20,000 bis 30,000 Rubel an, baut sich eine Datsche, deren Baukosten auf 80,000 bis 150,000 Rubel angeschlagen werden und sich am Ende, wenn das Haus fertig ist, auf 200,000 bis 300,000 Rubel belaufen. Die Zinsen von diesem Capital zu 6 Procent betragen 15,000 bis 1^,000 Rubel, die Unterhaltungskosten, die Gage für die Aufseher, Verwalter, die man doch hinsehen muß, sind enorm, sie belaufen sich auf 20,000 bis 30,000 Rubel, Summa also jahrlich eii-ou 40,000 Rubel. Rechnet man ferner, daß das ganze hölzerne Palais vielleicht nur 40 biS 50 Jahre lang ausdauert oder zu einem Spottpreise gelegentlich wieder verkauft wird, so kann man auch noch jahrlich 6000 Rubel Verlust am Capitale rechnen, und da man nur jene drei Tage in dem Palais wohnt, und die übrige Zeit des Jahres Alles leer steht, so OI Die Gärten und Datschen. sieht MM daraus, daß jene Angabe nicht übertrieben ist. Die Großen rechnen gar nicht so, aber sie würden oft erschrecken, wenn Jemand ihnen einmal blos mit Hilfe der vier Species demonstriren wollte, wie theuer ihnen jedes Vergnügen zu stehen kommt. Die Duder Hof'scheu Berge. Die kaiserlichen Lustschlösser, die Städte, Dörfer und Orte in der Nahe von Petersburg haben theils deutsche Namen, wie Peterhof, Schlüsselburg, Oranien-baum u. s. w., theils uralte finnische Benennungen, die fast wie italienische klingen, z. B. Kolpina, Gatschina, Koporie, Kipene, Perkolo, Mosino, Tosna, Ischora u. s. w., theils endlich russische, Zarskoje-Sselo, Krasnoje-Sselo, Pawlowsk, Strelna, was man deutsch ungefähr übersetzen könnte in Kaisersdorf, Schöndorf, Paulsdorf, Schützendorf. Die letztgenannten Schlösser und Dörfer liegen mit Ausnahme von Strelna, das sich an der Newa postirte, alle in den Thalern der Duderhöf'schcn Verge, oder, wie die Russen sagen, der „Duddersgowki Gori." Diese mit Birken und Tannen bewachsenen Hügel sind für Petersburg Das, was die sächsische Schweiz für Dresden uud der östliche Wieuer Wald für Wien ist, und die Zarskoje- und Krasnoje-Sselos sind die Schönbrunns, LaxenblU'gs und Badens von Petersburg. Das vornehmste unter diesen Schlössern, die Haupt- Die Gärten und Datschen. 69 sommerresidenz der russischen Kaiser ist Zarskoje-Sselo. Wie das meiste Schöne und Nützliche in Rußland, nimmt auch dieses seinen Ursprung von Peter dem Großen. Peter baute hier das erste Haus und pflanzte hier eigenhändig die schonen Platanenalleesn, deren Schatten man noch geniesit. Aber Elisabeth war es, die das große prächtige Schloß baute, das dann von Kacha-tharina noch verschönert und spater nach einem famosen Brande, den es wie das Winterpalais und wie jedes russische Schloß, wie Moskau und jede russische Stadt erleben mußte, von Alexander restituirt wurde. Das Innere dieses Schlosses birgt Schatze und Prachtstücks, die einer Scheheresade noch 10l)0 Nachte langer durch zauberische Schilderungen das Leben gefristet hatten, Vern-steinzimmer, Perlmutterzimmer, Jaspis-, Achat- und Porphrrsäulen, chinesische, persische und türkische Stuben, Colonnadm, Marmorbader, Mosaiken, Gobelins, Malachitvasen, türkische Kiosks, ja g^nze chinesische Dörfer, Hollandereien und Schweizer-Sennhütten, Triumphbogen, Rostralsäulen und Bronzestatuen, welche Katharina ihren Lieblingen errichtete und Alexander seinen „cnol-s compnssnous ll'l!i'ml!g" aufstellte, untermischt mit Nosenfeldern, Eremitagen, künstlichen Schloßruinen, Rö-mergrabern, Grotten und Wasserfallen. Die Garten von Zarskoje-Sselo sind ohne Zweifel die sorgfaltigst gepflegten der Welt. Die Blumen nnd Baume werden hier mit der ängstlichsten Genauigkeit beaufsichtigt und inspicirt. Ein alter invalider Militär führt dazu seine 500 bis 600 Soldaten, hier die Garten- 64 Die Gälten und Datschen. diener und Aufseher, an. Hinter jedem welken Blatte, das vom Baume siel, läuft ein alter Invalid her, um es zu haschen. Nach den heftigen Nordstürmen, welche viele Tausende von Blattern herabreißen, kann man sich denken, was die Leute zu thun haben. Auch aus den Teichen und Canalen fischen sie sorgfaltig jedes Blatt-chen heraus, um den Wasserspiegel völlig ungetrübt zu erhalten. Man stäubt in diesen großeu Garten Alles ab, putzt und polirt die Bäume, Chausseeen und Canäle wie die Spiegel und Möbeln in einem Salon; jedeS Steinchen, das sich im Grandwege verschob, wird zurecht gelegt, jeder Grashalm, der zerknickte, gerade gebogen. — Ich sah hier einst mit solchem Ernste über eine abgerissene Blume Gericht halten, als betraft es ein Capitalverbrechen. Alle Gartner waren dazu zusammenberufen worden, der Oberinspector hatte die Blume in der Hand, und alle Fragen, die sich dabei aufdringen können, aus welches Gärtners Abtheilung, von welchem Beete die Blume sein möchte, wann sie gepflückt sein könne, von wem/ob von einem Kinde, oder einem Hunde, wurden mit Ernst aus der Anschauung des om-pu» äe-lioli zu beantworten gesucht, Drohungen vergeudet, Belohnungen für den Entdecker versprochen u. s. w. Es soll das bloße Putzen und Reinigen dieser Anlagen jahrlich über 100,000 Rudel kosten, und man ist mit solchen Opfern dahin gekommen, einen Garten zu haben, der geordnet dasteht wie ein Ballsaal. Man sagt, daß dem russischen Volke eine despotische, durchgreifende Regierung von Nöthen sei. Es ist nicht minder gewiß, Die Gärten und Datschen. W baß ebenso diesen nördlichen Gärten eine so strenge Gartenzucht und Polizei von Nöthen ist, damit nicht sogleich wieder Kllnst und Ordnung in Sturm und Unwetter verschwinden. Die G ä r t e n vonPawlowsk sind weniger präch» tig, aber noch reizender und angenehmer als die von Zarskoje-Sselo. Sie liegen Mr einige Werste von diesen entfernt, ebenfalls in den Duderhof'schen Bergen. Das Schloß von Pawlowsk, der Sommeraufenthalt der verstorbenen Kaiserin Mutter Maria, ist einfacher. Nach Swinin soll die Lange der Wege in diesen Garten zusammen 159 Werste betragen, und die in ihren An» lagen, Büschen und Vaumgmppm dargestellten Ideeen sind so manchfaltig, daß die russische Literatur schon mehre Bücher besitzt, die einzig und allein über die Garten von Pawlowsk geschrieben sind. In neuerer Zeit sind die Orte Pawlowsk und Zarskoje-Sselo durch die Eisenbahn, welche sie mit der Stadt verbindet, in außerordentliche Aufnahme gekommen, und sie sind nun die vornehmsten Vergnügungsplatze des Petersburger Mittelstandes, dessen taglich zahlreich zum Landgenuß, zum Champagner, Punsch und Diner — nicht wie bei uns blos zu einer halben Portion Kaffee, wobei man den übrig gebliebenen Zucker in den Strickbeutel steckt, —-hier hinausströmende Mitglieder fast allein jene Eisenbahn in Thätigkeit und Nahrung setzen. Die Stadt Pawlowsk besteht fast ganz aus kleinen hölzernen, aber freundlichen Hausern, und es wohnen hier im Som« mer viele Privatleute, sich des Landlebens zu freuen. 66 Die Gärten und Datschen. Die deutschen Kolonieen in der Umgegend tragen ihr Mögliches dazu bei, diese Freuden zu vermehren, indem sie frische Milch, gutes Brot, reinliche Zimmer und andere Dinge gewähren, welche man in den sinnischen und russischen Ortschaften des Landes gewöhnlich vergebens sucht. Die höheren Classen der Gesellschaft. o>n dem Werke eines russischen Staatsmannes: „In lwßgie «n 1844/' findet sich über die jetzige Anzahl der nicht leibeigenen Classen in Rußland (außer Polen und Finnland) folgende Notiz. Die Unzahl aller Kaufleute der drei Gilden, ihrer Frauen und Kinder soll 128,000, die der Geistlichen 273,000, die der zum Adel gerechneten 350,000 betragen. In Summa gäbe es demnach in Rußland der Leute, die sich mehr oder weniger zu den freien Ständen rechnen, etwa 751,000, also noch nicht eine Million. Die russischen Kaufleute nehmen nur in sehr geringem Maße an der Bildung der höheren Gaffen Theil. Die Reichsten und Ersten unter ihnen ahmen zwar, so gut sie es verstehen, dcn Vornehmen nach. Die Masse aber, die größtentheils selbst aus dem Stande der Leib« 68 Die hdheren Classen der Gesellschaft. eigenen hervorgegangen ist, hat noch den alten Nationall typus bewahrt lind kaum einen Schimmer von der in Rußland eingedrungenen europäischen Civilisation angenommen. Von den russischen Popen laßt sich etwas ganz Aehnliches behaupten. Sie sind ebenfalls mehr oder weniger in dem alten Zustande verblieben. Sie bilden im Ganzen genommen eine uralte achtrussische Kaste für sich, und was sie als Zuschuß nöthig haben, recrutiren sie mehr aus den unteren als aus den höheren Standen, ganz anders als in Italien oder in England, wo die höhere Geistlichkeit sehr eng mit den vornehmen Geschlechtern verschwistert ist und selbst zu der vornehmen Welt des Landes gehört. Schließen wir also die Kaufleute und die Geistlichen aus, so behalten wir in Rußland 350,000 sogenannte Adelige als diejenige Vevölkenmgsmafse, welche die höheren und angesehenen Classen der Gesellschaft begreift, und welche das eigentliche Corps von Leuten ist, um welche sich die Hauptinteressen des Landes drehen, um derentwillen der ganze große Staat da ist, mittels dcren dieser Staat regiert und geleitet wird, und auf die insbesondere die russische Civilisation einwirkt. Nehmen wir nun Finnland und Polen hinzu, so möchte sich, wenn die obigen Angaben einigermaßen richtig sind"), die ganze Anzahl aller der Leute, welche man *) Ich bezweifle dich freilich und glaube, daß die Anzahl der Kaufleute und der Adeligen zu gering und die der Die höheren Classen der Gesellschaft. 69 in Rußland zu den höheren Ständen rechnen kann, in runder Summa auf mehr als eine halbe Million*) belaufen. Diese halbe Million von Menschen, die alle zu einem Staate gehören, die alle dem entscheidenden Wil, len eines einzigen unumschränkten Herrn gehorchen, die alle zu dem Leben in einer einzigen großen Hauptstadt (Petersburg) als zu dem Muster ihrer Sitten und Bildung aufblicken, haben alle mehr oder weniger einen einzigen gemeinsamen Typus angenommen und sind in geringerem oder höherem Grade die Trager dessen, was man die neuere russische Civilisation nennen kann. Da die M^sse dieser Menschen mit ihren Anlagen, Tendenzen und Eigenheiten jetzt auf eine Menge von europaischen und aMischen Völkern operirt, und dg sie täglich immer mehr und mehr Leute in ihre Geistlichen zu hoch angenommen ist. Es scheint mir unglaublich, daß die Kirche allein ein Heer von Geistlichen befehlen sollte, das beinahe so groß wäre als die ganze Maffc d«r Adeligen, wclche in der Armec, in der gewaltigen Beamten-Hierarchie und in dcm müssigen Adel aller Provinzcn dcs großen Reichs steckt. Ich bin aber nicht im Stande, diese Zahlen einer schärferen Kritik zu unterwerfen. Die verschiedenen Angaben in den russischen Statistiken weichen zu sehr von einander ab. *) 3ur Zeit der Republik gab es in Polen zwar allein nahe an eine Million Edelleute. Allein der bci wcitem größere Theil davon gehörte dem ungebildeten niederen Bauernadel an, und nur ein Zehntel davon konnte man dem höheren gebildeten Adel zurechnen. 70 Die höheren Classen der Gestüschaft. Kreise hineinzieht und fortwahrend, so zu sagen, mehr und mehr Menschen aufruft und ihrem Corps incorpo-rirt, so ist es ohne Zweifel von nicht geringem Interesse, diese Anlagen, Tendenzen und Eigenheiten jenes Kerns der russischen Bevölkerung etwas näher zu betrachten. ^ Der Geist, der in der bezeichneten Menschenclasse wohnt, theilt sich in immer weiteren Kreisen mit und stellt sich daher dem Historiker und Ethnographen alS eine merkwürdige Erscheinung von immer steigendem Interesse dar. Es möchte vor allen Dingen wichtig sein, einen Blick auf die Zusammensetzung und die historische Ent» Wickelung jener Classen zu werfen, theils weil dadurch die Wichtigkeit der Sache in ein helleres Licht gesetzt wird, theils weil daraus der Charakter, zu dessen Schilderung wir Beiträge zu liefern wünschen, selbst am beßten hervorgeht Es ist wohl ausgemacht, daß der Adel — ich will hier dieß kurze Wort zur Bezeichnung aller Gesellschaftsclassen, welche den Kern der Civilisation, der Macht und des Ansehens eines Staates bilden, gebrauchen, —> es ist ausgemacht, sage ich, daß der Adel keines europäischen Landes aus so bunten Elementen zusammengesetzt ist, wie der Rußlands. Und zwar sind nicht nur im langsamen Laufe der Jahrhunderte die verschiedensten Elemente in ihm altmalig zusammengeflossen, sondern auch noch jetzt, was viel wichtiger ist, recrutirt er sich immerfort aus eben solchen höchst verschiedenartigen Elementen. Die höheren Classen der Gesellschaft. 71 Gedenken wir zuerst der Vorzeit. Die Russen, heißt es in den alten Chroniken, konnten mit der Ordnung und Einigkeit ihres Staates nicht zurecht kommen, und deßhalb riefen sie die Waräger, einen germanischen Volksstamm, in das Land, damit er sie beherrsche und ihr Staatswesen ordne. Die Waräger kamen und beherrschten den größten Theil von Rußland, indem sich ihre Fürsten auf den russischen Thron setzten, und ihr Adel sich mit dem eingeborenen Adel des Landes vermischte. Wenn wir diesen eingeborenen alten Adel als rein slavisch annehmen (wahrscheinlich hatte er indeß auch schon früher verschiedene Mischungen erfahren, von denen die Geschichte keine Meldung thut), so haben wir hier also von vornherein wenigstens zwei verschiedene Elemente in dem russischen Adel, nämlich alte slavische und neue germanische Familien. Da die Fürsten selbst und ihre Großen aus wa« rägischem Stamme waren, so blieb natürlich das wa« rägische Blut das vorzüglichere, und noch jetzt erfreuen sich viele russische Familien des Ruhmes warägischer oder normannischer Abkunft. Später wurde Nußland von den Mongolen erobert. Und diese Eroberung war ein Ereigmß, welches die russische Gesellschaft am meisten von der übrigen europäischen Völkerfamilie trennte, sie namentlich auch mehr als Alles ihren anderen slavischen Brüdern entfremdete und ihr den orientalischen Typus in einem so hohen Grade aufdrückte, wie er den anderen slavischen Stam» 72 Die höheren Classen der Gesellschaft. men nicht eigen ist, so wie umgekehrt die Unterjochung einer Menge westlicher Slavenstämme durch die Deutschen das Ereigniß wir, welches diesen den westeuropäischen Typus aufdrückte und den großen Riß zwi' schen orientalischen und occldentalischen Slaven zu Stande brachte. Die russischen Fürsten und ihre Großen wurden häufig als Sclaven in die mongolische Horde entführt und dort gezwungen, mongolische Prinzessinnen zu hei-rathen und mongolische Sitten anzunehmen. Die Verschiedenheit der Religion zwischen den Mongolen und Russen mochte eine häufige Vermischung des Bluts durch Verheirathung zwischen beiden Völkern hindern. Allein dennoch hatte eine solche Vlutsvermischung zuweilen statt. Selbst nachdem die Russen sich von den Mongolen frei gemacht hatten, blieb doch noch ein großer Theil des jetzigen Rußlands unter tatarischer Herrschaft, nämlich Sibirien, Südrußland, Kasan und Astrachan. Die Russen eroberten diese Lander allmälig im Laufe von zwei Jahrhunderten, und diese Eroberungen, so wie die deßwegen geführten Kriege blieben nicht ohne den Erfolg einer Blutsvermischung zwischen den vornehmen Classen der Eroberer und der Eroberten. Häufig gingen Nüssen zu den Tataren über und blieben bei ihnen, und umgekehrt kamen häufig tatarische Edle zu den Russen, nahmen das Christenthum an, erhielten Landbesitz bei den Russen und incorporirten sich dem russischen Adel. Es giebt nicht wenige ausgezeichnete russische Familien, die noch heutiges Tages Die höheren Classen der Gesellschaft. 73 ihren Ursprung auf einen solchen übergelaufenen tatarischen Großen oder Fürsten zurückführen. Diese orientalischen Vermischungen fanden schon vor Peter dem Großen statt. Peter der Große brachte nun das slavisch - tatarische Nußland mit dem übrigen Europa in Verbindung, und seit der Zeit hat denn eine bestandige Uebersiedelung europaischer Familien nach Rußland stattgefunden. Zuerst wurden die deutschen Ostseeprovinzen, bann Theile von Polen und endlich ganz Polen, ein Theil der Moldau und Finnland erobert, und alle diese Eroberungen haben nicht verfehlt, dem russischen Adel eine Menge neuen Blutes zuzuführen und mit dem seinigen zu vermischen. Ein großer Theil des deutschen, des schwedischen und des polnischen Adels, der den Russen unterthänig ist, ist zwar immer, seiner Väter Sitte getreu, auf seinen alten Gütern in seinen Provinzen zurückgeblieben, fern von Petersburg und Moskau, fern von der russischen Armee und Beamten-Hierarchie, jenen großen Ruf-sisicirungs-Anstalten; allein ein nicht unbedeutender Theil dieser Adeligen hat sich auch dem großen russischen Adelscorps angeschlossen und nimmt daher an allen Vorzügen, Mängeln und Eigenheiten desselben Antheil. Viele Deutsche von Adel aus Kur-, Liv- und Esthland gingen in russische Militär und Civilbienste über und nahmen ganz russischen Charakter und russische Sitten an, verheiratheten sich mit Russinnen und erzogen ihre Kinder auch in der russischen Religion, wie dieß Alles auch noch gegenwärtig oer Fall ist. Kohl, Petersburg. Hl. 4 74 Die hdheren Classen der Gesellschaft. Dasselbe ist in Finnland mit den schwedischen Familien geschehen und geschieht noch täglich. Es giebt daher eine Menge russischer Familien mit deutschen oder schwedischen Namen, die außer diesen Namen sonst nichts Deutsches oder Schwedisches mehr an sich haben. In den polnischen Provinzen, welche Rußland schon langer unterworfen sind, in Podolien, Volhynien, Lithauen :c., ist zwar der Adel der Hauptmaste nach noch eben so polnisch, spricht polnisch, hat polnische Sitten, wie in Großpolen, allein es sind auch viele polnische Familien aus diesen Provinzen schon dermaßen rufsifi-cirt, daß sie sich kaum mehr ihres polnischen Ursprungs erinnern. Diese Incorporirung des polnischen Adels in den russischen geht jetzt mit Riesenschritten vorwärts, und die Kinder der Polen, die man in neuerer Zeit mit Gewalt und wider ihren Willen von ihrem Vatcrlande getrennt hat, werden in den kommenden Iahrzeknden so russisch sein, daß man sie nicht mehr von den ächten Russen wirb unterscheiden können. Die Eroberung Beßarabiens und überhaupt die Ereignisse in den Donaufürstenthümcrn haben wiederum eine Quelle von Necruten für dcn russischen Adel eröffnet. Die lvalachischen und moldauischen Bojaren haben sich die Art von Bildung, welche den russischen Großen eigen ist, auf eine merkwürdig schnelle Weise angeeignet. In der Walachei und Moldau hat Alles von den Truppen und öffentlichen Polizeimasircgeln bis zu der Die höheren Classen der Gesellschaft. 75 Physiognomie der Gesellschaft den Anschein eines sich Rußland assimilirenden Zustandes. Die walachischen Edelleute sehen alle wie eben im Umbilbungsproceß bcgrif- ^ fene Russen aus. Man findet daher auch viele moldauische und walachische Edelleute bereits in der russischen Armee in Odessa und sogar in Petersburg ansässig, und zwar nicht nur solche aus dem, Rußland unterworfenen Veßarabien, sondern auch viele aus den unabhängigen Fürstenthümern selbst. Dasselbe ist der Fall gewesen bei der Eroberung der transkaukasischen Provinzen. Auch aus adeligen und fürstlichen Geschlechtern Imerethiens, Georgiens und Armeniens hat Rußland viele in das Corps seines Adels aufgenommen, und zwar der Art, daß sie ganz ihrem eigentlichen ursprünglichen einheimischen Boden entrissen und mitten in die wirbelnden Kreise der Gesellschaft in Petersburg und Moskau hinübergezogen wurden. Nußland nahm immer einige der Sprößlinge j^ ner kaukasischen Geschlechter als Geißeln in seine Armee auf. Diese wurden dann mit dem Titel von Hofrathen, Geheimräthen, Obersten und Generalen versehen, mit Orden behängen, wie die übrigen Adeligen, und verschmolzen so mit der großen vornehmen Welt des Reichs. Sogar die Anführer der kalmückischen und baschkirischen Horden wurden auf diese Weise civilisirt und europaist'rt, und es giebt vornehme Familien in MoS-kau und Petersburg, die entweder ganz und gar rein kalmückischer Abkunft sind oder doch von mehr als einer Seite kalmückisches Blut in iwn Adern stießen haben. 4* 76 Die höheren Classm der Gesellschaft. Kosakische Edelleute sind natürlich in Masse unter den russischen Adel aufgenommen und überhaupt alle kofakischen Vornehmen mit der russischen Adels - Civilisation incmstirt. Es ist überhaupt von allen den 1l)0 verschiedenartigen Nationen, die Rußlands Steppen bewohnen, keine einzige, von der nicht einheimisches Blut bis in die höchsten Regionen des geselligen Gebäudes hinaufgestiegen wäre. Griechische und armenische Kaufleute wohnen in allen großen russischen Hauptstädten, und diese, wenn sie sehr reich geworden sind, si'nden auf irgend eine Weise Mittel und Wege, in die Adelsclasse hinüber-zuschlüpftn. Es ist bekannt, daß in den polnischen Adelstand viele Juden und Armenier übergingen, und insofern der russische Adel sich den polnischen incorporirte, mag denn auch jüdisches Blut hie und da unter den Moskowitern repräsentirt sein. Sogar die Zigeuner sind bei dieser allgemeinen Amalgamirung der Nationen nicht vergessen. Es giebt in Moskau nicht wenige schöne Zigeunerinnen, die, von reichen Russen geheirathet, zum Range vornehmer Damen erhoben wurden und ihre Art und Weise diesem großen Abelsbaume auch mit eingeimpft haben. Sogar georgische und tscherkessische Sclavinnen sind zuweilen Mütter und Großmütter russischer Herren geworden, die einen deutschen Namen tragen. Zu den genannten Elementen, aus welchen die russische vornehme Gesellschaft sich gebildet hat, kom- Die höheren Classen der Gesellschaft. 7? men mm auch viele anderweitige fremde Stoffe, die Rußland aus allen Theilen Europas, namentlich aber aus Deutschland, bezog. In die russische Armee, nie in den russischen Civildienst sind von jeher viele Deutsche eingetreten, die man dort so zu fesseln wußte, daß sie ihr Vaterland vergaßen, sich in Rußland domicilirten und der Gesellschaft, welcher sie von nun an angehörten, assimilirtcn. Die kaiserliche Familie selbst ist ihrer Abstammung nach ein Gemisch aus deutschem und slavischem Blute, und deutsche Prinzen haben sich häufig dem russischen Throne angeschlossen und russische Kinder in Rußland erzeugt. In der Flotte gab es von jeher einige Englander. Franzosen machten häufig ihr Glück in Rußland, und es giebt auch jetzt noch einige der vornehmsten russischen Familien, deren Slammbaum bis zu cmcm oft sebr unbedeutenden Bürger Frankreichs hinaufsteigt. Man findet sogar spanische und italienische Namen unter dem russischen Adel eingebürgert. Alle diese italienischen, spanischen, franzosischen, deutschen, schwebischen, polnischen, moldauischen und jene tatarischen, mongolischen, kalmückischen, tscherkessischen, georgischen und armenischen Edelleute, die der großen Maffe beS russischen Adels eingemischt wurden, haben nun nicht verfehlt, sowohl ihren Theil zu der Färbung dieser Gesellschaft beizutragen, als auch ihrer SeitS die schon bestehende Färbung derselben anzunehmen. Man sieht aus dieser Darstellung, daß in den 78 Die hdhmn Classen d«r Gesellschaft. höheren Classen der russischen Gesellschaft sich asiatische und europäische Elemente so ziemlich die Wage halten, und daß man das Ganze seiner Herstammung nach durchaus mit vollem Rechte für ein asiatisch-europäisches Gemisch halten kann. Frank und frei und vom Boden gelöst schweben und fließen die oberen Gescllschaftsclassen über den niederen und nehmen leicht im Fortgange ihrer cmschwel« lenden Lawinen aus allen Theilen des Landes Stoffs anf. Die niederen Classen, die mehr an den Boden gefesselt sind, mögen sich der Hauptsache nach im Ganzen genommen isolirter und gesonderter von einander gehalten haben, und bei den Geringeren der Nüssen sowohl als der Kosaken, der Polen, der Grusier, der Kalmücken, der Mordwinen ?c., mögen natürlich die eigenthümlichen Volkstypsn unvermischt geblieben sein. Usbrigens giebt und gab es von jeher auch bei ihnen mehr Umstände und Verhaltnisse, wclche eine mehr oder weniger starke Vermischung europaischer und asiatischer Volkselemente herbeiführten. Da es hier nicht unsere Absicht ist, diesen Gegenstand in Bezug aus die niederen Classen ganz zu ergründen, so wollen wir nur im Vorbeigehen auf einige dieser Verhältnisse aufmerksam machen. Die Armee ist vor allen Dingen eine große und merkwürdige Anstalt, um Leute auch aus den niedrigsten Standen aller Rußland unterworfenen Nationen mit einander in Contact zu bringen und zu einem Austausch ihrer Sitten und Gewohnheiten zu vermögen. Die höheren Classen der Gesellschaft. 79 Man findet in dieser Armee unter den gemeinen Soldaten Russen, Kosaken, Finnen, Esthen, Letten, Slaven und Germanen (Deutsche, Schweden), Mohammedaner, Christen und Juden, Zigeuner, Tattuen, Mordwinen, Ostjaken bunt durcheinander, und unter ihnen allen die Bildung, welche der russische Corporalsstock zu geben im Stande ist, operirend. Der Handel ist ein anderes dieser unter den niederen Standen vermischend wirkenden Agentien. Im ganzen Handelsstande in Nußland sind persische, armenische, grusinische, gebrische, griechische, deutsche, französische Kaufleute und Speculanten durcheinander gemischt, und es mag also auch bort vielseitige orientalisch-occidentalische Bluts- und Sittenvermischung stattfinden. Der wan» dernde russische Kaufmann sudelt sich ohnedieß in allen Theilen des Reiches an und kommt zu den deutschen Bürgern an der Ostsee wie zu den persischen jenseits des Kaukasus. Auch die russischen Dorfbewohner und Ackerbauer sind hie und da mehrfach mit einander gemischt. In manchen Theilen des Reichs wohnen deutsche, armenische, jüdische, russische, tatarische, französische Ackerbauer dicht neben einander. Die Versetzung der Grundbevölkerung aus einem Theile des Landes in den anderen war von jeher in Rußland sehr Mode, und demzufolge auch die Vermischung und Mittheilung des Bluts und der Sitten dieser verschiedenen Stamme. Schon unter den polnischen Königen mußten tatarische Colonieen in Lithauen und Große 80 Die hdhertn Classen der Gesellschaft. polen sich niederlassen. Die russischen Zaaren haben zu verschiedenen Zeiten eine Menge Juden, Zigeuner und Armenier «us einem Theile des Reichs in den anderen versetzt und sie dort mitten unter anderen Ackerbauern anzusiedeln verslicht. Die russischen Herren haben immer ihre russischen Bauern in alle Theile des Landes theils zur Strafe, theils zur Bevölkerung und Cultivirung von Wüsten verschickt, und so sind z. V. alle Völker Sibiriens mit zahlreichen Russen durchwebt. Und es zeigt sich daher auch, wie gesagt, m diesen niedrigsten Standen der Gesellschaft eine Ten-denz zur Amalgamirung orientalischer und occidentalischer Elemente, die in den höheren Standen den höchsten Grad der Entwickelung erreicht. Es ist zwar auch mit dem Adel anderer Länder Aehnliches geschehen. Der englische Adel hat z. B. französische, normannische, deutsche, irische, watsche, holländische, ersische, galische Geschlechter in sich aufgenommen; allein theils stehen diese Völker doch nicht so weit aus einander wie Deutsche und Tataren, wie Franzosen und Walachen, wie Polen und Zigeuner, wie Schweden und Grusier, theils sind sie dort in England besser verarbeitet, und wenigstens hat die Aufnahme jetzt, nachdem das solide und compacte Ganze dasteht, aufgehört, während sie in Rußland noch immer fortgeht. Wie aus allen möglichen Völkern, so recrutirt sich die höhere Gesellschaft der Russen auch aus allen möglichen Ständen, und sie zeigt auch in dieser Beziehung eine größers Elasticität oder Amalgamationskraf Die höheren Classen der Gesellschaft. 81 und Aneignungsfahigkeit als die höhere Gesellschaft irgend eines anderen Landes. Es befinden sich zwar zunächst in ihr die alten Bojaren des Moskowitenrcichs, die alten in den Adels« büchern anerkannten Adelsgeschlechter, die russischen Kaiser aber zerstörten diese alten Documents, führten neben und über dem Geburtsadel den Verdienst- und Aemteradel ein und öffneten dadurch den unberufensten Leuten Thür und Thor in die höheren Kreise der Gesellschaft. Durch dieses Institut des Verdienstadels und die Dampfung und theilweise Vernichtung des Geburtsadels wurde es den Zaaren möglich, die niedrigsten Leute stufenweise zu den höchsten Ehren zu bringen und sie am Ende neben den Fürsten und Bojaren des Landes Platz greifen zu lassen. Da dieß besonders scit Peter dem Großen zu allen Zeiten geschehen ist, so giebt es denn jetzt eine Menge russischer großer Familien, die einen Pastetenbäcker, oder einen Schmiedegesellen, oder einen gemeinen Leibeigenen, der freigelassen wurde, oder einen Grenadier, oder einen einfachen Kosaken unter ihren Großältern haben oder als Stammvater und Begründer ihrer Familiengröße betrachten. Noch jetzt ereignet es sich nicht selten, daß leibeigene Bauern zu Soldaten genommen und dadurch frei werden, daß diese freigewordenen Soldaten sich zum Nange von Offiziern emporschwingen, und daß dann die Kinder dieser zu Offizieren gewordenen Leibeigenen "ls adelig Geborene in dem Dienste deS Vaterlandes 454 82 Die hdherm Classen dn Gesellschaft. zu hohen Ehren aufsteigen und mitten im strahlenden Glänze der höheren Sphären sich bewegen, die Niedrigkeit ihres Ursprungs vergeffen machend. Zwar werden auch in England durch die Creirung der Peers immer mehr Niedriggcborene auf die höchsten Stufen der Gesellschaft erhoben, -— zwar kann man auch in Deutschland sich adeln, baronisiren und in den Grafenstand erheben lassen, — allein theils geschehen solche Erhebungen in beiden Ländern doch nicht so oft, wie in Nußland, wo jährlich Hunderte und Tausende sich w die Adelsclassen emporschwingen, theils, wenn es geschieht, trifft eine solche Ennoblirung doch in der Regel nur die Summitäten des dritten Standes, die ohne-dieß dem Adel schon sehr nahe stchen, wahrend in Rußland, wo es kaum einen dritten Stand giebt, diese hellleuchtenden Adels-Mcteore aus der tiefsten Finsterniß und aus dem Sumpfe der niedrigsten Leibeigenen gleich Irrlichtern aufsteigen. Zur Bestätigung des Gesagten will ich hier mit Hilfe des sehr interessanten und zuverlässigen kleinen Buchs vom Fürsten Dolgorucky: „Aulioo sur los prinoipnle» lumilies 6« !a Ituszio" die ursprüngliche Nationalität und Herkunft der meisten vornehmen russischen Familien angeben. Die meisten dieser Familien sind in directer oder indk-ccter Linie Nachkommen Rurik's, also aus warägisch-normannischem Geschlechte, nämlich 34 fürstliche Familien und 5 simple Vojarenfamilien, die den fürstlichen Titel aufgegeben haben. Es giebt 4 fürstliche russische Familien, welche Die hohmn Classm der Gesellschaft. 5?3 lithauischen Ursprungs sind und von Gedemin, dem bekannten Großfürsten von Lithauen, abstammen. (In Polen selbst giebt es noch 3 solche, von Gedcmin ab« stammende Fürstenfamilien). Es giebt 3 fürstliche Familien, die von altcn rus« fischen Souverainen abstammen, die weder zu Runk's noch zu Gedemin's Geschlecht geHärten. Drei fürstliche Familien stammen von mongolischen und georgischen, kabardischen oder anderen kaukasischen Fürstenfamilien ab, nämlich die Fürsten Bagration, Da« dianow und Titsianow. Mehre fürstliche Familien stammen von tatarischen Fürsten, nämlich die Fürsten Metschersky, Uruffow, Iussupow mid Kotschubep. Vier fürstliche Familien stammen von alten russischen Bojaren ab, deren Nachkommen spater in den Fürstenstand erhoben wurden. Drei fürstliche Familien stammen von gemeinen Russen ab, nämlich die Fürsten Menschikow von einem Pastetenbacker, die Fürsten Suwarow von einem Priester, die Fürsten Paskewitsch von einem geringen Kleinruffen. Eine fürstliche Familie stammt von einem Armenier, nämlich die der Fürsten Augustinsk», die ihren Ursprung sogar bis zu Artaxerxes (Langhand), König von Persien, hinaufleittn. Zwei fürstliche Familien sind von deutscher Herkunft, nämlich die Fürsten Barklay be Tolly, die von einem Bürgermeister von Riga herstammen, und die Fürsten Lieven, deren Stammvater einem alten livländischen Geschlechte angehört. 84 Die hdheren Classen der Gesellschaft. Der Grafentitel wurde erst seit Peter dem Großen eingeführt, und seitdem erhielten ihn 64 Familien, die noch existiren. Mehre, die ihn ebenfalls erhielten, sind seitdem wieder erloschen. Von jenen 64 sind ächtrussischen Ursprungs etwa 46. Von diesen 46 besteht etwa die Hälfte aus alten Geschlechtern, deren Adel größtentheils schon in dem berühmten Sammetbllche (der russischen Adelsmatrikel) verschrieben ist oder wenigstens über das Jahr 1700 hinausgeht. Die übrigen 23 sind dunklen Ursprungs und stammen entweder von gemeinen Kosaken, oder von klein-russischen kleinen Beamten und Schreibern, oder von Priester- oder Bauersöhnen ab. Siebzehn grafliche Familien sind deutschen und schwedischen Ursprungs, die meisten von altem liv- und kurlandischen Adel. Die Grafen de Vier stammen von einem Juden her, die Grafen Münnich von einem oldcnburgischen Bauer, die Grafen Ostermann von einem westphalischen Pastorensohne, die Grafen Kankrin von einem hessischen Juden, die Grafen Kleinmichcl von einem gemeinen Soldaten. Die Grafen Nostopschin glauben von Dschingis-Chan abzustammen. Die Grafen Kutaisow haben ihren Ursprung von einem tscherkessischen Sclaven. Eine andere gräfliche Familie ist tatarischen Ursprungs, und zwei stammen aus Lithauen. Es giebt mehre fürstliche und gräfliche Familien in Nußland, welche Unterthanen Rußlands geworden sind und sich dem hohen russischen Adel beizahlen, ohne daß ihre gräslichen oder fürstlichen Titel, die sie vom Aus- Die höheren Classcn der Gesellschaft. 85 lande her besitzen, in Rußland als russische Reichstitel anerkannt sind. Unter diesen befinden sich die griechischen Fürsten Cantacuzen, die von dem berühmten griechischen Kaiser, — die Fürsten Dundukow, die von einem Fürsten ?szuka, dem Chef einer kalmückischen Horde, — die deutschen Fürsten Sayn - Wittgenstein, die aus dem nassauischen Hause stammen, sowie die georgischen Fürsten dristow und Gen-sinsky. Außerdem aber haben in Nußland noch viele armenische, tatarische, kalmückische und georgische Familien den Titel Fürst usurpirt, ohne ein Recht dazu zu haben. Es giebt in Esthland, Kurland, Livland und Finnland noch eine Menge deutscher graslichen Häuser, von denen hier nicht die Rede war, weil sie ihren Grafen-titel nicht von Rußland, sondern von schwedischen Königen oder deutschen Kaisern erhielten und daher in Rußland selbst nur für simple Edelleute gelten. Der Titel Baron ist in Rußland wenig geachtet und auch erst seit Peter dem Großen in Gebrauch gekommen. Seit diesem Kaiser wurde er an 20 Familien gegeben, von denen jetzt nur noch 8 eristiren, wahrend 8 völlig erloschen und 4 andere in den Grafenstand erhoben worden sind. Dieselben haben zur größeren Hälfte ihren Ursprung von Hofbanquiers. In Kurland, Livland und Esthland giebt es zwar noch viele Familien unter russischem Scepter, die sich baronliche nennen, dieselben sind aber nicht als russische Barone anerkannt. 66 Die höheren Classen der Gesellschaft. Der russische Adel ist dem Vorigen zufolge offenbar ein Gemisch aus den verschiedenartigsten asiatischen und europäischen Elementen, und da der Geist und der Charakter jeder Gesellschaft sich natürlich nach dem Geiste und Charakter der Elemente, aus denen sie zusammengesetzt ist, bildet, so tragt auch die ganze vornehme russische Gesellschaft einen halbasiatischen, halbeuropäischen Charakter. Eine der auffallendsten Folgen des Ursprungs und der Zusammensetzung der russischen Vornehmen ist der Mangel an aristokratischer Gesinnung, der bei ihnen größer ist als bei der höheren Gesellschaft irgend eines anderen europaischen Staates und Volkes. Es ist dieß eine Tugend und ein Fehler zu gleicher Zeit. Die Feudal-Aristokratie hat in Rußland nie auf eine solche Weise geherrscht, wie in dem übrigen Europa. Nie wurden hier an den Beweis von 16 oder 32 Ahnen solche Vorrechte und Privilegien geknüpft, wie in unseren Staaten, und auch jetzt giebt es, glaube ich, in ganz Rußland kcin Recht, zu dessen Ausübung ein solcher Beweis erforderlich ware. Es existirt in Rußland kein Posten, kein Amt, kein Titel, kein Orden, kein Collegial-Sitz mit Stimme, kein 1iLn«li<-ilmi le^i« irgend einer Art, wozu man nicht ohne alle Ahnen eben so gut gelangen könnte als selbst mit dem größten Stammbaume. Da die Russen nach asiatischer Weise immer die Frauen als politische Nullen betrachtet haben, und in Folge dessen die Frauen nicht nur in den Erbfolgegesetzen sehr schlecht berücksichtigt worden Die höheren Classen der Gesellschaft. 87 sind, sondern auch immer das Gesetz gegolten hat, daß dieselben ganz und gar in ihren Männern aufgehen und deren Rang und Titel annehmen, da daher die russischen Seigneurs ohne Präjudiz sür ihre Kinder eben so gut mit Nichtadeligen, ja sogar mit georgischen Sclav-innen, oder auch mit ihren Leibeigenen sich verheira-then können, so ist auch in den meisten Fällen ein solcher Beweis von einer gewissen Anzahl von Ahnen vollkommen unmöglich, um so mehr, da die Heraldik in Rußland als Wissenschaft nie so ausgebildet war, wie bei uns, und da es der heraldischen Hilfsmittel, der Stammbäume, Chroniken und Familien-Archive, nie so viele gab, als bei uns, und selbst die wenigen, die es gab, auf Befehl der russischen Zaaren vernichtet worden sind. Dem Allen nach ist in der vornehmen russischen Gesellschaft der aristokratische Stolz wenig sichtbar. Man forscht in der Regel nicht nach der Geburt und Herkunft eines Menschen. Es haftet auf Niemandem eine l«vl5 oder ssi-uvis macula, weil er von unadeligen Aeltern, oder von Leibeigenen, oder selbst außer der Ehe geboren wurde. In der Regel fallt es Niemandem ein, diesen Punct zu berühren. Und wenn ein Ausländer sich einmal nach der Herkunft dieses oder jenes in der Gesellschaft aufgenommenen und nach russischer Weise gebildeten Individuums erkundigt, so weiß gewöhnlich Niemand eine Auskunft zu geben, weder von seinen Altern noch von seiner Nationalitat. Es ist ein StaatSrath, beim Kaiser hoch ange- 88 Die höheren Classen dcr Gesellschaft. schrieben, und ein charmanter, liebenswürdiger Mann. Damit begnügt man sich. Im Uebrigen sagt der Eine, er glaube, er sei ein polnischer Edelmann/ der Andere hält ihn für einen deutschen Noturier, ein Dritter sagt gar, er glaube, er sei ein getaufter Jude, und vielleicht nur ein Vierter run/lelt, ärgerlich über diese Angaben, das Gesicht und behauptet: „Gott bewahre, er ist aus einem alten moskowitischen Geschlechte, das schon langer in diesem Lande bekannt ist als die Deutschen, Polen und Juden." In Amerika werden die armen Abkömmlinge der Negersclaven bis in's dritte und vierte Glied mit Hohn und Verachtung von den freien Weißen verfolgt. Da in Nußland zwischen den Leibeigenen und ihren adeligen Herren ein fast eben so großer Abstand, wie zwischen den Negern und Weißen in Amerika eristirt (nennen doch auch die Freien in Rußland die Nichtfreien das „schwarze Volk"), so sollte man dort etwas Aehnliches zu finden erwarten. Dem ist aber nicht so. Da die Rang- und Titel-Aristokratie dort die Geburtsaristokratie vollkommen überflügelt hat, so ist eS nirgends leichter als in Rußland, den sogenannten Makel der Geburt schon im ersten oder zweiten Gliede vollkommen vergessen zu machen, und am Hofe des Zaaren nehmen die Nachkommen eines alten warägischen Fürsten neben den Enkeln eines Leibeigenen, oder eines französischen NoturierS ohne Anstand Platz. Es hilft den vornehmen Russen dabei die Leichtig» keit, mit welcher sich ihre Geringen in die Sitten der Die höheren Classen der Gesellschaft. 89 Vornehmen hineinfinden. In anderen Ländern sind die Kasten so lange und so streng von einander geschieden, daß fast jede von ihnen ihren eigenen Typus angenommen hat, an dem sie sich schon im Aeußeren von den anderen unterscheidet. Man erkennt in Spanien bald den Sohn eines Grande an seinen Sitten und seinem Wesen, so wie in England einen Gentleman und Nobleman. In Deutschland haben die Edelleute von altem Schlag und Korn, die ehrlichen Bürger einer alten Reichsstadt und die Bauern alle ihr besonderes und entschiedenes, festes Gepräge. Man erkennt sie sogleich an diesem äußeren Gepräge, wie ein Mineralog schon an der Gestaltung des Bruchs das Metall und die Steinart erkennt. Und es bedarf sehr langer Zeit, bis bet dem Uebergange aus dem einen Stande in den anderen der Bauer unter den Bürgern, der Bürger unter den Edelleuten sein eigenthümliches Gepräge abstreift und sich voll-kommen mit seinen neuen Genoffen amalgamirt. Nicht so in Rußland, wo sich Alles mit einer Leichtigkeit vermischt, die oft in Erstaunen setzt. Alle Russen haben durchweg, sowohl die von Adel als die Leibeigenen, ein allgemein anerkanntes, höchst wunderbares Talent zum Nachahmen. Mit Leichtigkeit lernen sie fremde Sprachen und eignen sich daher schnell diejenigen französischen Phrasen an, welche in Petersburg Mehr als anderswo dazu gehören, um sich den Anschein von linn lon zu geben. ' Sie begreifen, fassen und behalten schnell und er- W Die höheren Classen der Gesellschaft. werben sich daher auch ohne Schwierigkeit alle die übrigen Kenntnisse, welche einem Menschen von der guten Gesellschaft in Rußland unentbehrlich sind. Dn-bei sind sie durch die Vank nicht ohne Geist und Witz, und phlegmatische Stupidität ist selbst unter ihren verschmitzten und anstelligen Leibeigenen selten. Sie haben alle durch die Vank eine gewisse Biegsamkeit und Schmiegsamkeit deS Körpers und Geistes, die auch die Veranlassung dazu gewesen ist, daß man sie die Franzosen des Nordens genannt hat. Bei einem hollandischen oder englischen Bauern» söhne würden alle Casortis der Welt ihre Mühe verlieren, wenn sie ihn zu einem Masurka- oder Polonaisen-Tänzer, der sich bei Hofe zeigen könnte, machen wollten. Bei einem russischen Leibeigenen dagegen wäre dieß ein Geschäft von wenigen Wochen. Die Nüssen sind wie Wachs und lassen sich mit Leichtigkeit in diejenige Form., in die man sie zu haben wünscht, hineinbilden. Ein russischer reicher Herr, der seine Leibeigene heirathen will und sie so zu haben wünscht, daß er sie in Gesellschaft seiner Pairs produciren kann, hat daher wenig Mühe. Und ein russischer Kaufmannssohn, der findet, wie sonst in keinem zweiten Lande. Die hochfahrenden stolzen Aristokraten anderer Länder l>ibc,i immer am meisten dem Willen und der M Die höheren Massen der Gesellschaft. Macht der Könige widerstrebt und dadurch unmittelbar auch anderen Standen Schutz und Freiheit verschafft. Der große Mangel an Ehrgefühl, der allen Beobachtern an den Russen aufgefallen ist, und den viele so enorm fanden, dasi sie sogar behaupteten, es fehle den Nüssen der Sinn für Ehre ganz und gar, ist wahrscheinlich eben so wie die große Bestechlichkeit aller Russen eine Folge jenes Mangels aristokratischer Tendenzen. Der Geburtsadel, der seinen Stolz in viele eingebildete Dinge setzt, der sich auf seine Geburt, auf seine von jeher ausgezeichneten und tüchtigen Vorfahren etwas zu Gute thut, ist eben daher gegen das Geld weniger empfanglich, das er zum Theil sogar geringer schätzt als alle feine eingebildeten Güter. Das Individuum ist immer schwach. Ein Edelmann steht gewissermaßen nicht als Individuum da, sondern im Verein mit allen seinen Vorfahren und mit allen Mitgliedern seines Geschlechts, als Repräsentant seiner Kaste, auf deren Ehre er halt. Er ist daher weniger leicht zu gewinnen und zu unterjochen als ein einzelner geschlechtsloser, individueller Unadeliger. Die kur-, liu- und esthlandischen Edelleute behaupten daher auch mit einem großen Anscheine von Recht, daß in ihren Provinzen die russische Bestechlichkeit noch nicht in dem Grade, wie in dem übrigen Nußland habe um sich greifen können, eben wegen des Bestehens einer alten, stolzen und soliden Aristokratie in ihrem Lande. Die höheren Classen der GeftUschaft. 9.') Die russische vornehme Gesellschaft, sage ich, scheint, wenn man sie mit den Aristokratien anderer Lander vergleicht, ziemlich frei von Gcburtsvorutthcilen. Es ist dieß jedoch nur vergleichsweise wahr, und natürlich sind Geburtsvorurtheile etwas so Natürliches bei allen Menschen, etwas so Gewöhnliches in allen politischen Gesellschaften, daß man auch die Nüssen nicht völlig frei davon nennen kann. Es bleibt daher noch näher zu bestimmen, in welchem Grade dieses Fresein bei den Russen stattfindet, inwiefern, wo und unter welchen Bedingungen diese Ge-burtsuorurtheile völlig vernichtet sind, — wo sie noch eristiren ^ und in welchem Grade die Rangvorurtheile die Vorurtheile der Geburt aufgelöst und sich an ibre Stelle geseht haben. Am crassesten zeigen sich die Geburtsvorurtheile in Rußland in den Provinzen und namentlich in denjenigen Provinzen, in welchen es verschiedene Arten von Freiheitszustanden und von Adelskasten giebt, d. h. in den polnischen und kleinrussischen Provinzen, Hier giebt es neben den leibeigenen Bauern auch eine Elasse von freien Bauern (sogenannte Kosaki). Natürlich blicken diese freien Bauern mit Verachtung auf die leibeigenen herab. Ueber den freien Bauern steht sowohl in Kleinrußland als in Polen der Stand der kleinen Edelleute, die in Lithauen und Polen ,,8cl!lüo1iÜ5" genannt werden. Diese haben ganz und gar denselben stupiden, auf nichts gegründeten Adelsstolz, der auch den unwissenden, rohen M Die hbhercn Classen der Gesellschaft. Bauernadel von Ungarn und einigen anderen Ländern auszeichnet. Der Kaiser Nikolaus hat bekanntlich Mehres gethan, um die Ansprüche und den Stolz dieser Leute zu brechen. Ihre Ansprüche auf den Adel sotten nur dann in Rußland anerkannt werden, wenn sie ihn documentiren können. Und da die Meisten dieß zu thun nicht im Stande sind, weil ihr Adel gewöhnlich nur auf einer Verjährung beruht, so ist derselbe in Nußland wenig nütz. Diese kleinen Eoelleute sehen natürlich auf die Kosaki und leibeigenen Bauern, so wie auch auf die Bürger der Städte mit Geringschätzung herab. Doch wird ihnen dafür die Vergeltung, daß der große Adel, die Bojaren, die Grafen und die reichen Edelleute, die sich zu ihnen wie die Löwen zu den Katzen verhalten, ihrerseits wieder mit eben solcher Geringschätzung auf sie herabblicken Die großen Edelleute haben gewöhnlich jene kleinen Edelleute in ihrem Diensie. Sehr hausig findet man das ganze HlMs- und Hofpersonal eines großen podolischen, volhynischen oder kleinrussischen Grafen aus solchen kleinen Edelleuten bestehen. Seine Förster, seine Secretare, seine Oekonomttumvalter, ja zuweilen sogar seine Kammerdiener und seine Kammerzofen sind aus dem niedrigen Adel genommen. Und nicht selten machen diese Herren mit diesen ihren adeligen Dienern so wenige Umstände und fehen diese kleinen Edelleute so tief unter sich stehen, daß sie sie ganz auf dieselbe Weise mit dem Stocke bedienen, Die höheren Classen der Gesellschaft. 97 wie ihre Leibeigenen. Dieß sind allerdings sehr starke aristokratische Voruttheile, die einzig und allein auf einen durch die Geburt begründeten Stolz basirt sind. Diese Art von Kastenstolz besteht nun in dem eigentlichen Großrußland nicht, eben weil dort die verschiedenen Kasten von leibeigenen und freien Bauern, ron kleinem und großem Adel nicht ln demselben Gr«de ausgebildet sind. Es giebt zwar dort natürlich auch immer reiche und außerordentlich arme Edelleute, und eben so gab es dort von jeher Geschlechter, die von souveränen russischen Großfürsten ihre Herkunft ableiteten, so wie andere bevorzugte Geschlechter, die den Titel „Kniaz" (Fürst) führten, allein die Abstände unter den Bojaren waren nicht so groß, und es wurde doch wenigstens nicht eine niedere Adelskaste der höheren ganz dienstbar und unterthänig wie in Polen. Man findet die Haus- und Hofamter der reichen Edelleute im Inneren gewöhnlich mit Freigelassenen oder Leibeigenen besetzt; nur zuweilen ist wohl einmal der Posten eines Verwalters oder Kassirers von einem verabschiedeten Offizier oder einem heruntergekommenen Edel-manne besetzt. Die großrussischen oder moskowitischen Bojaren sehen sich alle mehr oder weniger als untereinander gleich an, und aus Großrußland, glaube ich, ist daher auch die Art von Geburtsduldsamkeit ausgegangen, von der ich eben sprach. Ware Westrußland dazu gekommen, den Ton im Reiche anzugeben, so würden wir wahrscheinlich vi.l Kohl, Petersburg. III. 5 98 Dit hdh«ren Classen der Gesellschaft. mehr Aristokratisches in dem Zustande der russischen Ge« sellschaft finden. Diese alten moskowitischen Bojaren und ihre Nachkommen betrachten sich aber zugleich als den eigentlichen Kern des ganzen russischen Adels. Sie nennen sich daher auch significativ genug! ,,8tolbo^oHo ävsoi-nnstwo," d. h. Stamm- oder Saulenadel"'). Diese Stamm- oder Säulen-Edelleute (8wl!iunoi änoi-nnin) bilden den Kern derjenigen Partei in Rußland, welche man die allrussische oder moskowitische Partei nennt. Ihnen steht der neuere, durch Peter den Großen und seine Nachfolger eingeführte Nangadel oder das Heer der sogenannten „Tschinnowniks" gegenüber. Das Wort „Tschinnownik" (von fsolnn, Rang) wird sehr häusig in Rußland mit einer verächtlichen Nebenbedeutung insbesondere nur zur Bezeichnung der kleinen Beamten und Amtjager gebraucht. Allein ein großer „8tolbo>voi ü^varnnin" nimmt natürlich, wenn er von Tschinnowniks redet, das Wort in einem weiteren Sinne und begreift darunter auch alle die großen und größten Beamten des Staates, die thre Bedeutsamkeit nicht sowohl von ihren uralten Namen und Reichthümern, sondern von ihren Aemtern herleiten. Trotz der Verachtung, welche die großen mosko-witischen Stammedelleute, die alten Bojaren, gegen *) Das Wort ,,8wldo"v<^o li^-ufnnst^vu als den Kern der eigentlichen altrussischen Partei bezeichneten, so können wir den Tschm-Adel als die Säule und Stütze der sogenannten deutschen Partei in Rußland ansehen. Im Laufe des vorigen Jahrhunderts, so wie auch während der Regierung des jetzigen Kaisers haben sich viele Söhne von deutschen Edelleuten in Kur-, ?w- und Esthland, so wie auch viele Söhne und Brüder Riga'scher, Re-val'scher, Dorpat'scher, Liebau'scher Kaufleute, Advocate« und Prediger durch den russischen Tschin zu Granb-seigneurs und Gewalthabern emporgeschwungen. Diese Leute haben sich durch ihre Talente und ihren Geist im Staate so geltend gemacht und dort einen so großen Einfluß erlangt, daß sie nun nicht mehr entbehrt und beseitigt werden können. „II est desormais impossible, quc la casto alle-niatide soil dcpouillče de l'empiro qu'elle exerce dans radmitiistmtion ct dans I'armt'C de la Rnssie" — so sagt der Verfasser des Buchs „1u Nugsio «n 1844," den ich allen Grund habe für ein Mitglied des alten Stamm- oder Saulenadels und für einen Partisan der alt» Die höheren Classen der Gesellschaft. 101 russischen Partei zu halten. Diese Leute haben nicht nur die höchsten Aemter und Titel, über die der Staat verfügen kann, erlangt und auf diese Weise neben den alten Bojaren und Knäsen Platz genommen, sondern sie haben sich auch, indem sie die Freigebigkeit der Kaiser benutzten, bedeutende Vesitzthümer und Güter im Inneren von Rußland verschasst, die mit den uralten Besitzungen und Gütern der russischen Stammedelleute nachbarlich zusammengränzen. „Non conlenlo memo," sagt UtfilU Söerfaffcr, ben wir gern jur SöefHtigung unset« SSefyauptungm cittren, weil et t>a$, n>ofür ec fid) tutSgiebt, lvtrf(td) ju fein steint, ndmlid) ein ruffifdjei: ^tiiatlmotm, „des litres do comics, do princes el d'Altesses cetfe noblesse de tschino a'ahbntlit sur la bourse do l'elat et s'y prit si Lien, quc naguero les pelits genlillulres rus-ses et les bourgeois tlEsthonie, do Livoiiie ou de l'elranger sont parvenus ä se faire Irois ou qualrv cent millo roubles do rente." Der russische Tschin ist die merkwürdigste, thätigste und großartigste Adelsfabrik (8it vema voil^o), die jetzt in der Welt erisiirt. Um sich einigermaßen einen Begriff von der Thätigkeit dieser Maschine in der En-noblirung von unadeligen Leuten und in der Producirung von großen Herren zu machen, denke man an die ungeheuere Arena von Civil- und Militär-Beamten, die Nußland in allen Domainen und Regionen seines Staates unterhält, und an die Schnelligkeit ohne Gleichen, mit der es diese Masse von Beamten durch alle die 102 Di« höheren Classen der Gesellschaft. verschiedenen Stufen der Rangleiter hindurchtreibt und sie zu Edelleuten, zu Grafen, Fürsten, zn Excellenzen, Geheimräthen und Generalen stempelt. Man erwäge, daß es nicht weniger als 50,000 Unteroffiziere in der russischen Armee giebt, und daß diese 50,000 Unteroffiziere, welche fast alle im Stande der Leibeigenen geboren waren, nach zwölfjährigem Dienste das Recht haben, zu Offizieren zu auanciren und damit den erblichen Adel für sich und ihre Kinder zu erlangen. Man bedenke, daß in Rußland so außerordentliche Rangbc'förderungen en m.isso stattfinden, wie in keinem anderen Lande, daß z. B. im Jahre 1843 ein Tagesbefehl erschien, durch welchen 100 Generale auf ein Mal geschaffen wurden, von denen nicht weniger als 39 Generale on ckek waren. Man bedenke ferner, daß der kaiserliche Hof einen größeren Kometenschweif von vornehmen Functionaren und Hofbeamten hinter sich herschleift als 6 andere europäische Höfe zusammengenommen, eben so wie die russischen reichen Privatleute eine größere Anzahl von Do» mestiquen haben als 12 englische Privatleute von dem» selben Rang und Reichthum, daß der Kaiser z. V. allein 120 Adjutanten mit Generalsrang in seiner Suite ha« und nicht weniger als 400 Kammerherren und Kammer" junker, sowohl russische als auch deutsche und polnische, und selbst armenische und georgische"). l) Ich entnehme diese Facta, die mir freilich schon aus Di« höher«« Classen der GtftVfchast. 1N3 Wie es unter dm Polen, unter den km-, liv-und esthlandischen Deutschen Nangunterschiedö giebt, die durch die Geburt bedingt werden, so giebt cS natürlich eben solche Standesunterschiede unter den Wala-chen, unter den Mongolen, Kirgisen, Buriaten, Samo-jeden, mit einem Wort« unter allen dem russischen Scepter unterworfenen Völkern, da natürlich keine menschlich« Gesellschaft, selbst nicht einmal die Gemeinden der wilden Indianer ganz von Geburtsvorurtheilen frei sind. Doch sind alle diese Geburtswrurtheile in Rußland nur provinziell und local, sie sind polnisch, walachisch, mongolisch, kirgisisch ic., aber nicht russisch, und wenn ich sagte, daß in der russischen Gesellschaft aristokratische Vovurtheile sich wenig fühlbar machten, so zielte ich anderen Quellen bekannt waren, aus dcm citirten Buche: „l^s, N.U58IL on 1844," dessen hierher gehörige Stelle ich wortlich folgen lasscn will: „Lorsque un ordre (In jour parut en k1843 en an-noncant a la sois cent generaux, dont trento generaux en chef, on n'a pu se rendre compte d'une promotion si extraordinaire, Les homines polltiques auraient dii s'a-larmcr et y voir des indices certains d'une guerre nni-verseile." „Si 1'on parvenait & tlesinir, quelle ctait la necessity de faire cent vingt aides de camp on generaux ä la suite de Pemperenr, quatre cents chambellans ou geu-tilshommes de la chambre: russes, allemands, polonais, georgiens et armeniens mrme, on saurait le motif, qui fait, que les proprietaires aLandonnont leurs biens an hasard, ou a la deterioration pour courir apres tant de chances qu'offre la capitale." 