JUGENDMISSIONSHEFT NR. 2 ALMA KARLIN Untec Uopfjcigecn Erzahlung aus Formosa ILLUSTRIERT VON GUSTAV SCHROTER 2. Auf 1 age EOS VERLAG DER ERZABTEI ST. OTTILI WAS SPIELT SICH AB? 1. Kapitel: In Amoy, dem Seerauberhafen .3 2. Kapitel: Der Schwanz eines Taifuns. 6 3. Kapitel: Unter Kindern fremder Rassen. 8 4. Kapitel: Vor dem Kopfjagergebiet .12 5. Kapitel: Eine Pflichtvergessenheit . . . . .16 6. Kapitel: Auf dem Landgut .20 7. Kapitel: Auf dem Wege nach Kapansan .22 8. Kapitel: Ein Heifer in der Not. 26 9. Kapitel: Kummerwolken. 30 10. Kapitel: Erstaunliches Wandern .33 11. Kapitel: Im Kopfjagerdorf .37 12. Kapitel: Bei den Klippenbewohnern .40 13. Kapitel: Die Lebensrettung .43 14. Kapitel: Martinas Bemiihungen .46 15. Kapitel: Das Kopfjagerfest. 48 16. Kapitel: Beim Zauberer. 50 17. Kapitel: Die letzte Bliite. 53 18. Kapitel: Der Tod streift Alexander. 56 19. Kapitel: Der junge Dominikaner erlebt etwas .59 20. Kapitel: Eine Uberraschung. 60 21. Kapitel: Ein Kopfjager kommt. 64 ABDRUCK AUS „LICHT DER HEIDEN", MISSIONSVERLAG ST. OTTILIEN D JDOSO^Hj I. IN AMOY, DEM SEERAUBERHAFEN D as ist der aufregendste Tag meines Lebens, erklarte die zehnjahrige Martina. Ihr zwolfjahriger Bruder Alexander widersprach ihr nicht. Beide Kinder schauten aus dem Hotelfenster auf die enge chinesische StraBe hinab, und wunderten sich iiber das lange Fortbleiben ihres Va- ters, des Kaufmanns Friedrich Barch aus Heidelberg, „Seit wir unser krankes Miitterchen in Hongkong zuruck- lassen muBten, war mir nicht mehr so elend zumute", hub die Kleine wieder an und blickte fragend auf ihren Bruder, der innerlich nicht minder besorgt war, sich jedoch an die Bitte seines Vaters, die kleine zarte Schwester nie unnotig zu beunruhigen, erinnerte. So sagte er jetzt mit gutgespiel- ter Dberzeugung: „Seerauber greifen nur Schiffe an. Du weiBt ja, wie das bei chinesischen Kaufleuten Sitte ist: Erst eine Tasse Tee und leichtes Facherschwingen, dann wieder eine Tasse Tee und viele, nicht iiberstiirzte Fragen, doch erst bei der drit- len Tasse — wenn es gut geht — die Entscheidung. Vater muB eben Riicksicht nehmen. Schau dir lieber das Getriebe an!" Und vom bunten Auf- und Niederfluten der Menschen gefesselt, neigten sich beide Kinder weit aus dem Fenster. In der Tat entwickelte sich da unten ein Leben, wie sie es sich nie getraumt hatten. Frauen in Hosen, groBe ver- zierte Silbernadeln im Haar ( schoben sich selbstbewuBt durch die Menge, denn es waren Feldarbeiterinnen und nahmen als solche eine Sonderstellung ein. In einer reich- geschmiickten Sanfte saB ein dicker Chinese in bunter Amtstracht und fachelte sich. Bettler, mit schaurigen Beulen bedeckt, warfen sich aufheulend auf die Erde und winselten um Almosen. Ein Riesensarg schwankte voriiber. Rikschas stieBen zusammen, und sofort entstand ein Handgemenge, das zum Gluck nur in einem Wortgefecht endete, und in all den betaubenden Larm flossen geheimnisvolle Diifte von Benzoeharz, Sandelholz, ostlichem Duftwasser und fremder Seife, doch daneben auch Geriiche anderer Art, die wie eine Pestwolke hochwirbelten und die Kinder zuriick- taumeln lieBen. Mehr als einmal traf sie auch ein scharf forschender Blick aus unergriindlichen Augen und so oft das geschah, fliisterte Martina: 1 Karlin, Kopfjager 3 „Glaubst du, dafl es ein Seerauber ist?" „Schon moglich, denn das ist Chinas beriichtigster Hafen, aber warum sollten sie uns rauben wollen? Wir sind nichts