104 Die hdheren Classen der Gesellschaft. damit natürlich nur auf die höhere russische Gesellschaft, welche aus allen diesen Elementen ihre Nahrung zieht, welche diese Elemente auf ihre Weise umwandelt und dann als eigentliche vornehme russische Gesellschaft, als eigentliche Staatsgesellschaft, über allen jenen Pro-vinzial-Coterieen erhaben schwebt. Diese russische Gesellschaft verhält sich zu jenen Provinzialgesellschaften, wie etwa ein von einem Gemisch von Getreide, Kartoffeln, Pflaumen, Kirschen :c. abgezogener Spiritus sich zu diesem Gemisch verhalt. Der Kirgise, der Tatare, der Georgier, der Deutsche, der polnische Graf, sie alle streifen bei dem Processe der Umwandlung zu russischen StaatSedelleuten alle ihre einheimischen Provinzial-Eigenthümlichkeiten ab und rangiren sich vor dem Angesichts des Staatschefs bunt nebeneinander auf denjenigen Stufen, auf welche er sie hinstellt. Der deutsche Baron ordnet sich ohne Widerrede einem groß gewordenen „petit duurFeal» äs I^vonie," so wie der stolze moskowitische Vojar von der 8tolt>o-v^c>^'« livvornnslwo einem der mächtig gewordenen und zur ^Il«55o erhobenen „Mit Fentillüli-o russo" unter. So wie am Hofe des Kaisers dieses Nivellirungs-Princip, das die Geburtsvorurtheile derogirt, operirt, so operirt es auch an den Höfen der Gouverneure und General-Gouverneure ober der russischen Satrapen in den Provinzen, wo die Gesellschaft fast eben so bunt zusammengesetzt ist wie in der Residenzstadt. Auch hier werden in Folge der Ein- und Durchführung Die hdheren Classen der Gesellschaft. It).') bes Tschins die provinziellen Geburtsvorurtheile verspottet, und ein Nichtprivilegirter hat daher weniger als anderswo von ihnen zu leiden. Der Stoff, aus dem die Russen geschnitzt sind, l'ommt mir wie ein poröser, weicher Sandstein vor, aus dem man keine rechten Phy-siognomieen mit bestimmten, edlen Zügen hat schnitzen können. Der Stoff, aus dem die germanischen und romanischen Nationen gebildet sind, erscheint mir dagegen wie Marmorstein, in welchem sich die bestimmt gezeichneten und alle in ihrer Art edlen Züge der alten Edelleute, der kräftigen Bürger und der ehrlichen Bauern ausgebildet haben. Unter den Nüssen giebt es nur aristokratische Manieren und Gewohnheiten, aber keinen festwurzelnden aristokratischen Charakter. Man stecke einen westeuropaischen Edelmann in eine Vauerjacke, und man wird ihn noch immer erkennen. Man lasse dagegen einem russischen Edelmann den Bart wachsen und die Haare so rund wegschneiden, wie die Bauern sie tragen, man lege ihm den Kaftan ober Schafpelz an, und Keiner wird ihn unter seinen Leibeigenen herausfinden, eben so wie man den Proceß umgekehrt machen und den Bauer waschen, kämmen, rafiren, in eine Uniform stecken und so dn'ssiren kann, daß ihn Niemand unter den Hofleuten zu erkennen vermag. In Deutschland, sowie überhaupt in allen ande-ren westeuropaischen Staaten, giebt es Familien-Physio- 5" 105 Die hdheren Classen der Gesellschaft. gnomieen, die unter den Mitgliedern einer und derselben Familie so erblich sind, wie künstliche, aus einem festen Stosse gemachte Masken. In der einen Familie giebt eS solche und solche Augen, in der anderen eine so und so gebogene Nase, einen großen oder kleinen Mund, «in kurzes oder langes, ein rundes oder breites Kinn :c. Es giebt aristokratische kleine Hände, aristokratische zierliche Ohren lc. Von dem Allen findet man in Nußland nichts. Ich habe nie bemerkt oder gehört, daß diese oder jene Physiognomie in dieser oder jener Fa» milie erblick) ware, oder findet sich dergleichen doch, so ist es nur ein Schatten von dem, was wir bei uns sehen. So wie den alten russischen Edelleuten, bloß als solchen, die distinguirte Persönlichkeit der westeuropaischen Edelleute fehlt, so fehlt ihnen auch der ganze Apparat aristokratischen Glanzes, mit dem sich die westeuro» paischen Edelleute umgeben haben. Unsere Eoelleute wohnen in alten prachtigen Familicnschlössern, an deren innerem Ausbaue ganze Geschlechter gearbeitet haben, und in welchen die Mobilien und Schatze der Vorfahren aufgehäuft sind. Da sieht man Bibliotheken, an denen Groß- und Urgroßvater sammelten, — da sieht man die Wände mit den Portraits der Vorfahren und mit Scenen aus ihrem Leben bedeckt, -— da sind die alten Säle mit Tischen und Stühlen, mit alten Tapisserie«« und Vor» hängen auS verschiedenen Jahrhunderten gefüllt. Ein Flügel des Schlosses wurde von diesem, ein nnderer von jenem Vorvater gebaut. Die höheren Classen der Gesellschaft. 197 In den Schlössern leben die Edelleute, Vater auf Sohn, und Urenkel und Enkel oft ihr ganzes Leben hindurch, ohne von ihrem Sitze zu weichen, umgeben von einer gewissen altstyligen Grandezza und altväterliche Sitten befolgend. Die Schlösser haben ihre uralten Familien-Archive, ihre Museeen, ihre Schloßgärten mit Bäumen, die vor Jahrhunderten gepflanzt wurden. Wo der Edelmann sich zeigt, zeigt er sich der Würde seines Standes und seines Ranges gemäß, und Alles, was ihm gehört, verräth den Stand des vornehmen Besitzers. Vor dem Thore seines Schlosses prangen, m Stein gehauen, die Wappen seiner Familie mit dem Geschlechts--Motto w goldenen Buchstaben. Hundert Mal wiederholen sich diese Wappen auf allen den Dingen, die ihm gehören. Sie stehen auf seiner Wagenkmfche, auf jedem Stücke seines reichen Silberservices, auf jedem Stücke seiner noch reicheren Wasche. In dem Hause eines großen englischen Lords sing ich einmal an, «lle die Gegenstände zu zählen, auf denen ich sein Wappen und seine Chiffre gemalt sah, verlor aber die Lust, weiter zu zahlen, als ich damit hoch in die Hunderte hinaufkam. So ist und war es in England, so in Frank« reich, so in Deutschland, Spanien, Schweden, so auch sogar in Polen, — nicht so aber über Polen hinaus, in Rußland, wo der Adel sich nie mit jener Grandezza und jenem Pompe umgab, der eine Folge des bei uns herrschenden Feudalsystems war. WO Di« höheren Classen der Gesellschaft. Die russischen Edelleute wohnten von jeher und wohnen noch zum Theil in Hausern von Holz, einem Material?, das zur Ausführung eines prächtigen Vaustyles nicht in sehr hohem Grade geeignet ist. Diese Häuser verfallen schnell eines nach dem anderen (die ältesten hölzernen Hauser, die ich in Nußland gesehen habe, waren 120 Jahre alt), und die Familien konnten also weder in dem Aeußeren, noch in dem Inneren ihrer Schlösser einen solchen Pomp entwickeln und so viele Familienstücke und Familien-Souvenirs anHaufen, wie man sie auf unseren Edelhöfen findet. Selbst das, was man an solchen Schätzen sammelte, mochte häufig durch Feuersbrünste, denen die hölzernen Hauser natürlich mehr unterworfen find als die steinernen, vernichtet und so eine Anhäufung verhindert werden. Erst in neuerer Zeit haben die russischen Großen angefangen, ihre Nesidenzschlösser hie und da etwas solider, wenigstens aus Ziegelsteinen zu bauen, eben so wie sie jcht anfangen, auch ihre Städte fester zu gestalten. AuS Quadern, aus Sandstein, aus Marmor wird und wurde fast nirgends gebaut. Der niedere Standpunct der Entwickelung der Künste und Wissenschaften hinderte natürlich die russischen Bojaren, so groß und reich sie sonst auch sein mochten, ihre Familiensitze mit Bibliotheken, mit Mufeeen, mit Gemälden, mit schönen Möbeln zu füllen. Und das, was man der Art jetzt bei ihnen finden möchte, ist Alles neu, dem westeuropaischen Geschmacke nachgeahmt Die höheren Claffm der Gesellschaft. 109 und in der Schnelligkeit und für den Augenblick zusammengezimmert. Da sie weder altaristokratische, eines Pinsels würdige Familien-Physiognomieen hatten, noch auch geschickte und geistreiche Maler besaßen, so erhielten sie natürlich auch keine Familienportraits in ihren Schlössern, und man sieht bei ihnen deßhalb in der Regel nur die kahlen Wände. In neuerer Zeit haben sie sich allerdings sehr viel portraitiren und zum Theil auch die Portraits ihrer verstorbenen Großvater nachträglich anfertigen lassen und sie in ihren Zimmern aufgehängt. Ein russischer Großer, der damit beschäftigt war, auf diese Weise die Wände seines Speisesaals auszuschmücken, sagte mir, indem er mich auf einige Originalgemälde auf. merksam machte: „Voici mcs ancetres, je vcux rrTarrangcr commc lcs seigneurs chex \ous. West - co pas, cela ressemble a vos clialcaux?'4 In den russischen Residenzschlöffern sieht man wenig oder gar keine heraldischen Zierathen. Und was davon jetzt an den Equipagen und Möbeln der Großen in Petersburg erscheint, ist Alles Nachahmung westeuropäischer Sitten. Der einzige ächt national-russische Unterschieb zwischen einem großen und einem kleinen Seigneur Rußlands, der sich in Aeußerlichkeiten kund giebt, besteht in der Anzahl der Sclaven und der Haus- und Hofbiener. In England, in Oesterreich und in anderen Landern bleibt kein Knopf der Livree irgend eines Bedienten ohne My Die höheren Classen der Gesellschaft. das Wappen des Herrn, und wie die Liebhaber ihren Geliebten, wenn sie ihnen Vlummbouquets zuschicken, zu sagen pflegen: „Auf jedem Vlättchen steht geschrieben: Ich liebe Dich," so kann ein solcher Edelmann ohne Poesie sagen: „Auf jedem Knopfe lese ich: Ich bin eter b*m ©rofjen unb felt fom Don it>m eing«fstf)L'tm SJangabct ,, hi noblesse russo cst devenno lu plus accessible, qu'il y ait sur le globe, et par consequent la plus liberale, dans son organisation commo dans ses principes et dans ses sentiments." Wir Menschen legen indeß selten einen Fehler cdec eine Leidenschaft ab, ohne dafür uns wieder anderen hinzugeben. Und so hat denn auch der russische Adel, seit er seinen alten aristokratischen Stolz abstreifte, dafür sich anderen Begierden hingegeben, welche eben so schlimm sind als diese, oder vielmehr noch schlimmer; denn sie haben das Arge, daß sie fast bloß reine Fehl« sind, und daß ihnen keine Tugenden zur Seite stehen, wie dem aristokratischen Stolze das aristokratische Ehrgefühl. Diese Leidenschaften heißen Geld-, Rang-und Tirelsucht. Die Bestechlichkeit, die Habsucht und Geldgier, welche sich zmn Erstaunen des ganzen übrigen Europa den oberen Classen der Russen dermaßen eingeimpft hat, daß man sie als einen charakteristischen Zug derselben zu betrachten pflegt, ist vornehmlich eine Folge des in diesem Reiche eingeführten neuen Rang- und Amtsndels. Wie wir gezeigt haben, wurden und werden noch jetzt dadurch immerfort viele besitzlose Rotuuers zu den Adelsclaffen emporgehoben, deren einziger leiten- Die höhercn Classen der Gesellschaft. 119 der Gedanke nicht dahin geht, wie sie dem Staate am beßten nützen können, sondern dahin, wie sie ihrem eigenen Mangel an Bchtz und Rang am schnellsten abhelfen mögen. Die Russcn lieben zwar durch die Bank das Geld; selbst die Gemeinen und Leibeigenen, die noch mit keinem Fuße die Leiter des Tschin betreten haben, hört man fast unaufhörlich von ihren Rubeln und Kopeken zwitschern, wie die Schwalben von der Liebe. Und nach einigen Vorgangen in der russischen Geschichte, wo die Zaaren, schon bevor Peter der Große 1722 sein Nangadelsgesetz gab, mit der Bestechlichkeit ihrer Beamten zu kämpfen hatten, sollte man sich zu schließen berechtigt halten, daß auch schon damals Bestechlichkeit in Nußland nicht unerhört war. Allein es ist doch kein Zweifel, baß die alten rei« chen Bojaren, als sie noch allein die hohen Reichsämter besetzten, gewiß mehr Interesse an der Erhaltung und rechtlichen Behandlung des Staates hatten, von dem Jeder von ihnen einen so bedeutenden Theil ausmachte, und als reiche Leute auch weniger das Bedürfniß nach Reichthum fühlten als diese Masse der neueindringenden Abenteurer, welche nichts zu verlieren haben und nur darauf sinnen, wie sie sich auf Kosten des Ganzen bereichern können. Der Grund mochte für diese Giftpflanze schon gut vorbereitet sein, aber erst mit Hilfe jenes Nang-adelsgesetzes schoß sie zu einem' so geilen und üppigen Gewächse auf, daß sie jetzt bis in die obersten Re- 12V Die hdheren Classen der Gesellschaft. gionen des gesellschaftlichen Gebäudes hinaufrankt, Alles umschlungen, Alles insicirt und Alles verderbt und verpestet hat. Die Gewohnheit der Nüssen, sich überall von vielen Sclaven bedienen und jede Arbeit durch das Zugreifen von hundert Händen verrichten zu lassen, scheint auch auf ihre Staatsverwaltung übergegangen zu sein. Auch hier sehen wir Alles durch drei oder vier Personen geschehen, was bei uns durch eine einzige verrichtet wird. Als die Russen ihren Staat nach dem Modelle westeuropaischer Staaten organisirten, als sie gerichtliche Höfe, städtische Behörden, Verwaltungscolle-gien, legislatorische Nathsversammlungen begründeten, füllten sich die Bureaux derselben mit einer solchen Un» zahl von Beamten, daß es unmöglich wurde, alle diese Leute so zu besolden, wie es ihren Bedürfnissen entsprochen hätte. Unter diesen schlecht besoldeten Beamten, wenn sie nicht lauter Fabricius von Ehrlichkeit waren, mußte sich daher die Bestechlichkeit, auch wenn sie ihnen nicht schon als Hang und natürliche Neigung in der Brust gelegen hatte, aus Noth und Zwang einsinben. Die Vermehrung der Behörden und der Beamtenstellen macht noch fortwährend in Rußland Fortschritte. Es ist ein Uebel, dem, wie es scheint, der Staat nicht mehr steuern kann. Selbst wenn wir nur dle Periode der letzten 30 Jahre überblicken, so sehen wir ein Ministerium nach dem anderen entstehen, ein Collegium aus dem anderen, eine Behörde aus der anderen sich erzeu- Die höheren Classen bcr Gesellschaft. 121 gen und jedes Mal seine Bureaux mit einer Anzahl von Schreibern und Unterbeamten füllen. Es ist, als wenn in Nlißland Beamte wie die Zähne des Iason'schen Drachen gcsäet wären und daraus »vie die Heerschaaren jener bewaffneten Manner erwüchsen. Und der I.ison, der diese mit der Feder Bewaffneten bekämpfen wird, fehlt noch in Rußland. Man kann wohl ohne alle Uebertreibung annehmen, daß die Zahl der Beamten in Rußland sich seit dem Beginn dieses Jahrhunderts verdoppelt, wo nicht verdreifacht hat. Das Anwachsen der Bestechlichkeit hat bis auf die neuesten Tage herab mit diesem Wachsthums der Beamten gleichen Schritt gehalten. Es ist eine Sumpf- und Schmuzlawine, die noch immer im Anschwellen ist und sich noch fortwährend in diejenigen Theile des Reichs ausbreitet, welche bisher noch unberührt von ihr geblieben waren. Die Klagen des ehrlichen Großherzogthums Finnland und der deutschen Provinzen Kur-, Liv- und Esthland über immer mehr und mehr überHand uehmende russische Bestechlichkeit bei ihren Behörden werden mit jedem Jahre größer. Das Uebel mag vornehmlich in den kleinen Unterbeamten wurzeln, die am schlechtesten besoldet sind und des Geldes am meisten bedürfen. Da diese kleinen Unterbeamten aber in keinem Lande mit größerer Rapidität zu höheren Stellen, zu Hof- und Staatsräthen, zu Eanzleidirectoren und Gouverneuren befördert werden, und da ihnen der Appetit wahrend des Essens Kohl, Petersburg. III. 6 122 Die hbheren Classen der Gesellschaft. wächst, so schleppen sie auch ihre Sitten und die Gewohnheit der Bestechlichkeit mit zu den höheren Rang-clafsen hinüber. Ein solches moralisches Leiden ist wie eine ansteckende physische Krankheit. Wenn sie überHand nimmt, so widersteht ihr zuletzt Niemand mehr. Ja, was oaS Schlimmste ist, Niemand kann und darf ihr zuletzt widerstehen. Es heißt hier: unter den Wölfen muß man heulen, und wer der Bestechlichkeit steuern wollte, gegen den würden sich bald so viele Feinde erheben, daß es ihm unmöglich sein würde, sich langer in seinem Amte zu behaupten. Es ist tn Rußland mehr als einmal vorgekommen, daß ein tüchtiger Beamter wegen der Caprice der Unbestechlichkeit, die er nicht aufgeben wollte, entlassen werden mußte. In keinem Lande ist eS mehr wahr als in Nltß-land, baß jeder Mensch seinen Preis hat. Die Höhe des Preises und die Art und Weise der Bestechung v.niiren natürlich je nach der Stellung und dem Ansehen der Person. Den kleinen Beamten -^ und in Nußland, dem Lande der Satrapen und großen Beamten, heißen klein schon viele, die man bei uns groß nennen würde, — drückt man geradezu eine Silbermünze oder einen Banko-zettel tn die Hand oder schickt sis ihnen in eleganten Converts zu. Die größeren Beamten besticht man entweder durch große baare Summen, oder durch Feste und Balle, die Die höheren Classen der Gesellschaft. 123 man ihnen giebt, durch allerlei Gefälligkeiten, die man ihnen erweist, durch Geschenke von schönen Pferden, von Brillanten oder sonstigen Dingen, die man ihnen macht, durch Hauser, die man ihnen zu einem billigen Mieths- oder Kaufpreise überlaßt, durch kostspielige Souvenirs, die man ihnen aus Freundschaft und Dankbarkeit widmet, und auf tausenderlei andere direct« und indirecte Weise. Ich will es Solchen, die in dieser Sache mehr Erfahrungen als ich gemacht haben, überlassen, naher zu bestimmen, wie hoch hinauf man mit directen Bestechungen in Nußland zu gehen wagen könne. Ganz offen aber bezeichnet man in Nußland Senatoren des Reichs, Generals und Gouverneure als Leute, welche zu diesem oder jenem Preise zu haben sind, welche bei dieser oder jener Gelegenheit sich haben erkaufen lassen. Selbst durch Ausnahmen wird diese Regel bestätigt. Ich war z. B. einmal zugegen, wie die Frau eines hochangesehenen Senators ihren Mann rühmte, daß er einem von einem Proceß bedrohten Edelmanns, der ihm ein Gespann von vier schönen Rappen zum Geschenk habe machen wollen, nicht sehr sanft die Thür gewiesen habe. Auch die Großen bestechen sich einander. Zuweilen vermacht ein entfernter Verwandter dem Sohne eines anderen Reichen bedeutende Befihthümer. Man sieht in Petersburg hausig Ringe und andere Kostbarkeiten, die vom Fürsten so und so der Fürstin so und so geschenkt wurden, und auf denen man zuweilen die bedeutungs» 6' 124 Die hdherrn Classen der Gesellschaft. vollen Worte: „^ ma ^otocll-ioo la ksinoo88o. . . ." liest, und hinter solchen Geschenken und Deduktionen ist nicht selten eine artige Intrigue verborgen. Der einzige unbestechliche Mann im Reiche, sagt man, sei der Kaiser, doch läßt sich auch dieß bezweifeln. Hat nicht Demidow dem Kaiser schöne reiche Geschenke gemacht, um ihm die Erlaubniß abzugewinnen, langer im Auslande bleiben zu dürfen? Giebt es nicht sehr häufig Kaufleute, die große Geldsummen an den Staat für diesen oder jenen guten Zweck schicken und dafür Orden oder sonstige Gunstbezeigungen erlangen? Wird nicht der Kaiser häufig von seinen Unterthanen im Testamente zum Erben großer Summen gemacht, wofür er nicht verfehlt, sich erkenntlich zu beweisen? Der Kaiser ist so wenig der einzige unbestechliche Mann im Reiche, als er der einzige freie Mann ist. Es ist bekannt, daß bei allen asiatischen Völkern die Sitte herrscht, baß man sich keinem Höheren nahen dürfe, ohne ein Geschenk in der Hand zu haben. Auch die russischen Bauern, wenn sie etwas von ihrem Herrn zu erbitten haben, pflegen sich ihm gewöhnlich mit irgend einer kleinen Gabe zu nahen, um ihn sich gleich im Voraus geneigt zu machen. Die Bestechlichkeit ist also ohne Zweifel zum Theil eine Folge des halb asiatischen Ursprungs der Nüssen. Sie haben vielleicht dieß G.'schenkemachen schon von den Mongolen gelernt, und die vielen Asiaten, die beständig in ihre Dienste und ihren Adel übertreten, halten diese Sitte aufrecht. Die höheren Classen dcr Gesellschaft. 125 „Geld, Geld!" schreit die ganze Wclt in Rußland. Aber „Tschin, Tschin!" schreit sie eben so laut. In der That, die Tschinnomanie (i'KeinnnoluInL) wuchert in Ruß-land eben so geil und eben so üppig wie die Gelbgier, und man kann diese Manie geradezu als eine andere merkwürdige Krankheit betrachten, an welcher die vornehmen russischen Classen leiden. Sie begreift als eine Abart die Sucht nach Orden und Ehrenzeichen mit in sich und ist in der Art eine Manie, die so wunderbar und außerordentlich ist, daß es spateren Geschlechtern vielleicht schwer werden wird, sich eine Vorstellung von ihr zu machen, und daß sie kaum begreifen werben, wie es möglich war, daß die zahlreichen Mitglieder einer ganzen großen politischen Gesellschaft sich der Art für bloße Titel und bunte Bander enthusuismiren konnten, daß Hunderte und Tausende der gebildetsten Leute danach wie auf einer großen Nennbahn liefen und rangen, darum cabalirten und intriguirten, oft alle ihre Thätigkeit, ihre Energie, ihr Leben dabei auf's Spiel sehten. Die Geldgier begreift sich am Ende, denn das Geld ist doch ein nützliches, brauchbares, faßbares Ding. Aber die Titel», Rang- und Ordenssuchl ist ein rein erkünsteltes Wesen, ein Hirngespinnst, eine aus der Luft gegriffene Narrheit. Die Russen behaupten, daß bei ihnen das ganze Titel-, Rang-- und Ordenswesen eine rein exotische Pflanze sei, und daß wir Deutschen sie damit beschenkt hätten. Es ließe sich aber eben so gut nachweisen, 126 Die hdhtren Classen dcr Gesellschaft. daß ihnen daffelbe von den Mongolen und Chinesen zugekommen sei. In der That ist das eigentliche Wesen ihres Tschin-(Rang-), Classen- und Ordenssystems dem jener östlichen Volker nachgeahmt, und nur die Benennung der verschiedenen Classen ist aus Deutschland und zum Theil aus dem übrigen Europa geholt, so wie an die Stelle der chinesischen Knöpfe und Perlen und anderer Abzeichen europäische Bander getreten sind. Das ganze Tschin-und Ordenswesen ist also offenbar, wie Alles in Rußland, halb asiatischen, halb europaischen Ursprungs. Und selbst wenn sie Alles bloß aus Deutschland geholt hatten, so würden wir doch nicht für den Mißbrauch und die Uebertreibung der Sachs verantwortlich sein. Uebrigens waren Rang - und Pracedenzsicei-tigkeiten unter den russischen Bojaren schon vor Peter dem Großen sehr häusig. Es werden deren fast unter jedem Zaaren in der russischen Geschichte einige erwähnt, die so ärgerlich wurden, daß sie sogar zu Verfolgungen, Verschwörungen und Unruhen Anlaß gaben, welche dann die Zaaren wieder ausgleichen mußten. Das Terrain war also für die von Peter dem Großen eingeführte Reform sehr gut vorbereitet, und als die Orden und die Titel durch ihn und seine Nachfolger auf diesem Terrain ausgesäet wurden, da schlugen sie alsbald in der Brust der Nation so tiefe Wurzeln und wucherten so üppig empor, wie sonst bei keinem anderen Volke. Es offenbart sich, so scheint es mir, in der un- Die höheren Classen der Gesellschaft. 127 gezügelten Begierde, mit der die Russen nach den von ihren Herrschern willkürlich fabncirten Titeln und bunten Ordensbändern haschen, und in der Eitelkeit, mit welcher sie sich mit diesen Ordensbändern ausputzen, das Barbarische und Uncivilisitte, das noch in ihrem Wesen liegt. Man erinnert sich dabei der wilden Völker, die sich mit den bunten und werthlosen Glasperlen und mit den blanken Spicgclsiückchen schmücken, die ihnen die in ihr Land kommenden civilisitten Nationen bieten. Man gedenkt der Bewohner der Südseeinseln, die, wenn der Geschmack für europaische Civilisation in ihnen erwachte, auf ihre nackte braune Haut einen englischen Capitänsfrack zogen oder ein Stück von einer Epaulette anlegten und damit herumstolzirten. Es ist sehr wahrscheinlich, daß bei der europäischen Civilisation, welche jetzt in mehren anderen asiatischen Staaten emreißt, sich eben solche Phänomene und Erfolge zeigen werden, wie in Rußland, daß dort eine eben solche Bestechlichkeit, eine eben solche Rang-, Titel- und Ordenssucht einreißen wird. Es ist jetzt kein Staat in Europa, für dessen höhers Classen bei so wenigem reellen Ehrgefühl so viele Ehrenzeichen eristirten, wie in Nußland. Es sind dieß folgende: 1) Vierzehn militärische Ranggrade, vom Fähnrich bis zum Felbmarschall. 2) Vierzehn diesen militärischen correspondirende Civil-Ranggrabe, vom Collegienregistrator bis zum Reichskanzler hinauf. 128 Die höheren Classen der Gesellschaft. 3) Sieben Ehrentitel oder Pradicate, die diesen verschiedenen Rangclafsen eigen sind, nämlich: Herr, Wohlgeboren, Hochwohlgeboren, Hochgeboren*), Excellenz, Hoch-Excellenz"), Erlaucht*"). 4) Vier Geburtsehrentitel, Baron, Graf, Fürst. 5) Neunzehn Ordensdecorationen, die sowohl bürgerlich als militärisch sind. 6) Acht bloß militärische Ordensdecorationen. 7) Drei Ordensoecorationen blos für Damen. 8) Eine Ordensdecoration für Demoisellen. Die Ehren- und Aemtertitel der Geistlichen sind hier nicht einmal in Anschlag gebracht, eben so wie die zahlreichen Titel, welche die Hofamter geben. Auch giebt es noch mehre Arten von Decorationen und Medaillen für die Kaufleute und Handwerker, die wir nicht mitgerechnet haben. Das Ganze giebt also eine Summe von W bis 70 verschiedenen Ehrenzeichen und Ehrenbenennungen. Trotz dieser ungeheueren Masse von Ehrenstoff, über *) Die Titel: Wohlgeborcn, Hochwohlgcboren und Hoch-gcborcn wcrdcn in Rußland ctwas anders gebraucht als in Deutschland. In Deutschland fügt man sie nur der Adresse bci. In Rußland abcr redcu Untcrgcbene die Leute auch damit an, indem man z.V. sagt: „Was Euer Hochwohlgcboren (Wu,^!,o >Vull««uKud In^ollulli^) befohlen haben, habe ich ausgeführt." *5) Diese Hoch - Excellenz (^»l««ulil>^>uu>vu6l:l>l),1l!,ol. 8t,n'o) ist eine Erfindung der Russen. 5") Die Russen haben alle diese deutschen Titcl sehr hübsch in ihre Sprache übertragen. Die höheren Classen der Gesellschaft. 129 die der Staat disponiren kann, kommt er doch bei den ungeheueren Verdiensten, die sich einige große Russen UM denselben erworben, manchmal in Verlegenheit. Und man hört oft in Rußland von einem Manne, der schon alle Ehrenzeichen auf seiner Brust vereinigt, der schon Graf, Fürst, Erlaucht u,id Durchlaucht geworden ist, versichern: „Jetzt weiß der Kaiser nicht mehr, was er ihm geben soll." Zu wissen, welcher von dm verschiedenen 70 Graden gerade der passendste und erwünschteste sei, setzt beim Kaiser ein großes Studium, einen ungemein feinen Tact, eine genaue Kenntniß der persönlichen Verhaltnisse und des Charakters seiner Leute voraus. Der Eine ist sehr reich und würde sich daher aus der Verleihung cineS Majorates oder der Schenkung eines Kronguts nicht eben viel machen, — ein Anderer ist dagegen in den Umstanden, daß ihm gerade eine solche Schenkung ober auch die Gewahrung einer Summe baaren Geldes erwünschter ware als alleS Andere. Der Eine hat mehr militärische als bürgerliche Verdienste, und dieser oder jener Orden ist daher passender für ihn als ein anderer. Der Eine hat schon die und die Orden erhalten, und der und der Orden reiht sich ihnen natürlicher an als der und der. Oft hat Einer eine ganz unbegründete Vorliebe für einen gewissen Orden. Manchem würde die Verleihung dieses oder jeneS Ordens wie eine Beschimpfung und Erniedrigung er- 130 Die hdheren Classen der Gesellschaft. scheinen, wahrend derselbe Orden eine« Anderen unendlich beglücken konnte. Oft ist es aus gewissen Ursachen nicht angemeffen, Jemanden zum Grafen oder Fürsten zu machen, oft bietet sich gerade das Pradicat „ßvMlosl" (Erlaucht) als die paffendste Belohnung bar. Manche find von einer wahrhaft fieberhaften Wuth besessen, solche Titel und Orden zu empfangen, und m,in versichert sogar, daß hie und da sich Einer, der von dem, was man in Petersburg das Vlmlfieber nennt (nämlich der Sehnsucht nach dem blauen Bande), ergriffen war und dem kein blaues Band zur Heilung verabreicht wurde, sich deßwegen zn Tode gegrämt und gekränkt habe. Dieses Blausieber beweist auch, daß die Sehnsucht nach Orden eine Schwache ist, die gar nicht so leicht wie der Hunger durch Speise gestillt werden kann, sondern selbst in den höchsten Regionen (wer die Sehnsucht nach dem Andreasorden empfinden kann, muß schon sehr hoch stehen) noch sehr lebhaft ist. Ein Orden reizt und lockt nur so lange, als man ihn noch nicht hat, und hat man alle Orden außer einem, so hängt man sie wie erloschene Scerne an die Brust, und der eine, den man noch nicht hat, übt einen unwiderstehlichen Neiz aus. Die Orden sind alic der Reihe nach aufgestellt, und jedesmal zwischen den zwei folgenden befinden fich immer größere Distanzen. Die Großen und Kleinen jagen danach und haschen nach den bunten Flittern und danken dem großen Geber dafür, als warcn sie Himmelsmanna, das in der ruffischen Wüste gefallen. Die höheren Classen der Gesellschaft. 131 Dieß ist von den russischen Kaisern, denen die Orden wenig kosten, ungemein klug eingerichtet, und ich denke mir, sie müssen sich über das unaufhörliche Wettrennen, das sie in Gang gebracht haben, im Stillen manchmal nicht wenig freuen. Es ware für einen Philosophen, der die Thorheiten der Menschen studiren wollte, interess.int genug, wenn ihm das Petersburger Ordenscapitel und die heraldische Kammer einmal ihre Archive eröffnen wollten. Er würde dort eine Menge statistischer Nachrichten finden, die ihm reichen Stoff zum Nachdenken geben würden. Höchstwahrscheinlich würde daraus hervorgehen, daß in Rußland allein jetzt zwei Mal so viel seidene Bänder, so viel Gold, Silber und Brillanten in Orden, Ordenskreuzen und Ordenssternen, in Medaillen, in Epauletten, Litzen und anderem Uniformschmuck verbraucht werden als in allen übrigen europäischen Staaten zusammen genommen. Eine größere russische Gesellschaft von hohen Staatsbeamten eblouirt das Auge völlig durch ihre Sterne, Bänder, Litzen und glanzenden Uniformen. Selbst die Damen, ,,l)l,ml:8 li'Ilulin«»!'," die „XnmnwsOol«»^' die Töchter und Gemahlinnen der Generale haben an den Schultern gewöhnlich ein oder zwei, zuweilen auch drei verschiedene Ehrenzeichen, darunter die Chiffre und das Portrait der Kaiserin in Brillanten. Aber auch auf Röcke niedrigeren Ranges regnet es in Rußland Orden. Man sieht oft die abgenutztesten Offiziersuniformen der Art mit glänzenden Orden bebeckt, daß man den Widerspruch zwischen den ersteren und den letz- 132 Die höheren Classen der Gesellschaft. teren nicht zusammenzureimen weiß. Sogar auf der grauen Brust der armen Soldaten wimmelt es von kupfernen und silbernen Medaillen. Und ich würde nicht erstaunt gewesen sein, wenn mich zuweilen Leute mit 1l) Medaillen und Orden um ein Almosen angesprochen hatten. Selbst für Kaufleute und Handwerker hat man solche Belohnungen erfunden und eingeführt. Die Kaufleute prasentiren sich sehr oft prahlerisch mit großen silbernen oder kupfernen Medaillen um den Hals, die sie, deucht mir, zuweilen sehr geniren. Auch für die Handwerker giebt es verschiedene Belohnungen dieser Art. Wenn sie sich verdient machen, so bekommen sie erstlich ein Patent und zum Zeichen als Patentirte einen Adler, den sie dann in ihrem Schilde und in ihren Devisen und Adressen führen dürfen. Dann erhalten sie Medaillen ohne Häkchen, die sie in ihre Vignette und Adresse sehen dürfen, hierauf silberne Medaillen mit einem Häkchen, die sie sich um den Hals hangen, und endlich goldene Medaillen, die sie ebenfalls um den Hals tragen. Alle diese Medaillen haben das Bildniß des Kaisers. Die Medaillen-, Bander-, Kreuz- und Sternsucht hat in Rußland in der letzten Zeit noch mehr zugenommen, und zwar in den letzten paar Iahrzehenden so, daß die Leute in Petersburg, die in ihren Anschlagen nicht übertrieben sind, behaupten, es würben jetzt zwanzigmal mehr Orden vertheilt als zu Kathannens Zeit. Zu Anfang der Regierung Alexander's soll der Alerander-Newsky'Orden erster Classe jährlich nur 4 bis Die höheren Classen der Gesellschaft. 133 5 Personen ertheilt worden sein, während ihn jetzt jährlich über 1W erhalten. Am Ende des vorigen Jahrhunderts wurden alle Ritter und Commandeure aller Orden im Ordenskalender abgedruckt, der damals nur aus einem kleinen Bande von eines Fingers Dicke bestand. Zu Alexander's Zeiten schwoll allmalig dieser kleine Band zu zwei dicken Bänden, jeder zu 400 bis 500 Seiten, an. Jetzt umfaßt das Or-densregistcr fast eben so viel Papier, und doch sind dabei die unteren Ritter-Classen daraus weggelassen. Und doch hat Nußland in den letzten 3U Jahren leinen so großen Krieg geführt, daß dieser enorme Verbrauch an Orden dadurch erklart würde. Es ist merkwürdig, daß diese ungeheuere Verschwendung von Orden nicht schon alle Ordcn in Mißcredit gebracht hat. In eben solchem Grade wie die Vertheilungen von Orden haben sich auch die Standeserhöhungen vermehrt. Im ganzen vorigen Jahrhunderte wurden nur 3 Familien in den Fürstenstand und 37 in den Grafenstand erhoben, wahrend der ersten 40 Jahre dieses Jahrhunderts hingegen sind schon 8 Familien in den Fürstenstand und Aj Familien in den Grafenstand erhoben worden. Der Kaiser Nikolaus allein hat schon 5 Fürsten und 14 Grafen creirt, also beinahe so viel Fürsten wie alle seine Vorgänger bis aus Peter den Großen hinauf, und fast zweimal so viel Grafen als sein Vorgänger Alexander, der in dem Zeiträume von 25 Jahren nur 8 ernannte. Ich habe die Titel-, Rang- und Gelbsucht als «ine die russischen vornehmen Classen überhaupt auszeichnende Eigenschaft aufgeführt, und es st.md mir 134 Die höheren Classen der Gesellschaft. dieß mit vollem Rechte zu, da sie alle mehr oder weniger in der Beamten- und Militarhierarchie stecken oder mit ihr verwebt sind. Daher kommt es auch, daß man fast überall in Rußland den einfachen Landedelmann und Gutsbesitzer vergebens sucht, indem man fast immer und fast überall auch auf dem Lande auf einen zurückgezogenen Minister, auf einen Ober« sten, einen General, einen Geheimrath ober sonst eine Ercellenz stößt. Daß es aber daneben auch einfache simple „Pameschtschiks" (L.inoedelleute) giebt, die allen jenen Kram verachten und sich nicht um Titel und Orden bekümmern, versteht sich wohl von selbst. Und viele selbst uon denen, die sich einmal auf jener Nennbahn Lorbeeren errangen, und die einmal von der verführerischen Frucht, welche das Petersburgischs Ordenscapitel und die heraldische Kammer ausbieten, gekostet haben, ziehen sich doch .qesattiat und geheilt von jenen unnatürlichen Begierden davon zurück und leben fern vom Hofe still auf ihren Gütern. Es giebt sogar Familien, die seit langer Zeit schon reich und angesehen waren und doch weder in den Fürsten-, noch in den Grafenstand übergingen, wie z.B. die Demidows und Iatowlews, die zu den reichsten, wenngleich nicht zu den ältesten Familien Rußlands gehören, und doch immer nur ^««ivurs cie Ullmiä0>v und Ales-«iours V»lluwlo>v sind. Nur in Deutschland, in Paris und Italien hat man die Dcmidows zu Grafen, Prinzen und Ducas ukusivo erhoben, wie es denn bemerkenswerth ist, baß Dic höheren Classen der Gesellschaft. 135 m Deutschland, Frankreich und Italien das Publicum selbst immer mit Titeluerleihungen eben so freigebig ist, Wie in Rußland die Regierung. In Rußland giebt das Publicum gar keine anderen Titel als die, welche Jedem von Rechts wegen zukommen, und selbst diese werden sonderbarer Weise im gewöhnlichen Leben gar nicht so oft wiederholt wie in Deutschland oder Italien, wo man Einem nicht oft genug es in einem Athemzuge vorführen zu können glaubt, daß er „Herr Graf" oder „Herr Geheimrath" oder „Lx-cellenln" sei. In Rußland kommt dem Gebildeten die Kürze der französischen Sprache zu Hilfe, die Alles sehr hübsch bloß „Mcinmo" und „Nmlljiolil-" nennt. Aber auch selbst wenn sie russisch miteinander sprechen, geben sogar die Untergebenen den Höheren lange nicht so viele Titel wie bei uns. Selbst dem Bauer, dessen Leibherr ein „Knas" ist, fällt es nicht ein, ihn einen „Herrn Fürst" oder „Durchlaucht" zu nennen, sondern er redet ihn oft nur bei seinem Patronymicum, z. B. „I^un Nu8i!"wit3ell" (Leon Vasil's-Sohn) an. Die Russen sind, als halbe Asiaten, für Pomp und äußeren Glanz eingenommen. Dabei sind sie einem despotischen Gouvernement unterworfen, das nicht nur in seinem obersten (5hef, sondern auch in allen übrigen, demselben untergeordneten Theilnchmern am Regiment« despotisch ist. Alle Diejenigen, welche von den Vornehmen Theil am Regiment« haben, sind daher sowohl befehlende Inhaber und Verwalter eines ihnen anvertrauten Theiles z.3s Die hdheren Classen der Gesellschaft. jener despotischen Gewalt, als auch dienende und leibende Werkzeuge der höheren despotischen Gewalt. Es zeigt sich in Folge dieses Verhältnisses ein anderer für sie charakteristischer Zug, nämlich die Verbindung einer ausnehmend sclavischen Tendenz zugleich mit der Neigung, das Wesen und Sein von Grand-seigneurs nachzuahmen. Ihrem allmächtigen Kaiser gegenüber haben die Großen, und den kategorisch gebietenden Großen gegenüber die Kleinen in hohem Grade sich an das Gehorchen gewöhnt, und in umgekehrter Richtung haben Alle eben so gegen ihre Untergebenen, von denen sie unbedingten Gehorsam verlangen und gewohnt sind, das Gebieten gelernt. Die meisten von ihnen befinden sich schon von Jugend auf in einer Atmosphäre, die ihnen sehr früh» zeitig despotische Gewohnheiten und Gesinnungen einflößen muß, nämlich in der Atmosphäre ihrer Leibeigenen, die ihnen schmeicheln, die vor ihnen im Staube kriechen und die ihnen bei Zeiten lehren, daß sie die Auscnvahlten und die Herren sind. Zu gleicher Zeit werben sie auf der anderen Seite eben so frühzeitig in der Schule des unbedingten Gehorsams geübt, da sie gewöhnlich launigen Müttern oder militärisch gebietenden, hochgestellten Vätern gegenüber stehen, welche Gehorsam ohne Widerrede von ihnen verlangen, oder sie kommen in die Kadettencorps, wo die Zucht und Disciplin eben so streng wie in der Armee ist, und wo sie auf gleiche Weise an sclavische Unterwerfung Die höheren Classen der Gesellschaft. 13? gewöhnt werden. Man kann daher in keinem Lande so viele Leute sehen, die zu gleicher Zeit den Anschein von Grandseigneurs haben, und doch dabei die geschmeidigsten Hofleute sind. Nirgends in der Welt sieht man so viele wahrhaft asiatische großmächtige Satrapen in europäischem Costum, und nirgendwo bietet sich so viele Gelegenheit, den Charakter solcher Leute zu studiren. Wenn man in Nußland eine lange Zeit hindurch eine Menge stets uniformirter, von Glanz, von Orden, von hohen Titeln strahlender Gouverneure, Generalgouverneure, Generale, Senatoren, Neichsrathe und Vice-canzler gesehen hat, so kommen Einem, glaube ich, nachher alle anderen, die preußischen Beamten, die österreichischen Statthalter, die englischen Minister, die französischen Staatsmänner als höchst einfache, als sein bürgerliche Menschen vor, und man wundert sich fast über das höchst bescheidene Wesen aller dieser Manner. Die russischen Machthaber sind mit einer solchen Allgewalt bewaffnet, daß man vor ihnen fast erschrickt. Die Schrecken der Knute und Sibiriens gehen vor ihnen her. Und selbst der kleinste russische Beamte, ja selbst diejenigen, welche aus der Classe der Leibeigenen als Aufseher und Gebieter ihrer früheren Mitgenossen angestellt wurden, haben auf der Stelle alle demüthigen Sclavenmienen abgestreift und stellen sich sofort als schreckenerregende Befehlshaber dar. Ja gerade diese zur Macht gelangten Sclaven sind vorzugsweise die übermüthigsten und ärgsten Tyrannen. Man kann in keinem Lande die Umwandlung 138 Die höheren Classen der Gesellschaft. eines Sclaven zu einem Herren, und umgekehrt die plötzliche Zerschmelzung eines schreckenerregenden Gebieters zu einem demüthigen Sclaven häufiger beobachten als in Rußland, wo die Despotie dermaßen zu Hause ist, daß man sagen kann, das ganze Land seufze nicht unter der Despotie eines einzigen Kaisers, sondern unter der Hierarchie einer ganzen Menge von Despoten. Daher ist auch dem Absolutismus keinesweges abgeholfen, wenn ein einziger wohlwollender Kaiser an der Spitze steht. Da der Despotismus der ganzen Nation im Blute steckt, so wird sie sich selbst unter einem solchen Kaiser eine ganze Menge kleiner Despoten dazu er» zeugen. Und die, welche sagen, daß eine absolute Monarchie in dem Fall, daß ein guter Fürst an der Spitze stehe, die beßte und wünschmswertheste Verfassung sei, vergessen das Heer von tausend kleinen Despoten unter ihnen, die sie ebenfalls zu lauter solchen guten Menschen umbilden müßten. Ja selbst aus den Gehorchenden müßte erst der Sclavensinn eben so vertrieben werden, wie aus den Gebietenden der Autokratensmn; dmn bliebe jener, so würden die Gehorchenden humane, milde, gütige Befehlshaber nicht einmal vertragen, sondern solche Befehlshaber so zu sagen zwingen, wieder strenge Gebieter zu werden. Di« höheren Classen der Gesellschaft. 139 Die Frage von der Bildungs- und Denkweise der russischen vornehmen Classen, von dem Geiste und den Gesinnungen, die sie beseelen, erscheint in einem um so interessanteren Lichte, wenn man sich den ungeheueren Einfluß vergegenwärtigt, den die jetzt so zahlreiche Menschenclasse, welche der in Petersburg ausgesteckten Fahne der Civilisation folgt und sich nach dem dort gütigen Stempel und Modell gestaltet, auf dem Erdboden sichtbar werden läßt und auf einen großen Theil des Menschengeschlechts ausübt. Die Bildung, die Stufe der Cultur, die Gesinnung des spanischen, oder des italienischen, oder des preußischen, oder des bairischen Adels zu betrachten, seine Physiognomie zu zeichnen und die eigenthümlichen Tugenden, oder Fehler und Leidenschaften, die ihn auszeichnen, zu schildern und zu zergliedern, ist zwar an und für sich für den Geist eine eben so anziehende Beschäftigung, wie überhaupt jede Beschäftigung, die den Verstand reizt und herausfordert, allein sie ist ver-haltnißmäßig von einer geringeren europäischen Wich« tigkeit und von unbedeutenderem praktischen Nutzen. Der Adel ist in Preußen durchaus nicht die do-minirende Classe, Spanien, Portugal, die italienischen Staaten sind im Ganzen kleine Staaten, deren Einfluß verhaltnißmaßig nicht weit über ihre Gränzen hinausgeht. Und wenn man in die Zukunft blickt, so scheint es, daß der Adel in diesen Landern eher seinem Untergangs als einer größeren Entwickelung entgegengeht. 140 Die höheren Class«« der Gesellschaft. In Bezug auf dm Adel Rußlands ist dieß Alles ganz anders. Vorerst bildet er an und für sich eine zahlreichere und gleichförmigere Masse als der Adel jedes anderen Landes. Bei uns in Deutschland hat der Adel jeder Provinz eine anders Physiognomie. In Oesterreich hat jeder Theil der Monarchie seinen besonderen Adel, man findet dort ungarischen, böhmischen, italienischen, deutschen, polnischen Adel :c. In England sind die vornehmen blassen der Gesellschaft sehr verschieden gebildet. In dem großen weiten Rußland aber giebt es durchweg nur einen herrschenden Stempel oder Typus — „stimckn-d," wie die Englander sagen würden, — der Bildung, dem Alle folgen und dem sich Alle unterwerfen. Es giebt dort eine Million vornehmer Leute, die alle aussehen, als waren sie Zwillingsbrüder, und die sich alle auf's Beßre bemühen, sich untereinander so genau als möglich zu copiren, die alle von denselben Tendenzen und Kräften bewegt werden und alle in derselben Richtung laufen. Ich weiß wohl, daß es eine Menge von Schattirungen und Nuancen auch unter dem russischen Adel giebt, allein was ich sage, ist, daß nirgends die Neigung zur Nivellirung aller Eigenthümlichkeiten größer ist als dort. Es scheint etwas unüberwindlich Ansteckendes in dem russischen Wesen zu liegen, das Alles mit sich hinreißt und nicht duldet, daß etwas sich weit von dem als Modell und Muster aufgestellten Typus entferne und seinen eigenen Weg gehe. Die höheren Classen der Gesellschaft. 141 Der Petersburger aus asiatischen und europäischen Elementen entstandene Bildungstypus dient erstlich und vor allen Dingen allen den Millionen Adeligen des Reichs selber zum Muster, sie formen sich alle mehr oder weniger danach. Alle Adeligen des Reichs sehen zu ihm als dem Nonplusultra der Bildung auf, und selbst der kleinste adelige Beamte, oder der geringste Offizier sucht doch so viel als möglich von diesem Lichte auf seinen Flügeln mit davon zu tragen. Da das Beispiel der Großen des Reichs natürlich immer mächtig auf die Kleinen einwirkt, so befinden sich auch alle übrigen Stande mehr oder weniger unter seinem Einflüsse, und unwillkürlich schleicht selbst auf die in Rußland angesiedelten und dem Adel fern stehenden Fremden etwas davon über. Diejenigen Söhne der Kaufleute und Geistlichen, welche durch ihren Reichthum dem Adel nahe zu stehen kommen, suchen sich ihm dann auch mit Begier so viel als möglich zu nähern und ahmen, so gut sie können, die französischen Moden, die französischen Redensarten und die feine« ren Sitten der Vornehmen, sowie überhaupt ihre ganze Lebensweise nach. Bei unS giebt es eine ganze Menge besonderer Typen für die geselligen Physiognomiken der verschiedenen Classen, für dm hohen Adel eine besondere, für den Provmzialadel eine besondere, für die Justiz- und Administrativ-Beamten eine besondere, für die Gelehrten ein« besondere, für das Militär wieder eine besondere. Ja man unterscheidet sogar deutlich bei uns den Tn- 142 Die höheren Classen der Gesellschaft. pus eines Artillerie-, eines Marine-, eines Cavalerie« eines Infanterie-Offiziers. Dieß ist in Rußland nicht der Fall, weil dort alle höheren Classen weit mehr durch einander gemischt sind und fast alle mehr oder weniger einen militärischen Typus erhalten haben, und die Uebergänge aus der einen Classe in die andere außerordentlich leicht und häusig sind. Die Adeligen, die sich in die Provinzen zurückgezogen, haben alle entweder längere oder kürzere Zeit im Dienste gestanden, ^ die Offiziere lassen sich bald von der Infanterie zur Cavalerie, bald von der Cava-lerie zur Infanterie, bald von der Garde zur Linie, ja sogar von der Landarmee zur Marine und umgekehrt überführen. Eben so häufig sind die Uebertritte aus dem Civildienste zum Militärdienste, und noch häusiger die aus dem Militär zum Civil. Alle höheren Civil-, Gouverneur-, Nichter-, Senatorstellen sind mit Militärs besetzt. Selbst den Gelehrten und Univerfitäts-Professoren sucht man so viel als möglich einen militärischen Anstrich zu geben. Die Hofstellen sind fast durchweg mit lauter Militärs besetzt, und umgekehrt werden vom Hofe aus zuweilen Stellen in den Provinzen mit Hofbeamten be« setzt. Aus diese Weise ist denn der ganze Teig so durch' knetet, daß eine allgemeine Umformitat, ein gewisser durchweg herrschender militärischer Typus, sich allen höheren Classen mitgetheilt hat. Die höheren Classen der Gesellschaft. 143 Da die Mitglieder des russischen Adels oft die Leibherren von Tausenden ihrer Mitmenschen sind, und da der Kaiser aus ihrer Mitte die Befehlshaber und Lenker der großen und kleinen Provinzen nimmt, und diese Leibherren und Befehlshaber über ihre Untergebenen und Leibeigenen eine fast unumschränkte Gewalt ausüben, so haben die Eigenheiten jener Herren einen birecten und ungemein großen Einfluß auf diese geringeren Leute. Es giebt Lander in Deutschland, wo es den Leuten ziemlich einerlei ist, welcher Charakter und Welches Wesen ihrem Adel eigen sein mag, weil der Adel dort ohne Macht ist oder doch nur eine von den verschiedenen Classen der Bevölkerung bildet. In Rußland aber, wo Tallsenbe an Einen gekettet sind, wie die Glicdmaßen an den Körper, hat dessen Stimmung einen großen Einfluß, denn davon, ob bei diesem Einen eine gute oder eine schlechte Laune vorherrscht, hangt oft Freud' oder Leid von Hunderten ab. Sind dort die vorübergehenden Launen Einzelner so wichtig, so ist natürlich der Bildungs- und Geisteszustand der ganzen Masse der Herren noch viel folgenreicher, und Millionen spüren jeden Fortschritt oder Rückschritt in diesem Zustande. Solche Leute, wie sie aus dem Schooßs und aus der Schule des russischen Adels hervorgehen, erhalten die kaukasischen Völkerschaften zu ihren Oberhauptern. Die» selben Leute muffen sich die deutschen Provinzen als Regenten gefallen lassen. Die Polen lernen dieselben in ihren Viceregenten kennen. 144 Die höheren Classm d«r Gesellschaft. Bis nach der Türkei und der chinesischen Gränze hin und im Norden bis in die Nahe des Nordpols sind alle Landeskinder diesen Menschen unterworfen und haben alte von den Tendenzen und Principien dieser großen, dieser riesenhaften, von einem und demselben Geiste beseelten Herrenmaffe vielfache praktische Erfahrungen zu machen Gelegenheit. Es sind ferner Mitglieder der in Rede stehenden Mcnschenclaffen und Zöglinge aus der bezeichneten Schule Diejenigen, die wir jetzt in Europa, ja in der ganzen "Welt, als Reisende, als Diplomaten, als politische Missionare, als Forscher in minder ehrenwerthen Rollen und Missionen erscheinen sehen. Zu Hunderten pilgern sie zu uns, und wir haben überall Gelegenheit, ihre Sitten kennen zu lernen und ihren Charakter zu beobachten und zu studiren. Was im Inneren der Heimath, der Häuser und der Köpfe dieser Leute vorgeht, wie es in ihren Kreisen gahrt und sich gestaltet, von welchen Hoffnungen und Plänen für die Zukunft diese merkwürdige Menschenmasse bewegt wird, kann also den Europäern nicht gleichgiltig sein. Die Frage erscheint um so wichtiger, wenn man den außerordentlichen Einfluß erwagt, den der russische Adel innerhalb der Gränzen des Reichs, dem er angehört, ausübt, und die merkwürdige Stellung betrachtet, die er dort einnimmt. In den meisten anderen Ländern theilt der Adel alle Rollen, die im politischen und socialen Leben zu übernehmen sind, entweder mit Individuen aus allen Die höheren Classen der Gesellschaft. 145 übrigen Ständen der Bevölkerung, oder überläßt diese Rollen diesen Individuen ganz und gar. So z. B. giebt es bei uns in Deutschland, in England, Frankreich tt. Adelige und Bürgerliche im Militärdienste, wie tm Livildienste. ES giebt adelige und bürgerliche Gutsbesitzer. Die Fabrikanten sind in der Regel ausschließlich aus dem dritten Stande; unsere gelehrten Manner, unsere Poeten, unsere Weisen treten sowohl aus dem Range dec Adeligen als dem der Nicht-adeligen hervor, doch ist die Mehrzahl derselben von nichtadeliger Herkunft, weil das meiste geistige Leben bei uns im dritten Stande wurzelt. Nicht so ist es in Nußland, wo alles geistige wie politische Leben nur in dem Adel steckt, und wo der Adel dermaßen das Ganze umfaßt, daß er eigentlich diejenige Bevölkerungsmasse ist, welche den Staat bildet und um derentwillen der ganze Staat eristkt. Die 50 Millionen Leibeigenen sind politische und moralische Nullen, und die halbe Million der Edelleute bildet eigentlich ausschließlich den Staat. Die einzigen Geschäfte, welche der Adel in Nußland aus dem Kreise der von ihm übernommenen Func-tionen ausgeschloffen hat, sind die des Handels und der kirchlichen Verrichtungen, weßhalb die Kaufleute und die Priester einen eigenen Stand bilden. Es ereignet sich allerdings zuweilen, daß auch ein Edelmann sich dem Dienste der Kirche widmet, es ist sogar vorgekommen, daß Militärs zu hohen kirchlichen Aemtern nannt wurden. Allein in der Ncgel recrutirm sich Kohl, Petersburg. III. 7 146 Die hdheren Classen d«r Gesellschaft. die Priester, welche sich in der russischen Kirche ver-heirathen dürfen, durch ihre eigenen Söhne oder die der Bauern. Eben so sind allerdings manche Kaufleute in den Adelstand erhoben worden, und manche Edelleute haben sich zu Kaufleuten gemacht; namentlich haben viele polnisch« Edelleute kaufmannische Geschäfte on xros betrieben. Allein die Hauptmasse der russischen Kaufleute im Inneren ist von bäurischer oder kaufmännischer Herkunft, so wie die größere Menge der Kausieute in den Seestädten aus dem dritten Stande fremder Lander genommen ist. Außer diesen beiden Geschäften aber hat der Adel in Rußland fast alle in der Gesellschaft zu spielenden Rollen entweder freiwillig oder von seinen Zaaren gezwungen übei-nommm. Zunächst werden natürlich alle Ofsizierstellen in der Armee entweder von geborenen Edelleuten, die bei der Beförderung natürlich mehr Vorrechte und Chancen für sich haben als die Nichtadeligen, besetzt, oder wenigstens geben diese Offizierstellen den Nichtadeligen sofort den Adel und mit diesem sowohl die Berechtigung als die Verpflichtung, sich hinführo dieser Classe zuzurechnen und sich ihren Sitten und ihrem Wesen zu accommodiren, sich ihr völlig anzuschließen und zu incorpomen. Eben so ist es mit allen Civil-Aemtern, die ebenfalls Geburtsadel entweder voraussetzen oder gewähren. Da in Rußland wenige Gegenstände im Regal sind, so ist der Stamm- ui,d Rangadel, welcher in Rußland Ländcreien besitzen kann, der Alles, was Die höheren Classen der Gesellschaft. 147 auf seinem Grund und Boden sich befindet, sein eigen nennt und erploitirt, auch der Besitzer der darauf vorkommenden Erwidern. Der Adel besorgt dah>'r auch die Geschäfte des Bergbaues und alles dessen, was damit im Zusammenhange steht. Da nicht nur dle todten, sondern auch die lebendigen Wesen, und unter ihnen vor allen die Menschen auf seinen Gütern dem Adel gehören, und da er diese Menschen beschäftigen kann, wie er will, so hat sich der Adel auch großencheils der Vortheile der in neuerer Zeit in d^ls Neich eingeführten Fabrikindustrie bemächtigt. Die großen adeligen Grundbesitzer haben auf ihren Gütern große Fabriken aller Art errichtet, in denen sie ihre leibeigenen Leute verwenden. Sie haben auch industrielle Gesellschaften unter einander gebildet, welche sich Monopolien vom Staate zu verschaffen wußten, und so ist denn der Adel auch der vornehmste fabricicende Stand im Reiche. Diese Fabriken sind nicht nur solche, die in einer unmittelbaren Beziehung mit den Erzeugnissen des Bodens stehen, als Branntweinbrennereien (in den polnischen und westlichen Provinzen, in Kurland, Livland, Esthland und Kleinrußland), Töpfereien, Porzellan- und Wedgewood-Fabrikcn, Runkelrüben-Zuckerfabriken, Essigfabriken, Bierbrauereien, sondern auch solche, zu denen dlis Material weit hergeholt werden muß, z. B. Baumwollenspinnereien, Papierfabriken, Tuchwebereien, Seidmmanufatturen, Glasfabriken lc. 7. 148 Die hdheren Classen der Gesellschaft. Die Krone, als große Besitzerin von Leibeigenen, hat ebenfalls in Rußland eine Menge solcher Fabriken, um von der Industrie ihrer leibeigenen Hände den möglichsten Vortheil zu ziehen. Man findet in keinem Lande so viele kaiserliche und grundherrliche Fabriken als in Rußland, und daraus allein schon wird sich der Umstand erklären, warum die Krone und die ihren Rath bildenden Großen allen vom Auslande einzuführenden Waaren einen so hohen und strengen Tarif aufzulegen bemüht sind. Sogar die neue Verbesserung und Läuterung der Talglichte (die Fabrikation der Stearin-, Apollooder Milly-Kerzen) hat sich der Adel zu Nutze gemacht, und es wurde unter den Großen des Reichs vor einigen Jahren eine monopolisirte Gesellschaft zur Erzeugung dieser Kerzen gebildet. Da in Rußland der Adel der einzige auf europäische Weise gebildete Stand ist, so sind in neuerer Zeit auch fast alle geistigen Illustrationen der Nation aus ihm hervorgekommen. Fast alle Poeten, alle Musiker, Componisten und Schriftsteller Nußlands sind adeligen Geschlechts, und diejenigen, die es etwa nicht sind, finden doch keinen anderen Stand, dem sie sich anschließen könnten, als den Adel, dem sie sich daher auch ganz einverleiben, und unter dem sie verschwinden. Es wird interessant sein, dieß etwas genauer nachzuweisen. Das geringe Volk ist zwar in Nußland durchweg poetisch und musikalisch, und es sind höchst wahrscheinlich seit uralten Zeiten Dichter und Componisivn unter ihm gewesen, von denen die alten Nationallieder Die höheren Classen der Gesellschaft. 149 und Musiken herrühren, welche die Leute jetzt in Rußland singen. Allein an dem neueren Aufschwünge der Literatur und Poesie, zu dem der Impuls durch die Berührung mit Westeuropa gegeben wurde, hat das Volk hoch gar keinen Theil genommen. Fast alle neueren russischen Novellen» und Romanschreiber, Dichter und Prosaiker stammten aus dem Adel, so der russische Byron-Puschkin, so der russische Schiller-Shukowsky, so die Novellenschreiber Fürst Odo-jewsky, Graf Solohub, Bestuschew, so der Dramatiker Fürst Schokowskoy, so die Historiker Karamsin, Vutur-lin, Vludow, so die Liederdichter Fürst Wiesemsky, Graf Orlow, die mir eben in's Gedächtniß kommen, deren Liste ich aber noch sehr lang machen könnte. Selbst die meisten der wissenschaftlichen Manner Rußlands, der Gelehrten, Akademiker, Professoren, sind von adeliger Gebmt, und selten einmal fangen die cd-leren geistigen Funken Feuer in einer Seele aus dcn niederen Standen, eben weil der Adel der alleinige Stand des Reichs ist, dem alle Mittel zur Bildung offen stehen, und der allein einigermaßen vorbereitet ist für die Empfang-niß eines reineren Lichts. Eben so blühen die schönen Künste fast nur im Kreise des Adels. Die im Auslande bekannt gewordenen Musiker und Componisten, die Grafen Wielhorsky, der Herr von Lwoff, der Violinist Vachmetien, die Clavier-spielerin Volonilmv ?c. sind alle aus den höheren Kreisen, Hofleute, kaiserliche Flügeladjutanten, Söhne und Töchter von Reichsrathen. 1ÜV Die hdhertN Classen der Gesellschaft. Dasselbe ist der Fall mit den berühmten Bildhauern, Malern und Zeichnern, dem Grafen Tolstoi, dem Varon Clodt, dem Fürsten Gagarin, dem Fürsten Soltikow, dem General Saposchnikow, u. s. w. Viele vortreffliche Sänger und leidliche Maler, Bildhauer lc. gehen zwar auch aus den anderen Standen hervor, doch bleiben diese gewöhnlich in den alten Wegen, Welche die Kunst in Rußland seit Jahrhunderten wandelt, und werden in den Kirchen und bei den gewöhnlichen nationalen Unternehmungen angestellt. Und wo irgendwo ein außerordentliches plebejisches Talent auftaucht, da sind gleich die vornehmen Classen, die sich als die einzigen Depositare aller Bildung, alles Talentes und alles Genies betrachten, beflissen, dasselbe in ihre Kreise hinüberzuziehen, es für sich in Anspruch zu nehmen und es von der übrigen ungebildeten Maffe des Volks zu trennen. In Sachsen gab es bei Dresden einen Vauer, der sich durch Selbststudium zu einem tüchtigen Astronomen heranbildete und als solcher mit den bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit in Verbindung und Corre-spondenz trat, indem er nichtsdestoweniger dabei ein einfacher, seinen Acker bebauender Bauersmann blieb. So etwas ware in Rußland ganz unerhört. Die vornehmen Classen würden gleich auf einen solchen Bauern Jagd gemacht, ihn mit Orden bedeckt, zum Staatsrathe erhoben und seine Kinder in kaiserliche Erziehungsanstalten und Cadetten-Corps gesteckt haben. Wir haben in Deutschland, in Holland und in Die höheren Classen dcr Gesellschaft. 151 andcrm Ländern alte Familien, die seit Illl), 200 und Mchr Jahren ihr Geschäft vom Vater auf den Sohn vererbt haben und immer einfache, achtbare Kaufmannsfamilien geblieben sind. Eben so haben wir Familien vor. Gelehrten und Künstlern, in denen sich die Künste und Wissenschaften und sogar, wie es scheint, auch die Talente ein» heimisch machten, und bei denen immer der auSgezeich« nete gelehrte Vater sich wieder einen ausgezeichneten gelehrten Sohn heranzog. Wie viele Familien könnte man aus der holländischen Malerschule nennen, in denen Vater und Sohn ausgezeichnete Künstler waren. Wie viele Familien könnte man unter den deutschen Musikern und Gelchrtm anführen, wo Großvater, Vater und Sohn ausgezeichnete Komponisten lund Professoren waren. So etwas erisiirt in Nußland nicht. Was sind die Kinder des Geschichtschreibers Ka-ramst'n geworden, was die Söhne des Schriftstellers Nikolai, was die Nachkommen so unzählig vieler in Rußland aufgenommenen Talente und großer Geister, Gelehrten, Professoren, Akademiker, Schriftsteller, Philosophen? — Nichts Anderes als Offiziere, Kammerjunker, vornehme Herren. Da man das Talent bort sehr bald der Mühe überhebt, zu ringen und zu kämpfen, so erlischt eS natürlich sehr bald, und kommt nicht zur Fortpflanzung in dem Geschlechte. Ja es kommt nicht einmal im Individuum zur völligen Entwickelung, weil, so wie ein solches sich 152 Die höheren Classen der Gesellschaft. hervorthut, es eben so dem Adel zugerechnet wird und an dessen weltlichen Beschäftigungen und Zerstreuungen Theil nimmt. Der Fabeldichter Kruilow hat ausgezeichnete Fabeln geschrieben, die ihm Amt, Einnahme und hohe gesellige Stellung erwarben; nachdem er dieß Alles erlangt, schrieb er aber nichts Bedeutendes mehr. Der Maler Vruilow hat ein gutes Gemälde geliefert, die Zerstörung von Herculanum und Pompeji; aber seitdem er dadurch on voßlio gekommen, ist nichts Ausgezeichnetes mehr von ihm ausgegangen. Man könnte Hunderte von ausländischen und inlandischen Talenten anführen, die, so wie sie auf russischen Boden verpflanzt wurden, in ihrem Wachsthums zu stocken und zu stagniren begannen. Es ist mit ih« nen wie mit den in die Steppe verpflanzten Bäumen, die anfangs einen guten Trieb haben, aber bald zu kränkeln und abzusterben beginnen. Man hat gesagt, daß die Muse in Deutschland einsiedlerischer lebe als irgendwo. Daher bringt es aber auch diese Muse zu tüchtigen Werken. Man kann von Rußland sagen, baß dort die Musen geselliger leben uls irgendwo. Sie leben, so zu sagen, mitten im Strudel der Geselligkeit. Als Karamsin einmal einem auslandischen Diplomaten erzählte, er schreibe jetzt eine unparteiische Geschichte Rußlands, fragte ihn dieser bedenklich.' „Und Sie schreiben diese Geschichte am Hofe, mitten in der Gesellschaft der Großen?" Man kann von der Poesie Die höheren Classen der Gesellschaft. 153 von der Musik, von der Malerkunst, von der Gelehrsamkeit, von den Wissenschaften in Rußland sagen,-sie leben alle am Hofe und in der Gesellschaft der Großen. Da nur der Adel in Nußland mit der europäischen Welt in Verbindung steht, da nur er die Früchte unserer deutschen, französischen, englischen, italienischen Literatur genießt, da er der einzige Theil der Vevöl, kerung ist, der von den Bewegungen des Zeitgeistes Notiz nimmt und mit ihm einigermaßen fortschreitet, so folgt daraus auch, daß wir alle die Erscheinungen, welche der Zeitgeist bei uns in verschiedenen Standen hervorruft, in Nußland einzig und allein bei'm Adel restectirt sehen. 7, Giebt es Kommunisten in Rußland, so giebt »s deren bloß unter dem Adel. Liberale, konstitutionelle, Anti-despotisch-Gesmnte findet man fast nur unter dem Adel. Nur der Adel hat für seine Kinder deutsche, französische, englische und schweizerische Erzieher, nur er lernt die Sprachen des Occidents, nur er hat das Privilegium, das übrige Europa zu bereisen, nur «r kann die Journale, die verschiedenen Zeitschriften und die literarischen Products dieser Länder genießen. Nur er nimmt daher auch an allen unseren Vericrungm wi« an unseren Fortschritten Theil. In anderen Landern pflegt man die der bestehenden Ordnung der Dinge feindselig Gesinnten in der Regel mehr oder weniger nur unter den unteren Classen der Gesellschaft zu suchen. Der Kaiser von Rußland findet sie dagegen unter seinen Gardeoffizieren und 7" M< Di« hdheren Class«» der Gesellschaft. unter den Beamten seines Palastes und den Großen seines Hofes. Es giebt zwar Revolutionäre in allen Regionen der russischen Gesellschaft, es giebt rebellische Bauern, die gegen die Leibeigenschaft confpiriren, unter den Priestern gährt ein Geist der Opposition gegen das despotische Patriarchat des Kaisers, unter den niederen Beamten, den Emporkömmlingen, findet sich eine antl-aristokralische Tendenz gegen die alten mächtigen Bojaren. Allein diese Gährungen sind Rußland eigenthümlich und dort ziemlich alt. Bbe neuen liberalen Ideeen nach westeuropäischem Schnitte, dle bloß bei'm Aoel Eingang gefunden haben, haben fast nichts damit zu thun. Weil die liberalen Ideeen nicht im Volke wurzeln, sondern nur im Adel, so haben wir auch nur Hof-intriguen, Adelsverschwörungen und vdn Offizieren angestiftete Soldatm - Emeuten, dagegen aber kcine Revolutionen und Volksbewegungen gegen die Despoten in Rußland. Bei der Verschwörung und Erinorbunq Paul's waren junge Leute aus den ersten Familien des Landes thätig. Und auch die letzte Verschwörung unter Alexander, die gegen Nikolaus losbrach, war nur unter dem Adel verzweigt. Nie hat in Nußlattd eine Verschwörung unter den Kaufleuten oder Geistlichen oder unter den Bauern gegen den Kaiser eristivt. Alle freisinnigen Bücher, Bwchuren und Ioumal-artikel, welche in neuerer Zeit von eingeborenen Nüssen D« höheren Classen der Gesellschaft. 155 über Rußland publicirt wurden, sind nur von beuten aus großen Familien geschrieben. Wie in den politischen Angelegenheiten, so ist es auch in den religiösen. Während in anderen Landern, z. B. in England, der Adel die Hauptstütze der vatev ländischm Kirche und Religion ist, finden sich in Rußland nur unter dem Adel die Atheisten und Abtrünnigen. Die Jesuiten machten, als sie noch in Rußland waren, besonders unter dm höheren Classen Proftlyten. Von jeher hat es viele vornehme russische Damen und Herren gegeben, die zur katholischen Kirche übergetreten sind. Die, welche in Petersburg die herrnhutische Kirche ober andere protestantische Kirchen und Prediger besuchen, sind meistens aus den vornehmen Classen. Wir haben sogar in Amerika einen russischen Fürsten als Missionär herumreisen sehen. Mit einem Worte also, die vornehmen Classen sind in Rußland die vornehmsten Depositare aller Intelligenz des Landes, die vornehmsten Conbuctoren der geistigen Elektricität, welche dort einzudringen vermag, die einzigen Priester des Lichts, das in jenem Lande eristirt. In ihnen concentrin sich, so zu sagen, alle Macht, die bei uns in den verschiedenen Industrie-, Gelehrten- und Künstler-Classen vertheilt ist. Die aufmerksame Beobachtung des Geistes, der diese merkwürdige, in Europa so einflußreiche Menschenclasse beseelt, wird daher von um so größerem Interesse sein. küb Die hdheren Classen der Gesellschaft. Bei keinem Volke war die Bildung mehr ein abgerundetes Ganze, bei keinem umfaßte sie mehr den ganzen Menschen, Verstand, Herz und Leib, als bei den Griechen, deren Erziehungsplan sowohl die Gymnastik des Leibes als die des Geistes umfaßte. Bei keinem Volke dagegen scheint sie einseitiger zu sein und weniger den ganzen Menschen zu durchdringen als bei den Russen, bei denen Alles nur Verstandes? und Gedächtniß' werk ist, und bei denen Herz und Gemüth kaum mit in's Spiel kommen. Die Gymnastik des Leibes scheinen sie von ihrem Erziehungsplane fast ganz ausgeschlossen zu haben. Es ist, glaube ich, keine zweite gebildete Gesellschaft Europas zu finden, die in körperlicher Beziehung sich so verweichlicht und vernachläßigt, wie die vornehme russische Gesellschaft, und es spricht sich, scheint es mir, hierin ganz besonders eine Folge ihrer halbasiatischen Herkunft aus. Die höheren Classen aller asiatischen Völker sind träge, arbcitscheu, in LuxuS und Energielosigkeit ver* sunken. Die vornehmen russischen Classen ähneln ihnen darin außerordentlich. H, Die lebendigen, rührigen europaischen Völker zeigen im Gegensatze damit ihre größere Energie, nicht nur in einer größeren geistigen Reizbarkeit und Empfänglichkeit, sondern auch in einer weit größeren körperlichen Rührigkeit. Und dieses Bedürfniß nach, wie die Englander sagen, „Iimlil? oxonion" spricht sich bei diesen Völkern nicht nur da aus, wo Thätigkeit und körpcr- Die höheren Classen der Geftllschaft. 157 liche Bewegung und Gewandtheit nothwendig wird, wie bei den körperlichen Arbeiten, sondern auch da, wo diese gerade keine Nothwendigkeit ist, bei ihren vornehmen Ständen, die sich den gymnastischen Spielen und Uebungen eben so hingeben und sie mit eben solchem Eifer betreiben wie die geringeren Classen, welche ihre Mußestunden damit ausfüllen. Dieß gilt vorzüglich von den Engländern, welche hierin allen übrigen europäischen Nationen mit dem glänzendsten Beispiele vorangehen. Doch will ich hier den Russen nicht einmal dieses Beispiel vorhalten, sondern nur uns Deutsche citiren, bei denen, insbesondere was unsere höheren Classen betrifft, die Englander in der Regel eine sehr große körperliche Trägheit und Bequemlichkeit zu finden glauben. Von dm hiecher gehörigen, körperliche Gewandtheit vorzugsweise in Anspruch nehmenden Vergnügungen, Uebungen und Spielen ist es der Tanz, der unter allen Classen am meisten beliebt und geübt ist. Unser Nationaltanz, der Walzer, ist sogar ziemlich lebhaft, oft wild und stürmisch. Es giebt, glaube ich, kaum ein zweites Land in Europa, in welchem der Tanz ein so allgemein verbreitetes, den Körper ausbildendes Vergnügen wäre, wie in Deutschland. Alle Classen, die Bauern, die Bürger, der Adel, die Könige, tanzen bei uns leidenschaftlich, und selbst auf unseren Dörfern giebt es mehr Tanzvereine und Tanztage als in den Dörfern irgend eines anderen Landes. Eben so allgemein verbreitet sind bei uns die I'iß Die höheren Classen ber Gesellschaft. Freuden und die Uebungen der Jagd. Sie ist sogar hie und da fast das vornehmste Geschäft mancher Classen des Adels. Aber auch unsere Bürger und Bauern nehmen daran Theil, die letzteren zum Theil als Wild' diebe, die ersteren als Pachter ber dem Adel oder besonderen -Corporations« gehörenden IaMerechtigkeiten. Es giebt Provinzen bci uns, z. B. in Oesterreich, wo fast jeder Bewohner ein mehr oder weniger pafstonirter Jäger und Schuhe ist. Die mit der I.iqb zusammenhängenden Schießübungen :c. sind daher bei uns sehr verbreitet, und nian findet in allen Theilen Deutschlands volksthürn-liche Feste, bei denen solche Uebungen vorgenommen werden. Unsere höheren Stands bis zu unseren Fürsten und Königen lunauf nehmen an diesen Festen thät, igen Antheil. Die Gymnastik des Körpers ist aus unseren Schulen und Gymnasien nie völlig vernachlässigt, und namentlich in neuerer Zeit durch die Wiederbelebung der Turn» Übungen sehr gehoben worden. Auf unseren Universitäten wurde von jeher ge» fochten, gestoßen, geschossen, und alle Eoterieen der gebildeten Stande nahmen und nehmen an diesen Uebungen lebhaften Antheil. Sie fechten, stoßen, ringen, laufen und reiten um die Wette. Das Reiten ist so recht eigentlich eine deutsche Kunst. Deutsche Bereiter giebt es in den Armeeen aller Herren Länder, und viele Franzosen, Engländer, Russen lernen das Reiten von uns. Unsere höherm Die höheren Classm der Gesellschaft. 159 Gaffen sind der edlen Reitkunst von jeher eifrig ergehen gewesen. Es giebt Reitbahnen und Reitlehrer in allen unseren Städten, culf allen fürstlichen Schlöffern, und selbst auf den Landsitzen mancher Privaten. Wclchcs Edelmannes Kinder würden sich bei uns nicht schämen, wenn sie nicht von Jugend auf ein Pferd zu zügeln und zn leiten lernten. Sogar an den Höfen unserer Fürsten waren einmal körpnliche Uebungen von man» cherlei ?lrt sehr Mode. In Pillnitz bei Dresden und in manchen anderen Schlöffern beutscher Fürsten gab es zugerichtete Plätze für das „Paßspiel," „Vallonfpiel," „Kugelspiel." Das Kegslschiebcn ist bei uns eine körperliche Uebung aller Classen und Stände, und es ist so recht eigentlich p trieb sein mag als das Bedürfniß nach „!>"äil^ uxvnion." Ich konnte ohne Zweifel das Gemälde des Zustandes der Gymnastik und der Uebung des Körpers in Deutschland noch weiter und genauer ausführen. Allein es mag dieß zu unserem Zwecke genügen, und ich will diesem nun das Gemälde der körperlichen Ausbildung bei den höheren Classen Rußlands gegenübersetzen, um deutlicher zu zeigen, in welchen Grad von physischer Trägheit diese merkwürdige Mcnschenclasse versunken ist. «. Mir fällt dabei ein russischer Fürst ein, ein junger, übrigens scheinbar gewandter Mann, den ich selbst als geschickten Tänzer bewundert hatte. Mit diesem Fürsten ging ich einmal im freien Felde spazieren. Wir kamen an einen zwei Fuß breiten Steg, der über einen kleinen Bach führte. Ich ging ohne Weiteres hinüber, wie es übrigens bei uns jedes alte Weib gethan hätte, und verwunderte mich nicht wenig, als ich, mich umblickend, meinen Fürsten am anderen Ufer stehen sah. Als ich ihn nach der Ursache fragte, sagte er, etwas sauersüß lächelnd, cr wage nicht, hinüber zu gehen, er sei nie über solche Stege gegangen und fürchte, es werde ihm schwindelig werden, er habe nicht die geringste Valancir-fähigkeit und bitte mich, zurückzukommen und einen anderen Weg einzuschlagen. Ich mußte dieß thun. Ich erinnere mich ferner bei dieser Gelegenheit eines anderen vornehmen Russen, mit dem wir einmal spazieret» ritten, und der uns (wir waren außer ihm zwei deutsche, sehr wenig geschickte Reiter), als wir unsere Die höheren Classen der Gescllschaft. 161 Pferde etwas scharf ausgreifen ließen, um des Himmels willen bat, langsamer zu reiten, indem er hinzusetzte, er habe nie in der Eavalerie gedient und daher das Reiten nicht gelernt. Ich erinnere mich mit einem Worte noch so vieler anderer Russen, deren Ungeschicklichkeit in körperlichen Uebungen, die wir alle von Jugend auf gleichsam spielend und ohne besondere Veranstaltung erlernen, mich im höchsten Grade frappitte, selbst als ich noch nicht ahnte, daß ein großer Mangel an körperlicher Ausbildung und «ine gewaltige körperliche Indolenz ein charakteristischer Zug der vornehmen Russen sei. Vei der Harte des russischen Klimas sollte man denken, daß durchweg in Rußland ein großes Abhart-ungssystem gegen die Einflüsse des Wetters vorherrschend geworden sei. Man sollte denken, daß sie theils von selbst durch die Natur, welche sie bestandig einer Menge abhärtender Einflüsse aussetzt, darauf geführt worden waren, theils daß sie aus eigener Ueberlegung, um gegen die Natur im Falle der Noth gerüstet zu sein, dieses System ergrissen hatten. Allein der Erfolg ist gerade ein anderer gewesen. Nirgends schließt man sich angstlicher gegen alle äußeren Einflüsse ab als in Rußland. Man verklebt die Fenstef und das ganze Haus im Winter auf das Sorgfaltigste. Man verbanicadirt sich gegen diese Einflüsse mit doppelten und dreifachen Thüren und Fenstern. Man hüllt sich den größten Theil des Jahres in dicke Pelze und wattirte Kleider. Man sitzt den größten Theil des Tages in geheizten Zimmern und genießt weit 192 Die höheren Classen der Gesellschaft. seltener die frische Lllft und das Freie als irgendwo sonst. Die Kinder werden ängstlich in der Stubenluft zu Hause gehalten, selbst bei einem Kältegrade, wo jede deutsche oder englische Mutter nicht anstehen würde, ihre Kinder in's Freie zu schicken. Die Wagen sogar sind sorgfaltig mit Pelz verbrämt, und bei den kleinsten Reisen wird eine so große Masse von Kleidern, Pelzen, Mänteln und Tüchern mitgeschleppt, daß darin alles menschliche Leben zu ersticken droht. Die Wagen und Schlitten werden sogar mit Betten vollgestopft, und die Russen, kann man sagen, reisen fast nicht anders als in ihren Betten. Viele dieser Maßregeln mögen allerdings durch das Klima nöthig geworden sein. Allein durch die Nauhig-teit desselben veranlaßt, sind die Menschen dort in eine Aengstlichkeit hineingekommen, die alle Gränzen überschreitet. In Deutschland habe ich oft von den Müttern, die ihre Kinder doch nicht weniger lieben als die russischen, Ermahnungen wie diese gehört: „Kind, verwöhne dich nicht, ziehe dich nicht zu warm an, gehe hinaus in's Freie und tummele dich, damit du warm werdest. Heute hast du den Mantel nicht nöthig." Nie erinnere ich mich, von einer russischen Mutter eine solche Ermahnung, die eine Tendenz zur Abhärtung des KindeS andeutete, gehört- zu haben. Immer sind es nur Fragen der Besorgniß, ob auch die Kinder dick genug vermummt seien, die man dort vernimmt. Die Die höheren Classen der Gestllschaft. 163 russischen Mutter begreifen nicht, daß man die Kinder auch mit Affenliebe zu Tode hätscheln kann, und daß die beßte Liebe zuweilen in einer anscheinenden Härte besteht. Statt die Kinder auf eine vernünftige Art abzuhärten, verweichlicht man sie auf eine unglaubliche Weise. Je mehr schlechtes Wetter man in Nußland hat, je mehr Gelegenheit zur Abhärtung sich also böte und jemehr daher auch eine solche Abhärtung nöthig wäre, um so ängstlicher ist man, die Jugend vor den üblen Einflüssen der Atmosphäre zu bewahren und sie auf diese Weise für dieselben um so empfänglicher zu machen. In die heißen Dampfbader werden selbst die Kinder der Vornehmen schon frühzeitig gebracht. Die weit wohlthatigeren kalten Flußbäder sind in Nußland fast gar nicht Sitte, und Schwimmanstalten und Schwimmüb-UNgen giebt es fast in keiner russischen Stadt. Man kann doch wohl annehmen, daß unter 1W jungen Deutschen aus den höheren Ständen wenigstens die Hälfte schwimmen kann. Wl'nn man unter IW jungen Nüssen aus den höheren Standen 6 solche sucht, so wird man Mühe haben, sie zu finden. Den größten Contrast bilden die Ruffen auch in dieser Beziehung mit den vornehmen Gassen Englands, die ein wahres wohlthätiges Abhärtungssystem bei sich eingeführt haben. Sie lassen die ganz kleinen Kinder in luftigen Kleidern halb nackend herumspringen. Sie überladen sie auch später nie mtt Kleidern. Sie treiben sie in jedem Wetter hinaus. Sie lassen sie bei Zeiten alle mögliche körperliche Arbeiten und Ueb- 164 Die höheren Classen der Gesellschaft. ungen anstelle», sie lassen sie reiten, rudern, ringen, boxen. In ihren Häusern unterhalten sie beständig einen frischen Luftstrom, selbst mitten im Winter öffnen sie die Fenster. Pelze, wattirte Mäntel und Ueberröcke kennt man in ganz England nicht. England hat demzufolge eine gesunde, starke, muntere Aristokratie, die auch dem Staate etwas werth ist, während Rußland eine verweichlichte, üppige, krankliche Aristokratie hat, die dem Staate eine Last wird. Das romantische Zeitalter existirte nie für den russischen Adel, und alle solche Dinge, wie Waffenübungen, Tourniere, Spiele lc., waren daher in früheren Jahrhunderten in Rußland nie heimisch. Solche Impulse, die das Thun und Treiben unseres Adels daher vielleicht noch jetzt aus jener alten romantischen Zeit erhält, kann der russische nicht empfangen. Wurf-, Fecht-unb Schießübungen, wie sie bei uns existiren und wie sie unsere Jugend überall treibt, sind daher in Rußland ganz ungewöhnlich. Ja auch die Iagdvergnügen sind bei dem russischen Adel sehr selten. Die russischen Landedelleute finden bei Weitem nicht so viel Freude an der Jagd, wie viele Landedelleute unserer Provinzen, die ganze Tage lang dem Waidwerk obliegen. Daher stecken denn auch ihre Wälder immer voll von Wild aller möglichen Art, und es ist ihren sehr fahrlässigen Nimrods noch bis auf den heutigen Tag nicht gelungen, die Zahl der Bare und Wölfe auch nur in etwas zu beschranken. Di« hdheren Classen der Gesellschaft. 165 Die Jagd macht ihnen zu viel Mühe. Das Spazierengehen ist ihnen natürlich eben so lästig. Fast Niemand, der es irgend vermeiden kann, geht in Rußland zu Fuß. Man liebt nur solche Bewegungen von einem Orte zum anderen, wobei man seine Füße nicht anzustrengen braucht. Selbst die Bauern fahren zu Schlitten oder zu Wagen in hundert Fallen, in welchen unsere Bauern zu Fuße gehen würden. An hohen Festtagen, wo es in den deutschen Städten und in ihrer Nachbarschaft von zu Fuß in die Natur hinauspilgernder Bevölkerung wimmelt, findet in den russischen Städten nur eine sogenannte Guwnie statt, d. h., eine Art Spazierfahrt wie der Corso in Italien, wobei Alle, welche Equipagen haben, sich mit ihren Kindern unthätig in den Wagen legen und auf einem dazu bestimmten Felde oder einer Straße ruhig in langen Reihen neben einander herfahren. Wenn vornehme russische Gesellschaften hie und da auf ihren Landgütern sich einmal nach deutscher Weise zu Fuß aufmachen und Spaziergänge in die Nachbarschaft unternehmen, so kann man sicher sein, baß dieselben gewiß schon in hohem Grade gebildet und europäisier sein müssen. Von Seiten der Regierung sind zwar in den meisten russischen Haupt- und Gouvernementsstädten jetzt nach deutscher Weise öffentliche Gärten angelegt, aber diese Gärten stehen fast durchweg leer und werden nur selten von einem Spaziergänger benutzt. Fußreiscn sind unter den gebildeten Nüssen etwas Unerhörtes, während bei „ns doch kaum Einer zu finden 166 Die höheren Classen der Gesellschaft. ware, der in seinem Leben nicht einmal eine Fußreise gemacht hl'tte. Selbst unsere Könige machen Fußreisen, so wie auch nicht selten unsere Damen. Unter den ruf, fischen Damen würde man kaum eine finden, die dieß wagen würde. Allerdings ist außer der den Russen angeborenen Indolenz auch wohl die Reizlosigkeit ihrer Natur, der Mangel an guten Wirthshausern daran Schuld. Es giebt äußerst wenige, körperliche Gewandtheit erfordernde Spiele in Rußland. Im Ringen überwindet jeder deutsche Bauer, wie im Faustkampf jeder englische den Russen. Bogen- und Büchsen-Schießübungen, Kegelspiele und dergleichen kennen sie fast gar nicht. Wenn man liest, was Herodot von den alten Persern, von ihren Neit- und Schießübungen schreibt, wenn man von dem „Dscherridwerfen" bei der türkischen vornehmen Jugend und von vielen ahnlichen Dingen in Asien hört, so möchte man glauben, daß die Russen in Bezug auf körperliche Spiele und Uebungen selbst noch den asiatischen Nationen nachstehen und sie in Bezug auf Bequemlichkeit und Trägheit noch übertreffen. Es giebt natürlich Ausnahmen, z. B. in einigen Gegenden Nußlands Spiele auf dem Eise, wo mehre Parteien sich gegen einander herausfordern, und sogar die Bewohner ganzer Dorfschaften gegen einander zu Felde ziehen. Es giebt auch bei der russischen Bauer-jltgend einige Spiele, wo Schnelligkeit im Laufen erfordert wird. Aber dieser Ausnahmen sind sehr wenige. Im Ganzen genommen kann man annebmen, daß körperliche Indolenz und Umiusgebildechcit in Rußland allen Die höheren Classen der Gesellschaft. 167 Classen, den Vornehmen wie den Geringen auf gleiche Weise eigen ist. Es ist bemerkenswerth, daß ein Hang für frische, muntere, körperliche Bewegung und für Gymnastik den Nationen um so mehr eigen zu sein pflegt, je freier sie sind. In Griechenland war hie Gymnastik eine Kunst, welche fast nur von den höheren, edlen und freien Standen betrieben wurde. Eie war den Sclaven sogar hie und da untersagt. Je freier eine Nation ist, desto unruhiger und freier regt sie sich auch im Raume. Je sclavischer sie sich zeigt, desto träger und schlaffer wird sie, körperlich wie geistig. Die armen russischen, zur Arbeit getriebenen Leibeigenen verbrauchen alle ihre Körperkraft im Dienste eines Anderen. Sie behalten nicht genug davon übrig, um den Nest muthwillig in Spielen zu vergeuden. Sie freuen sich, wenn sie in den Stunden der Muße auf ihren Schaffellen ausgestreckt hinter dem Ofen ausruhen können. Wie die Geringen auf ihren Schaffellen, so liegen die Vornehmen Tage lang auf ihren Divans und pflegen sich. Ich sagte, nur eine solche Bewegung sei den Russen angenehm, bei der sie die eigenen MuSkeln nicht zu rühren brauchen, wie das Schlittenfahren, Kutschiren, Gnlairen, wie sie eS nennen, und vor allen Dingen das Schaukeln. Die schaukelnden Bewegungen sind fo ganz im Geschmacke der Russen und so rafsinirt und mannigfaltig von den Russen angewandt und ausgebildet, daß 168 Die hdheren Classen der Gesellschaft. man sie als im höchsten Grade charakteristisch und bemerkenswerth bezeichnen muß. Es giebt Schaukeln aller möglichen Art, wippende, schwankende, drehende, pendel-artig sich schwingende, bei jeder russischen Stadt, auf jedem russischen Landgute, sogar bei jedem einsam in der Steppe liegenden russischen Kruge. Die Hauptausnahme, welche man zu Gunsten der russischen Gymnastik machen muß, ist der Tanz. Er ist die einzige gymnastische Kunst, für welche die Russen aller St.wde eine allgemeine Vorliebe ent» wickelt zu haben scheinen. Er wird von den Geringen, wie von den Vornehmen mit Eifer betrieben. Der Tanz der Geringen ist so bunt, daß er in Wahrheit fast alle übrigen gymnastischen Künste ersetzen zu sollen scheint. Denn es werden bei ihm alle Muskeln des Körpers, sogar die Gesichtsmuskeln, in eine sonderbare Thätigkeit gesetzt. Ich habe russische Schafer einsam auf den Stcp» pm neben ihrer Hecrde, ich habe russische Soldaten, die von einem Marsche bei einer Station ankamen, eifrig tanzen sehen. In Petersburg beginnen die höheren Classen zuweilen den Tag mit miMneos clnn^inlos und beschließe» ihn mit »nii^es ckmsuntes. Zum Tanz sind alle Slaven wie geboren, und sie tanzen im Durchschnitt besser als alle Völker germanischen Stammes *). *> Die despotisch regierten Ruffm stchcn auch in dieser Hinsicht in einem merkwürdigen Gegensatze zu den freien Eng» Die höheren Classen der Gesellschaft. 169 Doch ist zu dieser Leidenschaft für den Tanz weniger die Lust zu körperlicher Bewegung Ursache als vielmehr eine ganze Menge anderer, dabei siimulirend Wirkender Umstände; der Tanz ist eine Art Mimik, eine Art Schauspiel, bei dem man brilliren kann, ohne all, zuviel Anstrengung, und das ist eben im Geschmacke der Russen. Es ist, als wenn die Russen von allen Dingen nur die Oberfläche haben wollten und als wenn überall das Reelle fehlen sollte. Wie in geistiger, so ist dieß auch in körperlicher Beziehung der Fall. Sie haben eine gewisse oberflächliche Gewandtheit bei innerer geistiger Unsolibitat, bei einem großen Mangel an scharfer Logik, an sinnreicher Erfindungsgabe und an tiefer Gemüthlichkeit. So haben sie auch eine gewisse körperliche Gewandtheit und Anstelligkeit, bei einer auffallenden körperlichen Unsolidi» tät und Energielosigkeit und bei einem großen Mangel an Ausbildung aller tüchtigen und brauchbaren gymnastischen Künste. Ich erinnere mich, daß, als ich in Rußland war, meinem Geiste immer die Idee vorschwebte, als müßten die Russen ganz anderes Blut und eine ganz andere innere Leibesbeschaffenheit als andere Nationen haben. Ich wunderte mich zuweilen, wenn ich bei einem Russen rothes warmes Vlut stießen sah. Ich dachte «ändern, welche die schlechtesten Tänzer Europas sind. Man erinnert sich auch der Negersklaven, die leidenschaftlich den Tanz lieben. Kohl. Petersburg, III. 8 170 Die höheren Classen der Gesellschaft. mir, sie müßten etwas Seifiges ober Oeliges in sich haben, und ihre Muskeln müßten schwammartig und ihre Knochen minder fest sein als bei anderen Menschen. Es schwebte mir immer der Unterschieb zwischen warmblütigen und kaltblütigen Thieren, zwischen Wesen mit rothem Blute und Geschöpfen mit weißer Lymphe vor. Obgleich dieß allerdings nur eine Abirrung meiner Phantasie war, so will ich es doch hier anführen, weil ich mehre Ausländer m Rußland gefunden habe, die an ähnlichen Träumen und Einbildungen litten, und weil die Träume und dle Geisteskrankheiten, die ein Land in uns anregt, eben so charakteristisch für dasselbe sind, wie überhaupt alle Sensationen, die es in uns erweckt. Die Nüssen kamen mit dem übrigen Europa zu einer Zeit in Berührung, als dort überall franzö« fische Sitten und französischer Geist dominirten, als der glänzendste König über Frankreich herrschte, und die ersten Geister und Talente Europas in Paris versam» melt waren. Deutschlands Bildung und sein Einfluß auf europäische Gesittung war damals nicht so bedeutend wie jetzt. Die Deutschen wurden selbst von Franzosen erzogen und ahmten Alles nach, was von den Tonan-gebern in Paris ihnen vorgemacht wurde. Die Sitten und Ansichten der Nüssen bildeten sich also unter den Aufpicien der Franzosen, der Die höheren Classen der Gesellschaft. 171 französischen Abbes, Gouverneure und Gouvernanten, die zu Tausenden in das Neich einwanderten und noch bis auf den heutigen Tag dahin einwandern, der französischen Ingenieure und Offiziere, welche Peter der Große und seine Nachfolger in's Land riefen, der französischen Schriftsteller und großen Geister, welche Katharina an ihren Hof lockte, der französischen Architekten, Maler und Tonkünstler, welchen man reichliche Beschäftigung und Nahrung gab. So wie der Zeitpunct der Blüthe ihrer Cultur, so führte auch ihre eigene Neigung die Nüssen den Franzosen in die Arme. Wie die Franzosen, haben die Russen einen Mangel an tiefem inneren Gemüthsleben. Wie sie, besitzen sie eine große Empfänglichkeit in Bezug auf äußere Politur und Glatte. Wie ble Franzosen, haben sie eine gewisse Schnelligkeit der Perception und eine gewisse bewegliche Intelligenz des Geistes, wie sie, sind sie Freunde des Wortspiels und des Witzes, und verbinden sie, wie alle Slaven, im Gegensahe zu den solideren Germanen, mit dieser inneren Anlage eine gewisse äußere Gewandtheit des körperlichen WesenS. Man hat sie daher mit Recht die Franzosen des Nordens genannt, jedoch nur in gewisser Hinsicht mit Recht. Denn im Grunde haben sle von dieser edlen Nation nichts als die äußere Hülle angenommen und mehr ihre Schwächen als ihre Tugenden sich angeeignet. Es ist vielleicht nicht unwichtig, wenn ich hier etwas naher zu bestimmen suche, in welchem Grade 3* 172 Die höheren Classen der Gesellschaft. französische Sitten, französische Literatur und französische Sprache in Rußland einheimisch geworden sind. Es ver» steht sich von selbst und ist bekannt genug, daß all« vornehmen Nüssen die französische Sprache eben so gut wie ihre eigene Sprache schon mit der Muttermilch einsaugen. Es giebt kein einigermaßen gebildetes HauS, in welchem nicht eine französische Gouvernante oder ein französischer Lehrer existirt, der den Kindern sein Idiom schon bei Zeiten beibringt. Eben so bekannt und sogar von Franzosen anerkannt ist es, daß die Russen in der Re-gel das Französische sehr gut und besser erlernen als irgend cme andere Nation, ihre Brüder, die Polen, ausgenommen. Ja sie haben diese Sprache sich dermaßen zu eigen gemacht, daß sie sogar, in den Geist derselben eingehend, ihren Sprachstoff weiter ausgebildet und sich für ihre Bedürfnisse zmccht gemacht haben. Es giebt eine Menge französischer Redensarten, die bloß in Petersburg zu Hause sind, und man konnte ein Lexikon von russisch-französischen Wörtern entwerfen. Es giebt viele französische Wendungen, die in Petersburg für Iinn FLnre gelten, nicht aber in Paris, und umgekehrt sind viele französische Wendungen, die in Frankreich für gut gelten, in Petersburg proscribilt. In den vornehmen Familien herrscht die französische Sprache dermaßen, daß das Russische als Um« q-mqssprach? zwischen Vater und Sohn, zwischen Ge» schwistern, Mischen Mann und Frau fast ganz ver^ bannt ist- Die Manner müssen zwar ihrer Aemter Die höheren Classen der Gesellschaft. 173 wegen immer mit dem Russischen vertraut bleiben, aber die Frauen vergessen oft ihre Muttersprache dermaßen, daß sie sich nicht nur schlecht darin ausdrücken, sondern auch z. B. gar nicht mehr im Stande sind, einen russischen Brief zu schreiben. Viele russische Damen, die in diese Verlegenheit kommen, müssen ihren Secretar, oder den russischen Lehrer ihrer Kinder mit der Abfassung eines solchen Briefes beauftragen. Die russische Mutter schmeichelt dem Kinde auf Französisch. Die einheimische, vaterlandische Sprache dient nur noch zum Verkehr mit den Bedienten, den Bauern und ihren Verwaltern und Aufsehern. Eine solche Entfremdung von der Muttersprache, eine solche Doppelzüngigkeit kann nicht anders als nach« theilig auf den Charakter des Individuums und des Volks einwirken. Manche rühmen sich sogar damit, daß sie kein Wort Russisch mehr verständen, Jeder schämt sich aber, der das Französische nicht versteht Auch findet man solche Leute nur im Inneren des Landes. Denn in Petersburg plappern selbst die russischen Kaufmannssöhne und Ladenschwengel „pu rrunxuski." /.! Indeß werden, glaube ich, die Russen, ihres Französischen wegen, und mehr, als sie es verdienen, gelobt. Denn, ganz frei von einem eigenthümlichen, ziehenden, weichlichen russischen Accent ist doch fast Keiner unter ihnen. In dem Inneren der Provinzen wird das Französische geradebrecht und mit Russischem, Polnischem, Lithauischem, Kleinrussischem, Kalmückischem vermischt, und 174 Die höheren Classen der Gesellschaft. fein gebildete Franzosen versichern, daß sie selbst bei den Gebildetsten in Petersburg wohl durchmerken könnten, von welcher Bildungsstufe die französischen Lehrer dieser Herren und Damen gewesen seien. Im Inneren findet man sogar etwas Opposition gegen das Französischlemen, in der Regel jedoch wohl nur bei alten Prouinzial-Pameschtschiks, die das Französische in ihrer Jugend nicht begreifen konnten, oder in ihrem Alter vergessen haben. Ich traf sogar einmal einen alten eigensinnigen Herrn, der nicht wollte, baß seine Kinder Französisch lernen sollten, wie man deren in Deutschland eine Menge findet. Das Französische ist den meisten vornehmen Russen so gelausig geworben, daß sie in der Regel in dieser Sprache schreiben, wenn sie irgend ein Buch, das nicht bloß für Rußland bestimmt ist, publiciren wollen. Manche haben sogar in dieser Sprache Dichtungen veröffentlicht. Nur in neuerer Zeit erst ist das Deutsche etwas mehr in Gebrauch gekommen, und es giebt jetzt vielleicht unter fünf Russen, die Französisch verstehen, auch einen, der Deutsch kann. Wahrscheinlich wird diese Sprache bei den immer häusigeren Verheirathungen russischer Fürsten und Fürstinnen mit deutschen Prinzen und Prinzessinnen noch mehr m Schwung kommen. Auch werden die Beziehungen Deutschlands zu Rußland, das jetzt im Osten unser nächster Nachbar ist, immer wichtiger, und für die Russen wird es immer mehr ein Bedürfniß, sich Die höheren Classen der Gesellschaft. 175 die Sprache eines Volkes anzueignen, bei dem sie so gern gut angeschrieben sein möchten und dessen öffentliche Meinung sie jetzt beständig durch eine Menge deutsch geschriebener Aufsätze und Schriften bearbeiten. Da die Deutschen fast überall in Rußland die Mehrzahl der Fremden bilden, so wird in den Fremdenkreisen oft bloß Deutsch gesprochen, und man kann genug Engländern lind Franzosen begegnen, die ihr gutes Deutsch nur in Petersburg oder einer anderen Stadt Nußlands gelernt haben. Der Geist der Nation bleibt indeß hauptsachlich nach Frankreich gewendet. Von französischen Büchern wird fast Alles in Rußland gelesen, Gutes und Schlechtes, doch ohne Zweifel wohl das Seichte und Fade mehr als das Edle und Schöne. Die an Offizieren so reiche russische Arm«, die zahlreichen, von der lärmenden Gesellschaft in Petersburg fatiguirten Damen, die in der Provinz lebenden, von ihrem ewigen Provmzcinerlei ge» langweilten Grundbesitzer, die nach einer Reizung ihres Appetits sich sehnen, verbrauchen natürlich von den gemeinen und faden Romanen eine große Menge. ES giebt daher französische Schriftsteller, die in Rußland berühmt sind und daselbst einen so großen Na-men haben, daß sie sich vielleicht selbst darüber wundern würden, wenn sie sich plötzlich einmal aus ihrer Pariser Obscuritat in's Innere von Rußland versetzt sehen sollten. Ich hörte z. V. in Rußland so außerordentlich viel von Paul de Kock, daß ich ihn für einen der 176 Die höheren Classen der Gesellschaft. ersten Autoren Frankreichs hielt, bis ich zufällig eine seiner Compositionen selbst zu Gesicht bekam, die mir nichts weniger als eine günstige Meinung von dem Ge» schmacke der Russen beibracht. Ich glaube gern, daß es viele Schriftsteller in Paris und Brüssel giebt, deren literarifche Products bloß auf Rußland berechnet sind. Es giebt zwar russische Damen und Herren, die alle französischen Classiker gelesen haben und die auch kein historisches Buch, das in Frankreich erscheint, un-gelesen lassen. Aber selbst der Geschmack dieser wird in der Regel dadurch so wenig veredelt, daß sie noch immer selbst für die seichten Products Paul oe Kock's empfänglich bleiben. Bei uns pflegt in denjenigen Gemüthern, die sich dem Classischen, dem Edlen und Höheren ergeben haben, die sanftlodernde Flamme eines edlen Enthusiasmus an» gefacht zu werden. Neben diesem Enthusiasmus pflegt sich dann zugleich ein Widerwille gegen das Gemeine, gegen das Triviale, gegen das Burleske, gegen daS Aergerliche und Unsittliche auszubilden. Bei den Russen scheint dieß nicht der Fall zu ein. Ihr Geschmack für dergleichen Dinge ist so lief bei ihnen eingewurzelt, daß selbst die Besseren ihn kaum überwinden. Das Problem, wie man an Racine und Moliöre, an Voltaire und Balzac, an Chateaubriand und Paul de Kock, an Montaigne und Alexander Dumas zu gleicher Zeit Geschmack finden und sich erbauen könne, ist nur >n Nußland gelöst. Es ist, als wenn die er» Die höheren Classen der Gesellschaft. 177 habenen und edlen Ioeeen der großen gottbegeisterten Männer keinen bleibenden und nachwirkenden Eindruck in der Seele der Russen zurückzulassen vermochten. Die Russen haben Geist genug, um das Spirituelle auch an den Schriftstellern und Denkern höherer Ordnung zu erkennen und zu schützen, aber sie haben nicht Innigkeit und liefe Gemüthlichkeit genug, um von dem Gemeinen in jenen trivialen Seelen sich abzuwenden. Der russische Enthusiasmus hat daher durchaus keine erwärmende, elektrisirende Kraft. Der Enthusias: mus der Franzosen und der Deutschen erhebt sich zu« weilen zu warmer Veredtsamkeit, der russische Enthusiasmus erzeugt höchstens eine lärmende Rebefertigkeit. Es scheint Einem immer etwas Hohles und Unwahres darin zu liegen. Der ärgste Feind des Enthusiasmus und der Begeisterung ist der Hang zur Spötterei und Karri» kirung, den die Russen im höchsten Grabe besitzen. Die Engländer besitzen ihn zwar auch, allein sie verbinden damit ein tiefes Gemüth und ein warmes Herz, und aus dieser Verbindung entsteht daher ihr launiger Humor. Bei den Nüssen dagegen steht diese Spottsucht ganz isolirt da, und sie ist daher kalt, bitter, ironisch, sarkastisch und frivol. Dieser Hang zur Ironie ist so national bei den Russen, daß ich keinen Russen ge« funden habe, der frei davon gewesen Ware. Ich glaubte anfangs, er hatte sich bloß bei den vornehmen Classen, in Folge ihrer französischen Bildung und mit Hilfe der französischen Sprache, einheimisch gemacht, allein 8** 178 Di« höheren Classen d«r Gesellschaft. ich fand ihn später selbst bei den gemeinen Leuten, bei den Leibeigenen wie bci den Freien. Man l>tt auch an den Negersclaven bemerkt, daß sie spottlustig sind, und vielleicht ist dieß zum Theil eine Folge der despotischen Negicrungsform des Volkes. Den Nüssen kommt cs dabei sehr zu Statten, daß sie nicht ohne das sind, was die Engländer „Pljcli purl»" und die Franzosen „In replu-lio psnmiNu" nennen. Auch dieß haden die Nüssen aller Stande in gleichem Maße. Ich bewunderte selbst oft die russischen Kinder und Bauern, wenn ich sah, wie richtig sie die Schwächen eines Men» schen erriethen, wie schnell sie ihn auf Fehlern zu ertappen und wie treffend sie seine Vevueen und Miß, griffe durch einen Witz zu strafen wußten. Ja, man kann sagen, die Nüssen haben eine wahre Leidenschaft für Wortspiele und Bonmots. In Petersburg giebt es immer eine Menge Leute, bis ihrer Promptitude in Bonmots wegen berühmt sind, und es cur« siren dcren fortwahrend neue und alte von Mund zu Mund. Die Russen haben einm unersättlichen Durst nach solchen VonmotS, und wenn irgendwo, so macht in der russischen Gesellschaft dcr Anekdotenkrämer sein Glück. Bei uns giebt es Leute, deren ganze Conversation, die ein Abdruck ihrer Denkweise ist, in einem Ergüsse von Bewunderung und von Gefühlen besteht. Unter den Nüssen fmdet man solch« Leute nicht. Bei ihnen besteht vielmehr die ganze Konversation in einem bestandigen Tirailleur-Feuer von witzelnden und spöttelnden Bemerkungen. Es wird Die höheren Massen der Gesellschaft. 179 Einem oft übi.'l und wehe dabei zu Muthe. Sie cr-hettern sich fast beständig auf Kosten Anderer. Die Russen schonen bei dieser ihrer Neigung zu spöttelnden Wortspielen selbst die edelsten Eigenschaften der Menschen nicht, und man erstaunt oft über die Frivolität, mit welcher bei ihnen, indem sie sich in ihrem Hange gehen lassen, die heiligsten Dinge behandelt werden. In keiner Gesellschaft sind mir so bittere, spitzige und scharfe Urtheile über Menschen, über besondere Individuen sowohl als über die Menschen im Allgemeinen, vorgekommen, wie in Rußland. „Der Mensch," sagte mir einmal ein russischer Staatsrath in Petersburg, „ist das schrecklichste, das grausamste und wildeste Thier auf der Welt. Man kann keinem Men-schen trauen. Alle sind Lügner und Betrüger und die hartherzigsten Egoisten." Ich erinnere mich in Petersburg eine Menge solcher trauriger Ansichten und Aussprüche über die Menschen gehört zu haben, und ich glaube, daß solche Meinungen und Lehren recht eigentlich dort zu Hause sind und Wurzel geschlagen haben. Weke dsm Volks, unter dem so melancholische Ansichten ga'ng und gebe sind! Denn, wenn es auch nicht wahr ist, daß der Mensch im Allgemeinen so sei, wie sie ihn schildern, so mögen doch ihre Ausdrücke auf viele von den bort einheimischen Menschen passen. Es herrscht dort kein Glaube an Edelmuth und Tugend. Mißtrauen, Mißachtung und Spott haben 18V Die höheren Classen der Gesellschaft. die Herrschaft. Und ohne Zweifel kann man das Ver« trauen, das die Leute zu einander haben, als einen Maßstab der unter ihnen herrschenden Tugend gebrauchen. Der Tugendhafte ist geneigt, auch an die Tu» gend Anderer zu glauben, der Böse aber mißtraut An« deren wie sich selbst. Wahrhaft herzzerschneibend und erschreckend sind die Urtheile, welche man in der russischen Gesellschaft die Leute bestandig über einander fallen hört. Fast nie hört man ein unbedingtes, offenes, herzliches Lob, und immer folgt dem Lobe sogleich bitterer Spott oder Tadel, der in so schneidendem Contraste mit eisterem steht, daß er es in der Regel mehr als aufhebt. „Ah, c'est unc femme charmante," ljeijjt e$ Wtl «in« £ame, bie eben bas? simmer D^rticp, „die est aimable comme un ange, et eile a rapj)urencu do lant de bonhommie. Mais — clle est mechanto, oh jc la connais, et elle menle, 0 qu'elle est mentcusc! c'est une horreur. Je pourrais vous en raconler des cho-ses inouies. Savez - vous ce qif elle a fait ä son mari, ce puuvre sou? Je vous dirai cela en secret etc." In einem kurzen Zeiträume ließ ein russischer Herr ein halbes Dutzend andere Leute auf diese Weise die Revue passiren. Von Einem sagte er: „11 est bon, uh! pour cela c'est vrai, il est menie trts-hon, inais il est b6te comme un' cheval." Soon einem linbtttn fyiefj eg; „II fait des cadcaux ä tout Ie mondc, — mais c'est un sou, je connais rien au mondc si ridicule, quo Die höheren Classen der Gesellschaft. 181, do depenscr son argent «. mmulilo," „1,urreuri" „incio^udlu," „inlllme," dieß sind lauter Worte, die man hundert Mal in's russische Lexi» kon setzen muß. Sie klingen Einem beständig und von allen Seiten in die Ohren. Es giebt kein Land, wo man sich so selten einer Liebe, einer Freundschaft, einer Begeisterung ohne Ne« serve hingiebt. Man ist stets bemüht, jedes gutes Ur» theil sogleich durch ein nachfolgendes schlechtes wieder auf» zuHeben. Man kann es nicht lassen, jedem Menschen ein Fuchsschwanzchen anzuhangen oder ihm eine Narrenkappe über die Ohren zu ziehen. In einem geistreichen französischen Werke über Ruß» land las ich einmal die Schilderung eines Maskenballes, den die vornehme Gesellschaft von Petersburg gegeben. ?luf diesem Maskenbälle erschienen viele mythologische Figuren, die Götter des griechischen Olymps vorstellend. Doch waren die Trager der Masken alle so ausgesucht, daß ihr Wesen und ihre Figur in möglichst großem Contraste mit dem Charakter der Rolle, die sie über» nommen hatten, stand. Hercules wurde von einer eleganten, zierlichen, kleinen Dame von diminutiven Pro» 182 Die höheren Classen der Gesellschaft. Portionen gespielt, die Rolle der V.'nus dagegen war einem herculisch gebauten, schielenden und häßlichen Herrn gegeben. Die Nolle deS olympischen Donnerers fiel einem gichtigen Und lahmen Seigneur zu; zur Minerva und Diana waren dicke und ungmziöse Damen ausgesucht, und das Ganze war so eingerichtet, daß Alles den komischesten Effect machte und die vornehmen Masken und Zuschauer Gelegenheit für ihre Lach- und Spottlust zur Genüge fanden. Dieß war ein Fest ganz im Geschmacke der vor« nehmen Russen, die namentlich über nichts lieber lachen als über körperliche Gebrechen. In welchem anderen Lande hatten sich nicht wenigstens die Krüppeligen, Haß» lichen, Lahmen und Verunstalteten geschämt, solche Rollen zu übernehmen, sollten sich auch wirklich spottlustig« Zuschauer genug gefunden haben. Ich weiß nichts, was die Penchants und Neigungen der russischen Vornehmen besser charakterisirt als die Schilderung dieses Festes. Im Kleinen werden be-ständig und in allen Familienkreisen ahnliche Fcste ge» geben. Man hat immer den Einen oder Anderen im Hause, der die du^o, dic dül« nni,-, oder der i'o>>, oder der mnl!ro äes plaisirs der Uebrigen ist. Die Russen haben immer Menschen um sicl', dle sie „ äötesliiklo, lillioul«, mlioux, lmi" finden; sie dulden sie, weil sie durch sie Gelegenheit haben, ihrer Spottlust Luft zu machen. In den englischen Hausern, wo man nichts Aehnliches der Art trifft, würde man solchen Leuten, die man nicht glaubt achten zu können, Die höheren Classm der Gesellschaft. 183 die Thür weisen. In Deutschland würde man irgend eine gute Seite an ihnen zu entdecken wissen und sich Mit ihnen ausgleichen. Der Hauptgegenstand der beständigen Kritiken und Spötteleien der Russen ist die äußere Erscheinung eines Menschen. Wie die Leute ihre Haare tragen, wie ihnen diese oder jene Kleider stehen, wie lacherlich sich Jemand in diesem oder jenem Costume ausnimmt, wie er auftritt, wie er sitzt, geht, steht, welche geschickte und ungeschickte Bewegungen er macht, das zu besprechen werden sie nie satt, und die Privatleute sind darin so unermüdlich, wie die Generale und Oberen in der Bemühung, nachzusehen, ob jeder Untergebene die richtige Uniform angelegt hat, ob er seinen Rock zugeknöpft wie es sich gehört, ob er den Bart und die Haare so verschnitten hat, wie es das Gesetz vorschreibt. Sie sind dabei in ihrem Lobe eben so undclicat wie in ihrem Tadel. „Coinme vous Öles supcrbc aujourd'hui," fflgte eine ttornefyme Stirne 511 ifym gmmbin mitteit in ciner ®e* feUfcfjaft üütt ^ecven, „ccs bouclcs vous vonl ä mer-vcillc. Rcslcz comnic cela, la lumitre do la lanipo vous lombe si bien sur lo front, cela vous donne un air de douceur admirable. Tenez, meltez vous coinmo cela- C'est ^a. Comnie 9a vous 6lcs inagnilinuo." Das junge Mädchen, wenn es eine deutsche Gesellschafterin ist, erröthet dabei ein Mal über das andere, und zuweilen hat sie auch über eine solche öffentliche und suns tnyan ausgesprochene Krltik zu er- 184 Die höheren Classen der Gesellschaft. rothen. Hat man dieß in Rußland eine Zeit lang mit angehört, so kommt es Einem vor, als zerfielen vor den Augen der Russen alle Menschen nur in drei Classcn, in Leute eommu il lmil, in Leute lres-eulm»« >l l'um und in Leute zxilnl llu tout oommo il suut. Man kann füglich aus diesem Penchant der Nation für Aeußerlichkeiten alle die unzahligen seit Pe» ter dem Großen in Rußland über Barte, Coijfuren, Kleider, Uniformen, Knöpfe, Litzen gegebenen Ukasen er« klären. Diese Ukasen sind acht nationalrussisch und nicht nur aus der Laune der Despoten, sondern auch aus dem Geiste der Nation hervorgegangen. Die Russen überlassen sich jetzt allgemein der schmeichlerischen Einbildung, daß sie die gefalligsten und beßten Sitten und Manieren von der Welt haben. Sie geben zwar zu, daß früher die angenehmsten und geist» reichsten Menschen Europas in Paris zu finden gewesen waren, behaupten aber, daß, seitdem dort die beiden Revolutionen allen eleganten Hauch und Duft weggeführt hätten, sie jetzt die einzigen Erben dieser gepriesenen französischen Eleganz geworden seien. Ich weiß nicht, was Diejenigen, welche Russen im Auslande gesehen haben, über diese Pratension den» ken mögen. Aber in Rußland selbst, dieß ist ausgemacht, unterschreiben Alle das Urtheil, welches einmal in meiner Gegenwart eine russische Dame über alle vor» nehmen Classen Europas, die sie die Revue passiren ließ, fällte: „II n'y a pas dc duule," fagtß ftc, „qae nous avons a present a Pelcrsburg les nioeurs lei Die höheren Classen der Gesellschaft. 185 plus agreablcs du niondc. Nos jcuncs gens ont la meilleure education, la meilleure tournure, plus d'ele-gance, plus d'esprit, plus dc modestie, plus de sa-voir vivre, quo partout ailleurs. Lcs Francois ne sont plus, ce qu'ils C-taicnt autrefois, Les Anglais out la tounmre do cochon; si un Anglais cnlre dans un salon, il ne sait pas ou laisser ses mains, que faire de ses jambes, il se saisit d'une chaise, et toinbe dessus comrae un boeuf. A Vicnne lcs femmes ä la cour font un bruit horrible, que Ton no pcut pas entendre son propre mot. Elles orient et clles s'appellent toujours avec leurs prenoms: „Lisl," „Nanny," „Fanny." Et les liommes a Vienne ont la tournure de cochcr. A Berlin on cst tout a fait bourgeois. Tout le monde a l'air bourg-eois. Ce n'est qu'ä Pclcrsbourg, qu'on voit de vrais liomme» de cour, ce n'est quo la, qu'il y a du grund monde." Ich muß beinahe die anderen Nationen um Verzeihung bitten, daß ich dieß Urtheil niederschrieb. Allein, indem ich die undelicaten Ausdrücke der in Frage stehenden russischen Dame beibehielt, wollte ich zugleich zeigen, wie 7,li'«m<;l,«m«iN" und „8lM8 resoi-vo" man sich ge« legentlich ausdrückt. Es giebt in dem Munde der vor« nehmen Damen in Rußland oft 'Ausdrücke, vor deren Franchise oder vielmehr, richtiger gesagt, vor deren Ge» memheit und Grobheit man erschrickt. Uebrigens ist es nicht bloß Petersburg, dessen Ma» nieren die Nüssen so hoch stellen. Auch die Leute in den Provinzen sind so außerordentlich mit ihren Sitten zu 136 Die höheren Classen der Gesellschaft. frieden, daß sie unter Umstanden ganz offenherzig ge« radehin zu erklären wagen, es gebe durchaus nichts Geistvolleres, Feineres und Besseres in der Welt, als was man bei ihnen finde, und nächstens werde man erkennen, daß die wahre Bildung jetzt von dem Westen Europas nach dem Osten übergegangen sei, so wie jetzt dort auch die größte politische Macht und der am beßten eingerichtete Staat zu finden sei. Ich will zwar gar nicht in Abrede stellen, baß es in Rußland viele höchst gebildete Frauenzimmer, höchst kenntmßreiche Manner gebe. In der That, ich habe russische Damen gesehen, die sich in Bezug auf die Menge ihrer Kenntnisse und Hinsicht' lich ihrer geistvollen Conversation mit den beßten französischen lomm«6 noromplieg messen konnten. Es giebt ihrer, welche bestandig alle neuen und alten Blüthen und Früchte der Literatur aller europaischen Nationen mit Eifer pflücken und genießen. Es giebt russische Mütter, die in der That AlleS aufwenden, um ihren Töchtern alle möglichen Künste und Wissenschaften Europas zu lehren, und an ihrer Erziehung nichts sparen. Es giebt alte Damen in Petersburg, die noch von ihrer Jugend hcr mit der ganzen römischen und griechischen Geschichte so vertraut sind, wie man es vielleicht bei manchem deutschen Gelehrten vergebens suchen würde. Es giebt eben so Manner, die alle neuen Erscheinungen der Literatur mit Eifer verfolgen, die in einzelnen Fächern der Wissenschaften sehr bewandert sind. Die vornehmen Leute dort haben sogar ihre Wissenschaft- Die höheren Classen dcr Gesellschaft. 187 lichen Steckenpferde und Manieen. Ich kannte z. B. einen russischen Fürsten, der auf alles Chinesische und Japanische Jagd machte und sich große Sammlungen in dieser Beziehung angelegt hatte; ich kannte einen Anderen, der ein großer Münzkenner und Münzsamm« ler war, einen Dritten, der sich mit den Antiquitäten und der Geschichte des alten bosporanischen Reichs so vertraut gemacht hatte, daß ihm jeder mit diesem Reiche in Verbindung stehende Umstand und jeder der wunderlichen, schwer zu erlernenden Königsnamen, die uns in den alten Schriften aufbewahrt sind, ganz geläufig war. Es gab von jeher seit Peter dem Großen in Ruß« land Manner, die Mäcene und Patrone der Wissem schaften genannt wurden, ja es hat Familien gegeben, wie z. 33. die Familie der StroganowS, die von jeher den Ruhm bewahrten, der Bildung, der Cultur und den Künsten Vorschub zu leisten. Dieß Alles sind Dinge, die sich fast von selbst verstehen. Es fehlt indeß den Russen durchweg das, was ihrer Bildung erst den wahren Werth gäbe, der rechte Eifer für Humanität, ein ernstes, innerliches Ergreifen der Kenntnisse. Es fehlt ihnen das, was den Kenntnissen erst Zusammenhang giebt, eine tüchtige Logik, ein combinirender Verstand. Es fehlt ihnen nicht an Witz und Intelligenz, allein ihr Geist ist mehr zersetzend als combmirend. Sie fassen leicht auf, aber sie verdauen schlecht. Es fehlt ihnen die tiefe Bast's des Gemüths, auf der die Kennt« nisse wurzeln und von der sie zu dem Feuer auffiam- 188 Die höheren Classen der Gesellschaft. men, das eine wahrhafte Läuterung und Humanisirung der Seele hervorbringen kann. Nur dann, wenn wir die Wissenschaften und die Kenntnisse, welche sie uns bieten, mit tiefem Gemüthe auffassen, wenn wir sinnige Ruhe und Innigkeit genug haben, um diese Kenntnisse wie Edelsteine von vielen Seiten zu betrachten, zu lieben und bei uns zu hegen und zu pflegen, nur dann sind sie im Stande, di« Seele zu befriedigen und zu beglücken. Bei den Nus» sen hat selbst die höchste Bildung nicht diesen schönen Erfolg. Die Russen sind keine rumimrenden Grübler wie die Deutschen. Diese sammeln Kenntnisse, um sie wie Blumen in ihren Garten zu versetzen und da weiter treiben und blühen zu lassen. Jene sammeln die Kennt» nifse wie Blumen, welche sie abschneiden, um sie in ihren Händen verblühen zu lassen. Sie häufen die Kennt« nisse in ihrem Inneren auf, wie die Orden und Vro» derieen ihrer Uniformen auf der Brust. Es scheint nichts mit ihrem Geiste verwachsen zu sein. Es ist daran der Mangel an Ernst und In» nigkeit, der der ganzen Nation eigen ist, schuld. Daher wird auch nicht nur bei den Vornehmen, sondern überhaupt in ganz Rußland der Reichthum an Kenntnissen höher geschätzt als Wissenschaftlichkeit und ihr Besitz höher angeschlagen als wissenschaftlicher Sinn und Fähigkeit. Daher in allen Schulen, in dem ganzen Erziehungs< system des Landes nicht sowohl eine Tendenz, durch den Unterricht bildend und humanisirend auf den Geist ein» Die höheren Classen der Gesellschaft. 189 zuwirken, als vielmehr dadurch in den Besitz einer Menge von Kenntnissen zu kommen, um sie aufweisen und aufzählen zu können. Daher diese hölzerne Weise der Examina in allen Branchen des russischen Schulwesens. Daher auch so wenige vornehme Russen, die durch ibre Bildung und ihre Kenntnisse nur um einen Gran glücklicher und befriedigter werden, als sie ohne dieselben sein würden. Daher diese beständige Leere, diese unerhörte Langweile, welche sie alle empfinden und die sie nicht auszufüllen im Stande sind. Die Langweile ist die schrecklichste Plage und eine der charakteristisch« sten Krankheiten, an welchen die vornehmen Classen Rußlands leiden. Goethe schon sagt zwar in seinem Götz von Berlichmgen: „O Langweile, du bist ärger als das kalte Fieber;" und es ist bekannt, daß auch in anderen Landern die vornehmen und muffigen Leute an diesem Fieber nicht wenig leiden. Allein ich glaube, daß diese Plage nirgends so arg wird als in Nußland, und hatte ein Ruffe oder eine Russin jenes Drama geschrieben, sie würden gewiß gesagt haben: „O Langweile, du bist ärger als Pest und Hölle!" Wenn wir am beßten zu sag-n wissen, was wir am tiefsten empfinden, so wird Niemand über Langweile piquanter und treffender zu schreiben wissen als eine vornehme Russin. Es lohnt sicb fast der Müde, daß die Westeuropaer das so oft unter Seufzern und mit zum Himmel aufgeschlagenen Augen ausgesprochene russische Wort, das den Russen so geläufig ist, kennen 19(1 Die höheren Classen der Gesellschaft. lernen. Es heißt: „ttkulsclmo!" (o, wie langweilig!) Es ist keine Frage, daß Jedem, der in Rußland gewesen ist und sich nur ein wenig um die russische Sprache bekümmert hat, dieses Wort unvergeßlich bleiben wird, denn er hat es tausend Mal von hundert Lippen vernommen. Es giebt Leute, die Alles amüsant finden und jeder Erscheinung Beifall zuklatschen, — dieß sind die glücklichsten Charaktere. Die Russen gehören zu der entgegengesetzten Claffe von Menschen. Sie amusiren sich «ine kleine Weile mit jeder neuen Sache bis zur Rage, dann werden sie ihrer überdrüssig und finden sie langweilig. Sie lesen ein geistreiches Vuch und zwar eine Zeit lang mit Interesse, weil sie Geist genug haben, es zu verstehen, allein sie haben nicht Innigkeit genug, sich darin zu vertiefen, sich den Ideeen desselben mit Enthusiasmus hinzugeben. Sie sind daher bald davon gesättigt, werfen es weg und rufen' „klik skulsclmo!" (o, wie langweilig!). Sie greifen zur Harfe oder setzen sich an's Piano, sie spielen ein paar Melodieen, denn sie haben Talent zur Musik und in ihrer Jugend Unterricht im Clavier-, Harfen- und Guitarrenspiel, sowie im Singen genossen. Aber ihre Finger erlahmen bald auf den Tasten, „kuk »lliilsolmo!" rufen sie und werfen sich in ihrer Morgentoilette auf ben Divan. Sie lassen sich eine Broderie, die sie begonnen haben, bringen und nahen ein paar Stiche, oder sie holen das Gemälde hervor, das sie vor 6 Tagen begannen, Die höheren Elassm der Gesellschaft. 