und haben nichts." Da's leuchtete der Kleinen ein, dennoch fuhren beide Kin¬ der erschrocken zusammen, als die Tiire hinter ihnen plotz- lich aufflog und eine hagere Gestalt in Lichtblau erschien. „Essen?" fragte das Gelbgesicht. — Martina hatte den Arm des Bruders umklammert. Stumm schiittelten die bei- den Geschwister den Kopf. Mit leisem Knarren schloB sich die Tiire wieder. Dber das Meer vor Amoy krochen schon wie graue Wel- lenberge die Abendschatten. Finster, trotz der zahllosen Lichterchen, wirkten die StraBen, durch die merkwiirdige Menschengestalten und viele raudige Hunde liefen. Lauter wurde der Larm, unheimlicher das StraBenbild unter dem Fenster, prunkhafter die Sanften und haufiger die sich drangenden Rikschas. Da offnete sich die Tiire von neuem und Friedrich Barch trat ein. Jubelnd wollten ihm die Kinder um den Hals fallen, doch als sie in seine ernsten Ziige schauten, begriiBten auch sie ihn ruhig. Diener brachten das Abendbrot, stellten die merkwiirdigsten GefaBe auf den Tisch, riickten die damp- fende Teekanne mit dem funkelnden Drachen dicht heran und entfernten sich lautlos. Vater Barch verteiite die Spei- sen und begann: „Mein Sohn, kann ich zu dir schon wie zu einem Manne sprechen? Und du, mein Tochterchen, willst du dich beherr- schen, auch wenn das, was ich euch zu sagen habe, euch Kummer bereitet?" „Mutter!" hauchte Martina und wurde kreidebleich, wahrend groBe Tranen liber die Wangen liefen und die Lippen blau wurden. „Nein, nein", rief der erschrockene Vater, „so schlimm ist es nicht. Mutterchen wird, so Gott will, sich nach einigen Wochen erholen, doch mir wurde von meiner Firma heute der Befehl erteilt, nicht, wie am Anfang festgesetzt,. nach Shanghai zu fahren, — wohin ich euch mitgenommen hatte und wo ihr in die dortige Klosterschule eingetreten waret, sondern mich augenblicklich zur Erhaltung des Zweigge- schaftes nach Hankau zu begeben ..." „Den Yangtse hinauf?" unterbrach ihn lebhaft der Knabe. 4 „Ja, den bekannten bl&uen Flufi hinauf, doch nun lafi mich in Ruhe ausreden! In diese Gefahrzone kann ich euch nicht mitnehmen und auch Shanghai ist heute schon ein zu unruhiger Boden. Zum Gluck traf ich einen alten Freund, der eben aus Swatau nach Formosa zuriickkehrt. Da gibt es eine Missionsstation der Dominikaner, und Herr Bau¬ mann hat mir versprochen, euch mitzunehmen und euch dieser Mission zu iibergeben, bis ich euch holen und mit eurer Mutter wieder zu mir nehmen kann." lr O ... ich mag nicht in ein Kloster!" schluchzte Martina, „Sei nicht kindisch — eine Missionsstation ist kein Klo¬ ster mit hohen Mauern. Sehr gtitige Menschen leiten es. Du Alex, kommst zu den Patres, die dich unterrichten werden, und du, kleine Maus, bleibst bei den Schwestern. Ihr wer- det Japaner, Koreaner, Formosaner, Chinesen und — wer weiB es — sogar richtige wilde Eingeborene kennen ler- nen und vieles sehen, was Gott nur wenigen Menschen zu schauen gewahrt. Eure Freunde in der Heimat werden euch um diese riesigen Vorteile lebenslanglich beneiden, nun aber esset rasch, denn das Schiff geht abends um 10 Uhr ab. Bis morgen friih reisen wir vereint weiter, dann nimmt mein guter, alter Freund euch unter seine Fittiche. Ihr habt ja schon gelernt, daB Formosa so schon ist, daB die ersten Portugiesen, die die Insel entdeckten, ihr den Namen ,die Wunderschone' gaben?" Martina kostete gehorsam von all den aufgetragenen Speisen, Alexander muBte jedoch mit