19l denn sie haben in ihrer Jugend gelernt, auf Papier, Sammet, GlaS und Porzellan zu malen. Aber sie finden auch dieß bald skulsclmn und geben die Arbeit auf. Eine so von Langweile geplagte Dame risquirt fast, sich dem Tode in die Arme zu werfen, und sie würde es thun, wenn nicht der junge Fürst R. oder der General V. sich melden ließe, den sie mit offenen Armen empfangt, um von ihm Neuigkeiten und Anekdötchen zu hören, über die sie so kreischend lacht, daß man fürchtet, sie möchte Krampfe bekommen. Ist aber dieser Fürst nicht unerschöpflich anekdotenreich, so risquirt auch u'on min^u «n ^Ilmnnß-n«," hörte ich sie oft sagen), am sechsten, und siebenten Orte finden sie wieder etwas Anderes worüber sie sich ärgern. Ueberall hangen sie sich an das Unvortheilhafte. Selten erfreuen sie sich an dem wahrhaft Schö-- nen. „Gewiß," sagt Goethe zu einem Vornehmen, „Du bist aus einem hohen Haus, denn du siehst so unzufrieden aus." Man ist oft versucht, dieß auf die Gesichter der Russen anzuwenden, die sich bei uns zeigen. Es sind in der Regel finstere, kalte, unzufriedene Physiognomieen, denen man es ansieht, daß. Kohl, P,tll«bulg. III. 9 194 Die höheren Classen der Gesellschaft. sie mehr Aerger als Freude an uns haben. Es ist «ln Wunder, wie ein solches eisiges Wesen eine ganze Nation so durchdringen kann, daß alle Individuen sich ln dieser Hinsicht wie Zwillingspaare gleichen. '«ä ^ Militärisches. Rußland als Staatsgebaude ist der militärischeste Staat m ganz Europa, und doch scheint das Volk das friedlichst gestimmte von der Wett zu sein. Es ist von allen den 359,099 Quadratmeilen Landes, welche der russische Scepter beschattet, kein Fleckchen Landes, das nicht durch die Flinte des Moskowiten oder die Pike des Kosaken erobert ware. Oesterreich ist durch freiwillige Wahl der Volker und durch seine Erbschaften groß geworden. Selbst Preußen hat Manches von seinem Terrain durch Erbschaft erlangt. Rußland aber wurde nie von irgend einem Volksstamme freiwillig als Oberhaupt anerkannt und hat nichts irgend einem Testamente oder einer Heirath zu danken. Vielmehr haben seine Soldaten jeden Strich ihm mit ihrem Schweiß und Blute sauer erworben. Und doch forscht man bei'm Volke vergebens nach den Quellen dieses staunenswerthen 9* 196 Militärisches. kriegerischen Drängens und Treibens, dieser unersättlichen Eroberungssucht. Der Staat selbst ist ganz auf militärischem Fuße eingerichtet. Der Stand, welcher ihn begründete und schuf, ist der höchstgestellte, der vorzugsweise geachtete. Die Toga ist geringer geschätzt, und nur wcr zuvor das Kriegskleid trug, mag auch im Frieden dem Staate ehrenvoll dienen. Nur auf dem Schlachtfelde oder bei den Nevueen sind die hohen Ehrenposten des Civilstandes zu verdienen, dessen verschiedene Rangstufen nur nach dem allgcmcmen Maß-siabc, nach dem Thermometer der milita>ischcn Ehren abgemessen werden. Nur wer das Schwert führte, lvird als ein voller Bürger des Staats angesehen, und alle Bemühungen im Studirzimmer oder auf der Rednerbühne, mit der Feder oder auf dem Katheder sind vergebens verschwendet auf der Bahn zu dem russischen Tempel des Nuhmes, welche die blanke Uniform gewandt und schnell emporklimmt. Und doch ist sotvvhl bei dem ächtrussischen Volke, als auch bei einigen der dem russischen Scepter unterworfenen nichtrussischen Stamme kaum eine Spur von Liebe zu kriegerischen Thaten, kaum eine angeborene Achtung vor militärischen Ehren zu finden. Bei uns in Deutschland schleppen sich sogar die bleichen Schneider und die friedlichen Kaufleute, Nadel und Feder bei Seite legend, mit dem Gewehr, in ihren National« und Communalgarden, in ihrem Landsturm und ihren Vürgerwehren. Und seit uralten Zeiten eristirten bei uns solche Institute, in denen der Bürger und der Bauer Militärisches. 197 mit den Kriegsinstrumenten verkehrten. Bei den Russen findet sich kaum eine Spur von solchen, im Volke selber wurzelnden militärischen Einrichtungen. In Frankreich ist der kriegerische Geist bei allen Leuten zu Hause, und jedes Herz suhlt sich bei der Erzählung der glorreichen Thaten der vaterländischen?lr-meeen gerührt, bewegt und geehrt, und jeder Arm zu ähnlichen Thaten angetrieben. In Rußland nichts wenige«: als das. Kein Bauer, kein Bürger scheint ehrgeizig Theil zu nehmen an den Siegen der Armeeen des Landes, und doch geht das Werk seinen eigenen Gang weiter. Man scheint die Thatenlust, den Nuhmesdurst, die Ehr- und Wassenliebe dort gar nicht zu kennen, und doch treten die Sohne dieser kriegsunlustigen Väter ein Volk nach dem anderen nieder. Der gemeine russische Mann Hort mit Schrecken die blutigen Begebenheiten des Krieges erzählen, bei denen der gemeine Franzose vor Lust und Theilnahme schaudert. Die Perser, die Araber, die Türken, die Amauten, die Griechen und viele andere Völker der griechischen Halbinsel gehen täglich mit Waffen um. Der Kaufmann, der Handwerker, sogar oft der Hirt und der Ackerbauer, sie alle tragen Waffen. In Italien und Spanien giebt es Dolche und andere lebensgefährliche Gerathschaften, mit denen mitten im Frieden manch blutiges Werk des Krieges verübt wirb. Bei den Bewohnern Rußlands, die alle vor dem Blutvergießen eine merkwürdige Scheu zeigen, kann man keine Waffe nennen, die als gewöhnliches Handwerkszeug sich in die Umfriedung beS stillen Bürger- i-W Militärisches/ Hauses eingeschlichen hatte. Die Kosaken selbst, die kriegerischesten Stämme aller Russen, greifen lieber mit der Peitsche an als mit der blanken Waffe. Und sogar die Hirten in ganz Rußland sind nur mit Stäben gegen die Wölfe bewaffnet, während die Weingartenwächter in Süddeutschland ihre 'geschliffenen Hellebarden und ihre Flinten gegen die Menschen führen. Dic Nation hat einen tiefbegründeten Abscheu vor Blutvergießen. Wenn bei den Prügeleien der gemeinen Leute Einem nur die Nase blutet, so schreit gleich Alles Zeter. Ich sah einen Russen, den ein Deutscher im Zorn zu Voden geschlagen hatte. Er bewegte sich noch ziemlich frisch; so wie er aber Blut an sich bemerkte, siel er zusammen und versicherte stöhnend mit schwacher Stimme, daß der Deutsche ihn todt geschlagen habe und daß er kein Glied ohne Schmerzen zu regen im Stande sei. Auch das ganze umstehende russische Publicum klagte den Deutschen auf Mord an, bis endlich der Arzt, der mit seinen bitteren und gefürch-teten Arzneien kam, den Erschlagenen bewog, Reißaus zu nehmen. "^ ' Unsere deutsche Jugend übt ihren Körper im Geer-'schwingen, im Turnen und in allerlei gymnastischen Spielen. Fechtmeister giebt es bei uns überall, und die Musenfreunde führen auf den Universitäten den Degen und Säbel so fleißig wie die Feder. Die Engländer haben das Boxen, die Spanier die Dolchkämpfe, die Alpenbewohner das „Ringen" und „Raufen," die tragen Türken sogar das Djerrid-Werfen. Militärisches. 19V Von dem Allen, von Gymnastik, Faustkampfen Kampfspielen, ist kaum eine Spur in Rußland. Alle Spiele der Russen sind von der friedlichsten Natur. Auf Gesang, Tanz, Musik reducirt sich Alles, wie bei den Hirten Arkadiens. Keiner, dem es nicht befohlen, nimmt zum Scherz und zur Uebung irgend eine Waffe in die Hand. Es ist, als wenn diesem friedlichen Volke jeder Keim zur Entwickelung der Kriegslust mit der Wurzel ausgerisscn wäre. Sämmtliche übrige europäische Nationen erscheinen blutdürstig gegen sie und grausam. — Wenn der Englander nicht selber boxt oder in den Kampf zieht, so hetzt er Hahne an einander oder nährt sogar in den kleinen Wachteln Muth und Streitlust. Der Spanier sieht mit Entzücken den Stierkampfen zu, und der Deutsche hatte wenigstens ehemals Wolfs- und Bärenhetzen. Die Russen haben und hatten aber nie irgend eine Art von Thierkämpfen, die ganz und gar in Widerspruch stehen würden mit ihrer mitleidigen Weise. Wenn wir die Hahne sich beißen lassen, so füttern die Russen dagegen die Tauben, die sie heilig halten und in Liedern besingen. Es giebt in der russischen Literatur eine unzählige Menge von Liedern, welche an die „kinoi 60-Iul)t8clnk" stlauen Taubchen) gerichtet sind. Slnd wir leidenschaftliche Liebhaber der Hundebeißereien swenn sich bei uns zwei Hunde beißen, so bildet sich bald ein Kreis lustig erregter Zuschauer um sie herum, wahrend man in Rußland die Erbosten zu besänftigen sucht), s5 sind die Russen leidenschaftliche Liebhaber von Singvögeln, hie sie in Menge halten und ernähren, ja 200 Mlitärisches. die sie oft aus einen, noch uneigennützigeren Antriebe nur aufkaufe!», um sie in Freiheit zu setzen. Nicht selten sieht man reicho Leute auf den Vögelmarkten der russischen Städte erscheinen und ganze Partiem gefangener Vögel aufkaufen, um sie davonfliegen zu lassen. Kurz die Russen scheinen nur Handelsleute, Hirten und Ackerbauer zu sein und nichts weniger als Krieger. Wie mit den Russen, so ist es, mit Ausnahme einiger räuberischer Nomaden, mit den meisten anderen Volksstammen, welche sie beherrschen und aus denen sie ihre Armeeen verstärken, »— insbesondere mit den Letten und Lithauern, deren Nationallieder fast nur von jungfräulichen Mädchen gedichtet zu sein scheinen, sowie auch mit den sinnischen Stammen, die fast durchweg schüchterne und friedfertige Leute sind. Und doch gährt es in diesen scheinbar so ruhigen Massen so wild, daß schon seit zwei Jahrhunderten der Kanonendonner nicht aufgehört hat zu dröhnen. Und doch stehen diese Friedfertigen im Feuer der Schlacht (auf Commando) wie Säulen. Und doch ist in diesem Lande der Kaufleute und Hirten kein Stand höher gestellt als der des Soldaten. R e c r u t e n. Nichts zeigt mehr die Abneigung des gemeinen -russischen Mannes gegen das Kriegshandwerk als die herzbetrübenden Scenen, welche sich bei dem Ausheren der Recruten ereignen. „ Sie wollen Soldaten aus- Militärisches. 201 heben" — ist immer ein Schreckenswort, welches halb Rußland in Angst und Trauer stürzt. Wenn der Ar» mee eine solche Aushebung nöthig geworben ist, so erscheint darüber ein Ukas, welcher im ganzen Reiche publicirt wird, obgleich er nur für einen Theil desselben gilt. Denn alle Gouvernements deS Reichs sind in mehre große Massen geschieden, von denen abwechselnd bald die eine, bald die andere die Recmten-Aushebung trifft. Zuweilen wird aber auch eine Aushebung «n> ganzen Reiche angeordnet. Mitunter werden hie und da einige Gouvernements, die durch eine Hungers-noth, Epidemie oder sonst auf irgend eine Weise große Verluste erlitten, ausgenommen, indem man ihnen die Recruten creditirt oder ganz erlaßt. Die Necruten-aushebungen drücken natürlich den Bauer," der lieber zu Hause bleibt, eben so sehr wie den Adel, der nicht gern seine Arbeiter mißt. Daher werden auch meistens in dem Ausschreibungs-Ukase einige entschuldigende Worte gesagt über die Ursachen, welche schon wieder eine neue Werbung verursachten. Der kaukasische Krieg, heißt es, hatte viele Soldaten gefressen, oder die Lücken, die der türkische Krieg und seine Krankheiten gemacht, seien noch' nicht wieder gefüllt, oder andere Umstände machten die Aushebung nöthig. Eine kleine Sonderbarkeit ist es, daß die Anzahl der zu stellenden Recruten m'cht nach Hunderten oder Tausenden, sondern nach Fünfhunderten bestimmt wird. Gewöhnlich heißt es: von 500 mannlichen Seelen zwei; aber zuweilen werden von 500 auch 3, 4—6 gefordert. 9" 202 Militärisches. Diese Zahlen sind immer ein Schrecken für die Pa-mefchtschiks, denen sie „Arbeiter," „Seelen," d. h. Vermögen entziehen. Es giebt Gutsbesitzer, die bei einer Recrutenaushebung von einem Procent 4W—590, ja ja bis 1W0 Seelen auf ein Mal stellen muffen, unt» die Demioolvs, Scheremeliews u. f. w. haben ganze Regimenter ihrer eigenen Leute unter der russischen Armee. Da ein abgegebener Recrut für die Herren auf ewig verloren ist, weil er als Soldat des Staates Eigenthum wird und nach Beendigung seines Dienstes mit der ihm oft sehr unerwünschten Freiheit von aller Art Leibeigenschaft beschenkt wird, so ist cs natürlich, daß die große» Recruten-Aushebungen von jenen Herren mit etwas scheelen Augen betrachtet werden. Ist nun der die Anzahl der zu stellenden Soldaten und den Tag der Aushebung bestimmende Ukas erschienen, so kommen Oberofsiziere in die Gouvernements-Städte. Die Gutsherrschaften, die Stadtgemeinden, die Iudenschaften, die Handwerkerzünfte, die Zigeuner-Communen, die Priester-Collegien, kurz alle Commu-mn und Stande, welche Recruten zu liefern haben, — einzig und allein der Adel*) ist davon ausgenommen — muffen alsdann die zu stellenden Recruten an die Bureaux dieser außerordentlichen Militarcommis-sionen abliefern und zwar immer einige über die be- 5) In den deutschen Provinzen auch die Literaten, Pre-iiger, Advocatm u. s. w>, in den russischen aber diese nur dann, wcnn sie sich durch Studium ober Dienst einen Adels-?ang erworben haben. Militärisches. 203 stimmte Anzahl, weil Kranke' und Untüchtige barunter fein könnten. Früher hing es überall in Rußland von der Willkür des Herrn ab, welche von seinen Leuten er als Recruten abgeben wollte. Er bestimmte gewöhnlich dazu Faule, Säufer und Taugenichtse, die ihm auf seinen. Gute unnütz waren und deren er so gut als möglich mit List und Gewalt habhaft zu werden suchte. In einigen Theilen des Reichs kommen jetzt die Bauern auf dem Schlöffe des Gutsherrn zusammen und loosen. Doch auch selbst hier ist das Glück in der Regel gar nicht blind, und recht gescheit wissen die Loose den Taugenichts herauszufinden, dessen sich die Gutsherrschast zu entledigen wünscht. Die Amtleute und Oekonome« spielen dabei eine große Rolle und bringen nicht selten ihre Drohung: „Watte, du Schelm, ich will dich unter die Recruten bringen," in Erfüllung. — Es giebt allerdings gewisse Ausnahmen. Der einzige Sohn darf einem Vater nicht genommen werden, der Vater nicht seinen drei Kindern. Zwei Kinder schützen noch nicht. Daher suchen sich dle Vauerburschen auch früh zu ver-heirathen und viele Kinder zu zeugen. Auch ist Jeder frei, der bereits zwei Brüder im Dienste hat. Doch sind, wie man sieht, diese Ausnahmen sehr wenig liberal, vielmehr äußerst knapp und geizig zugemessen; dazu laßt man sie nicht einmal immer gelten und sie sind daher leicht übersprungene Barrieren. Der verheiratheten Manner , die ihren Familien für ewig entrissen wurden, dienen so viele in der russischen Armee, daß z. V. alle 204 Militärisches. Hökerweiber, die zahlreichen Brot- und Sauerkohlverkäuferinnen auf den Markten der Provinzstadte lauter solche Soldaten-Strohwittwen sind. Bei dem Einfangen der Recruten, der sogenannten Recrutenjagd, passirten ehemals und passiren auch noch jetzt, wo die Loosung noch nicht an ihre Stelle getreten ist, die unangenehmsten Vorfalle. Die jungen Leute, welche sich bedroht und auserwahlt glauben, fliehen m die Wildnisse, verstecken sich in entfernten Dörfern bei ihren Verwandten, rotten sich zusammen mid vertheidigen sich gegen die auf sie Abgeschickten, die 5—6 Mann hoch mit Stricken und Knüppeln heranziehen und die Delinquenten, wenn es ihnen gelingt, sie zu fangen, binden und wie Verbrecher abführen. ^ Es ist merkwürdig, daß den Leuten, welche im Namen des Kaisers aufgefordert werden, sich als Necntten zu stellen, kein großes Verbrechen daraus gemacht wird, wenn sie sich vertheidigen. Freilich ist es auch natürlich, denn eben weil ihre Pflicht dazu mehr willkürlich als durch ein Alle treffendes Gesetz begrünbet ist, so hangt Alles von Glück und Schlauheit ab. In einem Steppendorfe Südrllßlands kannte ich drei sehr starke und allgemein gefürchtete Brüder, die sich schon bei fünf Recrutirungen glücklich durch die Werber durchgeschlagen hatten. Der Eine von ihnen hatte bei einem Kampfe mit einem Flintenkolben den einen Werber niedergestreckt und dem anderen beide Arme zerschlagen, und obgleich dieß allgemein bekannt war, ging er doch ungestraft wie die anderen Bauern umher. Es ist freilich in einigen Militärisches. 205 Theilen von Oesterreich, namentlich in Ungarn, auch nicht anders, und in England bei der Matrosenpreffe ereignen sich eben solche Dinge. Die Loosung gewahrt ebenfalls einen traurigen Anblick. Das russische Reich ist ein Reich ohne Ende und Gränze, nnd der Dienst, früher 25 Jahre wahrend, dauert nach neueren Bestimmungen 20 und in einigen Fallen 15 Jahre. Der, den das Loos trifft, hat eben so gut die Aussicht nach dem Kaukasus als an die chinesische Gränze beordert zu werden, 1WU Meilen von seinem heimathlichen Boden entfernt. Es giebt hundert Gelegenheiten, innerhalb der 2l1 oder 15 Jahre des Dienstes umzukommen, und unter 20 Müttern, die ihre Söhne zur Loosung begleiten, mag kaum eine die Hoffnung hegen, ihr Kind wiederzusehen. Eine solche Trennung ist also eine Trennung auf ewig, ein Lossagen von Allem, was dem Armen in der Kindheit und Jugend durch Gewohnheit lieb und werth wurde. Unsere Soldatm in den kleinen Königreichen bleiben immer unter Landsleuten, können leicht zu den Ihrigen zurückkommen, führen selten Kriege, unterliegen keiner so harten Disciplin und können das Ende des Dienstes leicht absehen. Der arme russische Recrut aber wird mitten aus seinen Heerden und Ackergerathschaften mit allen seinen Wurzeln dem heimathlichen Boden entrissen und auf einen Standpunct versetzt, von wo alle Aussichten trübe und trostlos sind, und nirgends erblickt er das Ende seiner Leiben. Besonders betrübt und herzzerreißend sind die Sce- 206 Militärisches. nen bei den Recruten'Aushebungm unter denjenigen Völkern, die nicht national-russisch sind, unter den Tataren, Finnen, Esthen, Letten, bei denen die „Kazappen" und „Krehwos" (tatarische und lettische Namen für die Russen), die doch immer den Hauptstamm der Armee ausmachen, sehr gefürchtet sind, auch schon um deßwillen, weil sie ihre Sprache nicht verstehen. In den Ostsee-Provinzen gerath dann immer die ganzc Bevölkerung in Bewegung. Die Bauern machen zuweilen Aufstände, die aber leicht unterdrückt werden. Die Gebildeten sprechen betrübt über die unangenehme Angelegenheit, und man wagt in dieser Zeit kaum ein vergnügtes Gesicht zu machen, da man so viele Leute um sich her weinen steht. Die Mütter, Väter, Schwestern und Brüder begleiten die jungen Burschen zur Commissionsstube, kni.'en und liegen schluchzend, weinend und betend auf den Fluren und Treppen und vor den Thüren und Thoren umher, wahrend jene vor dem rothen Tische era-minirt werden und in den Loosetopf greifen. Die meisten der jungen Leute selber sind so von Furcht und drückender Angst ergriffen, daß sie nicht wissen, was sie thun, und daß sie besinnungslos ihre Nummer ziehen, die, wenn sie sich fatal erweist, auch bei ihnen einen unversiegbaren Strom von Thränen hervorbrechen läßt. Wenn wir in unseren Zeitungen lesen: „Die russische Regierung hat eine neue Recrutirung ausgeschrieben," so können wir mit Sicherheit darauf rechnen, baß bloß in Rußland in dieser Zeit so viele Thränen ver- Militärisches. W gössen werden als im ganzen übrigen Europa zusammengenommen, wobei freilich auch zu bemerken ist, daß der russische Bauer immer viel mehr und leichter weint als der unsrige. Es bleibt den armen Leuten dann nur noch die einzige Hoffnung, daß ihr Sohn oder Bruder vielleicht wegen irgend eines körperlichen Fehlers nicht angenommen werde. Ist er aber ein hübscher, großer, sirer Bursche, so übersteigt ihre Trauer alle Gränzen. Wie eS früher bei uns geschehen, fügen sich die Bedrohten freiwillig allerlei Verstümmelungen zu, hauen sich die Finger ab, schlagen sich die Zahne aus u. s. w. Doch hilft dieß auch nicht mehr, da, wenn die Verstümmelung entdeckt wird, noch schlimmere Strafen erfolgen. Manche Aeltern nehmen in ihrer Angst zu allerlei Verstellungen und Fictionen ihre Zuflucht, weil sie hoffen, daß der gestrenge Regimentschef und sein Arzt sich tauschen lassen könnten. So sah ich einmal in einer kleinrussischen Stadt dem Treiben beim ,, lrij8ll6l>t>v<5nm^l müslu" (Stadthaus) zu, wo eben Recruten angenommen wurden. Ein großes Volksgedrange umschwärmte das Haus, ich sah aber nur traurige Gesichter darunter. Zuweilen kam «in alter, narbiger Soldat aus der Thüre hervor, der einzige unverwüstlich Heitere in der Gesellschaft, und holte von den Bauern einen nach dem anderen herein. Drinnen mußten sie sich nackt ausziehen und ihren ganzen Körper ausmefsen und untersuchen lassen. Einige sprangen im bloßen Hemde fröhlich wieder hervor und wurden von ihren Schwestern und Müttern mic fteudigen Küssen überhäuft, denn sie waren irgend einer Ursache wegen freigesprochen worden. Die meisten aber schlichen langsam und betrübt und mit geschorenem Kopfe hervor und setzten sich schluchzend, halb nackt wie sie waren, in den Schnee und schienen der Welt gänzlich entsagen zu wollen. Die Verwandten jammerten laut auf, streckten die Hände gen Himmel und schrieen in die Luft: „Ach! sie haben uns unseren Bruder genommen! Unseren lieben, leiblich eingeborenen Bruder haben sie uns genommen! Weh«! Wehe'." — Unter den vlelen Herzukommenden bemerkte ich auch einen Schlitten, dessen Begleit« unq mir auffiel. Ein Mann und ein kleiner Knabe gingen neben den beiden Ochsen her, die den Schlitten zogen, und eS folgten ilmen ein Greis, ein Klein-russe mit langem, weißen Barte, und eine jüngere Frau. In den» Schlitten lag ein junger Mensch ron 2(> Jahren, tief in Betten und Stroh verpackt und anscheinend von Krankheit, jedenfalls von Schmerz, völlig gebrochen. — „Ist denn Euer Sohn kranN" fragte ich die Frau, als sie scheu in weiter Entfernung von dem Stadthause an der Ecke der Straße hielten. „Ach ja, Herr, trank ist er, durch und durch krank. Sie werden ihn nicht zu den Soldaten nehmen können." ^- Indessen kamen die Werber an den Schlitten heran und rüttelten den langen und ziemlich siren Burschen auf, der die Krankheit nur schlecht singirte. Die Mutter schrie anfangs ängstlich dazwischen: „Ach, das ist mein Sohn, und er ist krank!" und sagte, man muffe ihn vorsichtig tragen. Aber w.is hörten die Soldatm darauf. Sie Militärisches. 209 ließen ihn hinauf marfchiren, und die Mutter, der Vater, der kleine Bruder und der Großvater folgten schluchzend und im Trauerzuge hinterdrein, als wenn sie ihn schon zu Grabe brachten. — Die Untersuchung der Recruten dauert sehr lange, denn ihre Größe wird gemessen, ihre Brust und ihr ganzer körperlicher Zustand untersucht, auch ihr geistiger einigermaßen examinirt, und Alles zu Protokoll gebracht. Die armen Necrnten nehmen bei dieser Untersuchung solche herzerbarmende Leidensmienen an, als sollten sie an's Kreuz geschlagen werden. Haben sie das gehörige Maß und auch die sonstigen Erfordernisse eines guten Soldaten, so werden ihnen die Haare abgeschoren, welche Operation das schließliche und unwiderrufliche Zeichen ist, daß sie der militärischen Zucht anheim gefallen sind. Der Offizier, der Alles gut befunden hat, übergiebt sie dem Haarschneider mit dem Worte: ,,l" den armen Geangsteten in's Herz, die nun alle Friedenspforten hinter sich geschlossen sehen. Es wurde mir sogar erzahlt, daß ein Re-crut bei dem Worte „w!»" uor Schreck todt niedergefallen sei, und es mag wohl bei jeder Recrutirung Mehren auf diese Weise das Herz brechen. Ich hatte lange unter dem betrübten, hier oben aber ganz stillen Gedränge der Vater und Mütter zugebracht, und manchen ihrer Söhne nach Elle, Zoll und Linie in allen Dimensionen ausmessen und manches Haar unter der Scheere des Haarschneiders, dessen Schnitt hier eben so 210 Militärisches. weh thut wie der der Parze, fallen sehen, bis ich endlich wieder hinunter kam auf die Straße, wo ich meine Gruppe von Großvater, Vater, Mutter und Vuben wiederfand. Ihr zwanzigjähriger Sohn und Bruder war von dem Offizier gesund und tauglich befunden und für den Dienst der Armee in Beschlag genommen worden. Die Mutter fand ich laut schreiend und beständig eine Mengs mir unverstandlicher Klageworte ausstoßend nach der Melodie eines alten russischen Kirchengesanges, in derselben Art wie die russischen Weiber halb schreiend, halb singend ihr« Todten in den Kirchen betrauern. Ihr Geschrei tönte laut über den ganzen öffentlichen Platz hin. Der Vater wies die Mutter mit einigen besänftigenden, ernsten Worten zurecht, obgleich auch ihm dabei die Thränen aus den Augen stürzten. Der kleine Jungs schluchzte beständig, während er die Ochsen anschirrte und das nun leere Krankenbett im Schlitten zu einem Sitze für den Großvater zusammenwarf. Der greis« Großvater stand still und stumm dabei, auf seinen Stab gelehnt und mit nassem Auge vor sich hin blickend. Ich wandt« mich an diesen und fragte: „Haben si« denn Eueren Sohn doch genommen?" - „Ja, sie haben ihn genommen, Herr! i n^et wlii^usko^lt, i^ot nuiiiusk^ul," (und sie geben ihn nicht wieder heraus). — „'Wol! »l««sm!" (Siehe da, das sind mir Thränen!) sagte zu mir ein dicker russischer Kaufmann, der mit mir theilnehmend die betrübte Scene betrachtete. — „Ach! was weint Ihr!" schrie der alte benarbte Soldat, der überall thätig war, dazwischen, „was heult ihr Alle, Ihr Nar» Militärisches. 211 ren! Ihr seid dumme Bauern. Wenn Euer Sohn erst in des Kaisers Dienst steht, da wird er ein rechter Mann sein! Ja, wenn die „ci.lopzul" (Burschen) erst die grüne Uniform anhaben, dann hören sie bald auf zu weinen, und laßt sie einmal erst den „^lluw^nnil;" (Sold) kosten; der schmeckt ihnen süß. Dann leben sie sidel und vergessen bald Vater, Mutter, Heimath und Haus. Ihr dummen Leute, glaubt Ihr denn nicht, daß dem Kaiser Soldaten nöthig sind, daß sie Euch selbst und Eueren Nachbarn nöthig sind, um unseres Rußlands Gränzen zu vertheidigen. Platz' gemacht! Da kommen neue Recruten heran. Heran! ihr Burschen! — Hierher'." — Die armen betrübten Leidtragenden hatten sich indeß in Bewegung gesetzt, die Mutter und der Großvater saßen im Schlitten, der Vater trieb die Ochsen, und der kleine Bruder trippelte hinter ihm her, und so fuhren sie unter den lautschallenden Klageliedern der Mutter und unter dem Schluchzen der Uebrigen davon, so traurig und niedergeschlagen, als hatten sie ihren Sohn lebendig begraben. Wenn man solche Scenen — die beschriebene ist nur eine von Tausenden ^^ mit angesehen hat, so bleibt es Einem völlig unbegreiflich, wie einige Fremde der russischen Nation alle zarte Liebe für ihre Nächsten und Verwandten absprechen können. Nach Allem, was ich darüber erfahren, kann ich nur glauben, daß die Russen in diesem Puncte eben so tieffühlend sind, wie irgend eine Nation der Welt. Es kommen täglich die stärksten Beweise von der innigsten und dauerndsten Vater« 212 Militärisches. und Kindesliebe vor. Nicht selten werden die Soldaten noch nach langen Jahren so vom Heimweh ergriffen, daß sie sich zum Besuche ihrer Verwandten Urlaub erbitten. Ja selbst nach dem langen 25jahrigen Dienste wandern sie noch nach ihrer fernen Heimath zurück und suchen ihre alten verkümmerten Mütterchen und die anderen etwaigen Ueberreste ihrer Verwandtschaft auf. — Wenn ein Armeecorps neue Cantonnirungen bezieht, so erscheinen alsbald viele Bauern und Bürgersleute, Brüder und Väter der Soldaten, welche die Ihrigen in den (5ompagmeen aufsuchen. Ja oft kommen nus sehr entlegenen Provinzen Greise nach Petersburg und Moskau, um das Angesicht ihrer geliebten Sohne die in den Residenzstädten in Garniso» stehen, einmal wiederzusehen. Der Soldat. Es giebt schwerlich eine Armee in der Welt, die so viele Soldaten verbraucht wie die russische. Denn weder im Kriege noch im Frieden geht man in Rußland mit dem Leben der Menschen sparsam um. Die außerordentlichen Anstrengungen, denen die Soldaten unterworfen werden, die harten Marsche, die sie bestandig in dem großen Reiche machen müssen, die harten Strafen, welche sie zu erdulden haben, die schmale Kost, die ihnen ge» reicht wird, und tausend andere Dinge kürzen ihr Leben bedeutend ab. Daher bedürfen die 5l)t),0W Mann regelmäßiger Truppen, welche Rußland auf den Beinen haben mag, Militärisches. 213 um sich bei Vollzähligkeit zu erhalten, immer vielleicht zwei Mal so viel Rentten, als die Armeeen anderer Staaten. Man sagt, daß in früheren Zeiten nur zwei Drittel der angeworbenen Recruten wirklich in die Linie eingereiht worden waren, weil das übrige Drittel unterwegs und wahrend der dreimonatlichen Dauer des Re-crutenstandes auf verschiedene Weise um's Leben gekommen wäre. Die ganz veränderte Kost und Kleidung, schon das Kahlscheerm des früher dick und warm behaarten Kopfes, das Einsperren in voll gepfropfte Ca-sernen, in denen sich die Krankheiten leicht mittheilten, insbesondere aber die so höchst betrübte und melancholische Stimmung der Recruten, die sie für alle Krank-heitsstoffe empfanglicher machte, dazu die harte Behandlung, die sie von ihren neuen Oberen, den alten, abgeharteten Unteroffizieren, erdulden mußten, mögen die Hauptursachen jener großen Sterblichkeit gewesen sein. Jetzt ist vielen Uebelstanden abgeholfen, und es mögen jene Schrecken erregenden Angaben nun wohl keine Geltung mehr haben. Indessen bleibt doch der Noth für die Recruten wie für die Soldaten noch immer genug, und man sagt wohl nicht zu viel, wenn man behauptet, daß es keinen härteren Dienst in Europa gebe als den russischen. Seine Harte ist sowohl in den physischen Eigenschaften des Landes als in den moralischen seiner Bevölkerung begründet. Die großen Dimensionen des Reichs machen eine Menge Marsche nöthig, die bei den so 214 ' Militärisches. häufigen Dislocations der russischen Truppen um so zahlreicher werden. Wie Alles in Rußland in steter Bewegung ist, so sind auch die Truppen auf unaufhörlichen Hin- und Hermarschen begriffen. Sie h.i-ben dabei einen höchst kärglichen Sold, —- der gemein« Linien-Infanterist erhalt etwa 12 Papier-Rubel jährlich, so daß eine Million Soldaten in Rußland an Sold nicht viel mehr kosten als 3 Millionen preußische Thaler, — eine äußerst kurgliche Kost, gewöhnlich schlechtes Commisbrot und sehr knappe Portionen Grütze. Nur bei sehr seltenen Gelegenheiten, z. B. vor einer Schlacht, nach einer gut ausgefallenen Revue u. s. w., erhalten sie eine kleine, in ihrem harten Lande so angenehme und oft so nöthige Remuneration an Branntwein. An Tabakrauchen, Schnupfen und andere dergleichen kleine Kummertröster und Sorgenbrecher dürfen sie kaum denken. Denn ihr lacherlich kärglicher Sold ist keincswcges allein etwa i>uur In i,onn« Iimioliu, sondern davon muffen sie noch die Kreide, das Wachs und die Wichse zum Putzen ihrer Waffen und des Lederwerks, ferner eine Bürste, einen Kamm, Nahnadeln , Zwirn und noch andere Kleinigkeiten unterhalten. Außerdem aber wird ihnen unter anderen Titeln gleich vorab einen Theil ihres Soldes abgezogen, so daß ihnen kaum so viel bleibt, wie ein Bettler leicht in einem Nachmittage verdient, nämlich etwa 7^ Rubel Papier ober ungefähr 2 preußische Thaler. In Petersburg, wo der Soldaten so viele auf einem Haufen sind und wo sie daher, trotz aller Us-. Militärisches. 215 vueen, viel Zeit übrig haben, machen sie sich neben ihrem geringen Solde allerlei anderen Verdienst und werden auch von Denen, die Gewalt über sie haben, zu tausenderlei Geschäften gebraucht. Sie scheinen wahre Proteus zu sein, und so sieht man sie denn als Diener, als Kinderaufseher, als Botenläufer, als Thürsteher und Portiers in den öffentlichen Bibliotheken, Börsen, Clubs u. s. w., heute schwarz verkappt als Fackelträger bei den Begräbnissen, morgen bunt ausstafsirt als Hochzeitbitter. Die gewöhnliche Aushilfe in Petersburg sind die Soldaten. Sie selber arbeiten für sich in den müssigen Stunden bald als Schuster, bald als Schneider. Auch kommen sie auf allerlei Erfindungen, schnitzeln Holzwaaren und compo-niren eine Menge kleiner, oft recht artiger Spielsachen, Mühlen, Wagelchen, Hauserchen, Schiffe für Kinder, mit denen sie sich beständig in den Straßen von Petersburg herumschleppen. Trotz ihres ohmdieß schon so unsäglich langen Dienstes wird ihnen selbst nach Verlauf desselben noch oft der Abschied vorenthalten. Ich traf einst einen alten Soldaten unter dem Gewehr auf der Wache, in seinen grauen Pelz gehüllt. Er sagte mir, er sei 67 Jahre alt und schon 1810, wo er Zimmermann gewesen, zu den Soldaten genommen worden. Er habe schon seit lange seinen Abschied verlangt. „Meine Papiere sind längst bei'm Obersten, aber der Abschied kommt nicht heraus. Wenn ich bei'm Obersten klagen und bitten will, so laßt mich der Capitän auf die Bank hinstrecken, und 216 Militärisches. so muß ich schweigen. Meinen Sold bekomme ich auch nicht, und nicht einmal baden kann ich mich." (Das Dampfbad ist bekanntlich den Russen ein so hoher Genuß wie das Branntweintrinken,) Das äußere Ansehen der russischen Soldaten kann dem Allen nach nichts weniger als blühend und frisch fein. Die mancherlei Entbehrungen, die sie zu erdulden haben, sind nur allzudeutlich auf ihren abgemagerten und gebleichten Wangen zu lesen, und es ist, als sahe man ein ganz anderes Geschlecht von Menschen, wenn man sie mit dem oft recht wohlh^bigen, munteren, gesunden Aussehen der russischen Bauerburschen vergleicht. Man kann sich, wenn man sich eine Zeit lang an den Anblick dieser bekümmerten Soldaten-Physiognomieen gewöhnt hat, nicht genug an den frischen und munteren Gesichtern unserer Militärs erfreuen. Es ist ein mitleibenswerther Anblick, diese armen Leute auf dem Marsche zu sehen, wo sie sich, wie der römische Soldat, mit schweren Lasten im tiefen Schnee ober im Staube oder Koche schleppen, und oft nichts IlndereS zu trinken haben als das Waffer der Teiche oder geschmolzenen Schnee, in welchem sie die paar trockenen Brotkrumen erweichen, die sie sorgfaltig in Papier gewickelt in der Tasche tragen. (Ich habe dieß Alles nut eigenen Augen gesehen.) Man kann überzeugt sein, daß alle Noth, welche Alexander's des Großen Soldaten in Beludjistan und Napoleon's Heere im Smolenskischen erduldeten, sich täglich in Nußland bei den gewöhnlichen friedlichen Märschen der Trup- Militärisches. 217 pen wiederholt, und daß, wenn es nicht Russen waren, die so etwas ertragen müßten, die wenigsten heil und gesund davon kommen würden. Wenn sie nicht Russen wären, so würden sie der Last ihrer Trübsale unterliegen. So aber gehört nur wenig dazu, um sie ihre Leiden vergessen zu machen. -Mildthätige russische Gutsbesitzer tractiren zuweilen die ihr Gut , passirenden Soldaten mit einer Kleinigkeit, Es wird Jedem ein Glas Schnaps, ein Stück Brot und ein Käse oder Hering gespendet, welchen Imbiß sie auf dem Gehöfte des Gutes verzehren. Kaum haben sie ihre drückende Last von sich geworfen, kaum fühlen sie die regenerirende Kraft von Trank und Speise im Blute, so verbreitet sich Heiterkeit auf allen Gesichtern. Es bilden sich Gruppen, die zu Ehren ihres freigebigen Wirthes wilde, aber schöne Kriegslieder singen, oder ihre National-Tänze aufführen. Sie vergessen völlig des Marsches, den sie gemacht, und des Weges, der noch für den Abend übrig bleibt, bis endlich das Commando - Wort des Capitans ihrer Ausgelassenheit ein Ende macht. Alle greifen zu den Waffen, stellen sich willig in die alte Ordnung, und mit weitschallenden Marschliedern marschiren sie ab. Viel hilft dem russischen Soldaten bei Ertragung aller Leiden sein religiöser Glaube. Der Fatalismus macht ihn seinen Feinden nicht weniger gefährlich, als ehemals die Türken der ihrige. — Jeder Soldat hat seine Amulete und Heiligenbilder auf der Brust hangen. Mit ihnen glaubt er sich ganz in Gottes Hand qe-Kohl, Pe«.rslurg III. 1l> 218 Militärisches. gegeben, und jede Kugel empfangt er dann als vom Himmel gesendet. Jedes Regiment hat seinen Proto-popen (Obsrpopen), jedes Bataillon seinen Popen, seine Diatschoks und Kirchendiener, und jede Compagnie ihre Heiligenbilder, so wie ihre Heiligen. Wenn die Sol« daten im Quartiere liegen, reist daher der Pope immer mit einem ganzen Wagen voll Kisten, in denen die Heiligenbilder der verschiedenen Compagnieen enthalten sind, von einem ihrer verschiedenen Standquartiere zum anderen, um ihnen das Abendmahl zu reichen, welches sie sehr oft nehmen. — Auch sonst werden die Soldaten alle Tage im Gottesdienst ebenso pünctlich geübt, wie im Kriegsdienst; z. V. werden jeden Morgen alle Wachen zum Gebete herausgetrommelt. Sie treten unter's Gewehr. Der Unteroffizier betet laut vor, und die Soldaten beten mit entblößtem Kopfe still nach. Dasselbe geschieht des Abends. Uebrigens haben die Priester selber in der Armee durchaus keinerlei Ansehen und Gewalt, wie dieß bei den römischen Auguren der Fall war. Die Disciplin in der russischen Armee ist unerbittlich streng, so daß ein russischer Soldat — wie ein solcher mir einmal selbst versicherte — nie einen sorgenfreien Augenblick hat. „Wir kommen uns zu jeder Zeit," sagte er, „wie schwere Verbrecher vor, und wenn man auch nichts gethan hat, erscheint man vor dem Angesichte seines Offiziers, so glaubt man doch ein armer Sünder zu sein." — Der Stock, den sie in jedem Augenblick zu fürchten haben, schwebt ihnen, wie Militärisches. ^Vsh das Schwert des Damocles, über dem Rücken. Bei den Römern war es eine Weinrebengerte, bei den Russen ist es eine Haselruthe. — Ein russischer Soldat seinem Offizier gegenüber ist das merkwürdigste Schauspiel von Subordination und Furcht auf der einen Seite und von gebieterischem Herrscherwesen auf der anderen, welches man haben kann. Der Offizier spricht nichts als lauter scharf betonte Gebote, der Soldat nichts als das zweisilbige Wort: „sluiscwi!" sich gehorche!) das hinter jeder Redensart des Offiziers hertönt. „.In-nn!" — Iwan marschirt herbei und steht wie elne Bildsäule, die Beine zusammengeschloffen, die Arme am Leibe, den Blick unverwandt auf die Augen des Offiziers geheftet. — „Iwan! nimm diesen Brief" — „8lu!8onu!" — „und trage ihn zum Obersten," — „swisolm!" — „sei aber flink" — „8lm-sein,!" — „und komm in einer Stunde wieder." — „8I„i8o!,u!" — „Hörst du, flink, rasch!" — „Slui-8olm!" — „Kommst du nicht in einer Stunde, so bekommst du bei meiner Seele 25 Stockprügel!" — ,,8Imscliu.'"--------Großer Gott, es ist nicht zu sagen, welche Menge unanständiger, unartiger, respectwidriger Sitten und Manieren ein russischer Offizier an unseren deutschen (oder gar an den französischen) Soldaten entdeckt, wenn er sie ihren Offizieren gegenüber sieht. Die russischen Soldaten sehen ihre Offiziere so hoch über sich, daß sie ihnen sogar eine gewisse Art von vergötternden Ehrenbezeigungen zu Theil werden 10* 220 Militärisches. lassen. Wenn sie einem von ihnen begegnen, so müssen sie nicht nur den Hut ziehen, sondern sogar stehen bleiben und Front machen. In den Straßen, wo alle Augenblicke ein Federbusch vorüberrauscht, kommen sie daher nur langsam weiter, weil sie alle 10 Schritte einmal Front zu machen haben. So bestehen alle Lebenswege und Handlungen dieser armen Leute aus nichts als Frontmachen und anderen Respectsbezeigungen und Selbsterniedrigungen, wie das Leben der Mönche aus bestandigen Kasteiungen. — Sie nehmen nicht nur schon in großer Entfernung den Hut ab, wenn sie einen Offizier nahen sehen, sondern selbst vor dem Hause, wo ein Offizier wohnt, — sie müssen dieß bei jedem Hause genau wissen, — thun sie dasselbe und gehen demüthig entblößten Hauptes vorüber, der Offizier mag zu Hause sein oder nicht, und wagen ikren Kopf erst nach einer langen Strecke wieder zu bedecken. Weil die Offiziere so ganz und gar verantwortlich sind für d^s Wohl und Wehc der ibnen untergebenen Soldaten, für ihre Gesundheit und ihr Leben, für ihre Dummheiten, Vergehen und Ungeschicklichkeiten, was so weit geht, baß nicht nur bei Revueen dcr General für alle Fehler der Soldaten seiner Division, der Oberst für alle Versehen der Soldaten seines Regiments, der Capita« für alle Verstöße der Soldaten seiner Compagnie die von diesen verwirkten Rügen empfangt, — die Jeder dann wieder an seine Untergebenen in verstärkten Dosen austheilt, und die schon beim Major aus Tadel in heftige Scheltworte sich verwandelt Militärisches. 221 haben, bis der Capitan sie dem Soldaten in Prügeln darreicht, — sondern auch jeder Capita» wegen jeder Unvorsichtigkeit seiner Soldaten verantwortlich ist, z. B. wenn einer von ihnen über's Eis lauft und beim Durchbrechen das Leben verliert, was dem Capitan sogleich als ein schwarzer Steil» bei seiner Beförderung zum Major hinderlich entgegentritt, —- da, sage ich, diese Verantwortlichkeit des Oberen für seine Untergebenen so groß ist, daß er dafür ein« stehen muß, wie ein Depositarius für das ihm anver, lraute Gut, und er selbst 1«v>«5mu,m culpnm prastircn muß, so .betrachtet auch der Offizier natürlich die Soldatm gleichsam wie seine Leibeigenen, und die Gewalt, welche er sich über sie anmaßt, wird dadurch um so großer, feine Aufsicht um so strenger und die Strenge der von ihm verhängten Strafen um so härter. Es hieße aber dennoch den Menschen nicht kennen, und namentlich den russischen Menschen verkennen, wenn man nach dem Gesagten glaubte, daß blos Furcht und Schrecken zwischen dem russischen Offizier und sei« nen Soldaten walte, und daß nur Liebloses zwischen ihnen passire. Nichts weniger als dieß. Es steckt überhaupt etwas Hündisches in der menschlichen Natur, vermöge dessen wir die Ruthe, welche uns geißelt, lieb gewinnen. Namentlich in Rußland werden die Gebieter wie Väter geliebt und verehrt. Auch der Offizier liebt seine Soldaten, die er nie anders als „>l!>l»lu>!" (meine Kinder!) anredet, und im Ganzen stören die vorfallenden Züchtigungen das gute Vernehmen zwischen Soldaten und Offizier so wenig, daß man im Gegen« 222 Militärisches, theil behaupten kann, gerade sie befestigen die gegenseitig« Zuneigung. Der Prügelstock ist der Stamm, um den sich die Liebe wie eine Epheuranke schmückend windet. Auf den Märschen ist der Offizier ^ freilich zu Pferde oder in seiner Kalesche — immer mitten unter seinen Soldaten, die ihn wie die Hühner den Hahn umgackern. Die Freiheit, welche den römischen Sollten nur bei den Triumphzügen gestattet war, Spottlieder auf ihre Generale zu singen, nehmen die ruffischen Soldaten fast auf jedem Zuge in Anspruch, und es ist nichts Seltenes, den Offizier mitten unter seinen Soldaten zu finden, indem diese komische Spottlieder auf ihn mit Pantomimen und Gestikulationen vortragen. Auch haben sie allerlei Spiele, zu denen sie ihre Offiziere einladen, die uns nach dem hohen Begriffe von dem Ansehen eines russischen Offiziers sehr despectirlich erscheinen würden. Aber dieses Volk weiß die freundschaftlichste Zutraulichkeit und den unbedingtesten Respect, kindliche Liebe und sclavische Furcht, lauter scheinbar sich widersprechende Gefühle, vor einer und derselben Person karmonisch zu verbinden. So ist es z. V. etwas Gewöhnliches, baß sie lange doppelte Reihen bilden, indem sie sich Zwei und Zwei mit den Handen anfassen, und dann ihre Offiziere ohne eben viel Umstände einladen, sich von ihnen prellen zu lassen. Unter dem Gelachter und Gesänge der Soldaten fliegen dann diese gebieterischen Herren, diese gefurchte ten Machthaber, oft sehr komisch in den Lüften auf und nieder. Dieß erinnert wieder an die römischen Soldaten, die ihre Feldherren mit zwei' Militärisches. 223 spannigen Wagen auf ihren Rücken bahinfahren ließen. So weit freilich wie jene sonderbaren Republikaner, welche ihre Köpfe als Pflastersteine hergaben, treiben die Russen die Erniedrigung vor ihren Offizieren nicht. Die russischen Soldaten sind so weit davon entfernt, von Strafe und Furcht allein regiert zu werden, daß vielmehr ihre Offiziere und Feldherren ebenso qut durch Rebe, Witz, Humor und kleine Schmeicheleien ihre Herzen gewinnen. Kein russischer Offizier kann eine gewisse Art von Humor entbehren, und Suwarow und andere russische Marschäüe haben eben so gut durch ihre treffenden Anreden an die Soldaten und durch ihre Scherze mit ihnen ihre Schlachten gewonnen als durch andere Feldherrntugenden. Die Offiziere werden von den Soldaten gewöhnlich nicht bei ihren Rangnamen genannt, wie bei uns: „Herr Lieutenant," „Herr Oberst" u. s. w., sondern die unteren: „Ewr. Hochwohlgeboren" (>V«8clls Wm880k<)bll>80!'0(lio), und die oberen vom General an: „Ewr. Ercellenz" (>Vn8e!,o pi'ovosloliuüi' lulstvvo). — In Bezug auf die Beinamen, welche sie ihren Feldherren geben, haben die Russen eine Sitte von den Römern angenommen oder vielleicht auch nur einen alten Gebrauch von sich weiter allsgebildet. Sie geben ihnen nämlich prachtvolle Beinamen, die von dem besiegten Volke, oder einer eroberten Stadt, oder einem überstiegenen Gebirge oder überschrittenen Strome hergenommen sind. Zuweilen bleiben solche Beinamen — eS wird dieß natürlich vom Kaiser bestimmt —- für 224 Militärisches. ewige Zeit in der Familie, zuweilen hängen sie bloß der Person an. Dergleichen Beinamen sind z. B. „liim-nikzkm" (der Rimnik'schs von der Schlacht am Flusse Rimnik), „tjlll,lllllnl!-,Kl>!" i der Balkan-Uebersteiger), ^inwnulsllln" (der Transdanubische), ^llülii^llO!" (der Italienische), ^^Vursoli^väkoi" (der Warschau'sche), „I^ii->v!,,!^!v„>^ (der Eriuan'sche) u. s. w. —^ Viele alte russische Familiennamen swd wahrscheinlich desselben Ursprungs, z. V. Trubehkoi, Kosakowskp, Simbirskoi, Tscher-kesr'oi u. s. w., denn es ist diese Sitte bei den Russen scho»i ur.ilt. — Der Beiname, welcher als Familienname bleibt, wird immer unmittelbar hinter dem Vornamen und Patronnmicum, vor dem bisherigen Familiennamen hinzugefügt. Der Beiname aber, welcher nur der Person bleiben soll, wird gan; binten angehängt; der vollständige Name Suwarow's lantet z. B.: „lini>8 ^lexumlm' ^ikiuli^vitscll ltülilükoi ki'ü! ^!i^i>l-l)>v Ilim-,lik8!lui/" d. h. „der Fürst Alexander Arkadius' Sohn, der Italiener Graf Suwarow, der Nimnik'sche"*). — Suwarow's Sohn Feodor, wenn er einen. solchen gehabt hatte, würde daher gebeisicn baden: „Der Fürst Feodor Alexander's Sohn der Italiener Graf Suwarow." Der vollständige Titel des Feldmarschalls Paske-witsch mit aUen seinen persönlichen und Familien-Bei- ^) Eine und dicsclbc Person tan» zugleich Fürst und Graf sein. War ihr Vater ein geborener Graf, der nachher in den Fürstenstand erhoben wurde, so bleibt das Wort Graf unmittelbar vor dem Familiennamen, und das Wort Fürst tritt uor den Vornamen. Militärisches. 225 mimen, Paironymiken, Vornamen und Titeln lautet z. B. folgendermaßen: ,, Glawnokommandujuschlschoi Go-nuralfeldmarscliull Swatlaeischei Knüs Iwan Fedoro-witsch Warscliawskoi Graf Fuskewilsch Eriuanskoi," d. h. „der Obercommandirende Generalfelbmarschall, der erlauchtigste Fürst Iwan Fedor's Sohn, der Warschauer Graf Paskewitsch, der Erivaner." — Sein Sohn Gregor, wenn er einen solchen hätte, würde mit Wegfall der Titel und der nur der Person seines Vaters anhängenden Beinamen „des Eclauchtigsten" und „des Eriva-ners" bloß heißen.- „Der Fürst Gregor Iwan's Sohn der Warschauer Graf Paskewitsch." Da Napoleon es selbst gesagt hat, so ist es nun wohl keine Frage mehr, daß der russische Soldat in der Hand eines geschickten Feldherrn einer der beßten ,n Europa ist. - So weich, so friedlich die russischen Völkerstamme zu Hause scheinen, so zäh und unnachgiebig zeigen sie sich im Kriege. So gem sie sich der Bequemlichkeit und der Genußsucht überlassen, wo es erlaubt ist, so gleichgiltig gegen alle Entbehrungen zeigen sie sich in Fallen der Noth. — Von Widersetzlichkeit gegen Befehle ist in ihnen keine Spur, und wo sie hincommandirt sind, da stehen sie wie die Baume und lassen sich auf ihren Posten zerschießen und verstümmeln ; sich auf Befehl dem Tode weihen, „scheint einfältige Pflicht ihnen in bäurischer Brust." ,,Steht!" heißt es, und die russischen Linien stehen, und keine Bombe bringt sie zurück. „Vorwärts!" heißt es, und kein Kugelregen halt sie ab, das Commando 10" 226 Militärische«. zu vollführen. — Keine Maschinerie weicht so willig schon dem leisesten Druck wie die der russischen Armee. Und wenn es das höchste Lob ist für eine Armee, daß sie, obgleich aus lebenden und eigenwilligen Elementen bestehend, auf allen eigenen Willen verzichtend, einer Maschine gleiche, so bleibt kein Zweifel, daß den russischen Truppen der Kranz gereicht werden müsse. „l'i-ikns" heißt das mächtige Zauberwort, das dm russischen Soldaten in's Feuer und Wasser treibt, und gegen welches er keinerlei Widerspruch kennt und gestattet. Wenn es heißt, es ist „zn-ili«,»/' das Haus anzustecken, so thut er es still und ruhig und weist alle Einrede mit dem „lnk z»rill»g" (so ist der Befehl) — zurück. —- „Warum steht ihr hier?" fragte ich eines Tages einen Haufen Soldaten, die an der Ecke einer Straße müssig aufgestellt waren, ohne mit irgend etwas beschäftigt zu sein. „Wir wissen es selbst nicht," antworteten sie ruhig, ,,a U,k prill»»" (aber es ist der Befehl so). — Das Marsfeld in Petersburg wird am Morgen vor den großen Nevueen gewöhnlich mit Wasser bespritzt, um den Staub niederzuhalten. Als eines Tages etwa zwanzig Mann auf Prikas mit dieser Arbeit beschäftigt waren, kam ein starker Regen herab, der ihre Bemühung natürlich überflüssig machte. Nichtsdestoweniger fuhren die Leute mitten im heftigsten Regen mit Spritzen fort, weil der Prikas noch nicht con-tremandirt war. — Aehnlich den alten strengen Rechts-gelehrtm, denkt der russische Soldat- „lint p,ik»8 et perent mundus!" — Daß diese Denkweise in der Kriegs- Militärisches. Ws zucht ihre großen Vortheile hat, ist allerdings wahr. Indeß mag sie doch vielleicht eben so häusig nachthei-lige Ereignisse herbeiführen. Bei der Ueberschwemm-ung des Jahres 1824 ertranken in Petersburg mehre Schildwachen, weil sie, bis ihnen das Wasser an den Mund ging, auf den ihnen angewiesenen Posten blieben. — Bei dem Scheitern eines Schiffes im Kronstadter Meerbusen, auf welchem sich eine große Anzahl von Offizieren befand, ward der Mannschaft der Befehl: „Rettet vor Allen die Garde-Offiziere." — Ein Offizier schwamm um Hilfe schreiend heran. „Bist du ein Garde-Offizier?" fragten ihn die Matrosen und ließen ihn ohne Barmherzigkeit ertrinken, da er nicht mehr Zeit hatte „Ja!" zu antworten. .,«i mm «^ vc'i-o, 6 den trovnto!" Kein Soldat ist williger, gewandter, fähiger und brauchbarer als der russische. Es ist, als wenn die Leute aus Wachs gemacht wären. Sie lassen sich in jede Form gießen, und den Stempel, den man iknen aufdrückt, nehmen sie an und behalten sie. An und für sich und von selbst können sie nichts und thun sie nichts, aber es braucht nur eines „Prikas," und sie vermögen und thun Alles. — Ein russischer Soldat ist ein weißes unbeschriebenes Blatt Papier. Man nimmt ein Stück Kreide und schreibt ihm auf den Rücken „Infanterist," „Cavalerist," „Trompeter," „Trommelschläger," unb giebt ihm auf, dieß binnen 6 Wochen zu sein, unb binnen 6 Wochen ist er es. Hervorragende Talente, Neigungen und Abneig- Ä28 Militärisches. ungen haben sie nicht, vielmehr durchgängig gleiche Anlage und gleiches Geschick/ gleiche Vorliebe und gleiche Disposition zu Allem und Jedem. Sogleich wenn die Re-cruten durch's Loos bestimmt sind, suchen sich die Garde-Ofsiziere, welche jenen oben beschriebenen Commissionen zu diesem Zwecke beiwohnen, zunächst die schönsten und größten Leute für die Petersburger Garde aus und verlassen sich darauf, daß jeder der Ausgesuchten in kurzer Zeit ein eleganter, eitler Gardesoldat sein werde. Aus den von ihnen Verworfenen wählen sich dann die Artillerie- und Cavalerie-Ofsiziere die ihnen tauglich Scheinenden, und es ist gewiß, baß sie sich in Bezug auf die geistigen Eigenthümlichkeiten, die sie gar keiner Untersuchung würdigen, nie irren werden, wenn sie sich nur bei den physischen Maßen und Verhältnissen nicht versahen. Der Ausschuß bleibt für die Infanterie, IM Mann bestimmt man zu gewöhnlichen Soldaten, den leiten zum Trommelschlager, den lU^tcn zum Trompeter, den Kisten zum Flötisten, den 1U4ten zum Hornisten u. s. w. Hat man nur daraufgesehen, ob sie alleil)Finger, dieZahne in Ordnung, den Mund nicht verwachsen haben u. s. w., so kann man darauf rechnen, daß, so wenig die Leute auch darüber gefragt worden sind, man Jedem sein Lieblings-Instrument, zu dem er gerade vorzugsweise Anlage zeigen wird, zutheilte. Das Commando in der russischen Armee ist natürlich russisch, und die mchtrussischen Slaven, so wie die Finnen, Letten u. s. w., müssen sich dazu bequemen, dieses ihnen fremde Commando verstehen zu Militärisches. 229 lernen. Aber die Schnelligkeit der Auffassung bei allen diesen Völkern ist so groß, daß sie mit Hilfe des Cor-poralstockes unglaublich rasch dahinter kommen, und gewöhnlich in wenigen Wochen die russischen Recruten «hne Hilfe von Heu und Stroh, wie in Holstein, ,,!>'« liiw»" (LinkS) und ,,I^» in-l,wl>" (Rechts) unterscheiden gelernt haben und als vollendete russische Linien-Soldaten dastehen. Die trefflichen Eigenschaften des russischen Soldaten, sein nie murrender Gehorsam, seine unermüdliche Dienstfertigkeit, seine Tapferkeit, erwerben ihm natürlich viel Zuneigung bei allen Classen der Gesellschaft, welche Liebe durch das Beispiel von oben herab noch vermehrt wird. Diese Liebe zu den Kriegern, den Vertheidigern des Vaterlandes, hätte, wie gesagt, wohl ihren guten Grund, doch artet sie gewöhnlich in eine oft höchst lacherliche, oft sehr betrübte Soldatensucht aus. Bei uns laßt man den Soldaten auf der Straße wie jeden anderen redlichen Mann passiren und macht weiter kein Aufhebens davon. Anders ist es bei den vornehmen Classen in Rußland, die selbst in ihren weiblichen Elementen von jener sonderbaren Liebhaberei für Uniformen und Soldaten angesteckt sind. Man verfolgt jeden Soldaten mit seinen Blicken, auch wenn man nicht selbst Offizier ist, mustert und kritisirt seine Uniform, seinen Gang, seine Haltung. Findet man ihn hübsch, so ruft man ihn zu sich und spricht: „Welch ein schöner Mensch! Nicht wahr, ein sehr hübscher Mann!" — Je weniger hübsch in der Regel 230 Militärisches. die russischen Soldaten sind, um so mehr scheint man immer etwas Schönes an ihnen finden zu wollen und streicht jeden schlankgewachsenen Menschen als einen Apollo heraus. Mit lächelndem Entzücken und begeistertem Auge ihn betrachtend, examinirt man ihn. „Welches Regiment?" „Aus welchem Gouvernement?" „Wie alt?" „Wie lange gedient?" „Warst Du vor Paris, vor Adrianopel, vor Erivan, vor Warschau?" und andere dergleichen Fragen folgen rasch auf einander. Den Soldaten kommen solche Examina so häufig vor, daß sie alle Antworten darauf schon am Schnürchen haben. — Selbst die jungen Damen lassen keine Uniform unbeachtet vorüber und haben für Entdeckung des geringsten Makels an der äußeren Erscheinung oft ein ebenso scharfes Auge, wie die Garde-Offiziere selbst. Es scheint fast in Rußland noch nicht anders zu sein, als zu der Zeit der Waräger-Herrschaft, wo die Russen, selbst ein völlig friedfertiges Volk, von dem kriegerischen und soldatischen normannischen Adel zu Kampf und Schlacht geführt wurden. Wenn die armen Bauern weinend unter das Gewehr treten, so ist es beim Adel keine Frage, daß die kleinen für den Offiziersabel Geborenen sich lustig die Eadetten-Uniform anziehen. Die Kinder in Petersburg schon spielen Soldaten, führen Türken- und Tscherkessen-Schlachten auf und verhandeln keine Frage häufiger unter sich als die, ob sie in die Marine oder Landarmee treten wollen, ob der Eavalerie-oder der Infanterie-Dienst vorzuziehen sei. — Die Damen Militärisches. ÄM empfangen gnädig die Huldigungen der besternten Uniform, und alles Vornehme läßt sich willig unter die Truppen enroliren. Die Armee. Es giebt in ganz Europa keine Armee, die unter so besonderen Verhaltnissen steht, wie die russische, und bei deren Zusammensetzung und Organisation so eigenthümliche Grundsätze obwalten, wie bei dieser. Insbesondere interessant ist es, sie im Gegensatz zu der preußischen und der österreichischen Armee zu betrachten, die, obgleich mit ihr benachbart und durch langjährige mit ihr getheilte Lorbeeren gewissermaßen ihr befreundet, doch himmelweit von ihr verschieden sind. Im Gegensatz zur österreichischen Armee fallt es zunächst besonders auf, daß, wahrend in dieser die verschiedenen Nationen in gesonderten Corps, die alle auf verschiedene Weise orgamsirt sind, so daß man eigentlich nicht von einer österreichischen Armee, sondern von den österreichischen Armeeen sprechen sollte, zusammengehalten werden, das Gros des russischen Heeres eine einzige conforms Masse bildet. Oesterreich hat viel« Lander, deren Verfassungen zu respectiren sind. Auch hofft es, daß, wenn es der obersten Reichs--gewalt nur gelingt, die großen Massen mit mächtiger Hand zusammenzuhalten, jede einzelne Partie um so fester in ihren Elementen zusammengekettet sein möge, je mehr nationelle Gleichheit sie aneinander bin- 232 Militärisches. det. Rußland dagegen, das nur ein einziges einiges, nach einer Form und Norm regiertes Reich darstellt, steckt alle seine Recruten, Christen, Juden, Mohammedaner, Deutsche, Russen, Letten, Polen, Tataren, Esthen, Finnen, Mordwinen, Tscheremissen, allesammt in eine und dieselbe Uniform, bringt Alles in denselben Braukessel und braut daraus die russische Armee. Die Ausnahmen von dieser durchgreifenden Regel sind sehr unbedeutend. Bis zum polnischen Aufstande bildete die polnische Armee cine solche Ausnahme. Die kleinen Gardetruppen-Abtheilungen von einigen Hundert Tscherkessen und Tataren in Petersburg sind kaum der Rede werth. Ebenso sind die bisher noch nicht völlig denomadisirten und recrutisirten Kalmücken, Baschkiren und einige Sibiriaken nicht zu rechnen. Denn wenn sie auch zum Theil noch ihre National-Bewaffnung haben, so dienen doch auch schon viele von ihnen als gewöhnliche russische Soldaten in der großen Armee. Die verschiedenen Kosaken sind zum Theil weniger als eigenthümliche nationelle Abtheilungen der Armee, als vielmehr wie eine besondere leichte Truppenart derselben zu betrachten, da ohnedieß auch viele Nicht-Kosaken, Großrussen, Deutsche u. s. w. als Kosaken dienen. Das Commando in der ganzen russischen Armee ist, wie gesagt, russisch, die Sprache der Soldaten unter einander, weil die Russen die zahlreicheren sind, ebenfalls russisch; alle Deutsche, Letten, Polen, Kalmücken und Finnen entäußern sich daher wahrend der Dauer ihres 20jlihrigen Dienstes völlig ihrer eigenthüm Militärisches. 233 lichen Nationalität und russisiciren sich in einem Grade, der wirklich merkwürdig ist, so daß man einem alten russischen Soldaten feinen Ursprung durchaus nicht ansieht. Ein Lette, der w Jahre lang in der russischen Armee gedient hat, ist in allen Stücken ein so vollkommener Russe geworden, daß er wie umgewandelt erscheint, daß er nicht nur ganz russische Gewohnheiten und Sitten angenommen, sondern sogar seine Physiognomie, seine Stimme, seine Geberden nach russischer Norm gemodelt zu haben scheint und sich so völlig in das fremde Wesen hinübergelebt hat, wie man dieß auch hie und da schon bei zwei lange vereinten Ehegatten bemerkt bat. ^ Die Juden allein, diese eingefleischten, unveränderlichen Abrahamskinder, deren es eine Menge in der russischen Armee giebt, uerlaugnen nie ihre Ur-ältervater, und man kennt sie sogleich auf den ersten Blick aus dem ganzen gemischten Haufen keraus. Am meisten von allen gemeinen russischen Soldaten schienen mir immer die einzelnen Deutschen, die man in der russischen Armee trifft, bekümmert. Die Deutschen lieben die Gemächlichkeit, und das „Hundeleben der russischen Truppen," wie sie sich ausdrücken, bringt sie ganz herunter. Wie die Sprachen, die Physiognomieen, die Sitten sich in der russischen Armee russisiciren, so tliun es auch die Religionen. Das ganze russische Wesen ist höchst ansteckender Natur, und so auch ihr Glaube in Religionssachen. Sie sind tolerant, und das macht die Leute zur Bekehrung geneigt. Dabei freuen sie sich 234 Militärisches. herzlich, wenn Einer mit ihnen auf ihre Weise das Kreuz schlägt und nach ihrer Weise betet, das ladet denn noch Mehre ein, die Sache mitzumachen. Dazu ist bei allen Menschen ein religiöses Bedürfniß vorhanden, uno wenn der Lutheraner, Katholik oder Mohammedaner nach Gott schmachtet, so tritt er gern in eine russische Kirche ein und stärkt seinen Geist darin, wenn ein Gotteshaus seiner Glaubens-Secte nicht zur Hand ist. Dazu kommt noch, daß bei gewissen religiösen Feierlichkeiten die Regimenter, so gemischt wie sie sind, zum Gottesdienst beordert werden und den griechischen Ceremomem beiwohnen müssen. Natürlich leben die Leute auf diese Weise sich mit den letzteren ein und verlernen so den Glauben ihrer Vater, und nach einer Reihe von Jahren sind sie dann hausig ganz gute rechtgläubige griechische Christen geworden, wenn auch nicht eine förmliche Umänderung des Glaubensbekenntnisfes statthatte. Doch tritt auch diese nicht selten gezwungen eilt, weil nämlich nach russischem Gesetz jeder An» dersgläubige das russische Glaubensbekenntniß förmlich annehmen muß, wenn er sich einmal verleiten ließ, das Abendmahl nach russischem Ritus zu nehmen, was freilich in einer solchen geistigen und religiösen Oebe, wie sie zuweilen in Rußland eintritt, in der Sehnsucht nach religiöser Tröstung gar leicht passiren kann. 5 Man kann wohl annehmen, daß über 100,000 Nicht-Griechen in der russischen Armee stecken, die tatarischen Mohammedaner, die polnischen Katholiken und die lettischen, esthnischen, sinnischen und deutschen Lutheraner, Militänschts. 235 sowie die heidnischen Nationen eingerechnet. Durch diese völlige Verschmelzung aller Religion-, Sprach- und National-Elemente zu einer einzigen conformen Masse ist nun eine so fügsame Gliederung und eine so völlig neutrale Stimmung der ganzen russischen Armee hervorgebracht werden, wie dieß kaum bei irgend einem an» deren großen Heere auf gleiche Weise der Fall ist. Sie ist dadurch um so mehr in der Hand der obersten Lenker. Im Gegensatz zur preußischen Armee fällt bei der russischen besonders die völlige Isolirung und Herauslösung des Soldatensttandes aus dem ganzen übrigen Staats- und Vürgerverbande auf. — In Preußen hat man es darauf abgesehen, alle Staatsangehörigen zur Vertheidigung des Vaterlandes zu befähigen, jedem Bürger die Führung der Waffen zu lehren und jedem Soldaten die Rückkehr zu den friedlichen Geschäften der Bürger zu erleichtern. Die kurze Dienstzeit, die Eintbeilung der Truppen in Linientruppen, Reserve und Landsturm ic. zwecken darauf ab, jenes tressliche System zu verwirk« lichen. — In Rußland dagegen wirken alle militärischen Anordnungen dahin, den Soldatenstand ganz zu isoliren und ihn als ein völlig williges Werkzeug allein in die Hand des Gouvernements zu geben. Die lange Dienstzeit macht die Leute ganz und gar zu Soldaten und läßt sie alle andere bürgerliche Beschäftigung vergessen. Die ungeheueren Dimensionen des Reichs machen ihnen den Verkehr mit ihren landbauenden Angehörigen wahrend dieser Zeit unmöglich, und sie sin- 236 Militärisches. den sich daher fortwährend nur in Berührung und Ver« bindung mit ihren soldatischen Mitbrüdern. — Auf diese Weise entsteht denn nicht wie in Preußen die bewaffnete Quiritenschaft, sondern das verbrüderte Pra-torianerthum. Keine Armee ware demnach ") geeigneter zu Eroberungen als die russische, und sie muß in dieser Hinsicht dem westlichen Europa Besorgnisse einstoßen, sie eine halbe Million altern-, kinder-, verwandtenloser Menschen, die keine andere Hoffnung für die Zukunft haben als des MavorS Dienst, die ihrer Heimath und Allem, was damit zusammenhängt, entsagt haben und nun willig dahin marschiren, wohin die Fahne weht. — Dazu kommt, daß der Krieg den Soldaten nicht viel mehr Noth bringt, als sie schon im Frieden haben. Der russische Soldat wird weniger als irgend ein anderer im Frieden verwöhnt. Die unaufhörlichen großen und kleinen Revueen sind oft unbequemer als Schlachten, — oft genug wird es von den Soldaten wie von den Offizieren ausgesprochen, daß sie mehr Furcht vor einer Revue als vor einer Schlacht haben; auf beständigen Hin- und Hermarschen, bei Festungs- und Canal-Arbeiten werden sie, wie die römischen Legionen, immer warm und in Athem erhalten, und wenn irgend ein Geschöpf in Friedenszeiten geplagt ist, so ist es der russische Soldat. — Seine Kost ist die kärglichste, die *) Es giebt andere Umstände, die ihre Kraft wieder schwächen. Militärisches. 237 sich denken läßt, sein Lohn der dürftigste, der bestimmt werden konnte. Bei diesem traurigen Zustande im Frieden, in wie glänzendem Lichte muß dein russischen Soldaten dagegen der Krieg erscheinen. Der lästige Kamaschen-Dienst ist da weniger streng, und der Krieg bringt daher Freiheit von einer der drückendsten Lasten. Die Schlachten sind erträglicher als die Revueen, denn im schlimmsten Falle bringen sie Erlösung von allen Leiden, dcn Tod, im glücklichen Falle aber Beute und Ruhm und ein lustiges Leben, wogegen hinter den Revueen allemal der Stock droht, und als höchste Belohnung ein Lobspruch ertheilt wird. Dazu wird der Sold, den sie im Frieden in Papier erhalten, im Kriege in Silber ausgezahlt, d. h., da Silber einen vier Mal größeren Werth hat als Papier, um das Vierfache erhöht. Die russischen Soldaten sind sämmtlich beutelustig, und dabei haben sie die Idee, daß alle Länder, die das russische Reich umgeben, herrlicher und reicher seien als ihr Vaterland, und die Sehnsucht nach dem guten Leben im Westen, in Deutschland und Frankreich, ist bei ihnen so groß, wie sie es nur ehedem bei den germanischen Barbaren in Bezug auf Italien sein konnte. Ein Feldzug in Deutschland, das würde ihre Lust sein. Sie phantasiren und sprechen oft davon, ohne Zweifel eben so, wie die Alanen, Gothen u. s. w. einst vom Westen sprachen, ehe sie dahin aufbrachen. ^- „Unser Vaterland ist gegen seine eigenen Kinder hart. Im Westen ist gut wohnen." — Man müßte blind oder schwachköpfig sein, wenn man 238 Militärisches. diese Zeichen für nichts rechnen wollte. Sie sind im Gegentheil so stark, daß dagegen die als friedliebend und gerecht gelobte Politik der russischen Kaiser kaum in Anschlag kommt. Sie werden dem gewaltigen Dranqe der Massen doch am Ende nachgeben und sich an die Spitze stellen muffen. — Auf die Frage, ob Rußland innerhalb seiner jetzigen Gränzen freiwillig stehen bleiben werde, antwortet eine gesunde historische Philosophie bei einem Blick auf die letzten beiden Jahrhunderte ein nur zu deutliches Nein! —- Ein Staat, ein Volk als solches ist sich seines Thuns und Lebens nicht bc-wußt und wachst und treibt nicht mit Umsicht und Bestimmung, sondern mit blinder vegetativer Kraft weiter und weiter, und würde wie der Weinstock jenes biblischen Königs am Ende die ganze Welt überschatten, wenn diese nicht widerstände und wenn die Triebkraft ewig jung bliebe. Wenn diese altert und verkümmert, so fällt freilich Alles wieder auseinander, und die einzelnen Trümmer sehen ihren Gahrungs - Proceß für sich besonders fort. Daher kommt auch die Erwägung, daß Rußland schon so groß sei, und daß es seine eigene Masse fürchten und sich vor neuen Acqui-sitionen hülen müsse, damit es nicht wie eine allzulange Kette unter seinem eigenen Gewichte zerbreche, wenig in Betracht. Sie mag wohl hie und da den Geist eines russischen Weisen bedenklich machen, aber was weiß die Masse davon. Diese, d. h. hier vorzugsweise die aus dem ganzen Verbände gelöste, für sich bestehende russische Armee, die ganz andere Inter- Militärische«. 239 essen hat als der Bauer und Kaufmann daheim, verfolgt ihre Bahnen und wird so lange an den ihr mundenden Quellen Waffer schöpfen, bis endlich der Krug bricht. Der Bruch zwischen dem östlichen und dem westlichen Europa, wird in jeder Hinsicht immer stärker und hat sich in den letzten AU Friedensjahren mehr und mehr erweitert. Die Kosakenlinie ist eine immer schärfere Scheidungslinie geworden. Die Abneigung der Nüssen gegen das Fremde, gegen die Deutschen und Franzosen, hat sich nur unter Katharinen und Peter dem Großen etwas gemäßigt. In neuester Zeit ist sie wieder viel deutlicher hervorgetreten. Nußland fühlt sich jetzt so groß, daß man ganz gewöhnlich vom ruffischen Neiche wie von einem eigenen Welttheile spricht und Rußland, Asien und Europa coordinirt. — Rußland und Europa, ^ so muß auch die Frage gestellt werden. Den Russen gegenüber sind wir Europaer alle mit einander Brüder, wie die Gothen und Römer dem Attila gegenüber. — Welche europaischen Staaten nach Warschaus Falle zunächst durch Rußlands Größe bedroht werden, springt deutlich in die Augen. Es ist der slavisch-germanische Osten. Die russische Hegemonie unter allen Slaven ist jetzt eine sehr modige Idee unter den Russen. Ihre Gelehrten besonders sind dafür begeistert, und mit großer Genauigkeit suchen sie zu bestimmen, was alles slavisches Land sei oder früher dazu gegehört habe. Zahlreicke sowohl sichtbare und längst in unseren Zeitblattern bezeichnete, als auch unsichtbare und über- 240 Militärisches. sehene Faden haben sich von Rußland zu allen slavischen Stämmen hinübergesponnen, und still arbeitet man an diesem Netze fort. Das Unrecht, das die Germanen, die Ottonen, die Heinriche den Slaven angethan haben, — Rußland will es rächen, noch nach Jahrhunderten rächen. Die Slaven waren bisher vielfach bedrängte und unterjochte Stamme. Der germanische Westen hemmte ihre Entwickelung von der einen Seite, der mongolische Osten von der anderen, bis endlich in der Mitte zwischen beiden sich Nußland mächtig einkeilte und beide zurückwies. Es brachte die Slaven zu Ehren und wird sie vollends aufrichten. Die Zurückweisung des Mongolenthums ist beendet. Es bleibt das Ger-manenthltm noch übrig. Der Anfang mit ihm ist auch bereits gemacht. Rußland besitzt von den Staaten und Communen, welche Deutsche und überhaupt Germanen an den baltischen Meeren hin auf wendischem, lettischem und finnischem Boden im Mittelalter gründeten, bereits mehre große Massen, die Provinzen Finnland, Inger-mcmland, Esthland, Liuland und Kurland. Ingermanland nahm eS in den ersten Jahren des 18ten Jahrhunderts, Esth- und Liuland ein Dutzend Jahre spater, Kurland am Ende des l,8ten Jahrhunderts, Finnland zuletzt. An Kurland stoßen West- und Ost-Preußen als die nächsten Glieder in jener Kette der deutschen Ostsee-Commune. Oesterreich hat mehre Millionen Slaven griechischer Religion, die schon um deßwillen die Russen als ihre Brüder und Befreier im Gegensatz zu den Ger- Militärisches. 241 manen betrachten, — Fast 2 Millionen österreichischer Unterthanen, die Rusniakm in Galizien und Ungarn, sprechen sogar russisch und beklagen dabei die ihnen durch die Deutschen aufgezwungene Verbindung (Union) mit dem Papste. Rußland Hort ihre Stimmen. Es befreite bereits die polnischen und lithauischen Unirten und führte sie in den Schooß der alten griechisch-russischen Mlttterkirche zurück. Im russischen Kalender, wo alle für Rußland wichtigen Ereignisse, seine Kriege, Eroberungen u. s. w. aufgezählt werden, stehen beim Jahre 1^12 die Worte: „Glorreiche Vertreibung der gegen Rußland verbündeten 48 Völkerschaften des Westens, der Franzofen, Italiener, Sachsen, Vaiern, Preußen u. s. w. aus dem Reiche." — Diese Redensart zeugt von einer sehr eigenthümlichen Weise der Auffassung der Ereignisse. Man hätte ja auch sagen können- Napoleon's Vesiegung. Aber man läßt ihn ganz unerwähnt, weil er als ein bloßes Werkzeug dasteht in der Hand des Schicksals, und stellt die Sache als eine mißlungene Verschwörung des ganzen europäischen Westens gegen das drohende Wachsthum Rußlands dar. Alle 48 germanisch-romanischen Völkerschaften waren gegen Rußland verschworen und rückten unter ihrem größten Feldherrn mit Mitteln, wie die Welt sie noch nie bisher in einer Hand vereinigt sad, in sein Herz vor, scheiterten aber an Rußlands Patriotismus und Kraft. Darauf wandte sich das Blatt, und die Russen rückten in Deutschland ein, als Be< freier, als Eroberer. Dieß ist einerlei. Eine solche Kohl, Plteliburg. III. II 242 Militärisches. Befreiung ist der Anfang zur Eroberung. Wir haben die Russen schon einmal als Sieger über unsere Feinde gesehen. Das war die Einleitung, es folgt nun der zweite Act des Stückes, wo sie als Eroberer kommm »vollen. — In Deutschland mag das langst vergessen sein, was man den Russen für 1812 und 181Z zu verdanken hat. In Nußland aber Hort man sehr viel davon sprechen, und es ist ausgemacht, daß weder die Franzosen für das verbrannte Moskau, noch die Deutschen für ihre Befreiung genug Vergütung gezahlt haben. — Wehe dem Volke, das einem anderen etwas zu verdanken hat! Die Befreier kamen nie anders als Mit Sclavenketten in der Hand! Und wenn wir jetzt wieder frei athmen, so wollen wir nicht vergessen, daß die historischen Entwickelungen zwar lange zögern, daß aber die Weltgeschichte nach uralten und unabänderlichen Gesetzen ihren Weg geht, wenn sie auch die Rache erst nach hundert Jahren übt und als Dank von den Urenkeln den Zoll für das fordert, was ihre Vorfahren empfingen. —> Daß aber Deutschland am Ende dennoch siegreich aus diesen drohenden Kämpfen hervorgehen werde, daran ist wohl kaum ein Zweifel. Die deutsche Eiche grünt und blüht wieder frischer als je, trotz Römern, Galliern und Völkerwanderung. Allein die Zeiten sehen trübe aus. Das Gewitter im Osten ballt sich und dunkelt zusehends. Es werden Zeiten der Kämpfe und der Noth kommen, und wenn man darauf gefaßt ist, so wird man sie besser zu ertragen wissen. Militärisches. 243 Wacht und bewahret die Zucht! — Nach Zeiten, da Trotz euch" „Veji in's Antlitz bot, kommen gefährlichere." Bei den beständigen großen Revueen, die seit langer Zeit, nicht erst seit den Lagern von Kalisch, Woß-nesensk und Borodino, in denen immer viele Tausende von Truppen versammelt waren, in Rußland stattgehabt haben, — bei Petersburg allein stehen jeden Sommer an 8(),NW Mann einige Monate hindurch im Lager — haben natürlich dio russischen Truppen viele Fertigketten erlangt, die unseren Truppen, die immer nur in kleiner Anzahl versammelt sind, abgehen muffen. Und die Manövrir-kunst ist vielleicht in Nnßland jetzt mehr ausgebildet als irgendwo. Eine schnurgerade Linie von A),NO<) Mann in emer Reihe zu bilden, eine Schlachtordnung von 6 Cavalerie-Regimentern in unverrückter Ordnung vorsprengen zu lassen, eine Colonne plötzlich in eine Menge kleiner Trupps zu zertheilen, und im nächsten Augenblick alle diese einzelnen Glieder wieder zu einer Colonne zusammenzubauen, Quarries zu bilden, sie in Parallelogramme zu schneiden und diese wieder zu anderen Figuren zu formiren, die Soldaten alle lothrecht hinzustellen, wie Drahtpuppen, und 6000 Pferde auf «in Mal alle zugleich mit dem rechten Fuße ausschreiten zu lassen, dieß Alles, sagt man, wird jetzt in Rußland besser verstanden als irgendwo anders. Gewiß ist es, daß man dort mehr als irgendwo auf solche Dinge Werth legt. Es ist zum Erstaunen, bis zu welcher Peinlichkeit der sogenannte Kamaschendienst ge,',bt 11* 244 Militärisches. wirb. Bei jeder Revue, nicht nur jeder Compagnie und jedes Regiments, sondern auch jedes Armee-Corps, wird bis in die geringsten Details eingegangen, der Art, daß nicht nur die Knöpfe der Soldaten gezählt, sondern auch ihre Kämme und Bürsten nachgesehen werden. Es ist nicht anders möglich, als daß dadurch das ganze Aeußere der russischen Truppen in scheinbar gutem Stande erhalten wird. Und aller« dings fallt einem an ihren Anblick Gewöhnten genug an den deutschen Truppen auf, nachlassige H.iltung, «ine gewisse Freiheit des Benehmens, Mangel an militärischem Acußeren. Und unsere Linien-Truppen erscheinen einem russischen Offiziers-Auge in keinem anderen Lichte als unsere Bürgerwehren und Communalgarden im Verhältniß zu dem regelmäßigen Militär. — Indessen ist es nicht bloß die Manövrirkunst und der Kamaschendienst, worin die Nüssen unsere Heere jetzt zu übertreffen glauben, sie haben noch einen anderen Vorzug, der sie gefährlicher erscheinen läßt. Die russische Armee ist jetzt von allen europäischen entschieden die krieg- und schlachtengeübteste und die mit den frischesten Lorbeeren gekrönte, oder wie die ruffischen Offiziere zu sagen pflegen, es ist die am beßten beschossene Armee. Die sämmtlichen deutschen Armeeen haben in dem 25jährigen Frieden kein Pulver gerochen, ausgenommen d.is vergnügliche der Revueen und Manöver. Die italienische ist eben so wenig in diesen Fall gekommen, die skandinavischen noch weniger. Die französischen, die nie ruhenden, machen allerdings hiervon Militärisches. 245 eine Ausnahme. Sie erfuhren es in Spanien, in Afrika, Morea und Amerika, wie Flintenkugeln pfeifen. Dem GroS aller europäischen nichtrusskschen Armeeen, die fast alle mis junger unerfahrener Mannschaft bestehen, geht daher der große Vortheil der Kriegserfahrung nb. Sie haben nur eine Manöver-Erfahrung, und sollten sie jetzt bald der russischen Armee gegenüber treten, so würden sie darin alte von aller Seekrankheit und voil allem Kanonenfieber freie Leute finden, die an Blut und Wunden gewöhnt sind. Wahrend wir in den letzten 25, Jahren ruhten, schössen sich die Russen schon fünf Mal mit Persern, Türken und Polen herum, bei welchen Gelegenheiten immer ein großer Theil des Gros der Armee im Feuer stand. Dazu hatten die ganze Zeit über die Russen den kaukasischen Bergkrieg, diese vortreffliche Kriegsschule, in der die Soldaten oft wechseln. Cs stehen hier fortwahrend über 80,W0 Mann Russen im Feuer, von denen viele benarbt in die große Armee übergingen und dort die Zahl der Beschossenen vermehrten. Es sind wohl unter den deutschen Armeeen kaum noch einige Truppen aus den Waffenspielen des ersten und zweiten Decenniums dieses I.chrlumderts. Die alten Garden sind langst aus allen Armeeen, die sich in ihren Haupttheilen schon mehr als ein Mal verjüngt haben, ausgemerzt. Anders ist es in Rußland. Der lauge Dienst, der aber oft noch verlängert wird, entweder freiwillig, oder weil den Soldaten zuweilen der Abschied nicht gegeben wird, läßt die Truppen unter dem Gewehr A46 Militärisches. und in den Schlachten ergrauen, und es sind sogar noch viele von denen in der Armee, die auf dem Montmartre standen. Man sieht nicht wenige, welche auf ihrer Brust die Medaillen für die Campagne uon 1^1 i und den türkischen, polnischen und persischen Feldzug vereinigen. Es ist natürlich, daß sich bei diesen Leuten eine große Menge von Kriegserfahrung angesammelt haben muß, und daß ihre schon so oft zerfetzte und wieder verwachsene Haut einen Panz.r für sie abgiebt, den unsere jungen frisch-farbigen Burschen entbehren. — Die russischen Soldaten «nd nickt eitel und baben in der Regel auch keine Ursache dazu. Ihre Ea'saren werden ihnen einst zurufen, wie der Besieger des Pompejus seinen Legionen: „Schlagt ihnen in ihr eitles Angesicht," und unsere hübschen Burschen werden solchen zerschossenen benarbten Kämpfern gegenüber, die das Leben für nichts achten, die keine Freunde und Freuden im Rücken haben, die aber den Sieg über Alles schätzen, keinen leichten Stand haben. Die Offiziere. Es scheint, als wenn alle Kriegslust des russischen, Volks aus den unteren Regionen sich in die oberen zusammengezogen habe, und als wenn der soldatische Geist, von diesen ausgehend, in die dem friedlichen Volke entrissene Heeresmannschaft eingednmgen sei. Der Adel Rußlands ist durchaus militärisch. Seine Söhne Militärisches. 247 Widmen sich theils freiwillig, theils auf Befehl fast ausschließlich diesem Berufe, seine Greift »och zeigen ihr weißeS Haar unter dem Generalshute, seine Kinder schon träumen von Soldaten und spielen mit Soldaten, ja seine Töchter sogar widmen ihre ?iehe nur den Uniformen. Der Militärdienst ist die allgemeine große Bahn, auf welche sich Alles begiebt, und von welcher aus die Wege zu allen Ehrenposten des Staates führen. Sogar der curulische Sessel muß mit dem Schwerte errungen werden, und ein militärischer Grab sichert die Anwartschaft zu den diplomatischen Posten, zu den Stellen der Negierungs-, Staats- und Minister-Nathe. Auch die das stille Treiben der Musen Beaufsichtigenden (die Curatoren der Universttaten) sind Generale, und selbst die nächsten Machgeber der obersten Staatsgewalt werden aus der Armee genommen. Es ist die herrschende 'Ansicht in Rußland, daß nur Der, welcher dem Militärdienste eine Zeit lang sich widmete, auch zu allem übrigen Commando befähigt sei, ungefähr so wie Jemand, der Humaniora studirt und Phi-losophica getrieben, dadurch zu allen den verschiedenen Branchen der Wissenschaften im Allgemeinen befähigt ist und sich in jedes einzelne Fach leicht hineinfindet. — Der Militärdienst ist die allgemeine Vorschule für alle Staatsdienst-Geschäfte, daS OoNsFmm wgioum gleichsam. Bevor man irgend ein Amt antritt, muß man „üwsoillm 8M!t/l (den Dienst kennen). — Durch den Militärdienst erhalt man alle Eigenschaften, die einem russischen Staatsdiener irgend einer Art nöthig sind, 248 Militärisches. den gehörigen Diensteifer, den Gehorsam und die Veug-samk.it gegen die Höheren, die Fähigkeit zum Comman-diren und das Ansehen und die gehörige Würde den Untergebenen gegenüber. Fast Me Dienstbranchen sind mili-tarisä) organisirt, und die, welche es nicht sind, sind unbedeutend und geradezu verachtet. Fast alle höheren Posten sind nur von Generalen besetzt, so die der Staatsminister, der Senatoren, der Reichsrathe, der Gouverneure der Provinzen, der Curatoren der Universitäten, der Ober-sorstmeist.r, der Oberbeigmeister, und nur ausnahmsweise, so selten wie einen weißen Naben unter den schwarzen, findet man unter ihnen einen Civilisten. Nur die unteren und geringfügigen Posten im Ciuilfache werden auch von Civilisten verwaltet, von Leuten aus den geringeren Familien, Emporkömmlingen u. s. w. — Bei der Mehrzahl, d. h. bei drei Vierteln der Söhne der gro« ßen Familien, ist der Lebenslauf dieser.' Cadett — Junker — Capitan — Oberst — General und dann liach einigen Feldzügen und Schlachten irgend ein beliebiges friedliches Aemtchen, Eintritt in den Neichssenat, eine Statthalterschaft oder etwas Aehnliches. Der russische Adel ist — von Haus aus dem Soldatenthum geneigt. Doch ist es nicht bloß natürliche Neigung, die ihn zu den Cadetten-Corps und zu den Waffenschulen treibt, sondern anch ein künstlicher, vom Staate ausgehender Impuls und theilweise sogar Zwang. D.is Gesetz Peter's des Großen, daß die Adelsprivilegien verloren gehen, wenn in zwei folgenden Generationen keines der Mitglieder der Familie, weder Militärisches. AW Vater noch Sohn, sich durch Dienst einen Adelsrang erwarb, ist noch in Giltigkeit. Die russischen Adels« Privilegien sind daher einer beständigen Erneuerung be« dürftig, und wenn der Vater nicht diente, so ist schon der Solin in die Nothwendigkeit versetzt, zu dienen, und so lange zu dienen, bis er in eine Classe kommt, die ihm den adeligen Rang wiedergiebt. Versäumt er dieß, so ist der Enkel zu der Classe der Gemeinen zu zählen. Die russische Armee ist als eine große Straf-nnd Besserungsanstalt zu betrachten. Die Disciplin in ihr ist so streng, daß sie selbst das übermüthigste Blut bewältigt. — Wir bemerkten schon oben, daß die Gutsbesitzer gewöhnlich nur den Ausschuß ihrer Bauern hergeben, die Diebe, Raufer, Vösewichte, mit denen ihre Ausseher nicht fertig werden konnten. Der russische Corporal nimmt sie alle an und weiß sie bald von ihren Unarten zu heilen, so daß sie in Kurzem als die gehorsamsten Leute von der Welt dastehen. Auf eine Menge von Verbrechen wird der Dienst des gemeinen Soldaten als Strafe erkannt. Ungehorsame Studenten, Beamte, ja sogar Priester werden auf diese Weise unter die Soldaten gesteckt, wo sie bald Gelegenheit finden, ihre bösen Gelüste abzubüßen. Insbesondere aber ist es eine gewohnliche Strafe für die Offiziere, zu Gemeinen degradirt zu werden, die fo gut bei Gra» fen und Fürsten wie bei Nichtadeligen angewandt wird. Diese Strafe kommt so häufig vor, daß beständig viele Edelleute unter den gemeinen Soldaten stecken. Sogar Obersten und Generale werden oft plötzlich zu gemei» 11" 250 Militärisches. neu Soldaten degraoirt, manche auf immer, manche auf unbestimmte Zeit, manche auf einen bestimmten Ter« min, der aber gewöhnlich durch einen Act der Gnade abgekürzt wirb. Diese Degradationen werden so streng ausgeführt, daß der Degradirte sich durchaus nicht anders als in seinem gemeinen grauen Soldatenkittel zeigen darf und seine Freunde, die Offiziere, und ihre Gesellschaften nur verstohlen und mit großer Gefahr, bestraft zu werden, besuchen kann. Allerdings ist eine solche Strafe immer ein großes Unglück. Doch holen die dazu Veruttheilten, wenn sie erst wieder die Erlaubniß haben, sich von Neuem als Offiziere einschreiben zu lassen, leicht das Versäumte wieder ein. Denn nirgends ist das Avancement lebhafter und rascher als in der russischen Armee. Bei uns heißt es oft: ,.Lieutenant, dir lebe ich, und Lieutenant, dir sterbe ich," und wer als Hauptmann an der Spitze einer Compagnie steht, der glaubt schon einen rechten Posten errungen zu haben. Wie viele Hauptleute und Majore ergrauen bei uns auf ihren Posten, und zu den Generalmajors- und Gmerals-Epauletten sieht man fast kein anderes, als nur ein greises Haupt gelangen.— Ganz anders in Rußland. Rasch schwingt sich der vornehme Junker über die untersten Stufen empor, bald ist er Fähnbrlch, Lieutenant, Stabshauptmann und Capitan gewesen und meldet seinem Vater, daß er Major geworden sei. Ja die Sprößlinge der großen und protectionsreichen Familien hoffen gewöhnlich, noch vor dem 30sten Jahre Obersten und Regimentschefs zu Militärisches. 251 werden, und setzen sicher, wenn keine Türken- oder Tscherkessen - Kugel einen fatalen Querstrich macht, schon im vierzigsten Jahre den Generalshut auf. Aber auch den kleinen Familien und den Plebejern gelingt es in der russischen Armee rascher als irgendwo, sich einen respectable« Rang zu verdienen, und wenn Protection«« dort wie überall ihren Einfluß geltend machen, so vermag doch das Verdienst mehr als in vielen anderen Landern — die Verzeichnisse der russischen Generale, unter denen sich viele titellofe befinden, bezeugen es, — sich geltend zu machen. Die Ursachen dieses raschen Avancements in der russischen Armee, dieses erstaunlich schnellet» Erklimmens der höchsten Stufen des militärischen Ranges sind verschieden, — vor allen Dingen gehört dazu der frühe Austritt der Söhne vieler reicher Familien, die sich nur en-rolirm lassen, um dem Gesetze zu genügen und ihre Titel* sucht zu befriedigen, und sich dann mit einem anstandigen Range auf ihre Güter oder in die Residenzstädte zum Genusse oder zur Verwaltung eines ruhigen Civilamtes zurückziehen und so den ihnen Nacheilenden Platz machen, — ferner die so häufige Degradation, welche die Of» siziere trifft, welche die Ruhmesleite»,' oft noch schneller hinabpoltern,, als sie auf ihr «mporschwebten, —> endlich auch die häufigen Kriege der russischen Armeeen, besonders der kaukasische Krieg, der vor allen Dingen viele Offiziere verbraucht, da die tresslichen tscherkesfischm Schützen sich immer lieber eine glanzende besternte Uniform zum Zielpunct ihrer nie fehlenden Kugeln setzen 25,2 Militärisches. >ils den grauen Kittel des gemeinen Soldaten. Daher kommt es, daß, wahrend in unseren Anneeen Alles stagnirt, in der russischen Armee immer ein Umschwung stattfindet, wie bei uns nur in Zeiten großer Kriege. Dieses außerordentlich rasche Avancement in der russischen Armee ist es auch, was neben den einheimischen oft fremde Offiziere in Rußlands Militär-Dienst lockt. Es giebt dort deren aus allen Nationen Europas, Spanier, Franzosen, Portugiesen, Italiener, Schweden, Engländer. In der Landarmee sind von den Nichr-ruffen die Deutschen entschieden die zahlreichsten, sowohl die einheimischen als die fremden Deutschen. Die Hälfte aller russischen Siege ist unter den Anspielen eines deutschen Namens erfochten worden. Namentlich in der Artillerie sind erstaunlich viele Deutsche. Die meisten deutschen Generals sind aus Esthland, denn der halbe deutsche Adel dieser Provinz steckt in russischer Ofsiziers-Uniform. Die Esthlander zeichnen sich durch Muth und militärischen Geist aus. — Auch Schweden findet man in der russischen Armee, sowie einige Franzosen. Zu verschiedenen Zeiten traten ganze Partieen französischer Ingenieure in die russische Armee ein und verpflanzten so romanische Namen unter die slavischen Familien. Die Schiffe der pontischen Marine wimmeln von griechischen Offizieren, wie auf denen der baltischen viele englische und hollandische zu fmden sind. Die Russen sind mit ihren Dienst-Anerbietungen überall bei der Hand, und es ist ein sehr hausiges Schicksal der fremden Offiziere, die ein Zufall nach Petersburg führt, Militärisches. 253 dort zu gefallen und Offerten anzunehmen. Manche ausländische Offiziere dienen nur in der russischen Armee, um sich schnell einen Rang zu erwerben. — Eine Statistik der russischen Armee, aus der man ihre ganze Organisation und ihr Getriebe in allen seinen Theilen kennen lernen könnte, würde von großem Interesse sein. Der Rang, die Orden, die Medaillen, die Kreuze, die Belobungen des Kaisers und der Marschälle, die goldenen Degen „aw Oki-nlli-ost" (für Tapferkeit)*), sind von den äußeren Anreizungen das Einzige, was die russischen Offiziere an oen Dienst fesselt. „Hübsch decorirt *)" und hübsch betitelt kehren sie aus allen Feldzügen zurück, aber schlecht besoldet und nach vielfachem Drangsal. Denn im Uebrigen ist der russische Dienst für die Offiziere nicht weniger hart als für die Soldaten. Die ungeheuere Strenge der Disciplin trifft sie wie die Gemeinen und legt ihnen in Bezug auf *) Der goldene Degen ist eine in der russisch«» Armee sehr gewöhnliche Belohnung für bewiesene Tapferkeit. Es ist ein eleganter Säbel mit goldenem Gehänge und mit der Inschrift: ,,'l»r»I>,-u»t." — Gewöhnlich verkaufen die Ossiziere diesen Säbel und tragen nur eine kleine Nachbildung desselben «n miniature auf der Brust unter den übrigen Decorationen. ") Es ist dieß ein charakteristischer Kunstausdruck. Man sagt z. B.: „die Garden sind dießmal aus Polen schr hübsch decorirt zurückgekommen," oder: „die sinnischen Jäger kamen aus der Türkei sehr schlecht decorirt zurück." — Man sieht hieraus, wie die bunten Bänder und goldenen Sterne bloß äußerer zierlicher Schmuck geworden sind. 254 Militärisches. ihre Uniform und Lebensordnung eben so unangenehme Genen auf wie jenen. Sogar die obersten Generale müssen sich in den entferntesten Provinzstädten bestandig in voller Uniform zeigen, von oben bis unten boutonnirt und gerüstet, und selbst die bequeme Mütze statt des Tschakos und Ofsiziershutes ist ihnen nur in gewissen, genau vorgeschriebenen Fallen erlaubt. — Die Strapazen und Entbehrungen auf den Marschen sind für den nicht wohlhabenden Offizier ebenfalls äußerst groß, weil der Gehalt, durch den er sich das Leben comfortabler machen könnte, so äußerst klein ist und den an ihn gemachten Anforderungen so wenig entspricht. Im Ganzen kann man annehmen, daß der Ge» halt der russischen Offiziere 2 bis 4 Mal und der Sold der Soldaten 6 bis 8 Mal geringer ist als in den meisten anderen europaischen Armeeen. — Folgende Uebersicht zeigt den Gehalt der russischen Infanterie-Offiziere. Der der Artillerie- und Cavalerie-Offi-ziere ist etwas, der der Garde-Offiziere bedeutend höher. Doch muß man noch dabei bemerken, daß jeder höhere Offizier einen doppelten Gehalt bezieht, erstlich einen für seinen Rang und dann einen für feinen wirklichen Dienst, nach deffen Umfang sich der lchtere richtet. Den Ranggc-halt behalt der Inhaber auch wenn er nicht im activen Dienste steht, ebenso wie ihm der Rang selber fortwährend anklebt, so daß also, wenn ein Offizier in den Civildienst eintritt und z. B. Gouverneur einer Provinz wird, er erstlich seinen Offiziers - Ranggehalt bezieht und daneben noch den als Gouverneur erhält. Die Titu Militärisches. WO laturen der Offiziere sind theils nationalrussisch, theils französisch und deutsch. Der gemeine Mann erhält jährlich 12 Rubel-) (3Z preußische Thaler); der Unteroffizier 24 Rubel; der „Praportschik" (Fähnbrich) 450 Rubel; der „Podporutschik" (Unterlieutcnant) 510 Rubel; der „Ponttschik" (Lieutenant) 600 Rubel (170 preußische Thaler); der Stabs-Capitan 700 Rubel; der Capita« 750 Rubel (200 preußische Thaler). Der Major erhalt „po lselnnnu" (für seinen Rang als Major) 875 Rubel, „i>o <1nl8>o älil^l»-nosli" werden auch Tafelgelder genannt. Der „Podpolkownik" (Unter-Oberst oder Oberstlieutenant, von dem russischen Worte „I'olk," Regi< ment) erhält „po t8o äo!««!»-nu»U" oder als Tafelgelder 1000 Rubel, wenn er aber ein Regiment commandirt, W00 Rubel. Der „Polkownik" (Oberst) empfangt als solcher oder „pa tsollinuu" 1200 Rubel und, wenn er ein Regiment commandirt, für den activen Dienst oder „po äolsck- *) Es sind hier immer Papierrubel gemeint. 256 Militärisches. nl>sti" 3000 Rubel, zusammen 2400 Rubel oder etwa 1300 preußische Thaler. Der Generalmajor erhält als solcher „po tsvlmnw" 2000 Rubel und, wenn er eine Brigade l2 Regimenter) commandirt, 4000 Rubel Tafelgelder, wenn er aber eine Division (3 Brigaden oder 6 Regimenter) commandirt, 6000 Rubel Tafelgelder. Der Generallieutenant erhalt ,,i»o lsolmmu" 3000 Rubel, „i>n <1<'l50lmu5U" als Dwisionschef 6000 Rubel, als Anführer eines Corps, das in Rußland immer aus 60,000 Mann besteht, 10,000 Rubel. Der General von der Infanterie empfangt „i>o tÄ0l,imm" 45,00 Rubel und als Corpsgeneral 10,000 Rubel, im Ganze», also 14,500 Rubel, etwa 4000 preußische Thaler. Es geht aus dieser Uebersicht hervor, daß der Genera! einen 20 Mal höheren Gehalt bat als der Kapitän, und der Fahndrich einen 40 Mal höheren als der gemeine Soldat. Viele von diesen Ofsizier-stellen haben indeß noch eine Menge erlaubter und unerlaubter Neben-Revenueen. Die einträglichsten sind die Posten eines Corpscommandeurs, eines Regiments» chefs und eines Compagniechefs. Die Provisionen, Mundvorrathe u. s. w. i» mUm'l, oder die zu ihrem Ankauf bestimmten Gelder werden nämlich vom Generalquartiermeister - Amte an die Corpscommandeure Übermacht und von diesen nicht an die Divisionen und Brigaden, sondern gleich an die Regimenter vertheilt, und von diesen Regimentern nicht an die Bataillone, son- Militärisches. 257 dem gleich an die Comp^gnieen weiter ausgetheilt, so daß also die Generallieutenants, Generalmajore, Oberstlieutenants, Majore u. s. w. nichts mit dieser Vertheilung zu thun haben, fondern nur die Corpsgenerale,, die Obersten und Capitane. Die von der Negierung für den Ankauf, ;. V. von Tuch, Brot, Heu u. s. w., bestimmten Gelder sind in der Regel nach einer allgemeinen Norm festgesetzt. Das Heu aber, das Brot, der Grütze u. s. w. sind zu Zeiten, und in manchen Provinzen immer, außerordentlich billig. Den Ueberschuß des Geldes verrechnen die Obersten, die Capitane u. s. w. zum Beßten ihrer Priuatcaffe, der sie aber nicht bloß durch Vetrügung der Regierung, sondern auch noch durch Veschneidung der den Soldaten zugedachten Portionen Vieles zufließen lassen. Dem Inhaber eines russischen „PolkS" fließt auf oicse Weise immer, besonders in den wohlfeilen Provinzen des Südens, eine Quelle bedeutender Revenueen. Auf den bezeichneten Posten bleiben daher die russischen Offiziere gern so lange als möglich, wahrend sie über die dazwischen liegenden Grade der Majore, Oberstlieutenants ?c. gern möglichst schnell hinweggehen. Während also auf diese Weise nach oben hinaus die größeren Gehalte durch allerlei Zulagen noch größer werden, geht es nach unten hinab umgekehrt. Die ohnedieß schon geringen Gehalte werden durch allsr-lei Abzüge noch geringer. Und das Register von all den 10 und 20 und 40 Kopeken, die für Bürsten, Kämme, Kreide, Beschuhung, Brot u, f. w. von den 258 Militärisches. 12 Rubeln der gemeinen Soldaten noch abgehen, ist unglaublich lang, so daß nach allen diesen Abzügen die Offiziere ihren armen Soldaten kaum so viel übrig lassen, daß sie alle Jahre 2 bis 3 Mal sich einen Schnaps kaufen können. Die Gehalte der Garden sind bedeutender, jedoch auch dem Aufwands, den theils seiner Stell« ung, theils des Aufenthalts in der theueren Residenz wegen ein Gardeoffizier machen muß, so wenig entsprechend, daß nur begüterte junge Leute in der Garde dienen können Allerdings kommen auch Viele hinein, die weniger reich sind als die Scheremetiews, Demidows u. s. w. Diese leben alsdann auf dosten jener, so daß es Garde-Regimenter giebt, deren halbes Offiziercorps auf Pferden eines Scheremetiew beritten ist. Die Garde, obgleich di« eitelste Truppe, die nur auf den Revueen und bei den Manövern sich auszeichnet, ist gleichwohl die von allen am meisten bevorzugte. Nicht nur sind ihre Gehalte höher, nicht nur wird sie vorzugsweise mit Orden und Sternen geschmückt, nicht nur sind alle Casernen, Hospitaler und anderen Anstalten für sie auf's Beßte eingerichtet, sondern auch im Range hat sie immer zwei Pas vor den übrigen Truppen voraus, so baß ein Capita« der Garde einem Oberstlieutenant der Linie gleich steht, ein Major der Garde einem Obersten der Linie entspricht u. s. w. Wenn ein Gardeofsizier sich daher zur Linie ,,überführen," d. h. versetzen läßt, so wird er, wenn er dort Major war und ein Bataillon commandirte, in der Linie Oberst und bekommt ein Regiment. Dieß Militärisches. 23V „Sichüberführenlassen" oder „Sichhinüberbitten" von einer Truppe zur anderen ist ein eigenthümlicher russischer Kunstausbruck, der alle Augenblicke seine Anwendung findet, weil nirgends die verschiedenen Waffengattungen we« Niger streng getrennt sind als in Rußland. Nach der allgemeinen Annahme, daß Alte zu Allem taugen, laßt sich ein Offizier bald aus der Infanterie in die Cavalerie, bald aus der Artillerie in die Infanterie, bald aus der Marine in's Landheer „überführen," bald „bittet er sich aus der Linie in die Garde hinüber." Ja eben so oft auch werden sie, wie schon oben angedeutet, aus dem Mi-Utar in's Civil „übergeführt." Man findet daher in der russischen Armee Offiziere, die schon alle Waffengattungen durchmachten, bald die Pike, den Säbel oder den Gardedegen schwangen, bald das Gewehr trugen oder bei'm Geschütz standen, bald zu Fuß, zu Pferde oder auf dem Schiffe sich bewegten. Sie erlangen auf diese Weise eine sehr ausgebreitete Kenntniß vom Dienst in der ganzen Armee. „Kenntniß vom Dienst," auf Russisch: „»I ««<:!,!,« 3n»y" (buchstäblich „den Dienst wissen,") — ist die höchste Kenntniß, welche die russischen Offiziere ambi-tioniren. „ v<> VVuissoilol'Injfoi'lxliv sliloslo^vomu ^o88uäi,r^!l ro!l>c)>v»iku.... (Seiner Hochwohlgeboren dem gnädigsten Herrn Obersten....), so hielt er bei dem Worte „I'olkonmku" inne, rausperte sich, setzte Militärisches. 261 semen „Iriuxolnoi" (großen Federhut) auf und genoß die Lecture der Adresse noch einige Male bis zum Worte „l>«llionl>illu." Den Inhalt des Briefes ließ er oft ungelesen. Er war den ganzen Tag gerüstet und in Parade-Uniform und paradirte damit beständig vor einem großen Spiegel auf und nieder, den er in seinem Ca-bmete zu diesem Zwecke batte aufstellen lassen. Er stolzilte hier vor seinem eigenen Bilde hin und her, indem er dabei selbst seinen Ehef und seine Untergebenen spielte. Wenn sein Kammerdiener ihm des Mor» gens den Kaffee brachte, commandirte er ihm oft schon in der Tbür zu: ,,,»!»!-»«, solmg'om," Geschwindschritt! — vorwärts Marsch! — halt! — Gewehr bei'm Fuß!" — Den Tanz konnte er nicht leiden und duldete weder Walzer noch Eccossaise in seinem Hause, weil es sehr unordentliche „Arten zu marschiren seien." — Er selbst marschirte beständig, sogar noch des Abends, wenn er zu Vette ging, welche Handlung er immer in gewissen abgemessenen Tempos vornahm. Des Nachts träumte er von Revueen, Paraden und Manövern und commandirte im Schlafe oft laut: „nn s>lil!5!»«>!!«" sein, sowohl bei der Krankheit selbst als auf dem Wege der Besserung. Alle Angestellte im Hospital, die Krankenwärter, Köche, Backer, sind ausgediente Soldaten. Der Aerzte sind 20, es kommt also auf 100 Kranke ein Arzt. Der Oberarzt, welchen ich begleitete, hatte seine volle Uniform mit allen Abzeichen seiner Würde an, und es gab in jedem Krankenzimmer bei unserem Eintritte einen außerordentlichen Aufruhr, ein Zurechtzupfen der Kleider, ein Zuknöpfen der Nöcke, ein Drdnen der Haare, als wenn es zur Parade gehen sollte, und alle Kranke außer Bett machten Front. Sogar die in den Betten richteten sich auf und machten mit dem halben Leibe Parade. Einige wäret» zu schwach dazu, versuchten es daher vergeblich und blieben bann auf Erlaubniß des Arztes ruhig liegen. Das Suchoplttnoi-Hospital ist das älteste Militärisches. 273 in Petersburg und noch von Peter dem Großen gegründet. Doch ist nur noch wenig von Peter's Bauten darin übrig. Der Cadettencorps giebt es mehre in Petersburg. Das größte für die Landtruppen ist auf Wassili-Ostrow. Es unterrichtet und erzieht mehre Tausend junge Leute zu Offizieren. Die Jugend der meiste» russischen Offiziere wurde md Segel unserer siegreichen Flotte, und Ihr werdet erkennen, daß jetzt die Reihe an uns gekommen ist. Unterstützt mich in meinen Unternehmungen, verbindet den pünktlichsten Gehorsam mit dem angestrengtesten Fleiße, und wir werden unser Rußland bald den Rang unter den gebildeten Machten Europas einnehmen sehen, der ihm gebührt." Nach jenem Siege, der zu dieser Rede Anlaß gab, war die Flotte unter der Regierung Peter's nicht weiter wirksam, und unter Katharina I. zogen sich die russischen Schisse unthatig und furchtsam in die Hafen Kronstadt. 289 von Kronstadt und Neva! zurück, welche die Flotte Großbritanniens, das der russischen Kaiserin wegen des Bündnisses mit Spanien und Oesterreich zürnte, blokirte. Es ist dieß das einzige Mal, daß russische und englische Schiffe sich feindlich gegenüber standen; doch kam es auch dieß eine Mal nicht zur Schlacht, der Friede wurde bald wieder hergestellt. Im siebenjährigen Kriege leistete die russische Flotte dem russischen Landheere, das in Preußen eingerückt war, thätigen und erfolgreichen Beistand, indem sie die preußischen Hafen blokirte, alle Seezufuhc dem Feinde abschnitt und auch hier und da an den preußischen Küsten landete. Sonach beschrankte sich die Thätigkeit der russischen Flotte unter Anna und Elisabeth blos auf das Dulden oder Ausüben von Vlokaden. Unter Peter III. sollte sie Truppen an Bord nehmen und nach Holstein schiffen, das dieser Kaiser erobern wollte. Sein plötzlicher Tod aber verhinderte die Schiffe am Auslaufen. Unter Katharina II. nahm die Marine einen neuen Aufschwung, denn unter ihr wurde die Flotte des schwarzen Meeres gegründet, und russische Kriegsschiffe umsegelten zum ersten Male Europa, um in den Gewässern der Levante die russischen Interessen zu vertreten. Die Schiffe, welche damals im Jahre 1769 aus dem Hafen von Kronstadt hervorkamen und sich der Kritik Englands aussetzten, waren schwerfällig gebaut und von unerfahrenen Seemännern geführt. Sie vollführten die Umsegelung Europas unter ungeschickter Bestehung von mancherlei Gefahren und 'Abenteuern, und in England, Kohl Petersburg, III. 13 290 Kronstadt. wo sie anlegten, hatten die Herren des Oceans alle Ursache, sich auf Kosten der russischen Seeleute zn belustigen. Indeß vollendeten sie doch ihren Lauf bis zum Archipel, und so schlecht sie den englischen Sanft fen gegenüber erscheinen mochten, so mußten sie doch schon bedeutende Vorzüge vor den türkischen Schiffen haben, denn es erfolgte im folgenden Jahre die Schlacht in der Bai von Tschesme, die den Orlows den Familiennamen Tschesmenski und einen prächtigen Triumph« bogen in Zarskoie-Sselo, allen Kriegern und Matrosen, welche dabei zugegen gewesen waren, aber eine Medaille mit der lakonischen Inschrift: „IimI" (ich war dabei) erwarb und Rußland die Herrschaft über das schwarze Meer, sowie die freie Schisffahrt durch die Dardanellen sicherte. Nachdem Katharina auch die Krim und Asow un5 die Dnieprmündungen gewonnen, wurde später noch mancher volhynische Baumstamm, bchauen und gebogen, in die salzige Fluth gebracht. Hollandische und englische Admirale, griechische und deutsche Matrosen wurden vielfach der russischen Flotte einverleibt. Nichts« destowemger war dieselbe doch nach der Constituir-ung der französischen Republik noch so wenig entwickelt und brauchbar, daß die Engländer, denen Katharina ihre Schiffe gegen die Franzosen zu Hilfe geschickt hatte, dringend baten, dieselben zurückzunehmen, weil sie ihnen melir Verlegenheiten bereiteten, als Nutzen gewahrten. War sonach die russische Flotte für die Englander unbrauchbar, so zeigte sie sich doch sowohl am El.d.- Kronstadt. 291 des vorigen Jahrhunderts, als auch im Jahre 1^09 vor dem Frieden von Freden ksham, wie ferner in der Schlacht bei Navarino und in den Jahren 1828 und 1s29 gegen die Schweden und Türken, diese uralten Feinde der Russen, tüchtig. Die Schweden wurden allmällg aus den Gewässern des finnischen Meerbusens vertrieben, wie die Türken aus denen des schwarzen Meeres. Kein Kaiser hat nach Peter dem Großen so außer» ordentlich viel für die Verbesserung und Vermehrung der Flotte gethan wie Nikolaus. Schon bei der Schlacht von Navarino waren die Englander nicht mehr so unzufrieden mit den russischen Schiffen, und dürfen wir glauben, daß der Bericht des englischen Capitans Crawford nicht blos aus höflichen und dankbaren Compli-menten für die gastfreundliche Aufnahme, die ihm am Bord der russischen Flotte zu Theil wurde, bestehe und daß auch kein Parteiinteresse Theil habe an diesen Aeußerungen, die zum Theil in der Absicht vorgebracht wurden, um das bestehende englische Ministerium der Fahrlässigkeit zu beschuldigen, so hat die russische Flotte seit der Schlacht von Navarino wieder erstaunliche Fortschritte gemacht. „Ich mußte erstaunen," sagt dieser Capitan in seinem Berichte über die russische Flotte, „über so außerordentliche Fortschritte in so kurzer Zeit, in einer Zeit, wo Englands Marine mindestens stationär geblieben. Wahrhaft zu bewundern ist es, wie die russischen Seeoffiziere, welche im mittelländischen Meere dienten, auf Alles Acht hatten, was am Bord unserer 13* 292 Kronstadt. Schisse vorging, und mit welcher Prompthelt sie von ihrer neuerworbenen Kenntniß den rechten Gebrauch machten. Es herrscht unter den russischen Matrosen und Marineoffizieren ein LZprit äo corps, ein Wetteifer, ein Streben, Alles auf's Beßte auszuüben, ein Enthusiasmus für die vaterlandische Flotte und ihre Blüthe, wie man sich dieß Alles anderswo nicht besser wünschen könnte. Es war für mich, als einen englischen Ma-rinecapitän, ein eigenes Gefühl, als Linienschiffe und 6 Fregatten den Kern bilden, und aus 70 Kanonenboo» ten. Stellen wir daher die Kräfte der Seemachte auf der Ostsee nur nach den Linienschiffen zusammen, so giebt es hier 26 russische und nur 16 mchtrussische *) Das Warum wissen wir uns nicht zu erklären. Preußen hat Schiffsbauholz in Ueberfluß, befitzt eine Handelsmanne, die dcs Schutzes zuweilen sehr bcndthigt sein türmte, und hat dabei eine Küstenentwickelung an der Ostsee hin, die veihältnißmäßig ungleich bedeutender ist alö die Kü-stencntivickellmg Rußlands, und doch bcsitzt Preußen kein einziges Kriegsschiff, beraubte sich bisher der Mittel, gcaen die Mächte jenseits d«s Meeres angrissöwcise verfahren zu können, und ließ sich in Kriegszeiten ruhig von dcr See abschneiden, während Rußland, sowie es einen Fuß an's Meeresufer sehte, auch sogleich in's Schiff trat. Kronstadt. 295 Linienschiffe. Der russische Pavillon könnte demnach entschieden als dominirend auf der Ostsee angenommen werden. Die russischen Schiffe haben an der Ostsee jetzl 300 Meilen Küstenland als russisches Eigenthum zu vertheidigen. Vor Alexander besaß Rußland hier nur 170 Meilen Küste, vor Katharina nur 120 Meilen, zur Zeit Peter's I. nur 1W Meilen, und vor ihm, b. h. vor 150 Jahren, keinen Fuß breit. Die Ereig. nisse und besonders auch, im Dienste des Schicksals, die Englander haben hier im Norden dem Steigen der russischen Macht eben so außerordentlich vorgearbeitet, wie im Süden am schwarzen Meere. Die Landung der Englander bei Kopenhagen und der Raub der dänischen Flotte sind Vorfälle, zu denen die Nüssen eben so in's Fäustchen lachten, wie bei der Schlacht bei Navarino, dem Raube der türkischen Flotte durch den Pascha von Aegypttn u. s. w. Befragt man nicht die Gesinnungen der Herrscher und die Plane und Absichten der Einzelnen, — wir lassen sie hier ganz aus dem Spiele und wollen sie auf keine Weise verdächtigen — befragt man die Verhältnisse, die geographischen Situationen, die historischen Entwickelungen, die Neigungen und Bestrebungen der Massen, so ist es offenbar, daß Rußland, welches jetzt bereits die ganze, 400 Meilen breite Vasis der europaischen Halbinsel, das ganze Piedestal, auf dem diese schöne Jungfrau steht, in Besitz genommen hat, auch danach strebt, sie mehr und mehr in ihren Flanken 296 Kronstadt. anzugreifen. Nußlands geographisch «politische Stellung Europa gegenüber ist diese. Mit seiner ganzen Centralmaffe drückt es auf Mittel-Europa, d. h. Deutschland, seine beidm Flügel bilden seine beiden geflügelten Flotten, die des schwarzen und die des baltischen Meeres. Einstweilen ist das Wachsthum dieser Flügel noch eingeschlos» sen in den Kapseln der beiden Binnenmeere, von denen das eine bei'm Bosporus, das andere bei'm Sunde sei« nen Durchbruchspunct hat. Bei dem schwarzen Meere ist die Knospe längst zum Durchbruche reif, Haltung der oben genannten 12 Kriegshafen, der 17 Spi-lalstationen der Flotte, der Bildungsanstalten für das Seewesen zu Petersburg, Kronstadt, Nikolajew, Arch» angel, Cherson und Odessa, endlich der 12 großen Flöt-tenhoSpitaler auf jahrlich 60 Millionen Nudel anschlägt. Seit den letzten 11 Jahren fast völliger Unthatigkeit der Flotte würde bei dieser Annahme die ganze Marine nicht weniger als nahe an 700 Millionen Rubel oder ungefähr 16 Mal die Einkünfte des Königreichs Polen verschlungen haben, und außer einigen Expeditionen nach Nordamerika und einigen Truppentransporten nach Kon-stantmopel und dem Kaukasus leistete sie für diesen Summen nichts. Nicht einmal Meerespolizei wurde dafür geübt. Aus dem Allen ist nun natürlich und offenbar/ baß Rußlind seine Flotte für seine jetzigen Verhaltnisse kaum nöthig hat) sie wurde in der Hoffnung auf die Zukunft gebaut. Kronstadt. 305 Rußland muß Schiffe unterhalten, damit, wenn es bessere Häfen erlangt hat, es eine Flotte hineinlegen kann. Die ganze Institution der russischen Flotte geht eben so wesentlich auf zukünftigen Erwerb aus, wie die seiner Landarmee. Wenn Nußland dereinst im Besitze des Bosporus und des Sundes sein sollte, erst dann würde seine Flotte nöthig sein, erst dann würde sie Bedeutung und Gewicht für den Staat selbst erhalten; jetzt ist sie für das Land nur eine L^ist, und eben deßwegen ist sie für andere Staaten um so gefährlicher, denn Rußland wird sich bemühen, diese Last los zu werden. Miscellen, Notizen, Zugaben und Nachträge. Vorbemerku n g. ^?ir versuchten es in dem Vorhergehenden, einige der Bemerkungen, die wir in der großen Residenz des Nordens machten, zu allgemeinen Schilderungen und Skizzen zu verschmelzen. Es ist uns indeß noch Einiges in unseren Tagebüchern geblieben, das sich in die Kranze, die wir zu stechten suchten, nicht fügen wollte. Wir geben hier diesen Nest zu einem bunten Bouquet zusammengesteckt. Nicht Alles will sich auf der Tenne völlig reinigen lassen, und doch will der Arbeiter nicht gern ein brauchbares Körnchen verlieren. Hier ist die Nachlese unserer Ernte, hier und da vielleicht mit etwas Spreu und Staub — woran es übrigens auch wohl dem Vorhergehenden nicht gefehlt haben wird — ver« mischt; man nehme sie noch mit in den Kauf. Die deutschen Musikanten. 307 Die deutschen Musikanten. Eines Tages durch die Straßen von Petersburg wandernd, blickte ich mit mehren Gaffern durch das Thor eines Palastes in das Innere seines Gehöftes. Es bot sich mir darin folgende Scene dar, die ich lieber malen als beschreiben möchte. In der Mitte des Gehöftes stand ein Musiker, der die Harfe und den Gesang einer Frau mit seiner Violine begleitete; es waren Deutsche. Durch den Thorweg drängten sich alte bärtige Nasnoschtschiks und Iswoschtschiks, die ihre Pferde so weit als möglich hinter sich herzogen, mit gespitzten Ohren herein, Theeverkaufer und kleine hübsche, Sbiten feilbietende Burschen unter ihnen, mit weiten Augen, als wollten sie die Musik, nach der die Russen wie die Baren nach dem Honig laufen, erblicken oder verschlucken. Die Harfentöne der armen deutschen Sängerin schlugen an den hohen Wanden des Palastes empor, und auf den verschiedenen Balconen und Gangen seiner Etagen*) standen allerlei lauschende Gruppen. Auf dem einen hielt ein Koch eine Braten schüssel, welche seine Hände nur noch mechanisch auswischten, wahrend seine Ohren und seine ganze Allfmerksamkeit von den Tönen bezaubert waren. Ein alter langbärtiger Russe hatte sich über das unterste Gelander gelegt und strich wohlge- *) In der Bauart der Petersburger Häuser ist vicl Südliches, und es laufen gewöhnlich im Inneren der Gehöfte mehre oben verdeckte Lorndore zur Verbindung der Ammer hcrum. 