vollen Backen noch immerzu fragen: „Vater, ist das nicht die Insel mit den vielen fremden Stammen? Gehort dazu nicht auch Botel Tobagu im Stiden, wo die Leute noch nackt laufen und kein Geld kennen und gibt es in den Berghohen nicht auch Menschenfresser?" „Nein, Junge, wohl aber Kopfjager, die der Regierung viel zu schaffen machen. Es soil in den Bergketten im Norden der Insel noch an die 100000 Tayalen geben, die sehr gefahrlich werden konnen. Genug fur heute! IB und sorge dich nicht, denn Taihoku, die Hauptstadt der Insel, liegt weitab von jenen Hohen in friedvoller Ebene ..." Das war ja gut so, schon Martinas wegen, aber etwas mehr von den Kopfjagern als nur die Spitzen der Berge, hinter denen sie wohnten, wollte er doch zu gerne sehen. Von diesem Begehren erfiillt, aB Alexander um so rascher und tiichtiger. Zum Kampf brauchte man Kraft. 1* 5 II. DER SCHWANZ EINES TAIFUNS H err Baumann war ein netter, alter Herr, der selbst keine Kinder hatte und sich daher seiner Schutz- befohlenen mit riihrender Giite annahm, wenn er Martina gleicb mehr Schokolade zusteckte als ihr bekommlich war, und Alexander das ganze Schiff zeigte, auf dem er sich ausgezeichnet auskannte, da er oft genotigt war, von Formosa nach der chinesischen Kiiste zu fahren. Um 10 Uhr abends begleitete er die Kinder in ihre Kabine und um 11 Uhr lichtete das Schiff die Anker. Martina atmete ruhig, Alexander jedoch vermochte nicht zu schlafen. Gegen Mitternacht vernahm er plotzlich allerlei sonderbare Gerausche, die er sich nicht zu deuten verstand. Die Chinesen, die vor kurzem noch Mah Tschong gespielt hatten und ziemlich larmend gewesen waren, gaben gurgelnde Laute von sich und stohnten laut, und Alexander, der bemerkte, wie das Schiff immer arger schlingerte und stampfte, schloB endlich auf die GeiBel der Seekrankheit, die Asiaten noch schlimmer anzufallen pflegt als Menschen anderer Rasse. Vorsichtig, um Martina nicht zu wecken, kletterte er bis zur Luke, die auf das Vorderdeck Aussicht gab, und sah zu seinem Schrecken, wie die aufgestapelten Riesen- holzer — machtige Stamme von Urwaldbaumen — wie leichte Stangen fiber das Deck schossen und mit donner- artigem Kracb in die Deckwand schlugen. Immer furchtbarer wurde das Schlingern, immer un- ertraglicher das Rollen und Stampfen und plotzlich ge- wahrte der Knabe, wie etwas WeiBes hinter dem Holz- stapel emporkletterte und drohnend niederrauschte, sich zischend seinem gut verschraubten Fenster nahernd. Es waren Meereswogen, die so turmhoch gestiegen waren und das Schiff in den Grund zu bohren drohten. Der Sturm mischte sich in das Tosen stiirzender Wasser und heulte wie ein beutegieriges Riesenraubtier. Alle Fugen des Fahrzeugs achzten. Alexander wollte schreien, be- herrschte sich aber um der zum Gluck schlafenden Schwester wegen und betete lieber. Da horte er eine kraftige Stimme im Gange rufen: 6 „Keine Angst, bald wird es besser werden, wir sind nur in das auBerste Schwanzende eines Taifuns geraten .. „Nur das Schwanzende", dachte Alex, und wischte sich den AngstschweiB von der Stirne, „wie mag da wohl das Herz eines Taifuns beschaffen sein?" Dem, das fiihlte er, waren sie nie entronnen und er dankte Gott fur die Rettung des Schiffs und aller darauf Befindlichen. * Keelung, der Nordhafen von Formosa, gilt als der feuchteste Ort der Welt, und Alexander wunderte sich daher nicht, als er die sattgriinen steilabfallenden, merk- wiirdig schimmernden