308 Die deutschen Musikanten. fällig seinen Vart, als bade er ihn in Musik; ein paar hübsche Mädchen guckten durch die Schiebfenster, und kleine kosakische Burschen kamen die Treppe herunter, um den armen deutschen Musikern einige Gaben von ihren Herrschaften zu überbringen. Auch wir brachten ihnen, als sie ihren Gesang geendigt, unser Almosen und schlössen uns dann, von deutscher Musik und Deutschland redend, an die Fortwandernden an. Die Leute waren weit gereist, bis nach Sibirien hinein, wo sie einen ihrer Angehörigen, der die Klarinette geblasen, verloren hatten, und bis in die Krim und die Steppen, wo ihre Tochter, welche die Almosen sonst eingesammelt, gestorben war. Nun aber, auf Harfe und Violine zusammengeschmolzen, wollten sie, wie Arion von Tarents Gestaden, von Petersburg aus heimschissen, ihre gesammelten Güter bei den Ihrigen zu verzehren. Es giebt, glaube ich, kein zwei-tes Volk, das so musikdurstig ist wie die Nüssen, und doch lassen sie sich gewöhnlich von Fremden vorspielen. Sie haben mehre nationale Instrumente und singen unter sich am Herde und bei'm Spinnrocken die schönsten Me» lodieen, die sie selbst dichteten; aber keines ihrer Instrumente ist ein öffentliches geworden*). Die ganze Bankelsangerei von Nußland ist in den Handen von Deutschen. Deutsche Musikanten, aus Sachsen und Böhmen, Orgeldreher aus Schlesien und vom Schwarz- *) Nur in der Ukraine unter den Kleinrussen giebt «S Bänkelsänger, gewöhnlich jedoch nur alte Leute. Die Siüschen. 309 walde, sowie Sanger aus Tirol durchziehen beständig das ganze Reich. Auch die deutschen Eolonieen an der Ostsee, in Riga, Dorpat und Reval, verfertigen viele Orgeln, mit denen arme Leute aus diesen Städten singend und leiernd in das Innere von Rußland ziehen, über den Ural und Ob hinaus. Vis an den Fuß des Altai und bis an Chinas Mauer erklingen diese Töne beutscher Orgeln, und vom Fluge des russischen Adlers fortgetragen, machen sich die Deutschen, die schon seit Mozart'S und Haydn's Zeiten die Musiker Europa's geworden sind, auch zu Musikanten des halben Asiens. Die S i H sch e n. Zu den Dingen, welche dem Fremden in Petersburg zuerst als etwas Besonderes auffallen, gehört eine gewisse Art kleiner Thürme, die man hier und da übcr den Hausern hervorblicken sieht. Sie sind nicht sehr hoch, obgleich hoch genug, die ihnen zugetheilten Nevicre überschauen zu lassen, rund, mit kleinen über einander gereihten Fenstern versehen, mit einer Galerie umgeben und oben mit allerlei eisernen Gestängen und Schnüren, deren Bedeutung man nicht sogleich versteht, gekrönt. Es sind dich die Thürme der Siaschen, der Polizeibauser, die zur Ueberwachung der beiden Elemente dienen, von denen Petersburg am meisten zu fürchten hat, des Feucis und dcs WasserS. Die Galerieen die- 310 Die Siäschen. ser Thürme werden beständig von ein p.iar alten, in Pelze gehüllten Wachtern umwandelt, welche die Augen über die ihnen angewiesenen Quartiere Tag und Nacht schweifen lassen. Das eiserne Gestänge ist ein telegraphischer Apparat, um jede drohende oder schon eingetretene Gefahr der Polizei und dem Publicum sogleich zu melden. Für die Verkündigung von W^ffergefahr haben sie rothe Fahnen, für das Feuer bei Tage kugelförmige Ballons von schwarz angestrichenem Leder oder schwarzer Sackleinwand, für die Nacht roth gefärbte Lampen. Von jeder Classe von Zeichen sind vier Stücke vorhanden, die, in verschiedene Konstellationen und Figuren geordnet, diesen oder jenen bedrohten Stattheil bezeichnen. Jeder Stabttheil hat seine Figur. Vier Zeichen sind völlig genügend für die 13 Stadtlheile Petersburgs, denn man kann sie in mehr als 30 verschiedene Constellations» bringen, wie beifolgende Probe zeigt: tt aaa 0 <»n o OOl» <1 <» u tt 0« 0 " "tt 0 0" 0 o 0 0000 0 0 o <» 0 0 0 0 0 0 0 U 00 00 00 00 Oft »<» 0 <» 0 0 00 u <» 00 0 0 0 <» 00 0 tt 00 ft a 00 0 0 <» Oll 0 0 0 0. <> <» 00 0 0 0 000 0 000 0 0 000 Die Siüschen. 311 Die Fahnen fürchtet Petersburg allerdings, denn es kennt seine schwache Seite gegen das Wasser. Aus dem Feuer macht man sich hier weniger; denn wollte der Petersburger bei jedem Brande sich Nachts aus dem Bett« erbeben, so hätte er kaum eine rubige Nacht. „Eines Abends trat ich an's Fenster meines Hauses am englischen Quai," erzählte mir Jemand, „und erblickte ein Feuer. Was brennt da? fragte ich meinen Bedienten. „„Es sind Hauser auf der Wiborg'schen Seite."" — Und dort? — „„Es ist der Galeeren. Hafen, der in Flammen steht."" — Am dritten Fenster erblickte ich ein drittes Feuer. „„Das ist das Wintervalais," " sagte mein Bedienter." — Es ist fast kein Schloß und kein Stabtquartier in Petersburg, das nicht schon einmal seinen Hauptbrand gehabt hatte. Die Fahrlässigkeit der Russen in Bezug auf das Feuer, die vielen Ofenfeuer, die den größten Theil des Jahres in diesen nordischen Hausern unter» halten werden, die vielen kleinen Heiligenlampen, welche Tag und Nacht in jedem Hause brennen, und endlich die große Menge von Holz, die bei der russischen Architectur verschwendet wird, mögen die Hauptursachen dieser häusigen Feuercalamitaten sein; Letzteres lst wohl die vornehmste von allen. Petersburg hat mehr Holz und daher auch mehr Brande als Berlin, und Berlin mehr als Wien, das schon viel hausiger Steine bei seinen architektonischen Zwecken verwendet*). In Rom, Neapel, *) In Wien sind z. V. die meisten Treppen von Stein, in Berlin weniger, in Petersburg noch weniger. 312 Theater. wo noch mehr Stein, ist noch weniger Brand. Die russische Negierung geht, wie wir schon oben bemerkten, inmer darauf laus, Petersburg und überhaupt alle Städte des Reichs mehr und mehr in Stein umzuwandeln, und diese Petrisi'cirung hat selbst in Moskau schon so bedeutende Fortschritte gemacht, daß ein zweiter Brand von Moskau in der Ausdehnung wie der von 1^12 unmöglich ist, und daß, wenn ein zweiter Napoleon käme, er schwerer zu vertreiben sein würde als der erste. Die Theater. Vor 7l) Jahren hatte Petersburg noch keines der jetzt existirenden Theater, denn 1780 wurde das erste gebaut und zwar das kleine Hoftheater, das sich an das Winterpalais und die Eremitage anschließt. Jetzt hat die Stadt 5 Hauptschauspielhauser, und zwar außer dem genannten Hoftheater das sogenannte „große oder steinerne Theater," das Alexandrow'sche und das Mi-chailow'sche Theater und dann das Theater auf Kam-mennoi-Ostrow. Das Hostheater wird nur selten benutzt und ist dabei ausschließlich den Vergnügungen des Hofes gewidmet. ?luf dem Theater der Steininsel wird nur dann und wann im Sommer gespielt; das Theater Michael ist im Inneren das eleganteste von allen, das Aleranbrow'sche das schönste in der äußeren Architectur. Das steinerne, auch das russische Theater genannt, ist das größte und das einzige, wo es fast alle Tage Vorstellungen giebt. Theater. 313 Die Logen und Sitze in diesen Theatern sind geräumiger und bequemer als in den meisten deutschen. Im Parquet hat Jeder seinen eigenen großen und bequemen Lehnsessel, die kaiserlichen Logen sind äußerst reich und dabei doch nicht überladen, sondern höchst geschmackvoll ausgeschmückt. Die Kronleuchter sind prachtvoll, und die Beleuchtung ist vollkommen; die Corridors, die Treppen, die Spiegelgelander und Buffets, mit denen sie verziert sind, machen glauben, daß man in «inen kaiserlichen Palast trete. Auch was die Größe anbetrifft, so können sich jetzt die Petersburger Theater mit den meisten Theatern der europaischen Residenzen messen, allenfalls die italienischen ausgenommen. Das große steinerne Theater faßt über 40W Menschen, die größten Pariser sollen nur 3500 fassen. Da jene 4000 Menschen in Petersburg größten« theils Leute sind, die sich zum Besuche des Theaters nicht ihrer eigenen Füße bedienen, so gewahrt am Schlüsse der Vorstellung der große, mit Tausenden von Equipagen bedeckte Theaterplah ein Schauspiel, das an Interesse oft das im Inneren des Hauses geschaute überbietet. Der ganze weite Platz ist mit Pechfackeln erleuchtet und das HauS mit kleinen eisernen Hüttchen oder Tempelchen umgeben, unter denen die Kutscher bei hochloderndem Feuer auf dem Schnee bivouacquiren. So weit die Flammen ihr Licht werfen, erleuchten sie Droschken, Britschken, vierspännige Kutschen und ga-lonnilte Lakaien. Es ist für die Polizei kein geringes Stück Arbeit, diesen ungeheueren Equipagenknäuel sich Kchl, Petersburg. 111. 14 314 Theater. regelmäßig und ohne Kollisionen entwickeln zn lassen. Lärm, Geschrei und Commando dec Kutscher und Gens-d'armen hört man bier wie in einem kriegerischen Lager bei nächtlichem Ueberfall. Eine mächtige Heroldsstimme draußen verkündet, welche Equipage vorfuhr, z. V.: „lll'nlinl 8emlmt?.ko>si Ii»retu ^«lo>vu!" (der Grafin Semnihkow Equipage fertig!) „Ki-nlmi 8em-nil7.kl)wi lnn«ur. Nr. 15. Hotel des Grafen Gregor Wladimiro-witsch Orlow, Oberforstmeisters. Nr. IN. Haus des Hofraths Trepolski. Nr. 17. und 18. Hauser der Erben der Fürstin Anna Petrowna Gagarin. Nr. 45. Haus der Wittwe Durup, Hofräthin. Nr. 44. Haus des Collegienraths Albrecht. Nr. 43. Haus des Handschuhmachers Dehring. Winde. 327 Nr. 42. Haus der Frau Doctor Ebeling. Nr. 41. Haus des Kaufmanns Tairow. Nr. 40. Palais der Fürstin Dolgorukl. Nr. 39. Haus des Kaufmanns erster Gilde Sievers. Nr. 38. Haus des Kaufmanns zweiter Gilde Truchmanow. Nr. 37. Haus der Erben des Backers Johann Rolffsen. Nr. 36. Haus des Kaufmanns erster Gilde Kuwtschinikow. Nr. 34. Haus des Backers Werth. Nr. 33. Haus des Buchhändlers Anton Rospini. Nr. 32. Haus deß Architekten Paulson. Nr. 31. Hotel des Fürsten Sschtscherbatow. Nr. 30. „Die große Apotheke." Solche Verzeichnisse der Leute, die sich Nachbarn nennen, sollten häusiger von den Reisebeschreibern gegeben werden, sie stehen gewiß in Reiseskizzen nicht müssig. Dem Leser wird Gelegenheit gegeben, mit der Phantasie eines viuklo dulloux über solche Listen hinzufliegen und sich die eigenthümlichen nachbarlichen Verhaltnisse der Stadt auszumalen. Winde. Petersburg ist die windigste Residenz Europas. Dem Journale des Ministeriums des Inneren zufolge hat man durchschnittlich nur zehn völlig windstille Tage im Jahre zu erwarten. Für das Jahr 1827 ist nur 328 Temperatur. ein einziger windstille». Tag aligemerkt. In die Monate Juni, Juli und August fallen die meisten windstillen Tage, oft drei bis vier Tage in einen Monat. Man kann sich demnach denken, wie selten es hier, wo Einem die Diener des Aeolus beständig vor den Ohren heulen, möglich ist, zu einem stillen, gemüthlichen Genusse der freien Natur zu kommen. Die meisten Winde blasen die Stadt aus Westen vom sinnischen Meerbusen her an. Reiner Westwind weht den siebenten Theil des Jahres, Südwest wahrend eines ganzen Vierteljahres. Süowest ist der hausigste aller acht Hauptwinde der Windrose, nach ihm folgt der ihm gerade entgegengesetzte Nordost, der wahrend des siebenten Theiles des Jahres weht, und danach Ost und Südost, von denen jeder zwanzig bis vierzig Tage weht; Südwind giebt es den achten Theil des Jahres, Nord ist der seltenste Wind, da er nur etwa siebenzehn bis zwanzig Tage weht. Dcr aus dem Meere kommende West- und Südwestwind mag hauptsächlich an der Feuchtigkeit und dem Nebclreichthum des Klimas Schuld sein. In h^ Regel ist wahrend eines Drittels des Jahres der Hlmmel mit dickem Nebel bedeckt, und nu,r sechzig bis neunzig Tage sind völlig heiter. T e m p e r a t u r. Durchschnittlich hat Petersburg cine Temperatur von -^ 3 Graden; aber im Jahre 1771 l>Me es nur ^.0,96" und 1609 gM nur — 0,01". Dieß wa- Sonne. 329 ren in neueren Zeiten die kältesten Jahre; die wärmsten dagegen waren 1752 mit -l- 4,34", 1794 mit -^ 4,23" und 1826 mit -^ 5,36" mittlerer Temperatur. Die Temperaturgrade der kältesten Monate sind nach einem Durchschnitte von hundert Jahren im December: — 4", - Januar: —7", - Februar: —6", - März: —3", die der heißesten Monate aber.- im Juli: -j- 14", - Auaust.- -l- 13". Sonne. In einer Beschreibung von Petersburg finde ich folgende Stelle: „Es ist hier Alles so lieblich wie bei uns, die Flur lachend, die Sonne heiter. Als ich hierher kam, bildete ich mir ein, ich würde eine graue Sonne finden; allein dieß sind die Einbildungen und Uebertreibungen der Reisenden. Die Sonne lacht hier so schsn wie auf Deutschlands Fluren." — Da wir ebenfalls von der grauen Petersburgischen Sonne geschrieben und einen Freund ntirt haben, der dort die Sonne seit Jahren nicht glaubte gesehen zu haben, so veranlaßt uns dieß, um unseren Freund zu vertheidigen, zu folgender Erklärung. Wenn man von Petersburgischer, preußischer, öster- 330 Russisicirte deutsche Namen. reichischer und italienischer Somie, ihrer Farbe, ihrem Glänze und ihrer eigenthümlichen Krast spricht, so kann man natürlich nach einem einzigen schönen Sonnenauf« gange oder nach dem blauen oder grauen Himmel eines Tages dieß nicht beurtheilen, sondern man muß alle die verschiedenen Phasen des Glanzes und alle die verschiedenen Farbennuancen, welche die Sonnenscheibe im Laufe des Jahres annimmt, gleichsam auf dieselbe Farbenpalette tragen und mischen und dann nachsehen, welches Resultat sie geben. Die so entstehende Farbe wird die eigenthümliche Farbe der Sonne dieses oder jenes Himmelstriches sein. Für Petersburg also z. B. müßte man so verfahren: so und so viele Monate ist die Sonne gar nicht zu sehen, ihre Farbe also schwarz oder doch dun-kelgrau, so und so viele Wochen gelblich schimmernd, so und so viele Wochen silbern oder milchig, so und so viele Tage feuer- oder blutroth und so und so viele Tage hellgolden strahlend. Mischte man nun dieß Alles durch einander, so würde auf diese Weise die eigen» thümliche trübgraue Farbe der Petersburger Sonne als Facit resultiren. Russificirte deutsche Namen. Unter den russischen Familien und Familiennamen findet man viele altslavischen, sehr viele aber auch tatarischen, sinnischen und mongolischen Ursprungs. Wir werden wohl später einmal die Elemente der Misch- Nusslsicirte deutsche Namen. 331 ung der russischen Familien naher untersuchen. Hier in Petersburg, wo beständig viele deutsche Elemente zu dem Ruffenthume übertreten, wollen wir nur einer Branche der russisicirten Familiennamen erwähnen, der ursprünglich deutschen nämlich. In der Regel haben allerdings die Deutschen, wie wir oben auseinander setzten, ein Interesse dabei, sich so lange als möglich bei ihren deutschen Namen und Privilegien zu erhalten, allein mit der Zeit gehen diese doch ver» lore«. Die völlig dem russischen Reiche einverleibten Deutschen gewinnen dann das Russenthum so lieb, daß sie wünschen, ihm ganz und gar, also auch in Bezug auf ihre Namen, anzugehören und alle Erinnerung an ihren deutschen Ursprung ^sgcss«!!, zu machen. Ich habe sehr viele Deutsche im Inneren von Rußland gefunden, die damit umgingen, ihren deutschen Namen durch Anhangung irgend einer der russischen Endsylben „kow," „witsch" oder „jew" in einen russischen zu verwandeln. In Ungarn haben die Deutschen bekanntlich dieselbe Sucht, ihren ehrlichen deutschen Familiennamen zu magyarisiren. Leider, leider verrathen wir Deutschen unter Fremden unsere Nationalität eben so oft und leichtfertig wie Petrus den Herrn. In Rußland tra» gen die Russen, welche die deutschen Namen immer auf ihre Weise auSsprechen, zu dieser Umwandelung mit bel. Aus dem Petersburgischen Adreßkalender will ich nun zum Beispiel einige solche Namen anführen, die mir verdächtig scheinen und gewiß nicht achte, allrussische, sondern verkappte deutsche sind. Herr Vurenkow 332 Die Raschtschirs. war früher ohne Zweifel ein Herr Buren ober Vüren, Herrn Furow's Großvater vielleicht ein H«r Fuhr oder Führ, die Herren Henrikows stammen ohne Zweifel von einem ylnnsieiir Uenri ab, so vielleicht Papkow von Pave, Mülnikoff von Mülner, Achtow von Acht, Krempin von Krempe, Normannow von Normann, Oblomkow von Blom, Pastorow von Pastor, Reitow von Reit, Rühlow von Nühl. Ich schließe dieß nicht nur aus einer oberflächlichen Achnlichkeit der Laute, sondern auch daraus, baß jenen Namen durchaus kein russisches Wurzelwort zum Grunde liegt. Die ächt slavischen altrussischen Familiennamen lassen sich nie verkennen. Die Näschtschiks. ^ Eine eigenthümliche Art von Handwerkern in Petersburg, wie überhaupt in allen russischen Städten, sind die Raschtschiks oder Bildhauer in Holz*). Es ist natürlich, daß sich bei den Bewohnern der unermeß« lichen Wälder Rußlands eine besondere Geschicklichkeit im Holzschneiden und Schnitzeln entwickeln mußte. Viele hausliche Gerathschaften, die wir aus Thon oder Eisen '"- *)s Das Nort Räfchtsthik kommt von ,,lö«»tz — schnei« den" her und heißt daher buchstäblich: „Schneider." Die Russen suppliren dabei in Gedanken das Holz, „Holzschnei» der," wie wir bei unseren Schneidern Tuch oder Kleider sup-pliren: Tuch- oder Klliderschncider. Dem Räschtschik, dem Arbeiter in Holz, steht der „Skulptehr," der Arbeiter in Stein, gegenüber. Die Räschtschiks. H33 haben, sind bei den Russen aus Holz geschnitzt (Becher, Töpfe, Wasserkrüge, Geschirr an den Wagen u. s. w.). Für diese Sachen, welche den Haushaltungen nöthig sind, giebt es verschiedene Orte in Rußland, die solche bemalte und lackirte hölzerne Gerathschaften sehr hübsch verfertigen. Die Räschtschiks in den Städten arbeiten gewöhnlich für die Verzierung beS Inneren der Kirchen und an den goldenen Nahmen der Heiligenbild» dcr, für welche unermeßliche Massen von Holzschnitzereien verbraucht weiden. Während fast in allen anderen Handwerken die Deutschen den Russen voraus sind und in Petersburg entschieden die Mehrzahl bilden, sind die NaschtschikS fast sämmtlich Russen. Ich besuchte den .Nascht-schik, Herrn P., um mir die Arbeit und Werkstatt eines solchen Mannes zu besehen. In Herrn P. selbst fand ich einen altrussischen, langbartigen Mann, der seinen Kaftan noch gerade so trug, wie die Mongolen es vor 5W Jahren den Russen gelehrt haben. Da er sah, daß ich ein Njemetz war, so empfahl er mich seinem zwanzigjähri' gen Sohne, der mir Alles aufs Beßte expliciren würde. Dieser junge Gentleman trug einen deutschen Frack und seine Haare ü lu ^'«une k>»noe, er redete deutsch und französisch. Da mir Beide gleich interessant waren, sowohl der antike Vater als der moderne, umgewan« delte Sohn, so lud ich sie Beide ein, bei mir zu blei« den, was sie auch gern und willig thaten. Der Vater strich seinen lcmgen Bart und erzählte mir nun, daß 334 Die RäschtschikS. er alS Mushik nach Petersburg gekommen sci und ganz klein angefangen habe, — der Sohn aber zog sich das seidene Halstuch zurecht und sagte, baß sie jetzt vierzig Arbeiter in Lohn hatten und ihre Einrichtung nunmehr Kie bedeutendste in Petersburg sei. Der Vater zeigte mir die Weinreben und Blumengewinde, die er zur Ausschmückung einer Kirche in Holz ausarbeiten ließe, der Sohn siel ihm in's Wort und prasentirte mir ein Paar in Holz geschnitzter Figuren von Vcnus und Hercules, die, ich weiß nicht welcher Ambassadeur bestellt habe, — der Vater deutete auf ein Paar riesengroßer Podswetschniks (Kirchenleuchter), die für die neue Smolnoi-Kirche bestimmt seien, der Sohn auf zwei elegante Kandelaber nach italienischen Mustern und auf ein Paar Guirlanden zu Rococo sop has, wie sie jetzt in Petersburg Mode sind. Beide aber waren gleich eifrig, mir zu erzählen, daß ihr Institut jetzt das vor-nebmste seiner Art in Petersburg sei, daß auch der Kaiser von ihnen wüßte, und sie vor einigen Jahren eine Verdienstmedaille von ihm erhalten hatten. Die Zeichnungen, deren die Leute sich bedienten, waren gar nicht übel, und ihre Geschicklich kcit, sogleich nach solchen stachen Bildern oic ganze runde Figur auszuführen, war wirklich bewundernswerth. Ein jeder der vierzig Arbeiter hatte eine solche Zeichnung vor sich liegen und arbeitete mit kleinen Meißeln, Messern und Hämmern in einen Lindenblock hinein, der sich zusehends unter seinen Fingern gestaltete. Unter den Kunst- und Meisterstücken, welche die Leute in ihren muffigen Stun- Die Naschtschiks. 335 den ausgeführt hatten, waren wirklich ganz allerliebste Sachen, so z. B. ein Bwmenbouquet mit den zartesten Blumenblättern, auf deren einem eine Raupe kroch, während auf dem anderen eine Fliege und ein Schmetterling saßen, und zwischen welchen Aehren emporragten, Alles bis auf die Veinchen und Fühlfaden und die feinsten Härchen aus Holz gearbeitet. Das einzige Holz, dessen sich die Raschtschiks bedienen, ist das Lindenholz. So gut ihr Schnitzwerk ist, so schlecht sind ihre Vergoldungen. Das Rococo, das aus den Archiven der Tischler des vorigen Jahrhunderts wieder hervorgesucht worden und in Mode gekommen ist, hat daher auch eben dieser Raschtschiks wegen nirgends mehr Glück gemacht als in Rußland, wo alle Welt sich Rococo-Mö-beln bei den Näschtschiks schnitzeln laßt. Von Herrn P. ging ich noch zu Herrn Sa-chariew (Zuckerer), und von Herrn Sachariew zu Herrn Pustünin (Leerkopf), lauter Raschtschiks, und fand bei allen dieselbe Einrichtung, bartige Vater, französirende Söhne, goldene Blumengewinde, lindenholzene Statuen. Alle meinten, diese Sache verstanden die Russen besser als die Deutschen, auch sei nur ein einziger deutscher Holzschneider in Petersburg, der aus freier Hand mit dem Messer und Meißel das Holz wie sie bearbeite, dieß sei Herr K. Ich besuchte darauf Herrn K., der mir gestand, baß die Sache sich so verhielte, wie mir die russischen Herren gesagt, aber die Vergoldung der Russen fti schlechter als die der Deutschen, und es sei auch sonst noch manches Aber dabei. Die Hauptbestcllungen in 336 Die Näschtfchils. dem Artikel der Holzschnitzwerke gingen von den russischen Kirchen aus, und da hätten denn die Russen aus doppelten Ursachen immer etwas vor den Deutschen voraus, erstlich weil sie die Bestellungen durch ihre Con-naissancen mit den russischen Popen leichter erhielten, und dann, weil sie alle solche Aufträge, die gewöhnlich dem Mindestfordernden übertragen würden, am leichtsinnigsten übernahmen. Ein Deutscher, der die Arbeit so tüchtig und gut als möglich machen wolle und auch, im Fall er zu kurz schösse, sich auf keine andere Weise durch Fürsprache, Konnexionen, Intriguen u. s. w. zu helfen wisse, könne nie so tief herab bieten als ein Russe und bekäme daher den Auftrag gewöhnlich nicht. «' Ich bat Herrn K,, mir diese Sache durch ein Beispiel naher zu erläutern, und er sagte: „O, Beispiele sind m'cht fern; noch neulich wurde die Verfertigung aUes Holzschnitzwerkes für die neu erbaute N.-Kirche dem Mindestfordernden ana/boten. Ich überschlug mir nach dem vorliegenden Plane Alles genau, und das Holz, die Arbeit, das Gold, die Kürze des Termins, innerhalb dessen man das Ganze beendigt haben wollte, u. s. w. in Rechnung bringend, fand ich, daß ich meinen Preis durchaus nicht unter 12,0l1l) Rubel stellen könnte. Ein russischer Naschtschik erbot sich, mit der Summe von 7W0 Rubeln zufrieden zu sein. Man gab ihm den Auftrag, er wurde aber nicht zu der bestimmten Zeit fertig, und das Einweihungssest der Kirche musite verschoben werden. Auf Fürsprache guter Freunde wurde nicht nur der Verschub dem Meister verziehen, sondern Die Rasnoschtschiks. 337 man zahlte ihm auch, worauf er schon im Voraus gerechnet hatte, noch 5000 Rubel nach, unter dem Vorwande, man habe spater eine größere Leistung von ihm verlangt als anfangs, und es fei platterdings unmöglich gewesen, mit der Summe auszukommen. Die Arbeit steht jetzt kaum zwei Jahre, und das Gold fängt schon an zu erblinden." Wie Alles in Rußland so ziemlich nach demselben Schnitte ist, so sind cs auch dergleichen Geschichten von Conttacten und Lieferungen. Die Rasnoschtschiks. „Kann ich mit meiner Waare dienen?" Ich weiß nicht, ist es das unruhige nomadische Element, das dem russischen Blute beigemischt ist und welches macht, daß in dem großen Reiche Alles nicht so stabil und sedentar ist wie in unserem soliden Deutschland, — ober ist es der regsame speculative Geist der russischen Krämer und Handwerker, der sie überall um-herzuspähen und die beßts Gelegenheit zum Verkauf ihrer Waare aller Orten aufzusuchen spornt, — genug, offenbar treiben sich — umni» «un «ecum porlnnlo» — im russischen Reiche weit mehr Kramer und Handwerker nomadisirend umher als irgendwo bei uns, und viele von den Kleinhändlern, die wir in Deutschland vermummt, ln sich gekehrt und stumm auf den Markten sitzen sehen, ruhig abwartend, ob es einem Vorübergehenden gefalle, bei ihnen anzusprechen, wandern, Kohl. Petersburg. III. 15 338 Die Rasnoschtschiks. ihre Waaren anpreisend, schreiend und Jedermann höflich ansprechend, in den Straßen der russischen Städte umher. Vielleicht ist das muhe Klima, das Beweg' ung verlangt und keine ruhige Muße gestattet, auch mit Schuld daran. Auch die Weitläufigkeit der russischen Städte mag ein solches bestandiges Wandern der Krämer nöthig machen, da, wenn sie nicht zu ihren Käufern kämen, bei den weiten Wegen von diesen wohl Vieles ungekauft bleiben möchte. Die Behendigkeit der Russen, die sich in Alles zu schicken wissen und mit Wenigem behelfen, macht in vielen Fallen ihnen cin solches Hausiren leicht, wo es einem Deutschen völlig unmöglich sein würde. Um das zu begreifen, braucht man nur den russischen Drechsler anzusehen, den der Herr von Engelhardt im vierten Bande seiner trefflichen Miscellen hat abbilden lassen, und der den ersten beß-ten jungen elastischen Virkenbaum als Triebfeder feiner Drechselbank benutzt. Die Russen nennen den mit seinen Waaren umhergehenden Kaufmann „Ra sno sch tsch i k"*). Jedem Russen ist ein entschiedenes Talent für das Hausiren angeboren, und keinem Geschäfte widmen sie sich lieber als diesem. Peter der Große wußte dieß sehr wohl, alS er den Juden in Holland riech, nicht nach Nußland zu kommen, weil sie dort im Schachern ihre Meister finden würden. Bei allen hundert Nationen, die Rußland beherrscht, ist der eigentliche Großruffe *) Von r»»nol»iH, d. h. umhertragcn. Die Rasnoschtschiks. 339 ohne durch etwas Anderes als sein Talent privilegirt zu sein, der ausschließlich reisende Kaufmann und Krämer*). Die Kramerschaft liegt den Nüssen so am Herzen und ist ein so wesentlicher Theil ihres Lebens und Wesens, daß die Interessen der Hausirer den Staat nicht selten in Kriege verwickelten und zu Vergrößerungen führten. Eben so wie Frankreich durch feine Liebe zu Wassenruhm und England durch seine großen zur See handelnden Kaufleute und die Interessen seines Welthandels zu Eroberungen gebracht wurden, wie Ostindien durch englische Kaufleute erworben wurde, so wurde es Sibirien durch russische Rasnoschtschiks und Pro-muischlcnniks'"). Nicht nur waren es Kaufleute, welche Rußland zuerst festen Fuß in Sibirien fassen ließen, sondern auch Promuischlenniks waren es, welche alle einzelnen Theile dieser ungeheueren Lander nach und nach entdeckten, mit ihren unermüdlichen Speculationen aus« kundschafteiea und so nicht nur die ersten Faden anspönnen, welche alle dirs? entlegenen Striche mit dem Staatskörper verknüpften, sondern auch, die Waffen zur Hand nehmend, ihm dieselben völlig einverleibten. Im Osten an der persischen Gränze, im Südwesten gegen die Moldau und Walachei und im hohen Norden in den Lappmarken spinnen die regsamen und weitstreben- *) Mit Ausnahme der polnischen Provinzen, wo der Jude mit dem russischen Rasnoschtschik concurrirt. **) Dieß Wort kommt von prumm«««! (Handirung) und bedeutet cincn Mann, der sich mit irgend einer Hand-nung ahgiebt, insbesondere einen Jäger, Fischer u. dergl. 15* 34N Dle Nasnofchtschiks. den russischen Promuischlennrss in diesem Augenblicke an ähnlichen Fäden. Der Hauptsitz des ganzen rassischen Hausilhan.' dels, wie denn überhaupt der Central- und Ausgangs-punct aller acht russischen Bestrebungen, ist Moskau. Dieser Stadt strömen vom Lande stets viele speculative Köpfe zu, die dann von dort, mit Auftragen wohlhabender Kaufleute versehen, sich wieder in alle Welt zer-> streuen. Die großen Fabrik- und Handelsherren dieser Stadt stehen immer mit einer Menge kleiner Nasnosch' tschiks in Verbindung, denen sie ein gewisses Quantum von Waaren creditn-en. Mit diesen beladet der Nas-noschtschik seine einspannige Telege, nagelt seine Heili' genbilder an und zieht damit getrost in die ganze bekannte und unbekannte Welt. Gewöhnlich schließen sie sich unterWeges an einander, und häufig sieht man sie in ganzen Karawanen, auf lauter kleinen, mit Wan-ren beladenen, mit Heiligenbildern und Steppenkräutcrn geschmückten Wagen das Reich durchziehen. Sie kul-schiren an's schwarze Meer zu den Tataren, die freilich nicht viel brauchen, traben über den Kaukasus in's Land der Grusier, wo die russischen Schlitten und Pelze überflüssig sind. Si< wenden sich nach Sibirien und spähen nach Gewinnst am Fuße der chinesischen Mauer. Persien ist ihnen nicht zn heiß, Kamtschatka nicht zu kalt, wetln ihnen nur die Silberrubel, welche Gluth und Kälte erträglich machen, in der Tasche klimpern. Fw' dcn sie unter den Barbaren schlechten Absatz, so eilen sie über die Lena, den Ienisey und Ob an's andere Die NasnoschtschikS. 341 Ende der Welt, an's baltische Meer zu dem Mittel» puncte der Bildung und dcs Luxus, zum prächtigen Petersburg. Bleibt ihnen auch hier noch ein Theil ihrer Ladung, so verschleppen sis dm Rest bei den „Sumpsleutm"*) an den Seeen und zwischen den Felsen der Finnen und der Lappen und kehren end« lich nach zwei oder drei Jahren nach Moskau zurück, ihrem Committenten, der in der ganzen Zeit zuweilen kein sterbendes Wörtchen von ihnen und seinen Waaren hörte, das gewonnene Geld auszahlend und ihre eigenen Procente davon einstreichend. — Man könnte geneigt sein, diese Schilderung übertrieben zu finden. Allein man bedenke, daß in Nußland, einem Staate von so eigenthümlicher Stellung und Gestaltung, alltaglich Dinge passiren und, wenn das Ganze bestehen soll, passiren muffen, die in unserem europaischen Westen ganz und gar unerhört und unmöglich sein würden. Wir Westeuropaer kleben zwischen engen Felsen und Bergen, daS russische Leben aber wogt und pulsirt auf unermeßlichen Ebenen rund um den Globus herum**). Wahrend wir Deutschen oft schon zwei Meilen von unserer Heimath in der Fremde sind, fühlt sich der Russe in scinem ganzen großen Vaterlande zu Hause und heimisch, und es gilt ihm gleich, ob er unter der Parallele von Konstantinopel oder an den Ufern des *) ßlwmÄ-I^m» (Sumpflcutc) nennen sich die Finnen. **) Zwischen den russischen amerikanischen Besitzungen und den Inftln des Eismeeres bleibt verhältnißmäßig nur ein< kleine Lücke zum völligen Abschluß dcs Cirkcls. Ä42 Die RasnoschtschitS. Polarmeeres sein Brot findet. — Man würde daher sehr fehlen, wenn man Alles, was man in den Straßen der russischen Städte sich herumtreiben sieht, für Kinder dieser Heimath halten wollte. Gewöhnlich ist diese Straßenbevölkerung aus dem Süden und dem Norden des Reichs zusammengelaufen, um sich wieder nach Osten und Westen zu zerstreuen. Von keiner Stadt gilt dieß mehr als von Peters» bürg, auf dessen Straßen sich alle Gouvernements repra> sentirt finden, und welchem Kramer und Handwerker der verschiedensten Art zuströmen. Mm kann daher auch hier am beßten die Sitten und die Lebensweise dieser Menschenclasse studiren und hat dabei den Vortheil, daß man mit ihrer Darstellung auch das Straßenleben aller übrigen russischen Städte dargestellt hat. Denn auf dieselbe Weise, wie der Kwasverkaufer in Petersburg oder Moskau sein Getränk umherschleppt, auf dieselbe Weise bietet er es auch im ganzen übrigen Rußland an, und ganz dieselben Backwerke, die der wandernde Backer jener Hauptstädte feil hat, findet man auch bei dem in Archangel und Odessa. Kein Bedürfniß stellt sich bei'm Menschen so hausig ein und keines hat einer so prompten Abhilfe nöthig als das deS Essens und Trinkens. Einen Imbiß für den Heißhunger, einen kühlen Trunk für die Hitze, ein warmes Getränk gegen die Kalte, wie viel gäbe man dafür nicht zuweilen zur rechten Zeit? Der Leutchen, welche in den russischen Städten auf unruhige Zahn« und lechzende Gaumen Jagd machen, sind daher nicht Die Rasnoschtschiks. 343 wenige, im Winter vor allen Dingen der Sbiten- und Theeverkäufer. Denn Thee und der von etwas billigeren Kräutern abgezogene Sbiten machen im Winter die Hauptgetränke der gemeinen Leute in Nußland aus, die so große Liebhaber davon sind, daß sie dieselben gewöhnlich unvermischt, wie sie aus dem Vorne des Kessels quellen, genießen. Nur die Wohlhabenden ttin-ken Beides mit Zucker, und nur die Europaisirten auch mit Milch. An allen Straßenecken h^ben die Thee-Verkäufer ihre Tische aufgestellt, auf denen ein großes kupfernes „Ssamowar" *) den ganzen Tag über kocht. Dabei stehen ihrer Größe nach rangirt viele kleine und große Theekessel, aus denen Jeder nach seinem Wunsche eine größere oder kleinere Portion Thee empfängt. v»8 m«6u^voi! kvvns mnlino-wol!" (Honigkwas! Himb.'erenkwas!) ist dem Allen nach ein sehr gewöhnlicher Schrei auf den Petersburger Die Rasnoschtschiks. 345 Straßen. Meistens sind es kleine rothwangige und blondhaarige Burschen, die dieß ausschreien oder aussingm. Sie haben den Kwas, den sie umhertragen, nie anders als in großen gläsernen Krügen, deren Durchsichtigkeit sogleich eine Beurtheilung der Güte des Getränks erlaubt. Ist ihr Krug verschenkt, so füllen sie ihn schnell wieder aus ben Kwasbrunnen, die an jeder Straßenecke stehen und die den Principalen jener Burschen gehören. Es sind dieß große Bottiche mit KwaS, die sie mit einer Tischplatte verdecken und im Sommer zur Abkühlung oft noch in einen Kasten mit Eis stellen. Wenn Einen der Boreas nicht so anbliese, so könnt« man in Petersburg oft meinen, in Italien zu sein, besonders wenn man dieß viele Speisen und Handiren unter freiem Himmel betrachtet, das in Rußland trotz Kalte und Schnee eben so häufig ist wie in Italien trotz Sonne und Hitze. In den meisten russi> schen Städten giebt es Plätze, auf denen man das Volk unter freiem Himmel — oft mitten in Sturm und Unwetter — an Tischen und Banken banquetiren sieht. Der wandernden Gar koche giebt es nicht weniger als der Hausirenden Mundschenken. Sie tragen alle Lieb-lingsspeisen des Volks in den Straßen umher und decken ihre Tafel in jedem Winkel, wo es verlangt wild. Das Blatt ihrer ambulanten Tische nehmen sie mit den Speisen auf den Kopf und das Fußgestell über die Schulter und arrangiren leicht Beides wieder, wo es nöthig ist. Wenn man bedenkt, daß diese Leute ganz auf dieselbe Weife, ganz in derselben äußeren Erschein- 15" 346 Die RaSnoschtschiks. ung und ganz mit denselben Speisen überall, wo Russen wohnen, sich zeigen, baß ein ganzes zahlreiches Volk an dieser Erscheinung und diesen Speisen hangt, und daß die Form und Bereitung der Waare, wie die Manier des Verkäufers, sich überall mit einer gewissen Natur-nothwendigkeit zu reprobuciren scheint, so wird man es gewiß nicht ganz überflüssig finden, dem Allen eine nähere Aufmerksamkeit zu widmen, besonders in unserer Zeit, wo man endlich auch in der Ethnographie einmal anfängt, das Mikroskop zu gebrauchen und selbst den Bettlern, den Lumpensammlern, den Straßenbuben, den Pizzicaruoli von Rom, den Lazzaroni von Neapel, den Wurstbratern von Wien, den Wasserträgern von Paris u. s. w. eine genauere Aufmerksamkeit und eine philosophische Betrachtung zu widmen, welche sonst von den Reisenden als schmuzige Dinge wie die Mollusken, Eintagsfliegen, Entozoen und sonstige niedere Thiere unbeachtet gelassen wurden. Eine besondere Vorliebe haben die Russen, wie wir oben bemerkten, für alle Arten von Purges. Aus Erbsen, aus Kartoffeln, aus Himbeeren und anderen Früchten kochen sie verschiedene consistente, gewöhnlich etwas säuerliche Purges, die sie „Kissel" nennen (kissol Soraollowoi, Ki85ol munnowoi u. s. w.). Diese Kissels werden wie ein Kuchenteig zwei Zoll hoch auf einem Brete ausgebreitet. Der Verkaufer schneidet zierliche Scheiben davon ab und prasentirt sie aus buntbemalten hölzernen Tellern mit einem schmackhaften Oelüber-guß seinen Kunden. Ueberhaupt darf ein Oelkrüglem, Die Rasnoschtschiks. 347 selbst außer der Fastenzeit, den wenigsten dieser Tafel-decker fehlen, denn Oel ist die beliebteste Sauce des gemeinen Russen, besonders, wenn es nicht das feinste Provencer ist, das bekanntlich dann von der beßten Qualität ist, wenn es nach gar nichts schmeckt, was aber der Nüsse eben nicht für die vorzüglichste Eigenschaft des Oeles halten würbe, da er an ihm ein wenig dnul ssout liebt. — Vor allen Dingen haben die Gräsch-newiki backer des Oels nöthig, um ihrem trockenen Kuchen etwas Würze zu geben. Diese Gräschnewiki-bäcker sieht man besonders zur Fastenzeit in Menge auf den Straßen. Roth wie die Krebse, — die Röche der russischen Physiognomie«« setzt sich nicht wie eine zierende Schattirung in die Nundung der Wange wie bei den Germanen, sondern überzieht das ganze Gesicht mit allgemeiner Gluth >— Fausthandschuhe an den Fingern, von Lindenbast geflochtene Schuhe an den Füßen, einen kurzen Schafpelz, der von Oelsirniß glänzt, am Leibe, stuhhaarig und langbärtig, so laufen die Gräschnewiki-Verkäufer selbst in dem eleganten Petersburg umher, „Farittglii^! xorutsln^!" (warme! warme!) rufend. Die Graschnewiki sind unsere deutschen „Heißwegs," kleine, cylinderförmtge Kuchen, die warm gegessen werben müssen, und die daher immer mit dicken Lappen bedeckt und in Reihe und Glied dicht an einander gestellt umhergetragen werden. Jeden Vorübergehenden ladet der Verkäufer zu seiner Waare ein. Sowie er einen Liebhaber gefunden hat, stellt er schnell seinen Tisch auf, schneidet geschickt der bestimmten Anzahl von 348 Die Rasnoschtschiks. Kuchen den Leib auf, gießt ein paar Tropfen seines grünen Oels, aber kein Tröpfchen zu viel, hinein, streut Salz darauf, klappt Alles wieder zu und packt es dem Käufer in die Tasche, den er das unverdauliche Gericht „mit Gott" und „«zu seiner Gesundheit" zu genießen bittet. Diese Oelkuchenhandler wie überhaupt alle die Leute, welche sich in Rußland mit einem so unbedeutende Kraft, so wenig Geschick, so geringe geistige Anstrengung erfordernden Geschäfte abgeben, wie das des Kleinhandels und der Tabu let kramerei «S ist, sind gewöhnlich frlfche, junge, baumstarke Manner, die, wenn sie nicht von dieser unseligen Passion für Kramerei besessen waren, wohl viel schwierigere und viel nützlichere Dinge betreiben könnten. Bei uns sind es gewöhnlich Knaben und Madchen oder alte Manner und Weiber, die, wenn ihre Kräfte zu keinem ehrlichen Handwerke ausreichen, zu jener bequemlichen Handirung greifen. In Rußland scheinen die Promuischlenniks und Nas-noschtschiks gerade vorzugsweise junge Leute zu sem. Es werden auf diese Weise dem Ackerbaue und den Manufacture» viele geschickte und kraftige Hände entzogen, und man kann daher diese Leidenschaft für den „Promuissl" geradezu als ein großes Uebel bezeichnen, an dem Rußland leidet. Katharina II. erkannte die Wichtigkeit dieser Verhältnisse sehr wohl und traf daher in ihrem NakaS (Gcsetzbuche) manche zweckmäßige Verfügungen, welche jenen, Uebel Einhalt zu thun bezweckten. Uebrigens ist der Promuissl nicht die einzige Arbeit in Rußland, bei der man viele Kräfte in Thatig- Die Rasnoschtschiks. 349 keit sieht und von der man doch nur einen geringen Erfolg bemerkt. Es heißt hier eben überall: viel Geschrei und schlechte Waare. Wiederum ein anderes, nicht unerwünschtes Sttaßen-geschrei ist einem Nüssen der Ruf: „»Momslii ,,i-im» nil«»." „>VMoms!il pr.iiiniki! ^«mn lul^eki^i!" (Honigkuchen von Wiasma, die Mcrbeßten!) schreit ein hübscher dicker Bursche aus Wiasma und schiebt einen Schlitten vorüber, der mit allerlei süßen Waaren, mit Honig, kuchen von Wiasma, gezuckerten, gewürzten, gefüllten und nicht gcfü'lten, vollgepackt ist, wie das Pferd von Troja mit Kriegern. Die gewöhnlichen russischen Honigkuchen sind ein geschmackloses, zähes und lederartiges Backwerk. Wiasma aber kann sich mit seiner Waare den Städten Thorn, Braunschweig und Nürnberg an die Seite stellen. Denn diese Stadt weiß in ihren Honigkuchen das Milde und das Starke, das Süße und das Gewürzige so geschmackvoll zu verbinden und dabei noch so manche angenehme und zuweilen äußerst unerwartete Sur« prise im Inneren der doppelwandigen Kuchen zu verbergen, daß jeder Gutschmecker sein Wohlgefallen daran finden muß, zumal da gewöhnlich noch allerlei fromme Sprüche den Kuchen, die gepreßt werden, aufgedrückt sind. Uebrigens geht auch viele schlechte Waare, an die kein Wiasma'scher Backkünstler die Hand anlegte, für Rechnung der Stadt Wiasma durch's ganze Reich. Da die Russen meistens große Freunde von Süßigkeiten sind, so haben diese Honigkuchen-Schlitten, die auch sonst noch Bonbons und eine Menge anderen Nasch- 350 Die Rasnoschtschiks. werks enthalten, immer guten Absatz und sind stets von Kaufern umstellt. Die Verkäufer der geräucherten Weißfische in Dresden haben sich einen Großuaterstuhl neben ihren Fischkasten gesetzt, auf dem sie wie die Statuen sitzen, indem sie nur, wenn sie angesprochen werden, den Mund aufthun, um zu sagen, das koste so viel und das so viel. Die Kohl- und Eierweiber in Berlin und die Fisch-handlcrinnen in Hamburg sprechen nicht anders, als um sich einander zu bekeisen, und zeigen nur Phantasie in der Erfindung witziger Schimpfworte. Nicht viel besscr sind die „Sitz.'r" im Oesterrcichischen. Ich weiß nicht, welch' glatte Prosa sich in unserem deutschen Markt-gesindel offenbart. Mit dem russischen ist es anders. Alle diese handelnden Vartkerle sind das listigste, dabei aber auch das lustigste Völkchen von der Welt. Das Publicum hat nie etwas von ihnen zu fürchten, und se!bst wenn man ihnen Unrecht thut, rächen sie sich höchstens mit eincm lächelnd hervorgebrachten Witze, der gewöhnlich so treffend ist, daß der Streit damit ein Ende hat. Gegen ihre Concurrenten im Gewerbe sind sie in der Regel so höflich, daß einem Westeuropäer, der nie solchen Aufwand von Komplimenten unter so geringen Leuten erlebt hat, ihre Unterredungen äußerst überraschend sind. Selbst wenn sie der Gewerbsneid gegen einander erbittert, scheint doch ihr Schelten so wenig ernst» lich gemeint zu sein, daß es Einem nur wie eine Theaterscene vorkommt. Vergnügten Angesichts wandern die meisten dieser armen Leutchen unter schwerer Last Die RasnoschtMö. 3'i1 ihre oft recht dornigen Wege. Zuweilen ist es ihnen nicht genug, bestandig zu schwatzen, und sie singen dann das Lob ihrer Waare ab. „Ich bin der junge Wurstmacher, dabei ein hübscher Bursche. Alle Mädchen gucken nach mir, den Gott gemacht, und alle Knaben nach meinen Würsten, die ein Deutscher machte." So sang ein alter graubartiger Kalbaßnik zu meiner Zeit mit lauter Stimme alle Tage durch die Straßen Char» kows, der Hauptstadt der Ukraine. — Manche schleppen einen ganzen weitläufigen Frühstücksapparat umher, Wurst, Braten, Kanar, gekochte Eier, Pfeffer, Salz, Teller, Messer, Gabeln und Alles, was das nach Früh° stück lechzende Herz eines russischen Kaufmanns aus dem Gostinnoi-Dwor an kalter Küche verlangen kann. Auf dem ersten beßten Straßenpfahle wirb das vollständigste Döjeüner angerichtet. Apfelsinen, Citronen, Aepfel, sogar dick.' Melonen und Arbusen (Wassermelonen) sind ihnen nicht zu schwer, um sie hoch aufgeschichtet auf einem Brete auf dem Kopfe mit großer Geschicklichkeit im größten Volksgedrange zur Schau zu tragen. Die Weiber mischen sich sehr selten in den russischen Kleinhandel, wie sie denn, ausschließlich nur mit den häuslichen Angelegenheiten beschäftigt, überhaupt bei allen nicht zum Haushalte gehörenden Verrichtungen selten mit den Männern concurriren. Vei uns giebt es Fischweiber, Kohl« und Eierhändlerinnen. Viele Artikel werden auf unseren Messen und Markten entweder ausschließlich von Frauen oder von ihnen gemeinsam mit ihren Mannern verhandelt. Kuchen, Ge- 352 Die Rasnoschtschiks. müse, Kamme, Spielwaaren, Obst u. s. w. sind nicht das Einzige, womit diese handeln. Ja man sieht sogar bei uns Frauen mit dem Verkaufe solcher Waaren beschäftige, bei deren Verschleißung cimge Kraft von nöthen ist, wie z. B. mit dem rohen Fleische, wovon ohnedieß der undelicaten Behandlungsweise wegen das schone Geschlecht ausgeschloffen sein sollte. In Rußland ist dieß anders. Hier sind nicht nur bei'm Eiscn, Holz, Tauwcrk und bei anderen schwer zu handhabenden Artikeln Manner angestellt, sondern auch bei Blumen, Gemüsen, Spielzeug und anderen leinen und zarten Waaren sind diese ausschließlich thatig; der Ruffe steht in zu wenig innigem Verhältniß mit seiner Frau, um sie in die Geheimnisse des Geschäfts einzuweihen und sie bei Berechnung und Verwaltung der Kasse zuzulassen. Sie dient ihm nur im Hause und hat keine Stimme im Rathe. „Äluluko, 8nü8l>^u moluko!" (Milch, frische Milch!) das ist der einzige Ruf, den man in Petersburg von feinen Frauenstimmen vernimmt. Und noch dazu geht er häusig von Finnlanderinnen und nicht von Ruffinnen aus. Ein seidenes Tuck), um die gescheitelten Haare gebunden, recht lange unechte GeHange in den Ol^en, einen pon-ceaurothen Sarafan übergeworfen und darüber eine grasgrüne, mit weißem Hasenfell gefütterte „Duschagreika" (buchstablich „Seelenwarmer," weil dieses Kleidungsstück vorzüglich die Brust, den Sitz der Seele, warm hält), grüne, mit rothen Kanten besetzte Schuhe an den Füßen, die Haare hinten in einer einzigen langen Flechte herabhangend, an deren Spitze eine gelbe Schleife einge Die Raonoschtschiks. 353 flochten —- so ziehen diese Milch handler inn en vor den Thoren der Palaste umher, mit ihrem „Vlnwko! 8Vvü»l»H« muwko!" die langschlafenden Diener weckend. Ihre achteckigen zinnernen Milchkannen und, ihre runden irdenen Nahmkrüge balanciren sie an einem sehr einfachen, aber, wenn man es naher besieht, sehr geschickt erdachten und gearbeiteten Holze. Sechs Monate des Jahres verkaufen sie gewöhnlich nur Nahmeis, wie sich denn in Nußland viele Waaren im Wintersemester nur in gefrorenem Zustande verhandeln, — gefrorenes Oel, das geschnitten oder wie Butter gestochen wird, gefrorene Aepfel, die auch noch im Sommer im auf« gethauten Zustande verkauft werden, wo sie wie Vrat« äpfel aussehen und an Zlickergchatt und Saft sehr gs» Wonnen haben, u. s. w In unserem Deutschland, wo die Wahrheit geliebt Wird und wo sich Alles (?) so giebt, wie es ist, tritt ein Bauer nicht anders als bauerisch auf und zeigt sich aus grobem Holze geschnitzt. Wer bei uns Hörner hat, der läßt sie sich wachsen, und man kann sich davor in Acht nehmen. In Nußland werben alle schroffen Seiten, mit denen sich die Menschen unter einander berühren, verkleistert. Wer sich den Tausch» ungen des Lebens gern hingicbt, dem muß cs angenehm sein, unter slavischen Stammen zu leben. Wer die Menschen so sehen will, wie fie find, der muß die germanischen vorziehen. Unter d.'N Kaufleuten der russischen Gostinnoi-Dwors sieht man wahre Christus-Gesichter, und gewahrt man die alten ehrwürdigen Greise 354 Di« Rasnoschtschiks. mit hohem kahlen Kopfe, den nur am Rande einige Silberlocken schmücken, mit langem weißen Barte und mildem sanften Auge, wie sie in den Straßen Rindfleisch umherschleppen, so sollte man darauf wetten, es wären lauter Philosophen, die ihr ,,^c»vüu8w" (Kohl), ,,8!ii>,clel-l" (Sellerie) und „I^Il-^vl»-kn" (Petersilie), der's faustdick hinter den Ohren hat und gewiß, wenn er es kann, sein Kraut Jedem zum Dreifachen des Werths aufschwatzt, hat in seinem Wesen elne Gutmüthigkcit, auf die man Hauser bauen würde, und die Einen fast zwingt, ihn mit „Bruder" oder „Väterchen" anzureden, wie sie denn in der That sich unter einander auch keinen anderen Titel geben als ,.l'»-tiuscllkn" und „dl-lü." Es gicbt eine Menge leicht zerbrechlicher Dinge in jeder Haushaltung, an denen immer etwas hapert, derenwegcn man nicht sogleich zum Handwerker schicken mag und die man an Ort und Stelle leicht verbessern kann. Es laufen daher in den russischen Städten viele Handwerker umher, die solchen augenblicklichen und häusig eintretenden Bedürfnissen abhelfen, was ihnen um so leichter ist, da sie sich mit wenigem Handwerkszeug leicht behelfen und oft mit dem bloßen Beils fast so viel ausrichten als andere Leute mit Hammer, Hobel, Meißel und Messer. Die kleinen Faßbinderbuben stecken ihre Geräthschaften in den Gürtel, nehmen ein paar Faßbänder und Dauben über die Schulter und Die Nasnofchtschiks. 355 verrichten, wenn Einer auf ihren Nuf: „nl),'ut5«I,i nn-di>vu^!" (Fässer zu beschlagen!) sie anspricht, ihr Geschäft so geschickt als möglich. Schmiede, Schneider und Schuster laufen vielfach umher und repariren und sticken, wo man sie hereinruft und ihnen ein paar Kopeken verspricht. Sogar Glaser schreien in den Straßen: „8ti!kli >vstu>vl,^!" (Fenster einsetzen!) und ris-quiren ihren ganzen zerbrechlichen Vorrath, um hier und da einer Hauswirthin von einer zerbrochenen Scheibe und sich selber zu einem Rubelchen Geld zu helfen. Ich weiß nicht, woher «s kommt, aber gewiß ist es, daß keiner von allen diesen Straßcnkramern Petersburgs lauter schreit als der Blumenhändler sein ,,/.vv«ll 2nülo5Ll>Kl!" (blühende Blumen!) Denn selbst diese stummen und zarten Kinder der Flora schleppen die Russen in den Gassen umher. Sie legen die Töpfe in etwas schräger Lage auf ein Bret, das sie auf dem Kopfe tragen, und wissen so die Vaumchen vor Beschädigung zu schützen. Ja sogar die Singvögel müssen in ihren Käfigen mit ihrem Gebieter, der sich von oben bis unten damit behangt hat, im Staube der Straßen wandern, bis sie irgendwo in einem freundlichen Stübchen einen Winkel finden, wo sie ihre Klagegesänge frei ausströmen lassen können. Von Allen bepacken sich aber am meisten die Spielsachenmanner, die Stiefel-, Handschuh-und Strumpfverkäufer. Es giebt jetzt im Troitzkoi-Kloster bei Moskau eine Spielsachenfabrik, aus der sich in der Regel all der kleine Kram herschreibt, den man in MoS-kau und Petersburg mit „issruseliki äittsi^n!" (Kinder« Wst Die Nasnoschtschiks. spielzeug!) ausschreit, besonders seitdem der Einführung von Nürnberger Waare so harte Zollgesetze entgegenstehen. Fast jedes Geschrei in den Straßen verkündigt «mm neuen Industriezweig des großen Reichs, während unsere Straßenausrufer höchstens aus der nächsten Nachbarschaft stammen. „slu^^i Iil!^!»»k^i!" (Stiefeln aus Kasan!) heißt es und „liurtmi ^ulikovsk^u!" (Bilder aus Moskau!) „l^kul^i Ilucl.ln-ul^i!" (tatarische Schlafröck«!). Die Mongolen und Tataren waren in Vorriä)tung und Bearbeitung des Leders ausgezeichnet, und fast alle Industriezweige Rußlands, die sich auf diesen Artikel beziehen, stammen von ihncn her und sind durch sie begründet worden, so die Fabriken der hübschen, mit Gold und Silber gestickten ledernen Mützen und Gürtel in Moskau, so die großen Manufacture» der brillant geschmückten Sasfianmorgenstiefeln von Ka» san, die allgemein in ganz Rußland getragen, werden und auch außer Landes wandern. Die Schlafröcke bilden den einzigen Artikel, der gewöhnlich nicht von Nüssen selbst, fondern von Tata, ren verschleißt wird. Blos ihrer Ehalati wegen, welche in der Regel ihre einzige Waare bilden, halten sie sich in Petersburg auf, weßhalb sie denn gewöhnlich auch Schlafrocktataren genannt werden. Doch sind freilich diese tatarischen und bucharischen Schlafröcke auch so vollkommen, als sie in ihrer Art sein können. V<> großer Billigkeit ist das Muster der seidenen Gewebe jederzeit äußerst hübsch, ihr Zuschnitt sehr elegant, ihre Färbung durchaus echt und dabei das ganze Kleidungsstück Die Rasnoschtschik«. 357 etwas von dem Wenigen, was immer in Mode bleibt. Die Schlafrocktataren erkennt man auf den ersten Blick unter der übrigen Petersburgischen Straßenbevölkerung an ihrer propren Kleidung, ihrem sorgfältig gestutzten Barte, ihrem geschorenen Kopfe und ihrer ernsten sorgenvollen Physiognomie. Von allen Nasnoschtschiks hat keiner einen cur-renteren Artikel als der Mos klNl'sche Bilderhänb-ler. Der gemeine Ruffe schmückt gern seine Wohnungen mit allerlei bunten Bildern. Die Kabaks (Vrannt-rveinschenken), die Wohnzimmer der geringen Leute, die kleinen Kajüten der Schisssleute auf den Flußschissen, ja sogar die inneren Raume ihrer Schlitten und Kibit-ken sind gewöhnlich mit einer Menge von Bildern, buntein Papier und farbigen Tapetenfiicken beklebt. Die Hauptfabriken für diese Bilder befinden sich in Moskau, von wo auS beständig viele derselben in alle Enden des Reichs ausgehen. Man kann diese Bilder in drei Classen sondern, in religiöse, politische und ästhetische. Von ihnen sind die religiösen die ältesten, eigenthümlichst russischen und am allgemeinsten verbreiteten. Si« stellen alle Dinge dar, mit denen sich die Phantasie deS Nüssen unaufhörlich beschäftigt, das Paradies, den Himmel mit allen feinen Freuden, die Hölle mit ihren schrecklichen Qualen, die sieben ökumenischen Kirchen mit ihren heiligen hundert Kupvcln und Thurm-spitzen, die zwölf berühmtesten Klöster Nußlands, alle auf cwem Blatte, das heilige Moskau mit seinen 1WV Kirchen. ?luf den ethischen und moralisch-satirischen 358 Die RasnoschtschikS. Bildern erblickt man den Geldteufel, wie er Geld unter die Leute vertheilt und die Menschen aller Stände blendet und uerführt, den Licbestmfel und den Teufel der Eitelkeit, wie er die Männer lind Frauen jeden Alters neckt und an der Nase führt, dann die heiligen Märtyrer wie sie Armen und Kranken hclfen und selbst die größten Qualen erdulden, und dicß Alles ist mit der lebhaftesten Phantasie und den buntesten Farben bis in's geringste Detail ausgemalt. Die politischen Bilder der Russen beschäftigen sich alle mit der angebeteten Person ihrer Kaiser und stellen eine Menge von Anekdoten von ihnen dar, die man immer in allen Enden des Reichs auf dieselbe Weise wiedergegeben findet, — Kaiser Peter, wie er auf dem Ladoga-See im Sturme das Ruder des kleinen Voots ergreift und den erschreckten Schiffern zuruft: „Seid nicht bange, Brüder, habt Ihr schon je gehört, daß ein Kaiser in einer Pfütze ertrunken ist?" — Kaiser Peter, wie er sich die Kaiserkrone aufseht, — Alexander, wie er in Lithauen den am Wege liegenden erfrorenen Bauer in's Leben zurückzurufen sucht, — Nikolaus, wie er, in seinen Mantel gehüllt, auf einer gewöhnlichen russischen Telege durch sein Reich fährt, — oder wie er, seinen Sohn Konstantin auf dem Schooße, seine Gemahlin in einem kleinen Boote spazieren fährt, — den Thronfolger, wie er neben seinem Vater zur Truppenrevue reitet, u. f. w. — Es giebt einen bestimmten geschlossenen Cyclus von solchen Scenen, die ein für alle Mal wie geprägte Münzen cursiren, mit dem Volksleben innig Das Pagencorps. 359 verwebt sind und imnnr wieder ganz auf dieselbe Weise erscheinen. Die ästhetischen Bilder sind nur Nachahmungen Dessen, was man vom Auslande bekommt. Alle schönen Landschaften, mythologischen Darstellungen und ethnographischen Skizzen, die Paris, Berlin und Wien nach Moskau schicken, werden hier sogleich in's Russische überseht, b. h. recht schnell und flüchtig und zu billigen Preisen nachgemacht, mit russischen Unterschriften versehen und von den Bilder-Rasnoschtschiks in alle Welt verschleppt, so die allegorischen Jahreszeiten, die Aphroditen und Apollos unserer Künstler, die Araber und Nmni-bier, welche die Franzosen malen, die Indier und Neger, welche die Englander zu Markte bringen, die Portraits der hübschen Königin von England, deren Bild bis nach Irkutzk geht, des französischen Königs Ludwia Philipp, dessen Backenbart sogar jenseits des Kaukasus bekannt ist, wo er dem berühmten Barte Schach Ali's begegnet. Napoleon's Portrait ist eins der gewöhnlichsten barunter, wie bei uns, und alle die merkwürdigen Begebnisse, die mit dieser gewaltigen Erscheinung in Verbindung stehen, werden auf diesen Bildern vielfältig dargestellt und dem russischen Volke bekannt gemacht. Das Pagencorps. Die Schule, in welcher den jungen Leuten für den Hof diejenigen eleganten Kenntnisse und feinen Sitten gelehrt werden, die sie nöthig haben, um als Pagen 36l) Das Pagencorps. des Kaisers und der Kaiserin fungiren zu können, befindet sich auf der Gartmstraße, dem Vankgebäude gegenüber in einem magnifiken Palaste, dem sogenannten Pagencorps. Es werden hier 130 junge Leute, die Elite der Jugend des ganzen Reichs, mit den feinsten Extractm der Wissenschaften und Künste genährt. Es sind die Söhne der Minister, der Marschalle und der ersten Häupter des Neichs. Der geringste Grad Derjeni-gen, die für ihre Söhne um Aufnahme m der Anstalt nachsuchen dürfen, ist Gcncrallimtenantsrang. Mit dem zwölften Jahre werden die jungen Leute aufgenommen und mit dem achtzehnten Jahrs entlassen. Alle Jahre werden ungefähr zwanzig zu ihren ritterlichen Diensten im kaiserlichen Palaste, wo ihrer beständig fünfzehn äe Hour sind, entlassen. Es ist diese Schule vielleicht die eleganteste in Europa, denn sie giebt an Pracht der äußeren Erscheinung dem kaiserlichen Palais selbst nicht viel nach. Kaiser Paul bestimmte das Haus zur Aufnahme der Io-hanniterritter, die aber weder in Malta, noch in Rhodos, noch in Jerusalem jemals ein so großes Palais besessen haben, als ihnen hier kurz vor ihrer Auflösung zu Theil wurde. Die Kapelle des Ordens liegt in der Nahe des Gebäudes und tragt die Aufschrift.- „Diva «lunnni liaziliiilno I^iulns Imj orutui' Ilo^^il. ^Ili^^tc'p." Diese Kirche ist noch mit den Kreuzen, Wappen und Farben der Ritter ganz so ausgeschmückt, wie Paul dieß besorgen ließ; auch steht hicr noch sein goldener Thron, auf dem er den Versammlungen des Ordens bei- Petersburger Carrieren. Kleidung der Hostamen. 361 wohnte. Noch jetzt wird hier beständig katholischer Gottesdienst gehalten. Petersburger Carrieren. Ein Candidat der Theologie wanderte im Jahre 1814 aus Deutschland nach Rußland aus; als die Russen aus Paris zurückkehrten, wurde er in Nußland Polizeimeister, Lieutenant, Capitan, Oberst, General und ist jetzt pensionirter Generallieutenant. Ein angehender russischer Pope trat als Eanzellist in die Canzlei des Gr. V., wurde Tischuorsteher, Canz-leidirector, Beamter im Ministerium der Justiz und endlich Chef der russischen Gesetzgebung. Unartiger Schuljunge in der Kreisschule zu T. — unruhiger Student in R. —> Adjutant des Grafen H. -^ Oberst, Generalgouvcrneur des Königreichs A. und der Provinzen S. und T. Solcher Carrieren und Lebenslaufe in rasch aufsteigender Linie giebt es viele in Nußland, eben so viele aber auch in eben so rasch und oft noch rascher absteigender Linie. Kleidung der Hofdamen. Seitdem der Kaiser Nikolaus das alte russische Nationalcosiüm an seinem Hofe wieder eingeführt hat (wenigstens bei den Damen, denn die Herren behielten ihre bisherigen Umformen), ist wohl kein Hof mehr zu Kohl. Petersburg. III. 16 362 Kleidung der Hofdamm. finden, der an Cour- und Gala-Tagen «we so imposante Erscheinung dnböte wie der russische. Eine kurze Beschreibung des Kostüms der Hofdamen wird hinreichen, davon einen Begriff zu geben. Das Hauptstück der Kleidung ist der Sarafan, ein weites, vorn offenes Oberkleid ohne Aermel. Darunter wird ein langarmeliges, faltiges Unterkleid getragen. Der Sarafan besteht gewöhnlich auS dickem, reich mit Gold gesticktem Sammet von verschiedener Farbe und verschiedener Stickerei, je nach dem Range und Ansehen der Damen. Das Unterkleid ist gewohnlich von Seide und von hellerer Farbe als der Sarafan, seine langen Aer-mel werden vorn bei'm Handgelenke, mit goldenen Spangen zusammengehalten. Das Haupthaar wird schlicht gescheitelt und mit dem Kokoschnik geschmückt, der ein hoheS Diadem ist und wie ein Halbmond mit nach hintm umgebogenen Zipfeln auf dem Haupte steht. Dieser Kokoschnik, der gewöhnlich mit Edelsteinen und Perlen dicht besetzt ist, und von dem ein langer Schleier hinten hinabwallt, giebt jeder Dame das Ansehen einer Königin, und man könnte, wenn man diese Tausende königlich geschmückter Damen vor sich sieht, leicht zu dem Glauben sich verleiten laffen, daß man eine Versammlung von lauter Herrscherinnen vor sich habe. Die Vorschriften in Bezug auf Schnitt und Farbe dies« Kleidung sind sehr genau, und doch bleibt Jeder noch Willkür genug, sich innerhalb der vorgeschriebenen Gränzen frei nach ihrer Ansicht zu bewegen und den Ur- und Gcunoschtütt geschmackvoll zu variiren. Auch Pferdczahl bei'm Angespann. ' 363 unterscheiden sich die Hoffräulem in der Art der Coiffure. Das Ganze hat daher zu gleicher Zeit das Imposante der Uniformitat und das Interessante der Manch-faltigkeit. Der Wiener Hof rühmt sich freilich einer solideren Pracht seiner Magnaten und Hofleute. Dieß mag sein, allein was den Glanz der äußeren Erscheinung den Reichthum der Farben und die geschmackvolle Anordnung der Formen betrifft, so kann sich kein Hof mit dem Petersburger messen. Auch die geselligen Sitten und das Benehmen an diesem Hofe, das, wenn dil bekannten Vorschriften Katharmens für das Betragen in den Gemächern der Eremitage ernstlich gemeint waren, und man wirklich aus ihren Verboten auf corresponbirende Fehler schließen darf, noch vor 50 Jahren über die Maßen roh gewesen sein muß, hat sich nun, wie man sagt, so verfeinert und abgeschliffen, daß die russischen Hoflcitte jetzt an anderen Höfen eben so viel bespötteln zu können glauben, als man sonst bei ihnen belächelte. Pferdezahl bei'm Angcfpann. Die kaiserlichen Hofequipagen in Petersburg sind sechsspännig, obgleich der Kaiser, wenn er allein ist, gewöhnlich nur einspännig fährt. Der Adel bis zu einem gewissen Range herab darf vierspännig fahren, eben so auch die Kaufleute erster Gilde. Die anderen Kaufleute und die Handwerker, überhaupt alle Nicht-IS. 364 Arbeiter an der Staatsmaschine. adeligen, dürfen sich nur eines Zweigespannes bedienen. Aber zwei Mal in ihrem Leben können sie das Vergnügen haben, vierspännig zu fahren, erstlich an ihrem Hochzms- und dann an ihrem Vegrabnißtage, an welchen beiden Tagen eine Ausnahme von jenem Gesetze zu machen erlaubt wird. Arbeiter au der Staats Maschine.' Es giebt jeht in Petersburg einige Arbeiter am Staatsruder, die alle ihre Zeit und ihre Kräfte dem Staate widmen. Manche der am höchsten gestellten Herren sieht man nur selten oder nur auf Augenblicke in der Gesellschaft, weil alle ihre Zeit durch Staatsgeschäfte weggenommen wird. Der jetzige Kaiser ist einer der thätigsten Arbeiter und verlangt auch eben solche Thätigkeit von seinen Mitarbeitern. Viele der ersten Männer des Staats sind schon langer im Diensie als mancher arme russische Soldat, der selbst nach fünfundzwanzigjährigem Dienste seinen Abschied nicht bekommen kann. Sie haben schon längst cm ruhiges Platzchen in irgend einer Provinz, zu dem sie sich zurückziehen möchten, aber die Regierung, die darauf bedacht ist, alle klugen Manner an sich zu fesseln und so lange, als noch Lebensfeuer und Geniekraft in einem ihrer Diener vorhanden ist, dieselben zu ihrem Vortheile zu benutzen, belohnt die den Abschied fordernden Herren, macht ihnen Versprechungen, verweigert ihnen den Abschied, mid so bleiben sie in Thätigkeit, bis eines Tages plötzlich der Tod sie abruft, ohne daß Hauseinwnhlmg. 365 sie dazu kamen, die gewünschte Nuhe zu genießen. Zu Katharmens Zeiten, ging es freilich wscher. Man erwarb sich am Hofe schnell so viel, als man für einen 5 800058U8 nöthig katte, und wurde bald genug überflüssig, um sich auf diesen Ort der Ruhe zurückziehen zu können. Hauseinweihung. Ich ging an einem Fenster vorüber, an welchem sich viele neugierige Leute drängten; man feierte die Einweihung eines neuernchteten Tabaksladens. Da ich den Besitzer desselben, den Kaufmann B., ein wenig kannte, so trat ich in die Thür seines Hauses und wurde sogleich von ihm eingeladen, dem Actus beizuwohnen. Er hatte sein Geschäft früber auf einer anderen Straße gehabt und es nun vergrößert und hierher verlegt. Alles war neu in seinem Etablissement, die Bureaus und SophaS glänzten von polirtem Mahagoni, die Bet» ten standen geputzt und hoch aufgethürmt in den entfernten Zimmern, noch Niemand hatte aber darin geschlafen, in dem Entröezimmer waren Tabakspaquete, Cigarrenkisien und viele andere Waaren hübsch ordentlich aufgestellt, auch die Wagschalen und Gcwichte vom glänzendsten Messing standen fertig da, noch hatte man aber kein Loth Taback hier verkauft. Eine große Versammlung geputzter Aaste füllte die Zimmer, Verwandte und Freunde des Kaufmanns, die, sich bekreuzend und verneigend, einigen HW Spielkarten. Priestern in blitzenden Pontisicalibus folgten, welche singend, weihend und räuchernd bei allen Cigarren- und Tabakskisten, bei allen Divans, Tischen und Stühlen vorübergingen und jeden Winkel, jede Schwelle, jede Fußbank, jede Wand, jedes Fenster und jeden Sessel weihten und besprengten und des Himmels Segen darauf herabriefen. Das Ganze endigte mit einem Schmause, und mittlerweile begann, wahrend man hinten noch mit Rauchern und Weihen beschäftigt war, porn schon das Verkaufsgcschaft, um des Himmels Segen gleich nach der Einweihung noch frisch und warm in Empfang zu nehmen. Spielkarten. Die russischen Spielkarten sind eleganter, aber weniger dauerhaft als die deutschen. Sie werden für das ganze Reich in der Petersburger Spielkartenfabrik verfertigt, deren Neuenueen dem Findelhause zufallen. Die Fabrik ist privilegirt, und das Nachmachen von Spielkarten wird mit Verbannung nach Sibirien bestraft. Man ist in Bezug auf Spielkarten in Peters« bürg, wo überhaupt der Luxus in vielen Stücken auf eine Höhe gestiegen ist, wie in keiner anderen Haupt« stadt Europas, sehr delicas. Man giebt der Gesellschaft in den Hausern von einigermaßen gutem Ton nicht nur an jedem Abende, sondern auch bei jeder neuen Nonde neue Karten, so daß ein paar Whisttische an jedem Abende gewöhnlich einige Dutzend Spiele verbrauchen General ...kow. 367 die dann der Dienerschaft anheimfallen, welche einen großen Handel mit Spielkarten treibt. General ...kow. Ich machte zuweilen einen Besuch bei'm alten General ...kow, von dessen Erfindungen und Fabriken ich viel gehört hatte. Die Rede, mit welcher er mich bei meinem ersten Besuche empfing, ist für die Charakteristik einer gewissen altrussischen Cotene der Petersburger Gesellschaft uielfach bezeichnend, und da jener alte Herr, der übrigens nur von wenigen Personen gekannt war, seitdem zu einein besseren Leben eingegangen ist, so kann ich sie hier hersetzen, ohne Jemanden zu verletzen. Nachdem ich ihm vorgestellt worden war, sagte er, mir freundlich die Hand drückend: „Bon jour, Monsieur. Vous voulez voir nies fubriques. Eh bien! Voyons. J'ai beaucoup ile fubriques. Oho! Jaime beaucoup 1'art pyrotechnique, et je veux encore avoir le feu tout-ä-fait dons ma main. Pyro clcst un mot grec et signifio ä peu pres la meme cbose, q«e feu; lechnique c'ost latin. Asseyez vous done, Monsieur, asseycz vous. Iwnn, sailes opporlcr le A&-jeune! Vous Jejeunerez, j'espere, chcz moi. Vous par-lez done le franQais, Tanglais, l'ulleinand. et lc russe. Voyez ici ma collection de laines lines. L'cmpereur m'a envoyc, il-y-a quelqucs anneeis, dans le Sud de La Kussie, pour ameliorer la laine et pour reformer 368 Manchfaltige Bedeutsamkeit Petersburgs. !'l,ssri<-!lIlui-6 6«s ßteppos. vcrniei-oment j'ui invents Uno nauvoilo maniero n l
  • '0 Ics cliomin», lzui » bsnucoup plu lm tltinerni ?. ^e voux vous montrer !e8 zirinclpos. (!o sant los mömes s»rincii>o8, clg^rhg 1o8 mnnäo. ^'»i uno sudriqn« pri!8 6s I'I^n>'«>, clix >Vei-8t«g 60 !» ville. Ovtto lalii-iyuo eontiont tout, l»it tout, sun» excoplion tout co quo vou» pourriei ääsirei-. 8i vous voulea I» voir, »lurZ j« vuu» invit«, 60 v^nir ede» moi un don matin n sopt lleui-03. ^^^5 sircnät-onz ioi lo «lM, nous 66^eüneron8 <1«N8 mn llibriliuo, et nou» Manchfaltige Bcdmtsamkcit Petersburgs. Petersburg ist in so vk'lfacher Hinsicht die HlNlpt-stlidt Nußlands, wie nur wenige andere Hauptstädte desjenigen Reiches, dem sie angehören. Zuerst ist es der Sitz der Negierungs^ewalten und aller obersten Behörden, dann der Haupthandelsplatz der ganzen Monarchie (sämmtliche übrigen Seeplätze Rußlands treiben zusammen genommen nicht so viel Handel als Petersburg allein), ferner das Hauptlager der Landtruppen (in keiner zweiten russischen Stadt liegt eine Armee von 60,W0 bis 7l1,0UN Mann bei einander) und endlich die vornehmste Station der russischen Flotte und der Sitz der Admiralität (die pontische Flotte, die in Sewastopol stationirt, ist nicht so stark als die baltische). Dieß Alles macht hier ragriculture des Steppes. Dernierement j'ai invente unc nouvellc maniere ä faire les cliemins, qui a beaucoup plu au General F. Je veux vous montrer les principes. Co sonl les mžmcs principes, d'apres lesquclles le bon dieu a conslruit lo nionde. J'ai une fabrique pros de lljora, dix Werstes de la ville. Cette fabrique contient tout, fait tout, sans exception tout co que vous pourriez dčsirer. Si vous voulez la voir, alors je vous invite, do venir chez moi un bon malin ä sept heures. Nous prendrons ici le cafe, nous dejeunerons duns ma fabrique, et nous reviendrons en ville pour le diner." Vrülow's Gemälde von Pompeji. 369 natürlich die Schauspiele auf dem Wasser und Festlande außerordentlich manchfaltig. Vrülow's Gemälde von Ponlpeji. Zu den berühmtesten Künstlern der Petersburger Akademie der Künste gehören neuerdings Vrülow, Or-lowsky und Tolstoy. Ich sah mehre Leistungen von diesen dreien und kann nur bestätigen, daß sie ihren Ruf verdienen. Orlowsky hat sich den Darstellungen und Genrebildern aus dem russischen Volksleben ergeben, das von dm Malern noch immer nicht genug ausgebeutet worden ist und das noch hinreichend malerischen Stoff liefern würde, wenn Jemand ihn zu finden verstände. Besonders berühmt ist Orlowsky, der russische Horace Vernet, durch seine Pferde, die er in den Steppen studirte. Höchst ausgezeichnet und allgemein gekannt ist seine Courierfahrt. Eine russische Troika wird auf diesem Bilde von drei wüden Rossen in brausendem Fluge dahingeriffen; die Rosse sind Muth und Feuer von der Schnauze bis in die äußersten Haarspitzen; der Wagen regt eine Wolke von Staub und Steinen auf, die hinter ihm verschwindet, und rollt über Stock und Block. Der bartige Kutscher sitzt kerzengerade auf seinem Platze, halt die Zügel straff und beherrscht und leitet mit Sicherheit das Gespann, auf dem er wie auf einer Wetterwolke daherfliegt. Jeder, der sich für die Kenntniß Rußlands interessirt, muß diese Orlowskr/- 16" 370 Vrülow's Gemälde von Pompeji. sche Troika sehen und wieder sehen, denn nicht blos die Troiken sichren so in Rußland daher, sondern auch noch gar vieles Andere, was sich eben so im Sturmwinde bewegt. Tolstoy ist als Bildhauer bekannt und verdiente gewiß, berühmt zu sein. Seine Kunstwerke, die er in Wachs bossirt hat, gehören zu dem Saubersten und Geschmackvollsten, was man in dieser Art sehen kann. Namentlich ist der Feldzug von 1812 durch ihn in einer Reihe unge-mein hübscher kleiner Basreliefs verherrlicht worden. Vrülow ist aber der berühmteste unter diesen Künstlern, doch hat er es nur zu einer einzigen vorzüglichen Originalleistung gebracht, ich meine seine Zerstörung Pompejis. Es hangt dieses berühmte Gemälde in einem eigenen Saale der Akademie der Künste. Es ist nicht nur die einzige bedeutende Leistung des Malers, sondern auch überhaupt die einzige hervorragende und im Auslande berühmt gewordene Production der russischen Schule *). Eine umständliche Beurtheilung deS außerordentlich großen und sigurenrcichen Gemäldes würde uns hier zu weit führen, und wir begnügen uns daher mit einer Schilderung des Gegenstandes, der Idee des Künstlers, *) Heir Brülow gilt jetzt allgemein für cinen Nüssen. Auch will «r selbst dafür gelten, denn scin Ruhm ist hauptsächlich auf russische Nationalität basirt. Einem Deutschen oder Italicncr würde man dicsc Leistungen nicht so außerordentlich hoch anrcchncn. Viele aber wollen beh^uptcn, dcr Maler sci eigentlich cin Deutscher und heiße Vrülau, Andere meincn, cr s«i ein Franzose mit Namen Brulcau. Brülow's Gemälde von Pompeji. 371 so wie der Gruppirung und Anlage des Ganzen. Früher, als sich das Gemälde noch in Rom befand, war dieß Alles bekannt genug, mochte al^r jetzt, da es dem Strome der betrachtende» Reisenden so weit entrückt ist, mehr vergessen fein. Allerdings konnte es in den Straßen Pompejis während jener für die Stadt so verhangnißvollen Stunden an interessanten Gruppen, malerischen Beleuchtungen und wunderbaren An- und Aussichten nicht fehlem Die furchtbare Schwarze des Himmels am hellen Tage, der berstende und Feucrstrome entsendende Vesuv in der Nahe, es mögen dieß Schauspiele gewesen sein so majestätisch, so gewaltig und ergreifend, daß sich kein Pinsel, keine Feder, keine Phantasie an ih.'e Darstellung und Ausmalung wagt. Die Kämpfe der Titanen und das Walten des Donnerers am Himmelsgewölke lassen sich in ihrer ganzen schrecklichen Erhabenbcit nur in der Wirklichkeit empfinden und bringen auf der Leinwand kaum einen Effect hervor. Außerdem aber mußte auch der Reichthum wirklich malerisch tragischer Scenen groß genug sein. Wie mochten die menschlichen Leiden sckaften und alle guten wie schlechten Triebe, Liebe, Nache, Verzweiflung, Kühnheit, Eoelmuth, Selbstsucht, Furcht, Haß und Freundschaft in dicscm Tobcn der Natur zu eben so gewaltigem moralischen Sturme aufgeregt werdm, wie vi^'l des Guten und Vöscn mochte in jenen Momenten geschehen, wie viel des Tragischen und Pittoresken sich in jenen Augenblicken gruppiren. Der Künstler hat sich natürlich nur die >'j72 Brülow's Gemälde von Pompeji. Darstellung dieses moralischen Sturmes zur Aufgabe gemacht, indem er die Begebenheiten in der Natur nur in der Ferne drohen läßt. Er führt uns daher nicht unter die tobenden Halbgötter, sondern mitten unter die leidenden und dem Tode geweihten Menschen. Eine Straße von Pompeji, mit den Scenen, die in ihr sich ereignen, bildet den Vordergrund. Die beiden Hauserreiben der Straße verlieren sich in der Ferne bis zu den Thoren der Stadt, vor denen die Feuerströme der Leva Einlaß begekren. In Nauch und Wolken gebullt, siebt man den berstenden Vesuv, die Quelle alles Unbeils, sein feuerrothes Licht durch Nackt und Nebel senden. Den Himmel deckt tiefe mitternachtliche Schwarze, und nur ein Blitz, der aus seinem unheilschwangeren Schooße fahrt, erhellt momentan die Scenen in der Straße, die uns des Malers Pinsel gruppirte. Auch hier war es wohl nicht leicht, aus der Fülle des sich darbietenden Stoffs das Effectuollste zu wählen. Die bis zum letzten Augenblicke aushaltende Freundschaft, die sich opfernde Liebe, die Mutter mit den Kindern, des Vaters Energie, welche Massen von Ideeen drängen sich da nicht auf! Der Maler griff aus dieser Fülle Folgendes heraus. In der Mitte des Gemäldes und Vordergrundes liegt cine vom Todesstrahle getroffene Frau, die ster-beno mit ihren Armen ihr reizendes Söhnchen umfaßt. Das Kind greift mitten unter den Schrecknissen, von denen es die Ursachen und Folgen nicht kennt, tändelnd nach der glimmenden Asche am Boden. Zur Rechten Brülow's Gemälde von Pompeji. 37>t strichelt ein Greis, den ein Mann und ein Knabe mit liebender Sorgfalt vom Platze wegzlltragen suchen, eine ähnliche Gruppe wie die des Anchises, Aeneas und Ascan auf ihrer Flucht aus Troja, und weiterhin zeigt sich ein Bräutigam, der, umgeben von den erschreckten Hochzeitsgästen, seine bekränzte Braut zu retten sucht. Beide glauben sich am schönsten Ziele ihrer Lebenswünsche angelangt, und der Tag der schönsten Lebensfeier bringt die Stunde ihres Untergangs. Zur Linken, ganz im Vordergrunde, steht die Haupt» qruppe des Gemäldes, dle wahrscheinlich die dominirende Idee des Ganzen war und eine Anspielung auf das über die heidnischen Götter siegende Christenthum enthält. Alis dem zusammensinkenden Tempel stürzen heid-> Nische Priester in weißen Gewändern hervor, beladen Mit den heiligen Gefäßen und den Bildnissen ihrer ohnmächtigen Götter, an die sie sich untergehend vergebens anklammern. Schrecken und Angst malen sich auf ihren grell vom Blitze erleuchteten Gesichtern. Aus einer Kellerkirche, einer Krypte, — schon damals mochte der christliche Gottesdienst in den Souterrains von Pompeji sich eingenistet haben — ist dagegen ein christlicher Priester, ein Schüler der Apostel, hervorgetreten. Er schaut ernst, aber ohne Furcht den Scenen am Himmel und auf der Erdoberssache zu und scheint ein paar armselig gekleidete Leute, wahrscheinlich arme verachtete Christen, die sich in heißm Gebeten, aber ohne Verzweiflung ihm zur Seite halten, zu trösten und aufzurichten. Die Kleidung des Priesters und ftin Rauchfaß bezcich- 374 Brülow's Gemälde uon Pompeji. nen ihn als einen Priester von der griechisch-russischen Confession, und es ist sonach hierin nicht nur ein Lob für das Christenthum, sondern zugleich cine Huldigung für die griechisch-russische Kirche enthalten. In der Ferne erblickt man auf der Straße noch manche Scenen des Schreckens, einstürzende Häuser, flüchtende Familien, Reißaus nehmende Pferde u. f. w. Besonders gespenstisch und ergreifend ist der Effect der marmornen Bildsäulen, die, durch d^is Erdbeben emporgehoben, sich von ihren Dachpost^menten, auf denen sie Ichre lang unbeweglich ruhten, herabbewegen, als waren sie lalltcr belebte steinerne Gaste. Von Vlitzen hell erleuchtet und gegen den schwarzen Himmel grell sich abhebend, sind sie, schief in den Lüften schwebend, im Begriff, zerschmetternd und zerschmettert auf die Braute, Priester, Kinder und Greise, deren warmes Leben sie mit kalten Marmorarmen tödtend umfassen werden, hin-abzupoltern. Außer den Hauptfiguren tritt noch manche Nebenfigur hinzu, um den Eindruck dcs Schreckeens zu vermehren, unter anderen c!n junger Reiter auf hoch sich bäumendem Pferde. Der Jüngling ist schon erbleicht, und nur krampfhaft an das Pferd geklammert, hält er sich noch im Sattel; er ist bercits todt, und mit dem Todten galoppirt das Pferd davon. Edelsteine und Pretiosen entrollen einer Sclavin auf der Straße, ihr reizender Schimmer ist verblichen in dem schrecklichen Momente deS Endes dieses Lebens. All dieser Glanz, all dieses Leben wird bald mit Nacht und Graus bebeckt sein, und erst nach Jahrhunderten wird man die Vrülow's Gemälde von Pompeji, 375 Asche dieser Braute aus dem Schütte wieder hervor« ztehm und an das Licht des Tages bringen. Indem wir eS besseren Kennern überlassen, das Technische deS Gemäldes zu loben oder zu tadeln, bemerken wtr nur noch, daß es ohne Zweifel eine der vorzüglichsten neueren Leistungen des Pinsels ist, und daß man es nicht genug bedauern kann, daß der Meister dieses Kunstwerks so bald den schöpferischen Boden Italiens verließ und sich dem üppigen Petersburg, dessen Muse die Muße ist und das im wirbeligen Strome seines geselligen Lebens alle Productivitat erlahmen macht, zuwandte. — Vrülow würde gewiß ein weitgenannter Name sein, wenn sein Inhaber ein so steißiger Mann gewesen ware wie Rubens oder van Dyk. Aber jetzt malt er die hübschen Gesichter der Petersburger Hof-fraulein und die eitlen Uniformen der russischen Generale, die alle es sich viel Geld und Bitten kosten lassen, um von dem berühmten Maler portraitirt zu werden. Und so ist er denn, so zu sagen, alls einem originellen Schriftsteller ein Kalligraph und Copist geworden. Es ist dieß leider das gewöhnliche Schicksal aller genialen Köpfe in jener üppigen Hauptstadt, wo Tafelluxus, Leichtsinn, politischer Zwang l,nt> tausend andere Dinge dahin wirken, die Flügel des Genius so vielfach zu beschneiden, bis ihnen nichts mehr von Flugkraft bleibt und sie wie andere Bürger artig auf der Erdoberflache zu Fuße gehen. Außer diesem Vrülow'schen, auch durch den Kupferstich bekannten Vilde enthalt die Akademie der Künste 3?6 Brülow's Gemälde von Pompeji. s/Vki>v^) für einen Kenner und Künstler wenig Sehenswerthes, für einen Ethnographen und Reisenden aber, dessen Interesse darauf ausgeht, alle Dinge aus ihrem wahren Gesichtspuncte und als Product ihrer politischen, moralischen und ethnographischen Verhaltnisse zu würdigen, genug Lehrreiches. Das Schönste unter den hier aufgestellten Kunstwerken sind wohl ohne Zweifel die Cartons von Nafael Mengs, ein Apollo unter den Musen, dann die Muse der Geschichte, die in einem schönen Tempel der Fama lauscht und das Geschehene niederschreibt. Unter den 3l)() Gemälden, die in Italien für die Akademie acqui-rirt wurden, sind einige gute, einige Nafaels und Pe-ruginos. Die Statuen, welche der Admiral Spiridion auf den Inseln des Archipels für die Akademie sammelte, sind fast nur Trümmer. Warschau lieferte für die Sammlung der Statuen ebenfalls manches nicht Werthlose. Auch hier sieht man die großen Büsten Peter's des Großen und Katharina's H., zweier weltlicher Herrscher, deren Physiognomien man in Rußland eben so häusig und überall unzertrennlich 'beisammen findet wie in Deutschland die Physiognomien unserer beiden geistigen Könige, Schiller's und Göthe's. Mitten unter diesen Trümmern der alten Griechenwelt, mitten unter diesen polnischen Trophäen und unter den Portraits der Zaaren erblickt man auch die Züge dcs größten Feldherrn unserer Zeit. Die Englander und die Russen, diese beiden Ueberwinder Napoleon's, führten beide seine erhabenen Gesichtszüge an ihren Triumph« Vrülow's Gemälde von Pompcj,i. 377 wagen mit sich fort, jene, die Engländer, das wirkliche, lebendige, athmende Angesicht, diese, die Russen, sein marmornes Ebenbild. Sie erbeuteten diese schöne Sta» tue in Hamburg, welche „gute Stadt" sie an sich ge» kauft hatte. Vennigsen und Wittgenstein nahmen sie und ließen sie nach Petersburg transportiren. Das Akademiegebaude ist an und für sich von außen eines der schönsten der Stadt. Es liegt aus Wassili» Ostrow an der Newa; ein prächtiger Quai, dessen Granitquadern und schöne Treppe das Piedestal und die Avenue des Gebäudes bilden, tragt die Wachter des Eingangs der Akademie, zwei schöne ägyptische Sphinxe, die hier recht an ihrer Stelle sind, wie denn alle ko« loffalen Productions« der ägyptischen Baukunst in dem kolossalen Petersburg recht an ihrer Stelle waren, und das Gebäude selbst hebt sich in den schönsten Proportionen zu einer Höhe von 7l) Fuß und mit dem Umfange von 250 Toisen am Ufer empor, auf der gan» zen Lange seiner Newafaioi?Dwor-Kaufleute und der Gassenjungen widerlegt wird, von dem ick) oft genug Zeuge war. Es macht einen ganz eigenen Effect, die Iswoschtschiks hier mitten zwischen den eleganten Palästen der Residenz ihre Lieder, die sie im Inneren des Scene. 38 l Landes inmitten ihrer Wälder und Wiesen lernten, vortragen zu hören. Daß bci den öffentlichen Festen auf dem großen Admiralitätsplatze, dem kaiserlichen Palais gegenüber und im Angesichts aller Großen des Reichs, unbefangener und freier gewitzelt, gescherzt und gesungen wird als bei unseren öffentlichen Festen, bemerkten wir schon oben. Allerdings ist die Petersburger Polizei streng, peinlich, ja despotisch, aber sie ist dieß Alles weder in dem Grade, noch auf die Weise, wie wir es uns denken. S c e n c. In der schönen Konditorei des Herrn Veranger sitzend, hörte ich Lärm, Geschrei und Pferdegeschnaufc auf der Straße. Ich blickte zum Fenster hinaus und sah, wie ein großer Schlitten in einem tiefen Schneeloche stecken geblieben war, aus dem seine kleinen Pferde ihn vergebens herauszuarbeiten strebten. Der Kutscher zerrte, trieb an und peitschte; andere Iswoschtschil's kamen herangefahren und halfen scheuchen und ermuntern. Am Ende schrie und lärmte das ganze Publicum mit, das sich um die Scene herum versammelt hatte. Endlich öffnete sich die Thür des bis dahin verschlossenen Schlittens, und ein Herr und eine Dame stiegen aus, ihrem Kutscher die Weisung gebend, ihnen so bald als möglich nachzufolgen. Dieß konnte aber erst geschehen, nachdem zwei Kosaken herangesprengt waren, die mit ihren Kantjchus ein paar Mal auf die Pferde einhie- W^ Taschendiebe. ben. Durch diese durchdringenden Schläge, von denen nebenher auch der Kutscher einen kleinen Streifhieb empfing^ erschreckt, machten die Pferde einen verzweifelten Sah, hoben den Schlitten aus dem Loche und gingen in gestrecktem Galopp davon. Taschendiebe. Der französische Gesandte lobte eines Tages gegen «inen Prinzen des russischen Kaiserhauses die Geschickllchkeit der Pariser Diebe und erzählte allerlei Anekdoten von lhren feinen Streichen. Der Großfürst meinte, daß die Petersburger Diebe auch Aehnliches eben so gut verständen, und proponirte dem Gesandten, der daran zweifeln wollte, eine Wette, daß, wenn er morgen bei ihm zu Mittage speisen wolle, er ihm noch vor dem Abtragen des Desserts seine Uhr, seinen Siegelring oder waS er sonst von den nicht niet- und nagelfesten Dingen seiner Toilette bezeichnen würde, stehlen lassen wolle. Der Gesandte ging die Wette ein, und der Großfürst schickte sogleich zum Polizeimeister mit der Bitte^ er möchte ihm den geschicktesten Taschendieb, der jeht im Gefängnisse sei, zuschicken. Man steckte denselben in Lakaienkleidung, versah ihn mit den gehörigen Instruction«» und versprach ihm Straflosigkeit und Freiheit, wenn er seine Sache gut machen würde. Der Gesandte hatte seine Uhr als den Gegenstand bezeichnet, auf den sowohl er als der Dieb die Hauptaufmerksamkeit zu richten haben würden. Taschendiebe. 383 Dem vorgeblichen Bedienten wurde befohlen, wenn er die Uhr habe, dem Großfürsten einen Wink zu geben. Das Diner begann, das Vorgericht, die Suppe und der Braten kamen und verschwanden, die rothen, weißen, griechischen, spanischen und französischen Weine blinkten der Reihe mich in den Gläsern. Der französische Gesandte war immer achtsam auf seine Uhr, und der Großfürst, der seine angstliche Aufmerksamkeit bemerkte, lächelte ihm zuweilen halb freundlich, halb spöttisch zu. Der verkappte Lakai »rar immer geschäftig, sich unter die übrigen zu mischen und Speisen und Getränke ab- und zuzutragen. Das Diner neigte sich schon seinem Ende zu, und der Großfürst erwartete mit Ungeduld den Wiuk des Diebes, der aber, wie es schien, fehr viel zu thun hatte. Plötzlich erheiterte sich des Großfürsten Angesicht, und er wandte sich zum französischen Gesandten, der in ein Gespräch mit seinen Nachbarn vertieft war, und fragte ihn, wie Vkl die Uhr sei. Dieser griff triumphirend — er hatte ja noch vor wenigen Augenblicken die Hand an der Uhr gehabt — in seine Westentasche und zog — zum Amusement aller Gäste und insbesondere des Großfürsten — eine hübsch zugestutzte Rübe daraus hervor. Ein allgemeines Gclachter erhob sich, und der Gesandte wurde etwas verlegen. Er wollte eine Prise Conte-nance nehmen, aber er schlllg sich an alle Taschen und bemerkte zu seinem Schrecken, daß ihm auch seine goldene Tabatii're fehle. Das Gelächter wurde größer. In dem Cmbarras und dem Verdruß fuhr er sich, wie er 384 vcihbibttothektn. zu thun gewohnt war, an den Finger, um seinen golde-nen Siegelring zu drehen, aber siehe da — auch dieser fehlte. Kurz er fand, daß er während der Ragouts und schönen Pasteten förmlich ausgeplündert worden war und nichts, was nicht Schneider oder Schuster dauerhaft befestigt hatten, also weder Ring, noch Tabatiere, weder Schnupftuch, noch Handschuhe, weder Zahnstocheretui, noch Schlüssel behalten hatte. Man führte den gewandten Dieb vor, und der Großfürst befahl ihm, die gestohlenen Sachen zurückzugeben, wunderte sich aber nicht wenig, als derselbe zwei Uhren hervorzog und eine davon ihm, dem Großfürsten, die andere dem Gesandten gab, zwei Ringe, «inen dem Großfürsten, den anderen dem Gesandten, zwei Tabatidren, eine dem Großfürsten, die andere dem Gesandten. Verwundert griff der Großfürst in seine Taschen, wie zuvor der Gesandte, und fand, daß er ganz auf gleiche Weise ausgeraubt worden war wie dieser. Der Großfürst betheuerte dem Gesandten, daß er nichts davon gewußt habe. Er wollte erst dem Schelme zürnen, besann sich aber, dankte ihm, daß er ihn auf eine so eclatante Weise seine Wette habe gewinnen lassen, " und entließ ihn frei und beschenkt, aber mit der Weisung, in Zukunft seine Geschick!ichkeit zu nützlicheren Dingen anzuwenden. Leihbibliotheken. Ich weiß nicht, welche Vorstellung man sich bei uns von den Petersburger Leihbibliotheken macht, weß- Wandernde Buchhändler. 385 halb ick) hier noch ein Wort darüber verliere. Die französischen Leihbibliotheken Petersburgs sind, wenn auch nicht eben so reich assortirt, doch wenigstens eben so elegant wie die in Paris. Die deutschen sind natürlich kleiner als die unserer Hauptstädte, jedenfalls aber viel eleganter nnd angenehmer eingerichtet. Von den russischen ist die größte die von Smirdin. Sie hat bereits nahe an 80,0«U Bande russischer Schriften, und die Aufstellung der Bücher und die Bedienung in diesem Locale ist so, wie man es der Würde eines so großen Geschäftes nur angemessen finden kann. Wir holen die Geistespro-ducte unserer Schriftsteller selbst in ^den meisten unserer Hauptstädte noch immer aus einer Art von sinste» ren Höhlen und erhalten hier selten ein Vuch, das nicht von dem Schweiße von den Fingern der Leser verunziert ist. Die russische Literatur ist eine im Purpur geborene und hat gleich von Anfang herein sich in eleganter Toilette gezeigt Ob sie dabei auch mehr Geist im Kopfe hat, ist eine andere Frage. Wandernde Buchhändler. Wir führten oben einige Gründe an, warum in Petersburg und überhaupt in Nußland so viele Waaren sich auf die Straßen begeben und sich mittels lio-madisirender Kaufleute, sogenannter Nasnoschtschiks, verhandeln lassen. Zu diesen Waaren gehören aus denselben Gründen auch die Bücher. Nicht nur im Inneren des Reichs sieht man die Buchhändler mit klei- Kohl, Petersburg Nl. > 17 336 kaufen. Hier drangt es sich aus und ein wie bei einem Theater. Die Plotniks, die am Sonnabende früher Feierabend machten, um ihr Bad nicht zu versäumen, die Bedienten und Kutscher, die glücklich genug waren, Urlaub von ihren Herrschaften zu erhalten, um das Vad zu genießen, die armen geplagten Soldaten, denen man dieft Freude am meisten gönnt, weil sie ihnen am seltensten zu Theil wird, Manner, Weiber, Dampfbäder. 401 Burschen, Mädchen, Alles stürzt sich zum Kassenmeister, um mit Schnelligkeit sem Billet zu lösen, als gälte es, einen Platz in irgend einem beliebten Theater zu erhalten. Lösen wir auch unsere Marke und wandern wir mit ihnen, um uns dieses tolle Treiben ein wenig anzusehen. Gewöhnlich bestehen die Vader aus zwei Haupt-abtheilungen, einer für das männliche und einer anderen für das weibliche Geschlecht, und gleich hinter dem Kaffenmeister theilen sich die Wege für die Männer und Weiber. In den Vadehausern, welche die Bauern auf dem Lande haben, baden sich beide Geschlechter in demselben Raume, meistens indeß nur familienweise. Manche Reisende behaupten, daß auch in Petersburg Dasselbe stattfinde. Indeß habe ich mehre Vad.>r be« sucht und überall Trennung der Geschlechter gefunden. Man tritt zunächst in ein freies Gehöfte, in welchem auf einer Reihe von Banken viele nackte Man» ner sitzen, alle triefend von Schweiß und Wasser und roth wie die Krebse, alle tiefathmend, seufzend, schnalzend, schwatzend und mit Abtrocknen und Anziehen em» sig beschäftigt. Es sind Diejenigen, welche bereits gebadet haben und nur vor innerem Wohlbefinden und großer Behaglichkeit blasen und athmen wie die Tritonen im Mcere. Es ist hier ein Geschnatter und Ge-plätscher, als wenn eine Heerde Enten sich in einem Wasserpfuhle ergötze. Gelbst im Winter sah ich die Leute, die aus dem heißen Bade kamen, so im Freien oder doch höchstens unter einem Schuppen, der eine Art 402 Dampfbäder. von Vorhaus zu den Bädern bildet, sich abtrocknen. Rund herum befinden sich die Thüren zu den Badezimmern, nämlich großen, aus Tannenbaumen errichteten Räumen, in denen eine Hitze von 4t) bis 50 Graden herrscht. Dicke Wolken von Dampf und Qualm verbergen dem Eintretenden, was hier geschieht, und nur der trübe Schimmer einiger Lampen, der durch die dichte Atmosphäre bricht, und die Flamme der geheizten Oefen sind anfangs sichtbar. In Kleidern es hier auszuhalten, ist natürlich unmöglich, auch wäre es für keinen Anstandiggetleidcten ralWin, sich als bloßer neugieriger Zuschauer in diese Räume zu wagen. Ich konnte daher hier nur in derjenigen Toilette vordringen, welche wir von der Natur empfangen haben, und in welcher wir alle einander so ahnlich sehen wie ein Ei dem anderen. Nur auf diese Weise hatte ich hier freien Laufpaß, denn in anständiger Kleidung hatten mich alle die nackten Figuren gewiß zum Tempel hinausgeworfen. Indem ich mich aber bei meinen Nachspürungen und ethnographischen Spaziergängen dieser Maske bediente, erkannten sie meine Absicht nicht, die keineswegs auf das Baden, sondern nur auf die Beobachtung ihres Thuns und Treibens abzielte. Wenn man die Thür der russischen Bäder öffnet, so erkennt man anfangs, wie gesagt, nichts vor lauter Dampf. Doch erregt man diesen Dampf gewöhnlich selbst, indem man mit kalter Luft in die innere Hitze hineinbringt und so die Dampfe sichtbar macht, die außerdem bei der so außerordentlich erhöhten Tempe- Dampfbäder. 403 ratur in halb gasförmigem Zustande und fast ganz durch-sichtig sind. Ja im Winter tritt man gewöhnlich, wie Jupiter zur Semele, in einer Wetterwolke und mit Schneegestöber herein, indem die kalte Atmosphäre, die den Eintretenden umhüllt, die feuchten Dämpfe des Inneren auf der Stelle gefrieren und in Schneestocken herabfallen laßt. Die Sensationen, die man anfangs erfährt, sind wunderbar. Man sieht eine Menge von Menschen, 50 bis 1W, die auf die sonderbarste Weise, wie es scheint, damit beschäftigt sind, sich selbst zu plagen und zu kasteien. Auf der langen, amphitheatralisch aufgerichteten Terrasse liegen viele menschliche Körpcr auf dcm Nucken oder auf dem Bauche; die meisten von ihnen scheinen todt zu sein oder doch wenigstens mit dem Tode zu kämpfen, denn sie schlingen eine glühend heiße Luft ein, die den Lungen nur zur Marter dienen zu können scheint. Viele liegen ganz oben in dem höchsten Raume der Hitze, und man hält sie für entschlossen, ihr Leben durch Ersticken zu enden. Andere Leute, ihre Peiniger, bemühen sich, die Schmachtenden mit Birkenruthen zu peitschen, die sie — wohl um die Wirkung ihrer Streiche noch zu erhöhen -^ in kaltes Waffer tauchen. Hier und da sieht man Väter auf den Bänken sitzen, ihre kleinen Söhne zwischen den Knieen haltend und sie gleichfalls mit Ruthen streichend. Andere wiederum stehen bei der Flamme des glühenden Ofens, als müßten sie sich braten lassen, und wieder Andere sieigen aus den heißen Nänmen herunter, und aus allen Poren dampfend und Tt)4 Dampfbäder. schwitzend, lassen sie sich eimerweise mit eiskalten» Wasser übergießen, das zu diesem Behufe immer in großen Kübeln ln der Nahe bereit steht, als wollten sie an sich das Sprüchwort erfüllen: cms dem Regen in die Traufe, oder, als hatten sie alle die Zauberstöte Mozart's, um wie Hamino dem Feuer und Wasser zu trotzen. Wahrlich, man glaubt, in ein Marter- und Strafhaus eingetreten zu sein, und hält die Leute, wenn l-mch nicht für Opfer einer Verfolgung und Despotie, da man sie Alles freiwillig thun sieht, doch für Märtyrer einer siren Idee oder Narrheit. Wie wirb dem Neulinge sonderbar zu Muthe, wenn man die Manner fragt und sie versichern hört, daß ihnen so wohl und freudig zu Muthe sei wie dem Fische im Wasser, und wenn man von ihnen vernimmt, daß alle diese Manipulationen, die man zu ihrer Strafe erfunden glaubt, ihnen zu größten Freude und Wollust gereichen. Hat man denn lauter Heilige deS Mittelalters vor sich, die, für eine gute Sack)« sterbend, auch mitten unter den schrecklich' sten Qualen des auf ibre nackten Körper herabtröpfeln-den Regens wn Schwefelflammen freudig betheuerten, daß ihnen wohl sei, und frohlockende Hymnen sangen?! So, sage ich, denkt etwa ein Neuling; allein Jemand, der die ersten Eindrücke überwand, der seine Lunge an das Einathmen der Flamme gewöhnte, der sich auf eine der Bänke setzte und sich der angenehmen, bel dem ungeheueren Schweiße allmälig eintretenden Ermattung überließ, wird bald hinter das Räthsel kommen. Dampfbäder. 405 In den russischen Bädern, die ich jetzt beschreib?, habe ich mich, weil sie für den Genuß zu degontant waren, — für die Beobachtung ist natürlich nichts degoutant —> nie dieser Wonne überlassen, desto hau« figer aber in anderen eleganteren, deren es ebenfalls viele in Petersburg giebt, und in denen Alles, Vorzimmer, Ankleidezimmer, Baderaum u. s. w. hübsch eingerichtet ist. Der Genuß beginnt, wenn die erste'unangenehme Berührung der Hitze überwunden ist, und die Trans-spiration sich in volle Thätigkeit zu setzen anfungt. Dann steigen die wohlthätigen Geister der Warme in alle Theile des Körpers und in feine innersten Raume. Man spürt am Ende nichts mehr von seiner Existenz, man fühlt sich himmlisch wohl und transspirirt zuletzt so ungeheuer, daß man nur noch als flüchtiger Dampf zu eristirm scheint. Jedes Gefühl von Mißbehagen weicht aus den Gliedern, und man fühlt sich federleicht. Das Neiden und Peitschen mit den Birkenzweigen und das Besprengen mit kaltem Waffer erhöht nicht nur die Transspiration auf eine außerordentliche Weise, sondern auch eben so den Genuß. Alle Schmerzen, seien sie, welcher Art sie wollen, Zahnweh, Kopfschmerz, Ma-genkrampse, Gliederzucken, Gesichtsrcißen, Gicht, Podagra und Chiragra, vergehen in diesem Bade. Es bleibt von Allem, so lange man im Bade ist, keine Spur zurück, denn der Zustand, in dcm man sich in demselben befindet, ist eine ganz außerordentliche Aufregung, eine Art von Rausch des ganzen Nervensystems, mm: ist heiter, wohl und geläutert wie Gold. Natürlich 40s Dampfbäder. kehrt mancher Schmcrz später nur um so heftiger zurück. Aber so viel ist gewiß, daß Jeder wahrend des Bades und noch einige Stunden nachher in einem völlig schmerzenloscn Zustande sich befindet, und daß man dann leicht die außerordentliche Begierde begreift, mit welcher die Russen sich zu dieser Art von Berauschung drangen. Man ist nach dem Bade ausgewaschen wie ein Schwamm, denn dieses russische Bad ist die einzige Art von Bad, bei der nicht blos die äußere Haut, sondern durch die Ströme von Schweiß, die das Innere des Körpers durchdringen, auch Herz nnd Magen, Lcbcr und Lunge gewaschen werden. Man kommt sich gereinigt vor bis an baS Innerste der Seele, ausgelaugt, durchgelaugt, geschwefelt, durchdampft, durchlautert und abgeklärt. Das Gemeingefühl ist nach dem Bade ein köstliches, und ich glaube, daß man für ein sinnliches Volk keinen größeren Sinnengenuß erfinden konnte. Die Russen aller Stande und jedes Alters sind so an das Dampfbad gewöhnt, dliß sie sich durchaus unwohl fühle», wenn sie es einmal längere Zeit ent' behren mußten, und der arme, an seinen schweren Dienst gefesselte Soldat klagt oft, er habe schon seit vier Wochen nicht in's Bad gehen können, mit solchen traurigen, Mitleid erweckenden Micncn, als sei er innerhalb derselben Zeit abgehalten worden, seinen Hunger zu stillen. Für viele Krankheiten und Uebel verordnen sich die Russen das Dampfbad als beßte (5ur. Natürlich muß ein so außerordentlich allgemeiner Gebrauch eines so wirksamen Mittels von außerordentlichen Folgen für die Con- Russische und deutsche Accentuation. 40? stitution und den Gesundheitszustand der Nation fein, für das Blühen und Verblühen der Schönheit bei diesem Volke, für sein Alter u. s. w. Es ware dieß der Gegenstand einer eigenen interessanten, aber uns hier zu weit führenden Untersuchung. Russische und deutsche Accenwatiou. Wir erwähnten schon oben hier und da einige Veränderungen, welche die Russen mit den deutschen Worten vornehmen. Wir fügen hier noch einige bei. Das deutsche „eu" verwandeln sie alle Mal in „ei," so daß z. B. aus deutsch „deitsch," aus Euer „Eier" wird. Das H verwandeln sie immer in G, so daß sie aus, Haus „Gaus" und sogar aus jedem Hans eine „Gans" machen. Am wenigsten sind die Russen mit dem deutschen Accent zufrieden, den sie fast jedes Mal versetzen, und zwar so, daß, wenn wir den Accent auf der vor- oder drittletzten Sylbe haben, sie ihn auf die letzte werfen, z.B. deutsch: Petersburg, - Wcscmberg, H^nitmrhcrr, - Zeughaus, - Fmnland, Fcldjqgcr, Zcilgmcistcr, - Quarticrmeistcr, « General-en-chcf, russisch: PotnrbiÜrg. Wescmberg. Kanimerg ich will's glauben — einen schönen Sommer haben mag, aber einen ganz abscheulichen Winter hat, eine dauernde Schneebahn, gute Schlitten, Oefen, Pelze und all den Nebenverdienst, den wir uns in Rußland in den Wintermonaten machen können, schenke." Kohl, Petersburg, III. 18 4U> Kaffeehäuser. Kaffc ehä ll s c r. Die Petersburger Kaffeehäuser bedeuten wenig. Natürlich hat man, wenn man alle Mittage und all« Abende bei seinen Freunden auf die wünschenswertheste Weise von der Welt für sich servirt findet, wenig Lust, Wirths- und Kaffeehauser zu besuchen, wo man Alles bezahlen muß und doch am Ende sich nicht so komfortabel fühlt wie bci'm reichen Fürsten R. oder S. So lange in Petersburg noch diese außerordentliche Gastfreiheit besteht, können die Wirthshäuser und Restaurationen nicht aufkommen. In Paris und London giebt es Leute genug, die die Hälfte jedes Tages in Wirthshausern und Schenken zubringen. In Petersburg sind es blos einige verbindungslose Fremde, die hier Trost suchen, oder einige Offiziere, die sich hier ein Rendezvous g.'b.'n. Man verabredet allenfalls mit einander, sich bei Veranger zu treffe,:, um dann gemeinschaftlich zum Onkel R. zu fahren, und man verzehrt eben nur so viel, als es der Anstand durchaus ersordert, ober man geht kurz vor Tische rasa) in's Kaffeehaus, um die Zeitungen zu lesen und so viclc Neuigkeiten als möglich bei der Mahlzeit auftischen zu können. Uebrigens ist natürlich Petersburg so menschenreich, daß selbst solche Anwandlungen von augenblicklichen Launen, solche flüchtige und vorübergehende Bedürfnisse im Stande sind, recht elegante Institute in'S Lcben zu rufen und prachtige Kaffeehäuser zu erzeugen. Der berühmteste Cafetier in Petersburg ist Der großt Prospect auf Wassili-Ostrow. 411 Beranger, der auf mehren Hauptstraßen der Stadt seine hübschen Etablissements von süßen Zuckersachen und Saften besitzt Auf der Perspective ist seine Hauptniederlassung. Diese Kaffeehäuser sind aus den bereg-ten Gründen im Vergleich zu den Pariser Kaffeehäusern alle ohne Leben und klein, aber desto eleganter und geschmackvoller, schön möblirt und auch mit den wichtigsten französischen, englischen und deutschen Zeitungen wohl versehen. Der große Prospect auf Wassili-Ostrow. Eine der eigenthümlichsten und hübschesten Straßen von Pete,sburg ist der Volschoi-Prospect auf Wassili« Ostrow. Er ist sehr breit und hat zu beiden Seiten auf seiner ganzen Lange eine Reihe von kleinen Garten, die den zur Straße gehörigen Häusern vorliegen. Diese Hauser, die meistens vcn deutschen Professoren, Akademikern, Kaufleuten, aber allerdings auch vo» Nüssen bewohnt, sind, liegen auf diese Weise sehr an-muthig lnnter den Bäumen der Garten versteckt. In der Mitte läuft die breite Bahn für die Wagen und Reiter hin; zu den beiden Seiten, die Zäune der Gärten entlang, gehen die erhöhten Trottoirs (Vrückenwege aus Holz) für die Fußganger, und durch die Gärten selbst zieht sich immer ein Fußsteig zu einer Hausthür. Die hauptsächliche Hausthür ist aber im Inneren des Gehöftes, und zwischen je zwei Nachbargarten zweigt sich eine eigene kleine Nebenstraße für die Wagen in's Gehöfte ab. 18* 4^2 Die Etvitbtamten. Die Gehöfte sind groß und nmd umhcr mit Wohn- und Wirthschaftsgebauden abgeschlossen. Man glaubt daher, wenn man von der großen Straße abbiegt, in eine besondere kleine Meierei oder einen Land-edelsitz zu kommen. Die Straße verdankt diese sonderbare und hübsche Einrichtung iluer ersten Anlage unter Peter dem Großen, der ihr zu beiden Seiten breite Canäle gab. Diese Canale wurden später, als man sie mit Recht unzweck« mäßig fand, wieder zugeschüttet und bann auf die bezeichnete Weise in Gartenanlagen verwandelt. Die Civ ilb eamtc n. Wenn man an die Einfachheit der Verwaltung in Rllsiland vor Peter dem Großen denkt, an das politische Chaos bei den Tataren, den Grusiern, den Sibi' riaken u, s. w., so muß man erstaunen über das reißende und riesengroße Wachsthum des in jenen Gegenden jetzt aufgeführten Staatsgcbälldes und über seine detaillirte Entwickelung in allen einzelnen, auch den kleinsten Zweigen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß das ganze große jetzige Heer der Civilbeamten Rußlands sich auf eine nicht viel geringere Summe belaufe als das Kriegsheer des Landes, und daß vielleicht eben so viele Leute die grüne Uniform der russischen Civilbeamten tragen, als es überhaupt in allen übrigen Staaten EuropaS zusammen Civilbeamte giebt. Man denke nur an das Dutzend Ministerien in Die Civilbeamten. 413 Petersburg mit ihren Canzleien, die wie Bienenkörbe von Beamten wimmeln, an die ?^ Gouverneure und Generalgouverneure der Provinzen mit ihren unzähligen Privat- und Gouvernementscanzle'.en und dem ganzen Troß von Beamten, die unter ihnen sich hm.ibreihen bis zu den „Gorodnitschoi" der Sladte und den „Isprawniks" der Dörfer, — an das gewaltige Heer von Zollbeamten, das der Finanzmimster unter die Waffen rief, um die ungeheueren Gränzen des Reichs zu bewachen, — ferner an die Verwaltung der Bergwerke, der Wälder, der Forsten, — an des Ministers der Volksaufklänmg und seiner 12 Kuratoren zahllose Ober- und Unterbeamte, die an den vielen Tausenden von Schulen*), welche Rußland in den letzten Iahrzehnden unter 20 barbarischen Nationen gründete, angestellt sind, mit einem Worte an all die verschiedenen Zweige der Staatsverwaltung, wie sie jeder ausgebildete Staat im übrigen Europa hat, wie sie aber kein einziger Staat außer Rußland mit solcher überschwänglichen Veamtenfülle versah. Dazu vergesse man nicht die vielen Verwalt-ungszweige, deren Ereirung Nußlands eigenthümliche Verhältnisse nöthig machten und welche den meisten unserer Staaten ganz entbehrlich sind, — die Aufsicht *) Für den Unterricht ist Rußland in eine gewisse An« zahl sogenannter LchrVezirkc abgetheilt. Bloß in dem Kiew'-schen Lehrbezirkt wurden stit IV3 eine Universität, 12 Gymna« sien, einige hundert Krnsschulm und über tausend Volks» schulen gestiftet und organisiit. W^ Die Eivilbcamtcn. über die Verwaltung der Millionen Kronbauern, für welche ein eigenes Ministerium mit seinem ganzen Ap« pendir geschaffen wurde, das Departement der söge» nannten Wassercommunication, das wiederum eine ganze Hierarchie von Beamlen hat, die geheime Polizei, deren Gensdarmerie allein groß genug ist, um eine recht ansehnliche Neichsarmee in einem deutschen Königreiche zu bilden, alsdann bis vielen eigenthümlichen Verwaltungs-zweige, die in Form außerordentlicher Commissionen für besondere Zwecke organisirt werden und mit dem übrigen Verwaltungswcsen nicht im Zusammenhange stehen, das Comit« für die Colonieen, die Commission für die Or« ganisation der kaukasischen Provinzen, eine Commission für die Ansiedelung nomadischer Volksstämme und an« dere, die alle zu nennen hier zu weit führen würde. Wenn es möglich wäre, alle diese zahllosen Beamten aufzuzahlen, so würde dieß von großem Interesse sein und es würde sich dann zeigen, daß Rußland mit seinem machtig wirkenden Zaubcrstabe in den letzten Zeiten eben fo viele Hunderttausend« zur Feder aufrief, Wie zum Schwerte, und in seiner Veamtenhierarchie eine Maschinerie schuf, deren ganzes Getriebe und Räderwerk in Erstaunen setzt, einen Thurmbau, dessen ganzes Gezimmer und Mauerwerk bunter ist als der Thurmbau von Babylon, einen künstlichen Riesenbaum, dessen Gezweige und Früchte, um des bedeutenden Theils der Menschheit willen, der in dieses Gewebe mit verflochten, in bimsen Strudel mit hineingerissen wurde, eine ausführliche Besprechung wohl verdiente. Die Civilbeamten. 415 Die Unzuverlassigkeit der meisten russischen Beamten, die eine Menge beigefügter Inspectors,!, Controleurs und Aufseher nöthig macht, deren Untauglich keit aber Wieder beständig zahlreiche außerordentliche Commissionen veranlaßt, ist ein Hauptgrund der außerordentlichen Vermehrung der Beamtenzahl in Nußland. In allen Theilen des Reichs sind fortwährend zahlreiche außerordentliche Kommissionärs thatig, die un» mittelbar von dcn obersten Bchöcdm ausgesandt werden, um Verbrecher und Pflichtuerletzer zu ertappen oder die Ausführung der Regierungsmaßregeln zu überwachen. Iedcr Generalgouucmeur, Statthalter, General u. s. w. hat seine Adjutanten und seine ^ti>clnnnawnik> pri owowmim porutsolxxnoin" (Beamte zu besonderen Auftragen), die, mit außerordentlicher Gewalt bekleidet, hier und da die Provinz durchstreifen und Ungehörig« keiten zur Untersuchung bringen oder auf der Stelle bestrafen. Ja das Institut der geheimen Polizei, das nicht nur auf politische Verschwörungen u. s. w. seine Aufmerksamkeit zu richten hat, sondern auch die Pflichttreue und das Verfahren der Beamtm be» wachen soll, verdankt größtentheils der angegebenen Ur» sache seine Existenz. — Unter allen den verschiedenen Tschinnowniks spielen daher auch die „tslMniwvvmKl ^,ri c>^»!ümim ^ariiii-oll^iliein" eine besondere und wichtige Rolle. Dasselbe, was wir von der Schnelligkeit des Avancements in der russischen Armee bemerkten, l0,000 Rubel des Reichen erhalten mit der Bedingung, daß er ihm zur Sicherstellung seines Auskommens durch seinen gewichtigen Einfluß eine Veamtenstelle besorge. Dieß kam endlich an den Tag, und nun erst konnte der Arm der Gerechtigkeit durchgreifen. Die außerordentlich geringe Besoldung der Beamten ist eine Hauptursache der bei ihnen so allgemein herrschenden Venalität. Ein russischer Gouverneur, in dem die ganze oberste Gewalt einer Provinz vereinigt ist, die zuweilen ein größeres Areal hat als das ganze 4N , Die Gnadentage. Königreich Preußen, erhält z. V. nicht mehr Gehalt als einer der 24 Senatoren der freien Reichsstadt Bremen. Man könnte dem Staate vorwerfen, daß er dem Uebel nicht durch höhere Besoldung zu steuern suche, doch fragt es sich, ob bei der Ungenügsamkeit der verschwenderischen Nüssen, die sich nicht in den Gränzen einer kleinen Wirthschaft einzurichten und genügen zu lassen wissen, der Sache dadurch abgeholfen würbe, und ob nicht ein noch luxuriöseres Leben der Beamten »die einzige Folge einer solchen Gehaltserhöhung sein würde. Einem Deutschen kann man sagen: „Hier hast du ein Haus, das dich vor Regen schützt, und ein Brot, das gut schmeckt und dich satt macht." Er wird dabei ausdauern und wirthschaften. Der Ruffe aber, der nicht zu wirthschaften versteht und schwindelnd immer weiter taumelt, wird aus dem Hause nach einem Palaste greifen und vom Brote nach der Torte langen. DaS Uebel fitzt tiefer als in den geringen Gehalten und könnte nur gehemmt werden, wenn man die ganze Nation umzuschmelzen vermöchte. Die Gu adentage. Die Namens- und Geburtstage des Kaisers und der Kaiserin sind große Gnaden- und Gunsttage, an denen viele Amts- und Standeserhöhungen und Ordens-, Geld« und Gutverleihungen bekannt gemacht werden. Der größte von allen Gnadentagen aber ist der Ostersonntag. Keine Post im ganzen Jahre wird in Vortheilhafte Speculation. 423 den Gouvernementsstadtcn so sehnsüchtig erwartet als die vom Petersburger Ostersonntage. Denn mit ihr erhalten die Gouverneure der Provinzen Piquets und Briefschaften aus der Residenz, welche für viele arme Kranke die köstlichste Medicin enthalten: Ernennungen zu Staatsrachen, Hof- und (5ollegienrathen, Wladimir-Orden, Annen-Orden von 4 Classen, Bänder um den Hals, Commandeurs-Bander, einfache Kreuze mit und ohne Diamanten, Medaillen, goldene, silberne und kupferne in Fülle. Da giebt eS bann ein Fragen, ein Haschen, ein Jubeln und Gratuliren ohne Ende, hinterher Mahlzeiten, Diners und Gesellschaften, um die Gnade des Kaisers zu ehren. Die beßten dieser Diners sind die der Kaufleute, wenn sie die silberne Medaille empfingen. Vorthcilhafte Speculation. Es geben hier zuweilen Leute große Feste, die ihnen die Hälfte ihrer jährlichen Revenueen kosten. So gab der Fürst t. im Winter 18.. drei Balle, deren jeder ihm wenigstens .W,0U0 Rubel zu stehen kam, und doch hatte der Mann mtr 10N,000 Rubel Neve« nueen. Der Kaiser und die Kaiserin, der Hof, die vornehme Welt und alle Fürsten tanzten auf einen, dieser Balle. Indeß der Mann warf die Wurst nach der Speckseite. Nach einiger Zeit bezahlte der Kaiser alle seine Schulden. „Der liebenswürdige Wirth, der ein so schönes, geschmackvolles Fest gab, ist in Noth, hat sich für >ms in Noth gestürzt," heißt es dann, 424 Geschenke dcr Unterthanen an den Kaiser. „man muß lhm helfen," Das Fest rentirt sich. H^t mim den Kaiser nur ein Mal bei sich bewirthet, so ist man geborgen. Geschenke dcr Unterthanen an den Kaiser. Etwas Eigenthümliches in Nußland sind die Geldgeschenke, welche die Kaiser ihren Unterthanen, so wie umgekehrt die Unterthanen ihrem Kaiser machen. Es kommt nicht selten vor, daß dem Kaiser von anhanglichen Unterthanen im Testamente bedeutende Geldsummen oder Tausende von Bauern vermacht werden. Auch bieten bei außerordentlichen Gelegenheiten, wie beim Polen kriege, beim Brand des Winterpalais u. s. w., reiche Unterthanen dem Kaiser große Geldsum« men an, eben so wie die leibeigenen Bauern hausig ihre Leib- und Grundherren bei großen Verlegenheiten mit solchen Offerten unterstützen. — Auch unter den Mitgliedern reicher Familien sind die Geschenke von Geldsummen viel gewöhnlicher als anderswo. Die alte Grafin B. soll einmal ihrem Sohne zu einem großen Feste, das er dem Kaiser zu geben beabsichtigte, 2W,00U Rubel Papier geschickt haben. Hochgestellte nissische Reisende im Inneren Nnß-landö und die Gouverneure der Provinzen. Welche Anstalten die Gouverneure im Inneren Rußlands treffen, wenn sich der Kaiser oder die Kaiserin Russische Gouverneure. 425 oder andere Personen der kaiserlichen Familie auf die Reise begeben, ist auch bei uns bekannt. Eigenthum-licher aber ist es und weniger bekannt, daß auch für mächtige und beim Kaiser gut angeschriebene Privatpersonen ganz ähnliche Vorkehrungen getroffen werden, selbst wenn diese Privatpersonen in gar keinem directen Amtsverhaltnisse zu diesen Gouverneuren stehen. — Wenn die Gemahlin eines Grafen Nesselrode oder eines Canzlers Kolschubey sich in's Innere begiebt, so sind in der Ncgel alle Gouverneure von ihrer Ankunft und von ihrem ganzen Neiseplane benachrichtigt. Man weiß, wo die Dame schlafen, wo sie frühstücken, wo sie zu Mittag speisen will, und die Herren nehmen danach ihre Vorkehrungen, sorgen für eine gehörige Anzahl von Pferden auf den Stationen, lassen das Nachtlager be--reiten und geben der hohen Dame in der Residenz, siadt ihres Gouvernements wo möglich ein kleines Fest. Können sie dieselbe nicht bei sich selbst aufnehmen, so findet sich irgend ein patriotischer Kaufmann oder sonst ein wohlhabender Map.l, der ihr sein Haus zum Nacht» quartier anbietet und sich am anderen Morgen noch auf's Höflichsie für die genossene Ehre bedankt. Auch unter« lassen es die Gouverneure nie, einer solchen Dame ihre Aufwartung zu machen. Ich hörte einmal eine vornehme Dame in Petersburg, die ihre Reiseroute nach Tobolsk Ort für Ort kritisch durchging, sich so äußern: „Ach in K., da ist T. Gouverneur, ein schrecklich insipider Mensch, den ich on Kuri-lim- habe. Ich habe ordent» lich Furcht vor diesem Orte. In St., da geht es, 426 Eine tragische Geschichte. da ist F. Gouverneur, ein amüsanter Mann. Er wird mir einen angenehmen Abend bereiten. Aber in W,, da habe ich einen gewichtigen Gouverneur, den Fürsten 'VU^Auf ihn freue ich mich, und ich werde auch einen ganzen Tag bei ihm bleiben und ausruhen." — Bei uns würde es keinem Kreishauptmann und keinem Provinzprasidenten einfallen, von solchen vor» nehmen Reisenden Notiz zu nehmen, wahrend die russischen Gouverneure es als einen Theil ihrer Amtspflichten ansehen, alles Bedeutende, was ibre Provinz passirt, zu beachten und zu berücksichtigen (zum Theil auch zu beaufsichtigen). — Höchst merkwürdig und eigenthümlich ist in dieser Beziehung auch das Ver» haltniß, in dem die russischen Diplomaten an auswärtigen Höfen zu ihren durchreisenden Landsleuten stehen. Es ist ganz anders als das Verhältniß der Gesandten anderer Machte zu ihren Lanbsleuten und verdiente eine eigene Beleuchtung, die für Nußlaub sehr viel Charakteristisches enthalten könnte. Eine tragische Geschichte. Als ich in Petersburg war, passirte dort folgende Geschichte. Der Gardeosfizier 3. liebelte mit der Schwester eines anderen Gardeoffiziers. Er ließ sich tief mit ihr ein, und es war eine angenommene Sache, daß er sie Heirachen werde. Indeß verlobte er sich plötzlich mit einem anderen Fraulein und bestimmte schnell den Tag seiner Vermahlung mit ihr. An diesem Cine tragische Geschichte. 427 Tage stand V-, der Bruder des verlassenen Mädchens, eben vor einem Kaffeehause, als 3. mit seiner neuen Braut in vollem Staate zur Kirche fuhr. Von die« sem Anblick wird sein Zorn und seine Rachlust so angeregt, daß er auf der Stelle nach Hause eilt, sich mit einem Dolche bewaffnet und an der Kirchthüre wartet, bis T. herankommt. Indem dieser im Begriff »st, in die Kirche zu gehen, tritt er zu ihm heran, bittet ihn, auch seine Gratulation noch anzunehmen, und stoßt ihm den Dolch in den Leib. Nach so gekühlter Rache überliefert er sich, in sein Schicksal ergeben, den Gerichten. Am anderen Tage schon wird er durch eilt Kriegsgericht zur Degradation und zur Transportation nach Sibirien verdammt. Ve! der Degradation eines Offiziers in Rußland wird dem Delinquenten gewöhnlich von dem Henker d'er Säbel über dem Kopfe zerbrochen. Dieß wurde bci V. so ungeschickt ausgeführt, daß er dabei eine tiefe Wunde am Kopfe empfing, in Folge deren er nach einigen Wochen im Gefängnisse starb. Sein Feind X. war zwar schwcr verwundet, aber geschickt verbunden worden, und man hoffte ihn zu retten. Da er aber hörte, daß der Kaiser von seiner Angelegenheit Notiz genommen und den Willen ausgesprochen habe, daß er scine frühere Erwählte heirathen solle und nicht seine jetzige Heißgeliebte, geriet!) er darüber in Verzweiflung und Wuth, riß fich die Wunden auf und tödtete sich auf diese Weise selbst. Von den beiden jungen Madchen, die das Tagesgespräch geworden und auf eine so tragische Weise vom Schicksale heimgesucht 428 Ein toller Edelmann. worden waren, kam die eine von Sinnen und die andere verzehrte sich vor Kummer. Die Aeltern beider Mädchen, die keine Kinder weiter hatten, zogen sich in tiefster Trauer aus dem lustigen Leben der Hauptstadt auf ihre Güter zurück. Ich habe in Nußland leider zu spat angefangen, auf solche Geschichten zu achten, sonst könnte ich ihrer wohl eine Menge erzählen, die sehr lehrreich für die Charakteristik der höheren Classen der russischen Gesellschaft sein würden. Ein toller Edelmann. Ich babe schon mehre Male angeführt, daß es unter den russischen Leibeigenen trotz ihres allgemeinen Sclavensinnes sehr tolle,' aufsitzige, unbeugsame und halsstarrige Burschen giebt. Man findet aber auch unter den russischen Edelleuten sehr eigenthümliche, tolle und wilde Charaktere. Im Süden von Rußland bekam ich einmal einen reichen Gutsbesitzer zu sehen, von dessen extravagantem Thun und Treiben man sich die außerordentlichsten Dinge erzählte. Dieser Mensch lebte in Saus und Braus. Auf seinen Gütern hatte er prächtig eingerichtete Hauser, in denen ihm jeder muntere Gast und Gesellschafter willkommen war. Er besaß schöne Garten, fruchtbare Landstriche, 1l)MN männliche Bauern, in seinem Hauptschloffe unterhielt er ein eigenes Musikcorps. — Allein er w>^ mit dem Fluche seines Vaters beladen, den er auf sich gezogen, Ein, toller Edelmann. 429 weil er gegen Brauch und Gesetz seine eigene Nichte geheirathet hatte. C's wurde außerdem gegen ihn dieses Verbrechens wegen die Untersuchung eingeleitet, allem er wußte diesen Proceß mit seiner stets gold» gefüllten Hand so geschickt zu führen, daß er ganz unschädlich für ihn auslief. Dasselbe war mit 25 an» deren Criminalprocessen der Fall, die noch dazu alle zu gleicher Zeit gegen ihn anhängig waren. Diese 25 Crimmalprocesse betrafen zum Theil nicht unwichtige und merkwürdige Falle. Er hatte einen seiner Bedienten todtprügeln lassen. Er hatte einen seiner Nachbarn mit Gewalt aus seinem Gute geworfen und ihn depossedirt. Er hatte einen niederen Edelmann in öffentlicher Gesellschaft einen Hundesohn gescholten. Er sollte setmn Koch eigenhändig schenkt haben. Dieser Koch war lange Zeit sein Günstling und einflußreichster Liebling und wußte um viele seiner Herzens- und Lebensgeheimnisse. Nachher aber zerfiel er mit ihm, der Koch drohte, den Verräther zu machen, und der Herr warf einen glühenden Haß auf ihn. Er ließ ihn, ich weiß nicht unter welchem Vorwande, einsperren, prügeln, Hunger leiden, schlecht behandeln, in der Hoffnung, er werde darüber sterben. Allein der Koch hatte ein zäheS Leben. Eines Morgens aber fand man ihn strängn, lirt in seinem Kerker. Niemand wußte den Thater zu nennen, aber das Gerücht bezeichnete den Herrn als solchen. Ein .^npilun I^i-n^inK" (Magistratsbeamter) kam deßwegen auf sein Gut zur Untersuchung. Diesen ließ er erst vortrefflich bewirthen und mit Champagner halb 43U Ein toller Edelmann. betrunken machen. Dann licß er ihn von seinen Leibeigenen ergreifen und im Stalle tüchtig durchprügeln, indem, er ihm sagte, er habe in Zukunft zwischen Prügeln und Champagner zu wählen, jenachdem er als guter Freund oder als drohender Untersuchungsrichter zu ihm kommen wolle. Bei dem Prügeln hatte er die Vorsicht gebraucht, den Isprawnik mit feuchten Tüchern bedecken zu lassen, was, wie man in Rußland allgemein weiß, verhindert, baß die Peitschenhiebe Striemen hinterlassen. Da der Isprawnik also keine Spuren von den Prügeln ausweisen lomile und auch die Leibeigenen des Hcrm, die ihn gepeitscht hatten, nicht zu Zeugen aufrufen durfte, weil Leibeigene in Rußland nie gegen ihren Herrn zeugen können, so war es ihm schwer, die Sache zu beireisen. Indeß verlautete doch etwas davon höheren Drts, und der Gouverneur, der häufig bei dem reichen Manne an Diners und Festins Theil genommen, ließ ihn durch seinen Adjutanten bitten, er möchte, um dem Gesetze Genüge an thun, einige Tage freiwillig auf die Hauptwache gehen. Er versprach dieß. Allein wenn die Offiziere kamen, ihn dahin abzuführen, so hieß es ein Mal, er könne nicht, weil er krank fei, — ein ander Mal, weil er nicht zu Hause sei, — wieder ein ander Mal, weil er nicht in der Stadt, sondern auf dem Lande sei und dort krank liege. Endlich mischte sich die geheime Polizei der GenSdarmen ein, berichtete darüber nach Petersburg und brachte von daher einen Befehl, daß der besagte Edelmann auf der Stelle zu arretiren und auf unde- Trägheit, Bequemlichkeit und Luxus der Russen. 431 stimmte Zeit auf die Hauptwache zu setzen sei. Er wurde mit Gensdarmen dahin gebracht, ertrug aber seine Gefangensä)aft so ungeduldig und wüthete gegen seine Umgebung, gegen sich selbst, gegen die Wände seines Gemachs dermaßen, daß er sterbenskrank wurde, und daß seine Freunde endlich seine Befreiung bewirkten. Seine bösen Säfte brachen in einem furchtbaren Geschwüre aus, das die Aerzte für lebensgefahrlich erklärten. Von Operation, von Medicin wollte er nichts wissen. Er schien in den letzten Zügen zu liegen, und die Aerzte sagten, da er wie ein Thier gelebt habe, so möge er nun auch wie ein solches sterben. Als er zu verscheiden glaubte, ließ er sich Champagner bringen und berauschte sich. Vei der dadurch entstehenden Aufregung bekam fein Geschwür Luft, es ging auf, er verfiel in Schlaf, fühlte sich dadurch gestärkt, wurde gerettet und lebte wieder fort, wie zuvor. --Ich führe diese Geschichte an, weil man in der Regel bei uns glaubt, daß die Nussm alle zahm und durch ihre despotische Negierung leicht gebändigt seien. Trägheit, Bequemlichkeit und Lunis der Nüssen. Der Tropfen asiatischen Bluts, der m den Adern der Nüssen pulsirt, macht sie zu Feinden aller Anstrengung und Rührigkeit. Man kommt sich unter ihnen wie in einer schwülen, erschlaffenden und entnerv venden Atmosphäre vor. Derselbe asiatische Tropfen ist auch Schuld daran, daß sie Freunde und Vewun- 432 Trägheit, Bequemlichkeit und Luxus del' Russen. derer des Luxus, des Pomps und der Gemächlichkeit sind. Die Freuden der Tafel und des Bechers stehen bei ibnen höher angeschrieben als bei irgend einer anderen Nation, und ihr Leben ist in dieser Beziehung so ausschweifend, daß der Zuschnitt desselben bei den vornehmen Standen aller anderen Nationen dagegen mäßig und bescheiden erscheint. Und sollte es andere Völker geben, die jene Freuden ebenfalls nicht verachten, wie z. V. die Engländer, so sind bei diesen doch energische Arbeit und 1„» d.i, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Die Russen aber verläugnen ihr asiatisches Vlut nicht und verfallen nach dem Genusse ihrer splendiden Mahlzeiten in Schläfrigkeit und Trägheit. Die Mäßigkeit und Nahrhaftigkeit der englischen Küche sieht in angemessenem Verhältniß zu der Kraft und Lebensfrische, die daraus erwächst. Die vornehmen Gaffen der Russen nähren sich mit so saftigen und reichen Gerichten, als wollten sie Imttl'r Niesen darmls bilden, allein sie verarbeiten und verdauen die Nahrung so schlecht, daß nur weichliche fette Menschen daraus entstehen. Daher kommt es, daß wahrscheinlich kein anderes Volk unter seinen vornehmen Classen so viele dicke und wohlbeleibte Manner und Frauen aufzuweisen bat als das russische, und daher rührt die Furcht vor dem Fettwerden, welche die vornehmen Damen von Petersburg in fo hohem Grade beseelt, daß sie fast immer davon reden: ,,0 mnn äiou, qu« j'ui pour ^'onFl-lnsse,-. Trägheit, Bequemlichkelt und Luxus der Russen. 433 Uli je n'islli p38 «lims lu pi-ovinco, I» vio do pi-ovine« vnu5 suit tzl'^5 «t i>l«l-«8Ä<:llX.^' Nichts kann träger, bequemlicher und luxuriöser sein als dis Leb^'N, welche viele russische Damen in der Provinz führen. Sie bringen den halben Tag im Negligü auf den Betten und Divans hin, sie lassen sich uon ihren Scl.^uinnen bedienen, den Rücken kratzen, die Füße lHeln, den Kopf krauen; sie schlürfen Scheidet, speisen Wassermelonen, saugen an Confitüren und schleppen sich zum Frühstückstisch, zum Diner, zum Abendessen nnb höchstens zur Schaukel und zum Whisttische. 5l^ Es ist eine solche Lebensweise ganz dem Charakter der Nation conform und tief aus ihm hervorg^ gangen. He nationaler sie geblieben sind, desto mehr sieht ihr Leben diesem Typus ähnlich. Bei den vornehmeren und mehr europaisirten PetersblN'germnm findet man davon weniger als bei den reichen Kaufmanns-fraucn. Doch haben si? Alle etwas von diesem Typus. Man erinnert sich dabei oft an das, was man von den vornehmen Frauen in den orientalischen Serails gelesen hat. Ueberhaupt haben die russischen Damen noch in vieler anderer Hinsicht ganz den Geschmack dieser Frauen. Wie diese, haben sie eine entschiedene Vorliebe für äußeren Luxus, namentlich in der Kleidung. Wie diese, verbringen sie unsäglich viel schöne Zeit mit ihrer Toilette. Wie diesen, imponirt ihnen nichts mehr als eine brillante Kleidung. Sie hüllen sich gern in reiche »no pompöse Stosse. Ihre Auqen sind vor allen Dingen in das Kohl. Petersburg. Ul. 19 0!i je o'irai pas dans la province, la vie do province vous fait gras ct parcsseux." Nichts kann träger, bequemlicher und luxuriöser sein als dis Leb^n, welches viele russische Damen in der Provinz führen. Sie bringen den halben Tag im Negligü auf den Betten und Divans hin, sie lassen sich uon ihren Schinnen bedienen, den Rücken kratzen, die Füße lHeln, den Kopf krauen; sie schlürfen Scheidet, speisen Wassermelonen, saugen an Confitüren und schleppen sich zum Frühstückstisch, zum Diner, zum Abendessen nnb höchstens zur Schaukel und zum Whisttische. 5l^ Es ist eine solche Lebensweise ganz dem Charakter der Nation conform und tief aus ihm hervorg^ gangen. He nationaler sie geblieben sind, desto mchr sieht ihr Leben diesem Typus ähnlich. Bei den vornehmeren und mehr europaisirten Petersbllrgermnm findet man davon weniger als bei den reichen Kaufmanns-fraucn. Doch haben si? Alle etwas von diesem Typus. Man erinnert sich dabei oft an das, was man von den vornehmen Frauen in den orientalischen Serails gelesen hat. Ueberhaupt haben die russischen Damen noch in vieler anderer Hinsicht ganz den Geschmack dieser Frauen. Wie diese, haben sie eine entschiedene Vorliebe für äußeren Luxus, namentlich in der Kleidung. Wie diese, verbringen sie unsäglich viel schöne Zeit mit ihrer Toilette. Wie diesen, imponirt ihnen nichts mehr als eine brillante Kleidung. Sie hüllen sich gern in reiche »no pompöse Stosse. Ihre Auqen sind vor allen Dingen in das Kohl. Petersburg. Ul. 19 434 Studium b«r alten Sprachen und der Naturwissenschaften. Geflimmer der Edelsteine verliebt. Brillanten fmdet man bei ihnen im Ueberfluß, und wie in Deutschland die Frauen vor allen Dingen darauf sehen, daß sie einen Ueberfluß uon Wasche mit in die Ehe bringen, so sind selbst die ärmeren unter den vornehmen Russinnen vor Allem darauf bedacht, daß sie einen Ueberstuß von Brillanten mitbringen. Studium dcr alten Sprachen und der NatM'wissclischaftcn. Es ist ein merkwürdiger Zug in d>:r Bildung der Russen, daß b«i ihnen die alten Sprachen und die Naturwissenschaften so wenig Anhänger und Liebhaber zahlen. Die alten Sprachen und die Kenntniß des Alter» chums bilden in Deutschland, in England, Polen und überhaupt im ganzen westlichen Europa die wahre Grund« läge aller Bildung. Die Nüssen, diese Kinder der Neuzeit, dicse Nachgeborenen der Cultur, die noch in tiefer Barbarei schlummerten, als alle übrigen Völker Europas cm den un-tcr der Asche der Völkerwanderung glimmenden Funken der zerstörten Cultur der Alten ihre Lichter wieder anzündeten, haben daher auch nicht mit diesen alten Völkern auf demselben Fundamente fortgebaut. Sie haben erst spater, ohne sich mit den anderen Nationen durch die mittelalterliche Kruste mühsam hindurchzuarbeiten, von den schon gereiften Früchten gepflückt. Auch ist ihre ganze Richtung nicht historisch »lussische Schriftstellerinnen. 433 und greift nicht in die Vergangenheit hinauf, sondern sie ist prakiisch und sehnt sich vielmehr in die Zukunft hinaus. Sic wollen sich vorbereiten zu der großen Roll«, zu deren Uebernahme sie sich geboren glauben. Daher lernen sie lieber die neueren Sprachen der jetzt lebenden Völker und die praktischen Wissenschaften, insbesondere die Mathematik. Russische Schnftsicllcnnncn. Auffallend und für russische Zustande charakteristisch ist der Umstand, daß die Frauen doit so wenig productives Genie zu haben scheinen. Es giebt zwar sehr gebildete und kenntnißreiche russische Damen, — unter vielen anderen ist die berübmte Fürstin Daschkow eine solche — allein die russische Literatur hat, so viel ich weiß, noch kein dichterisches und schöpferisches Genie in weiblicher Hülle aufzuzeigen. Es wurde mir allerdings eine Prinzessin W. als Schriftstellerin genannt, doch sollen ihre Composilionen nicht sehr ausgezeichnet sein. Auch traf ich im Inneren von Nußland einige versemachende Damen. Doch behielten sie AllcS in ihrem Bureau. Wahrend der Nuhm vieler schriflstellernden Manner Nußlands zu uns gekommen ist und wahrend in Nußland hie Product« allcr unserer deutschen, französischen und englischen Frauen gelesen werden, geben uns die russischen Damen nichts zu lesen. Es giebt dort keine Lady Vlessington, keine Gräsin Hahn-Hahn, keine 19' 4W Reichthum. Georges-Sand. Wahrscheinlich spricht stch darin der Alttheil aus, den Rußland am Oriente bat. Der gnnze Orient hat wohl viele männliche Weise und Dichter, doch keine einzige Sappho erzeugt. Reichthum. Ich lebte einst in einem Dorfe, wo man mir sagte, Müller's Christel wäre ein reiches Mädchen. Sie hätte ihre 500 blanken Thaler im Vermögen, und viele Söhne der beßten Familien würben um ihre Hand. Spater war ich einmal in der Stadt B. Großer Gott, wie lachte man da nicht über die beschrankten Begriffe von Reichthum in meinem Dorfe. Bei uns, sagte man, hat man Leute, die eben so viel jährlich verzehren, ja es giebt Bürger, die es auf IWl) und W00 Rubel bringen. „Mich," sagte mir ein Bürger, „kostet allein mein Haushalt des Jahres nahe an 2000 Thaler, wenn ich Alles zusammenrechne, was für meine Kinder, für Schulgeld, für Kleidung, für Küche, für Hausreparatur u. f. w. darauf geht." Als ich in Petersburg eines TageZ in Gesellschaft war, horte ich auch wieder von Reichthum sprechen. Es war der Graf T., der das Wort führte. Er saß in einem Lehnsessel, der allein beinahe so viel kostete als der Brautschatz jenes Madchens. Er trat mit dcn Füßen auf einen Teppich, der seine paar Tausend Nubel gekostet hatte, und drehte am Finger die einjährigen Einkünfte jener guten Bürger. Er sprach von seinem On» Die große Nclt. 437 kel, dem Fürsten Tr., der vor Kurzem seine langweiligen Güter im Inneren der Provinz verlassen hätte, um in der Residenzstadt zu leben, und hiclt sich dar^ über auf, daß er dieß mit seinen geringen Einkünften gewagt habe. „Was hat mein Onkel, um hier aufzutreten? Allerhochstens mag er jahrlich 80M0 Rubel reine Renten genießen. EU qu'cst cc quo c'cst qiin-ire-vingt mille roubles dc miles ä Pelersbourg? Ce n'est-rien, c'csl lout ä fail ricn. C'cst sous ic »čro. S'il elait seul, a la bonne lieure. Muis il H" rcslent encore qualro cnsunls ä nourrir. .le ne sais pas com-mcnl il sera sos alTuircs ici. Qualrc vingt niillc roubles de rcnles, vniimcnt c'esl si Ion auruit eracht1 dans lc Newa." Die große Welt. , Man hat gesagt, baß die große Welt in dcn verschiedenen Landern sich durchaus gleiche. Es kommt darauf an, bei dieser oder jener Nationalitat die eigenthümlichen Bedingungen aufzufinden, durch welche die allgemeinen und überall gleichen Va» sen der-menschlichen Weise modulirt, gesteigert oder geschwächt werden. Wenn man daher gestehen muß, daß allerdings die Petersburger große Welt in vielen Hauptzügen der großen Welt von London und Paris, Wien und Berlin gleicht, so muß man doch auf der anderen Seite auch zugeben, daß sie in Bezug auf Färbung und Ton des 438 Vornehme Patrone und ihre Schützlinge. Ganzen, sowie in Bezug auf die Ausführung des Einzelnen ganz eigenthümlich ist. Auch der Spiritus behält ja immer einen kleinen eigenthümlichen Beigeschmack von den Kartoffeln, dem Reiß, Wein, Korn, Zucker oder den anderen Dingen bei, von denen er abgezogen ist. Eben so ist es mit dem Abstract, das man die höchste Gesellschaft nennt. Auch dieses kann seinen Ursprung nicht verleugnen und behalt immer einen Beigeschmack von seiner Nation. Auf diesen russischen nationalen Beigeschmack der hohen Gesellschaft kommt es bci einer Ch.naktmsmmg derselben hauptsächlich an. Denn die große Gesellschaft in ihren «Ilgemeinen Zügen ist bekannt genug. Vornehme Patrone und ihre Schützlinge. Unter den vornehmen Russen giebt es Manche, welche sich als Patrone ganzer Völkerschaften betrachten. Nur erfahrt man von solchen Patronaten nicht so viel, wie uon denen, die es früher in Nom gab, oder denen, die jetzt noch in England zu finden sind, weil der eigentliche ausschließliche Patron aller Nüssen der Kaiser ist, und der Einfluß jener großen russischen Patrone daher nur auf sehr indirecten Wegen und auf stille Weise geltend gemacht werden kann. Den Einen verehren die Polen als ihren Wohlthater, der über sie ein schirmendes Schild gehalten hat. Einem An« deren schicken die Kanuten aus der Krim eine Deputation nach Petersburg und übersenden ihm ein Pracht-Exemplar ihrer alten Schriften, als Zeichen der Erkenntlichkeit für Vornehm« Patrone und ihrc Schützlinge. 439 geleistete Protection. Mancher empfängt eine Votschaft und Vitte uon den Kalmücken, um am rechten Orte ein gütiges Wort für sie einzulegen. Viele stehen in gutem Andenken in Consiantinopel, oder am persischen Hofe und werden im Stillen um Unterstützung ersucht. Zu Anderen kommen die Vuräten, die Mongolen, die TlMgusen, wenn sie in der Hauptstadt erscheinen, um tttn bei ihnen berühmten Namen eines —ow oder —ski aufzusuchen, dcn sie oft im Gewirre der Hauptstadt nur als Stern zweiter oder dritter Größe finden. Viele der Petersburger Großen haben in einer Provinz zuweilen so außerordentliche Besitzungen, daß sie als die wahren Eigenthümer dieser Provinz anzusehen sind. Sie stehen zuweilen auf diese Weise mit ganzen Völkerschaften in inniger Berührung, die ihnen als ihren Nachbarn oder Gebietern Gesandtschaften schicken. Am häufigsten sind die Botschaften der leibeigenen Bauerschaften an ihre Herren, entweder um ihnen bei einem besonderen glücklichen Ereigniß zu gratuliren, oder um ihnen im Unglück ihren Beistand anzubieten, od.'r um ihnen einen Wunsch oder eine Petition vorzutragen. Bei diesen Gesandtschaften, dte aus den ältesten der Bauern bestehen, ist es gewöhnlich, daß die Sprecher mit einem heiligen, vom Priester geweihten Brote erscheinen, das sie dem Herrn präsentiren und dessen Annahme schon im Voraus als ein Zeichen gütiger Aufnahme und Gewährung betrachtet wird. Die Redekunst der Leute, die Geläufigkeit, mit der sie bei solchen Gelegenheiten sprechen, die Wärme, der Bilderreich« 440 Die Hauskapcllen der Großm. Uiifreiwiliige Reisen. thum, deffen sie sich bedienen, dieß Alles ist nicht wenig bewundernswürdig. Die Hauskapcllcn der Großen. Die meisten großen Familien haben ihre eigenen Hauskapellen, in denen alle Sonntage Gottesdienst gehalten wird und in denen sich die Mitglieder der Familie um ihr Haupt, den Großvater oder die Großmutter, versammeln. Dahin fahren die Kinder und Enkel alle Sonntage und hören dort die Messe an. Die Priester, die sie dazu engagiren, wohnen aber gewöhnlich nicht im Hause selbst, sondern haben eine eigene Wohnung. Sie sind ungebildet und haben durchaus keinen solchen Einfluß in der Familie wie die deutschen Hauskapellane und die italienischen Abbates. Sie nehmen nur dann und wann an den Diners und Haussesten Antheil, werden aber selten in die Geheim« niffe der Familie eingeweiht. Unfreiwillige Reisen. Ein Herr in Petersburg sprach in einer öffentlichen Gesellschaft einen Zweifel an der Eroberung Var» nas im letzten Türkenkriege ans. Den anderen Morgen stand ein Kibitke vor der Thür, die ihn innerhalb 14 Tagen nach 83arna brachte, und da zeigte man ihm auf Befehl Alles, die geschossenen Breschen, die zerstörten Mauern, die aufgepflanzten russischen Fahnen, die ge« Gefängnisse. 441 fangenen Türken. Als er zurückkam, ließ sich der Kai' ser von ihm erzählen, was er gesehen hatte. Ich lernte einen Herrn kennen, der vier Jahre in Sibirien gelebt hat und recht interessante Dinge davon erzahlt. Aber er weiß noch jetzt nicht, warum und auf wessen Fürsprache er diese Neise machte. Gefängnisse. In einem russischen Journale fand ich über russische Gefangnisse und über die Transportation nach Sibirien folgenden Aufsatz, der nicht ohne Belehrung ist, und bei dessen Lecture dem deutschen Leser manche Aeußerung aufstoßen wird, die von unseren deutschen Ansichten sehr abweicht. Der fromme Quaker Howard machte es sich zum Lebenszwecke, die Lage der Gefangenen in ganz Europa, ja bis Nordamerika hin kennen zu lernen und nach Kräften zu verbessern. Auch für Rußland war sein Strebm nicht ohne Erfolg. Er machte im Jahre 1761—1763 eine Reise nach Dänemark, Schweden und Rußland und ging 1789 abermals durch die russischen Ostseeprovinzen nach Petersburg. Hier regte er viel Heilsames an, z. V. die Erbauung eines Gefangnißhauses nach seinem System, den Erlaß sehr humaner Vorschriften ?c. Am h0. Januar 1790 starb er als Opfer seiner Menschenliebe zu Cherson, ein Vermachtniß von 40,000 Pfd. Sterling zur Verbesserung der Gefängnisse 19" 442 Gefängnisse. hinterlassend. Alexander ließ ihm 1819 in Cherson eine Gcdachtnißsaule errichten. Die schlechtesten Gefangnißhäuftr, welche er auf seiner Reise angetroffen hatte, waren das Stadtgefängniß zu Lissabon, die Vleidächer zu Venedig und das Krongefängniß zu Dorpat. Entschiedenen Einfluß auf die Verbesserung der Gefangnißanstalten Rußlands hatte der Auftnthalt Alexander's in England im Jahre 1^14. Mitten unter den rauschendsten Huldigungen, den glänzendsten Siegesfesten besuchte er, auch nach schwerem Kampf und Sieg noch immer ein liebevoller Menschenfreund, die einsamen Gemacher des Jammers, forschte nach allen Einzelheiten der Gefangmßwirthschaft, lernte Miß Fry, die Schutzheilige der Newgate-Anstalt, Sir Samuel Nomilly, den Begründer des Milbank-Gefängnisses, und andere Gleichgesinnte persönlich kennen und wandte seine Erfahrungen zum Wohle der Unglücklichen in seinem Vaterlande an. Von der Gesellschaft, welche sich in London 1817 zur Verbesserung des Gefängnißwcsens gebildet hatte, kam Walther Vemnng 1^18 nach Rußland und regte ble Gründung einer ähnlichen Gesellschaft zu St. Petersburg an. Der Verein zur Gefängnißfürsorge kam unter den Auspicien des Kaisers zu Stande. Der Kaiser verwilligte dazu 10,000 Nubel als Geschenk und 5000 Nudel als jährlichen Veitrag. Am Ende des IahreS w.^rcn schon 90000 Rubel zusammen. Es bildeten sich mehre Filial-Vereine. W. Venning reiste Gefängnisse. 443 i>» Rußland umher, und mich seinem Martyrertode folgte ihm sein Bruder John. Es geschah nun in Nußland uiel für diese Zwecke, mitunter zuviel. Der Arrestanten-Transport wurde geregelt, eine fortlaufende Reihe von Etappen oder Stationen dafür eingerichtet, die Kost der Gefangenen verbessert, ihnen Kleidung und in Krankheitsfällen arztliche Pflege und Arzenei gegeben. Es wurden Musterpläne für die Erbauung und Einrichtung der Gefängnisse ver» öffentliche und Befehle gegeben, welche öfteres Weißen der Wände, tagliches Reinigen und Rauchern der Zellen, wöchentliches Waschen der Fenster, häusiges Ausklopfen und Lüften der Strohlager u. s. w. den Gefängniß» beamten zur Pflicht machten, und auf deren Befolgung streng gehalten wurde, indem die Befehlshaber der Pro-vinzen, die Gouvernementsprocureure und die Fiscale die Haftanstalten oft besichtigtigten und Vernachlässig' ungen ahndeten. Zu allen diesen gedeihlichen Fortschritten im Ge» fängnißwesen Rußlands gab Alexander Millionen. Die Verhafteten wurden aus öffentlichen Kassen mit Allem, waS sie bedurften, versehen und leisteten dafür nicht einmal Ersatz. Die Strafrechtspfiege ist in Rußland kostenfrei. Rußland ist daß einzige Land, das den Gefangenen Alles, Beköstigung, Bekleidung, Medicin, ärztliche Hülfe, unentgeltlich ertheilt. Bei so großer Freigebigkeit des Kaisers und bci bett vielen Opfern, die seine reichen Unterthanen darbrachten, war es denn auch möglich, daß fast überall im 444 Gefängnisse. Reiche die Gefangenhauser umgebaut, geräumiger, lichter, gesunder hergestellt wurden. Man führte überall auch ein gefälligeres Aeußere ein und trieb dabei eincn gewissen Lurus. Manches Gebäude der Art sieht mit seinen verzierten Fanden, mit seinen hohen ausgemal» ten Zimmern eher wie ein Schloß als wie ein Gefängniß aus. Dergleichen Uebertreibungen kommen in Nußland Nicht selten vor; das Neue reißt schon an sich hin, be» sonders wenn der Monarch es begünstigt. Der Ge« meinsinn bringt ihm dann gern und uneigennützig die bedeutcndsten Opfer, der Diensteifer will sich auszeichnen, um ausgezeichnet zu werden, und so geht man oft zu weit. Da aber Uebermaß nie gut thut, so kam MM spater von jenem Gefangnißlurus zurück. Unter Nikolaus gewann die Gesellschaft der Ge-fangnißfürsorge mit ihren Filial-Eomiteeen mehr Ausdehnung. So gedeiht denn auf russischem Voden ein Fruchtbaum, der seine Aeste immer weiter und »veiter ausbreitet und in seinem Schatten dem Elende Erquickung und Stärkung beut. Es bestehen in Nußland jetzt schon 153 besondere Vereine für das körper« liche und sittliche Wohl der Verhafteten. Im Jahre 1333 erfreuten sich, nach dem Berichte des derzeitigen Präsidenten der Gefängnißgesellschaft, Fürsten Trubetzkoi, 236,ti44 Arrestanten ihrer Fürsorge. Des Kaisers Streben war noch namentlich auf eine zweckmäßige Einrichtung der Haftanstalten zur Sonderung der Personen nach Geschlecht, Stand, Alter Gefängnisse. 445 und Verbrechen, auf Erleichterungen für die zu schweren Arbeiten Verurthcilten und darauf gerichtet, baß den Weibern und Kindern, falls sie die Verbrecher freiwillig in's Eril begleiten wurden, das volle Kostgeld eineS Mannes und unentgeltliche Bekleidung gegeben werben solle. Man muß die russischen Gefängnißanstalten nicht mit denen anderer Länder vergleichen. Die Nüssen haben ganz andere Verhältnisse, andere Strafmittel und an» dere Einrichtungen. Sie haben ein eigenthümlicheres und im Ganzen ein menschlicheres Strafsystem als man» cher Staat, der sich auf der Hohe der Civilisation wähnt, z. B. England. Sie haben wenige und nur kurz dauernde Gefängnißstrafen, nicht die den Ver» brecher vollends an Leib und Seele zerrüttenden Strafen, wie sie im europäischen Westen gewöhnlich sind und bet denen die Verbrecher, mit den schwersten Ketten beladen, )l), 15, 2t) Jahre oder gar lebenslänglich eingesperrt gehalten werden. Sie bedürfen daher auch nicht der großen und kostbaren Gefängnißhäuser, der künstlichen Bau« werke nach einem sogenannten Kreisstrahle oder Schachtelplane, mehr geeignet für wilde Thiere als für Menschen. Ihre Gefängnisse sind mehr Sicherheitsanstalten als Strafanstalten. Für diesen letzteren Zweck hat Rußland sein eigenthümliches, großes, kolossales, vielfach abzutheilendes, wohlfeiles, im Allgemeinen auch gesundes Gefängniß, das zugleich ein Arbeitshaus ist und unter Umständen auch ein Befferungshaus vertritt, nämlich Sibirien. 449 Die Verwiesenen. Die Verwiesenen. In einem russischen Journale fand ich folgende Betrachtung über die Verbannung nach Sibirien, die nicht ohne Interesse ist. Sibiriens Schrecknisse und Wüsteneien nehmen nur die verworfensten Frevler auf. Sie sind bürgerlich todt, doch ihr Blut wurde geschont. Keine Menschenhand greift dem Arme der Vorsehung vor, welche Leben giebt und Leben nimmt. Leichteren Sträflingen eröffnet sich dort eine neue Welt zu einem neueren, besseren Wan< del, bis dahin gelangt nicht die Schmach und Veracht, ung aus der Heimath. Dort siebt sich Keiner wie hier als Verbrecher zurückgestoßen, sondern aufgenommen als „Unglücklicher." Die Verwiesenen haben durch schwere Leiden die Schuld abgebüßt, sich wieder mit der Menschheit versöhnt und die Reue durch Wort Ano That bewiesen. In den Zuchthäusern des Auslandes ist es meistens nur das Wort, durch das sich die Neue und Besserung darchut und daher diese nicht selten nur Heuchelei, — zur That fehlt die Gelegenheit. In Nußland wird dem neuen Menschen ein Loos, das ihn über die Vergangenheit tröstet, mit der Gegenwart befreundet, für die Zukunft erhebt. Es ist das nicht etwa ein Phantasie-gemalde. Es ist Wirklichkeit, ich selbst habe Gelegenheit gehabt, Briefe aus den Ansiedelungen zu lesen. Wohl dem Lande, das ein Sibirien hat! Es bleibt unbefleckt von dem Blute seiner Kinder und er« bält in der Strafe der Verbannung den beßten Stell- Die Verwiesenen. 447 Vertreter für die Todesstrafen. Daher waren denn auch andere Staaten darauf bebacht, Verbrcchercolonieen an« zulegen, so England früher in Nordamerika, nachmals in Neuholland, Frankreich auf Madagascar und in Gunana. Ja Preußen gewann durch einen Vertrag mit Rußland die Berechtigung, die ärgsten Nebelthater über 1000 Meilen von den Gränzen ihres Vaterlandes in die Bergwerke Sibiriens senden zu dürfen. Auch wurden laut Bekanntmachung vom 7. Juni 1802 wirklich 58 der Verdorbensten an den Commandanten zu Narwa zur weiteren Beförderung gesandt, unter ihnen der berüchtigte Aschenbrenner. In neuerer Zeit ist diese Staatsservitut, die Rußland zugestanden, hatte, nicht weiter benutzt worden. Aber sie sollte erneuert, sie sollte auf ganz Deutschland ausgedehnt werden, und der deutsche Bund mit Nußland darüber unterhandeln. Alle wären dabei im Vortheil. Die deutschen Staaten könnten bann dit Todesstrafe aufheben und ihre Vösewich-ter auf eine sichere und wohlfeile Weise unterbringen. Nußlanb würde für die schwerste Arbeit in seinen Bergwerken tüchtige Hände und mitunter auch manchen gu» ten nützlichen Kopf gewinnen. Alljährlich müßten zu bestimmten Zeiten die Züge von einem gewissen Hafen ausgehen. Wie wohlthätig könnten dabei fromme Missionare als begleitende Seelsorger dieser Unglücklichen wirken, wahre Heilige der deutschen Kirche! Die Strafe der Verbannung hat ihre Licht- und ihre Schattenseiten. Auf jene haben wir hingewiesen, doch auch diese dürfen nicht übersehen werden. Das Exil schreckt nicht 448 Die Verwiesenen. kräftig genug ab. Es wirkt auf den Einzelnen, nickt auf die Menge. Man müßte dazu den ?lct der Verbannung mit größerer Oeffentlichkeit vor sich gehen laffen. Dann würde die Vorstellung von den Beschwerden der weiten Wanderung, von der Härte des Klimas, von der Ferne, von der ungewissen Zukunft ihre Wirkung nicht verfehlen. Jetzt geht der Zug der Erilirten in aller Stille, ungckannt, wohl auch ungesehen ab. Man sollte in den Gouuernementsstädlen vor jedem Gerichtshöfe anhalten, — die Verbrecher und Verbrechen ablesen, — bann Gebete um Gnade für die Sünder sprechen. Der Abzug sollte unter Lauten einer großen Glocke (Armensünderglocke) stattfinden. (Aber die Verschieden« heit der Sprache, die bei dem Zuge nach Sibirien hin immer größer wird, macht Schwierigkeiten). Gar bald ist der Verbannte den Blicken der Menge entschwunden, nur zu bald vergessen. Daher sollte die Erinnerung an ihn, an seine Thaten, seine Strafen, von Zeit zu Zeit zum warnenden Beispiele aufgefrischt werden. Am Bußtage könnte die Gemeinde zu einem Gnadeligebete für ihre in weiter Ferne büßenden Gemeindeglieder zusammenkommen. Dann könnten auch die sibirischen Behörden Nachricht von der Ankunft der Verbrecher geben und die Ortsbehörde dieselbe bekannt machen. Diese Nachricht ware zugleich eine trostreiche für die kummervoll zurückgebliebenen Anverwandten. Eine andere bedenkliche Seite der Deportation ist die erleichterte Möglichkeit, sich unterwcges in Freiheit Die Vcnviesct'«n. 440 zu sehen, eine Gefahr für das Gemeinwesen, die um so größer wird, je länger der Transport dauert. Eine rothe Gefangnenlleidung wäre dagegen eine gute Vorkehrung. Alles, Stiefel, Strümpfe, Hemd müßte roch sein. Sie wurde in den Ostseeprovinzen auch eingeführt, aber kam wieder außer Gebrauch, und an ihre Stelle trat eine halb graue, halb schwarze. Indeß ein „z,»l- nodile sruli'mll" kann sich gar leicht durch Aus» tauschung der farbigen Stücke aushelfen. Noch muß ich eine zwar praktische, aber doch verwerfliche Sicherhcitsmaßregel erwähnen. Ich sah in einer Gefangnenstation oder Etappe Nachts auf dem Strohlager Arrestant und Soldaten, dcn Wachter und seinen Gefangenen brüderlich zusammengekettet. Praktisch war diese Art der Sicherung allerdings. Wollte der Ver« haftete sich auf- und davonmachen, so hatte er ganz bestimmt zugleich seinen Hüter aufgerüttelt. Allein so etwas ist verletzend für das Ehrgefühl des Kriegerstandes, auch muß jede Gemeinschaft des Bewachten mit der Wache vermieden werden. Petersburg uud die Provinz. 4?eter der Große, der seinen an die Ostsee verlegten Hof ganz auf deutsche Weise einrichtete, den bedeutend« sten Chargen seines Reiches deutsche Benennungen gab und auch seine Armee nach deutschen Mustern und mit Hilfe deutscher Meister organisirte, deutsche Lehrer bei den Newaschulen, die allen übrigen Schulen des Reichs zur Norm dienen sollten, anstellte und von deutschen Ar» chitekten seine Residenz erbauen ließ, gab dieser mit Recht auch einen deutschen Namen, der nach achter deutscher Aussprache „Petersburg" lautet. Die Rassen russisicir« ten aber dicscs Wort und sprachen es nach ihrer Weise aus, indem sie das „g" fast wie „k," das „e" wie „i" tönen, das „S" hinter „r" wegfallen ließen und ein „z" hinter das „t" setzten, so baß daraus „Pitjerb'kk" wurde. Petersburg wurde nicht dem Kaiser, sondern dem Apostel Peter zu Ehren so genannt, daher die Vorsehung des „Sanct," das auf russisch „Ssankt" lautet. Die Deutschen lassen dieß Sanct gewöhnlich Petersburg und die Provinz. 451 weg, die an allem Heiligen haltenden Nüssen aber nicht, die denn immer „S sankt Pitjerbürk" sprechen. Weil der Peter, nun entschieden in diesem langen Namen die Hauptsache ist, so kürzt das Volk ihn im gemeinen Leben auch wohl so ab, daß nichts als „Pitjer" davon übrig bleibt, und ein- Fremder, der das nicht weiß, möchte oft wohl schwer errathen, welche prächtige Stadt hinter dem obscuren Namen „Pitjer" steckt, von dcr ihm der Mushik so viele Wunderdinge vorerzählt. Die verschiedenen Arten, diesen weithin verkl'lN» deren Namen zu schreiben, sind eben so manchfaltig als die, ihn auszusprechen. Die Meisten schreiben Alles in ein Wort: ,,Sanktpeterburg," Viele aber in zwei: „S. Peterburg," Andere so: „S. Pburg" und noch Andere endlich, als waren es drei Worte, mit den großen Buchstaben: „S. P. V." Vei den 100 Vol. kein, unter denen der Name Petersburg ertönt, mögen diese Variationen in's Unzahlige gehen. Peter dcr Große erbaute seine Ostseestadt, damit durch sie seine orientalischen Russen mit dem Occidents in nähere Berührung kämen, damit flch hier an dem baltischen Meere eine Menge von Civilisationslymphe ansammeln möchte, die nachher den inneren Pro» vmzen inoculirt werden sollte, damit diese deutsch-fran« zösisch-russl'sche Stadteinnchtung allen anderen Städten des Inneren zur Norm dienen könnte, und die Sitten, welche hier sich entwickelten, auf die allrussischen Städte übergetragen würden, um so durch ein beständiges Aus« 452 Petersburg und die Provinz. strömen von Cultur und Bildung allmalig das Ganze zu reformiren. Alle Nachfolger Peter's des Großen haben diesen feinen Plan festgehalten, und wenn sie auch nicht immer mit demselben Eifer und mit derselben Liberalität das Fremde hereinlockten, so blieb doch Petersburg wenigstens bis auf unsere Tage, wo sich jener Proceß des Germanisirens Petersburgs und des Peters-burgisirens des inneren Reichs noch beständig fortsetzt, das leitende Gestirn für ganz Rußland. Die gewöhnliche Vorstellung bei uns geht dahin, daß Petersburg ganz einzig dastehe und ihm nichts in dem übrigen Rußland gleiche, wo alle Städte nach allrussisch-orientalischer Weise organisirt und gebaut seien. Es schließt diese Vorstellung einen doppelten Irrthum in sich, erstlich die falsche Meinung, daß Petersburg eine vollkommen westeuropaische Stadt sei und nichts charakteristisch Russisches habe, und zweitens die Unkennt» niß von den bedeutenden Fortschritten, die das Umwandeln nach Petersburgischem Modell bereits im In« neren machte. Die Physiognomie von Petersburg, obgleich sie auf den ersten Anblick so ziemlich der unserer neueren Städte, Kopenhagen u. s. w. zu gleichen scheint, verleugnet bei näherer Betrachtung doch in vielen Zügen nicht ihren russischen Ursprung. Freilich waren es Deutsche, Franzosen und Italiener, welche Petersburg bauten, aber eben so waren es Italiener und andere Auslander, welche die bizarresten Theile des Kremls in Moskau schuftn, die damit doch nichts weniger als italienischen Petersburg und die Provinz. 45? Styl verrathen. Alle Allslander in russischen Diensten traqen allerdings daS Ihrige über, aber als Diener der russischen Herren nur in deren Sinne, sie lassen weg und sehen zu nach deren Iwn l'wlsi!-. Daher findet man in Petersburg dieselbe Weitläufigkeit der Straßen, öffentlichen Platze nnd Gebäude, »vie sie die Russen lieben, welche überall Größe in großen Räumen suchen und auf ihr unermeßliches Reich, lange Zimmersuiten, den Vesi.) großer Lande^'Nvüsim stolz sind. Daher zeigen sich dieselben wüsten Platze mitten in der Stadt, dieselben weitläufigen Gehöfte, dieselben zerstreuten nnd wie Landsitze isolirten Gebäude, wie man sie in allen russischen Städten wiedeifindet. Die Kirchen sind in Petersburg mit wenigen Ausnahmen nach uralten Modellen gebaut, und die Markte, Kaufhallen uud Basars ganz so eingerichtet wie auck anderswo im Reiche und wie sie den national-russischen Gewohnheiten entsprechen. Und selbst in der inneren Einrichtung der Häuser, ihren Pojesds, ihren Stallungen n. s. w., ließe es sich nachweisen, daß ein altes russisches Holzhaus aus dem Mittelaller dabei eben so gut zum Muster diente, wie ein italienischer Palast im neuen Baustyl«. Auf der anderen Seite haben fast alle nur einigermaßen bedeutende russische Pcovmzstadte, so wie sie sich jetzt darstellen, so viel Petersburgisches in ihrer Erscheinung, daß sie fast nur sehr entlegene Vorstädte dieser Residenz zu sein scheinen. D^6 Amalgam russisicirter deutsch-italienischer Banart, das in Petersburg ausgebildet wurde, haben die 454 Petersburg und die Provinz. Russen in dem letzten Jahrhunderte überall hingebracht, wo sie neue Städte anlegten, wo sich alte kleine Städte zu größeren entwickelten oder ein neues Ge-wand anzogen. Die neuen Städte Simpheropol und Sewastopol in der Krim sehen ganz so aus wie kleine Partieen eines äußeren Stadttheiles von Petersburg, ja Tobolsk und Irkutsk - bilden sich in dieser Weife, und Moskau baute sich nach seinem Brande in einem ähnlichen Style wieder auf. Neval, Riga und andere altfränkische Städte haben ihren alten spitzthürmigen und dochgothischen Hänserkcrn mic ciner weitläufigen Vorstadtschale ä In I'clcn'ljlxnll-ß' umgeben, und Charkow, Kiew, Kasan, Kaluga, Tula, Orel, Kostroma, finnische, tatarische und malorossianische Ansiedelungen, sie all« spreizen sich täglich mehr und mehr in dem glanzenden Gewände der Residenz. Hier wie dort, an allen Häusern, selbst an den Stall- und Hintergebäuden, sieht man eine ungeheuere Verschwendung von Säulen, die den Russen so wohl gefielen, daß es gewiß in einer ihrer Städte so viel« mit Gyps und Kalk bekleckste Säulen giebt als an allen griechischen Tempeln zusammengenommen*). Ueberall bei dm neuen steinernen Hausern der weiße Kalkanstrich wie in Petersburg und die grün bemalten Ciscndächer, und überall auch wie in Petersburg bei den hölzernen Gebäuden die l)öl- *) Auch dicse Gäulcn, wenn auch nicht m korinthischer oder dorischer Form, sind altrussischcr Brauch, der durch das gewöhnlich als Baumaterial diencnde Holz sthr natürlich herbeigeführt wurde. Petersburg und dk Provinz. 455) zernen Schindeldächer und die durä)schimmernden alt-russischen Farben, Noth und Dunkelgelb, überall di< fünfkuppeligen Kirchen, überall die Nachahmung der vor den ThoreinaMa.cn liegenden Löwen, Sphinxe und an: derer in Gyps schlecht copirter Vauzierathen, überall dieselben schnell arrangirten und schlecht benutzten Stadtgartenanlagen. In jeder russischen Stadt laßt sich eine besonders elegante Hauptstraße anführen*), welche der Petersburger Perspective glicht, auf welcher die Promenaden und Schlittenfahrten wie auf dcm römischen Corso sich zu gewissen Stunden bewcqen, und wo die eleganten Magazine der ausländischen Handwerker und Künstler sich neben den russischen Vasars eingeschlichen haben, wie umger'chrt diese letzteren sich in Petersburg wieder neben den Magazinen der Englander und Franzosen zeigen. Schon daß die öffentlichen und Regierungs-gedäude, deren in jeder Provinzstadt sehr viele sind, alle nach einem und demselben Muster gebaut werden, dessen Form und Bauplan natürlich immer in Petersburg bestimmt und gezeichnet wurde, muß die Gouvernements- und Kreisstädte der Hauptstadt sehr ahnlich machen. Die russische Negierung, die mehr als irgend eine andere Alles nach einem und demselben Ideale zu modeln und zu uniformiren strebt, ist, dem von Peter dem Großen ihr gegebenen Impulse getreu, eifrig beflissen, alle Vor- *) In Moskau ist bicsi z. B. dic Schmicdcbrücke (Kuö-netzkoi-Most), in Charkow die Moskamsche Straße, in Odessa die Richelieustraße. 456 Petersburg und die Provinz. züge und Talente der Hauptstadt den Provinzstädten so schnell wie möglich anzueignen und zufließen zu lassen. Daher die Bauplane, die man in Petersburg für jede Stadt wacht und in welche sie sich mit der Zeit hincinbauen muß, daher die Verordnungen über das Dienen der jungen Leute in den Provinzstadten, daher die nach dem Petersburgischen Modell in den Gouvernementsstadtm errichteten Schulen, Gymnasien, Knaben-Institute und Erzichungshäuser für junge Damen von Stande. In Nußland giebt cs so äußerst geringe Opposition, so an^st wenig Selbstständiges, so äußerst wenig Verschiedenartiges, daß Alles, so zu sagen, von einem und demselben Penchant er' griffen und, wie auf dieselbe Art polarisirt, von demselben Magnete angezogen, sich mit einer gewissen Leidenschaft in die Hauptstadt wirft, um in der Nabe des (Zentrums weilen zu können. Es giebt so wenig selbstleuchtende Fixsterne, deren wir in unserem bunten Deutschland von allen Größen haben, baß Alles jener einen mächtigen Sonne sehnsüchtig zustrebt, um eincn schwachen Schimmer von ihr zu empfangen. Jeder, der nicbt in Petersburg wohnen kann, wird bedauert, und der Wunsch aller Beamten und Nichtbeamten geht dahin, einmal nach Petersburg versetzt zu werden. Die Regierung, um ihren Plan der Civilisation des ganzen Reiches in's Leben zu rufen, machte daher von jeher eifrige Opposition gegen dieses Streben und suchte überall in den Provinzen kleine Miniatur-Petersburgs hervorzurufen, was ihr jeht auch schon in nicht unbe- Petersburg und die Provinz. 457 deutendem Maße gelungen ist. Sie schrieb vor, daß alle jungen Leute, ehe sie in Petersburg auf irgend eine Anstellung rechnen könnten, durchaus zuvor wenigstens drei Jahre in einer Provinz gedient haben müßten. Sie gab Denen, welche sich freiwillig in entfernteren Provinzen anstellen ließen, gewisse Vorzüge, so baß z. B. die in Sibirien Dienenden zwei Pas auf der Stufenleiter der Rangclassen vor den Uebrigen voraushaben, die in den kaukasischen Provinzen Dienenden drei. Auch giebt sie den von der Hauptstadt entfernten Beamten höheren Sold. Es werden wo möglich wohl' habende Leute zu Statthaltern in den Provinzen ernannt, die dort ein großes Haus machen und die Sitten der Residenz dahin verpflanzen können. Auch sucht man den in die Provinzen Gesandten junge gebildete Leute der Hauptstadt als Adjutanten, als „lscllmnunmlil i>ri ossubiwiiil pullllsoliuliio»!^ (zu besonderen Aufträgen beigegebene Beamte) zu attachiren, damit sie als besonders zierliche Schmetterlinge auf ihren geschmückten Flügeln das Gesame der Bildung in die inneren Wüsteneien verschleppen. Jeder aus der Residenz in die Provinz kommende Obeibeamte laßt es sich cbcn so ernstlich angelegen sein, die gute Gesellschaft seines Ottes auszuwählen und zusammenzuhalten, die Bälle zu dirigiren, in seinem Hause die Musterbälle dazu zu liefern, die Säle der öffentlichen Casinos bauen und ausschmücken zu lassen, die Whistpartieen zu ordnen, die feinen Gesellschaften bei allen Gelegenheiten zu loben, artige junge Leute zu befördern, als die Schulen Kohl, Petersburg. III. 20 438 Petersburg u»d die Provinz. zu untersuchen, den Gerichten zu präsidiren, Rechts-streitigkeiten zu entscheiden, Pässe auszufertigen, Städte zu gründen und administrative Maßregeln zu treffen. Es werden eben so wohl die Verdienste eines Beamten, die er sich um die Gesellschaft seiner Residenz erworben, hervorgehoben, als die, durch welche er sich in irgend einem Fache der Verwaltung auszeichnete. Petersburg ist natürlich der Hauptsitz der neuen europäisch-russischen Bildung, und von hier aus strahlt dieselbe in die entferntesten Theile des Reichs aus. Dieß Ausstrahlen macht sich zum Theil von selbst, zum Theil über wird es auch durch die erpreffe Thätigkeit der Regierung befördert. Seit Peter l., der selber Hand daran legte, die Sitten und Gebrauche seines Adels zu ändern, und seit Katharina II., die selber Gesetze darüber promul-girte, wie man Gesellschaften arrangiren müfse und wie man sich in Soireen zu benehmen habe, gehört die Einwirkung auf die Sitten und die gesellige Bildung der huhcren Classen, so zu sagen, mit zu der ofsiciellen und gewöhnlichen Thätigkeit der Neglerungsbeamten. Es erscheinen noch jetzt oft Verordnungen, welche an jene Soir^engesetze Kathannens und Peter'S erinnern. Die Generalgouverneure und Gouverneure in den Provinzen betrachten es als einen Theil ihrer Amtspflichten, auch mit feinen Gesellschaften den Provinzialen uoranzuleuchten, diese zu solchen Gesellschaften zu veranlassen und die europäisch-russisch-Petersburger Bild' ung bei ihnen zu verbreiten. Petersburg und die Provinz. 459 Natürlich hat diese Petersburgische Bildung sowohl in den verschiedenen Provinzen als auch bei den verschiedenen Classen des Adels in sehr verschiedenem Grabe Wurzel gefaßt. Hie und da ist die Vergoldung stärker und achter, hie und da liegt sie sehr lose auf, und ich glaube, man kann von der feinen Hofmannsbildung des Petersburgers bis zu dem kaum von dem Schmucke der Bildung angehauchten grusischen oder kalmückischen Fürsten alle möglichen Stufen und Grade beobachten. Im Ganzen genommen gilt wohl die Regel, daß, je entfernter die Leute von Petersburg und von Moskau wohnen, das Licht der Bildung um so schwächer wird. Doch ist diese Regel nicht ohne Ausnahme. So soll z. B. in den sibirischen Städten, in denen sich natürlich aus sehr begreiflichen Gründen immer die geistvollsten Leute *) zusammenfinden, die Gesellschaft, an welcher immer die dahin Verbannten, welche nicht gerade zur Colonisation oder zur Verg-werksarbeit verurtheilt wurden, Theil nehmen, eine s»hr spirituelle sein, und selbst in Irkutzk soll eine nach russischer Weise sehr gebildete, sehr gesellige und vergnügungslustige Bevölkerung leben. Wenn man die Edelleute aus den uerschiedenm Provinzen anhört, so findet man sie gewöhnlich miteinander im Streit darüber, ob in der Residenzstadt des Einen oder in der des Anderen die Gesellschaft „plus oommo il luul" sei. Der Eine lobt Wiasma, *) Es sind nicht die dümmsten, die man dahin verbannt. 2U* 4V0 Petersburg und die Provinz. der Andere Tula, der Dritte Charkow, der Viert« Tobolsk oder Smolensk. Es wäre interessant, wenn man in einer Reihenfolge deutlicher Sittenbilder einmal alle Stufen dieser russisch-europäischen Bildung bezeichnen könnte. Man müßte einen t5onversationsabend in einem Petersburger Salon, eine Soiree in einer entfernten Provmz-stadt, einen Besuch bei einem Landedelmanne, ein Festin bei einem halbcivilisirten moskowitischen Kaufmanne, oder bei einem in der Nahe der Kalmücken wohnenden Knas, en ci„uS, Cranmer und Finop; von G. Tagart. Nach dem Englischen benrbeltet von W. A. Lindau. Nebst b Bildnissen und der Abbildung von Luther'S Denlmal. gr. 8. broch. 1 Thlr. M. Ehr. 3l. Pescheck, Geschichte der Gegenreforntation in Böhmen. Nach Urkunden und anderen seltenen gleichzeitigen Quellen bearbeitet. Zwei Vände. Mit Vudolva's und Slawata's Vlldniß. gr. 8. broch. 5z Thlr. I. K. Seidemann (Pastor), die Leipziger Disputation im Jahre 1519. Aus bisher unbenutzten Quellen historisch dargestellt und durch Urkunden erläutert. gr. 8. broch. 5 Thlr. Geschichte Heinrich^des Erlauchten, Markgrafen zu Meißen und im Osterlande, und Darstellung der Zustände in seinen Landen. Von Dr. Fr. W. Tittmann, H. E. Glhcimen Aichivai und Ritter be« I. K. Seidemann, Thomas Münz er. Eine Biographie nach den im Kömgl. Sächsischen Hauptstaatsarchive zu Dresden vorhandenen Quellen bearbeitet, gr. 8. broch. Z Thlr. Vor fünfzig Jahren. Eine Episode aus dem Nevolutionskriege- Herausgegeben von VLilhelm von Frankfurt. 8. br. z Thlr. Der Mordverdacht. Eine Criminalgeschichte. Nach dem Englischen von V3. A. Lindau. 3 Bände 12. broch. 3z Thlr. Erzählungen von Gduard Gottwald. Inhalt! 1) Der Verhaftsbchhl. 2) Marietta. 3) Die Nose von Valenciennes. 4) Der Deserteur. 6. broch. iz Thlr. Fr. Berthold. (Adelheid Nemwld.) König Sebastian, oder wunderbare Rettung und Untergang. Herausquellen von L. Tieck. 2 Theile. 8. broch. herabges. Preis 2 Thlr. Dr. A. Munde, M e ni o l r e n eines W a s s e r a r z t e s. 2 Vände. 8. broch. ih Thlr. Original-Beiträge zur deutschen Schaubühne. Neue Folge. (Von Ihro Königl. Hoheit, Prinzessin Amalie, Herzogin zu Sachsen.) Erster Vand: I) Der Siegelring, Schauspiel. 2) Der alte Herr, Lustspiel. 3) Negine, Schauspiel. 6. geb.' 2 Thlr. Zum Neßten des Iiauenverems zu Dresden. Die erste Sammlung der Original-Veitrige ^>r deutschen Schaubühne besteht aus 6 Vanden, deren jeder 2z Thlr. kostet. Tie darin enthaltenen Stücke sind folgende: I. I) Lüge und Wahrheit, Schauspiel. 2) Die Vraut^uS der Nesivenz, Lustspiel. 3) Der Oheim. Schauspiel. II. 1) Die Fürstenbraut, Schauspiel. 2) Der Landwirth, Lustspiel. 3) Der Hcrlobunqs-rinc,, Lustspiel. III. 1) Der ZöMa,, Lustspiel. 2) Vetter Heinrich, Schauspiel. 3) Der Unentschlossene, Lustspiel. IV. 1) Der Majoiatscrbe, Lustspiel. 2) Der Pflegevater, Schauspiel. 3) Pflicht und Liebe. Schauspiel. V. I)'Die Unbelesene, Lustspiel. 2) Die Stieftochter. Luftspiel. 3) Das Fräulein vom Lanoe. Lustspiel. VI. 1) Capitain Firnewald, Lustspiel. 2) Die Heimkehr dcs Sohnes, Schauspiel. 3) Folgen einer Gartenbeleuchtung, Lustspiel. I. Miksch, Lustspiele. Inhalt: I) Der sshestiftcr, Lustspiel. 2) Die Mitgift, Lustspiel. 3) Der Nebenbuhler, Lustspiel. 8. herabgcs. Pr. H Thlr. Mohammed und seine Frauen. Gin biographischer Roman in drei Abtheilungen von Ida Fr ick Erste Abtheilung: „Der Reformator." Zweite Abtheilung: „Der Enttäuschte." Dnttc Abchrilnng! „Der Herrscher." 8. broch. 4z Thlr. (5. Weisfiog, Phantasiestucte und Historien. Mit eiucr biographischen Skizze von (5. v. Wachsmann. Nene Taschena,lsgabe. 12 Vände. l6. broch. 5 Thlr. A. Cunningham, Paul Jones. Historischer Roman. Aus dem Englischen übersetzt von W. A. «i« da u. Neue wohlfeilere Ausübe. 5 Theile. 6. broch. 5 Thlr. Sy brecht Will m s. Historischer Ronmn von Ida Frick. 2 Theile. S. broch. 2z Thlr. sä m m t liche Schrift e n.' Taschenausgabe K'tzter Hand in 80 Vänden. Hetaf'gesfhttr Pvciö 20 Thlr. A. v. Tromlitz, sä mmtliche Schriften. Taschcmnisgabe in 1l)8 Vantcn. ^ Herabgesetzter Preis 30 THIr. <5. Fr. van der Velde, s ä mmtliche Schriften. Taschenausgabe in 27 Bündchen. Herabgesetzter Preis 6 Thlr.