Berge nur durch feinen silbrigen Regen sah und Herrn Baumann durch schleppende Nebel- schwaden zum nahen Zuge folgte. Eine knappe Stunde spater waren sie in Taihoku. „fch bringe euch gleich zur Mission-", sagte Herr Baumann, „denn einmal muB es sein, und je spater, desto schwerer fallt uns alien der Abschied. Ihr sollt mich iibrigens oft besuchen, jeden Sonntag um 1 Uhr bei uns essen, und zu Weihnachten mit uns nach Taikei fahren, wo ich ein kleines Landgut habe." Er zwinkerte Alexander bedeutsam zu. „Es liegt nur wenige Meilen von der Grenze des Kopfjager- gebietes entfernt." Die Augen des Knaben leuchteten auf, doch schwieg er, um seine Schwester nicht zu beunruhigen. Die Missionsstation lag im Herzen von Taihoku, mitten zwischen dem diisteren Chinesenviertel mit den engen, gewundenen StraBen und den mit diisteren Bogengangen verzierten Hausern, und der freundlichen Japanerstadt, die luftiger, schoner und gesunder war. Die Kirche saB be- scheiden mitten zwischen den iibrigen kahlwirkenden Ge- bauden, die alt iibernommen worden waren, und der graue Mittelbau, in dem die Schwestern mit ihren Zoglingen wohnten, stach besonders duster aus der Reihe der mit vielen bunten Zeichen geschmiickten Formosanerhauschen auf dem ungleichmaBigen Platz. Als sich jedoch das Tor offnete und eine weiBgekleidete Schwester ihnen mit freundlichem Lacheln entgegentrat, vergaBen die Kinder fiber dem lichten Innern die diistere AuBenseite. WeiBgewaschene Wande, helle Fliesen, ein lichtes Besuchszimmer und an der Pforte ein giitiges Ge- sicht, das willkommende Worte sprach: 7 „Pater Andreas, bitte nehmen Sie den Knaben in die StraBe der gelben Narzisse mit; er wird sich bei den libri- gen Jungen gleich wohl fiihlen. Schwester Helene aber wird sich des kleinen Madchens annehmen, Sie konnen un- besorgt sein, Herr Baumann." Alexander nahm sehr beherrscht Abschied von Martina und sprach Herrn Baumann seinen Dank aus, dann folgte er Pater Andreas durch mehrere StraBen zum groBen, aber ebenfalls etwas duster wirkenden Patreshaus und wurde mit einer Anzahl gleichaltriger Knaben bekannt gemacht, unter denen es Japaner, Chinesen, Koreaner, einen finster blickenden Ainu und einen Halbtayalen gab; aber auch einige Sohne weiBer Eltern waren darunter. Sie fiihrten ihn mit Vergniigen in alle Missionsbrauche und in die Hausordnung ein. Martina merkte bei alien guten Vorsatzen, daB ihr die Tranen iiber die Wangen liefen, als sie so ganz losgelost von alien, die sie kannte, hinter Schwester Helene her durch die langen Gange eilte. Da wandte sich diese um und sagte lachelnd: „Merk dir, nur zweimal weint man bei uns: am Tage, an dem man ankommt und sich einsam glaubt, und am Tage, an dem man scheiden muB ..." Sie offnete die Tiire zu einem winzigen Schlafraum, in dem drei Betten standen, und stellte Martinas Kofferchen an das zweite Lager. „Hier bist du nun zu Hause", erklarte sie, „doch komm mit mir, ich will dir deine neue Heimat zeigen." III. UNTER KINDERN FREMDER RASSEN S ie standen in einem hochummauerten Hofe, inmitten von vielen Kindern, die denkbarst verschieden in Klei- dung und im Aussehen waren. ..Schwester He, Schwester He!" riefen alle. — Die Schwe¬ ster erklarte: „Martina, das ist O Ho san, das ,ehrenwerte Fraulein Schmetterling’, ein Jahr langer auf Erden als du selbst, auch die Tochter eines Kaufmanns. Sie ist seit kurzer Zeit bei uns, um die deutsche Sprache zu lernen. Wir geben ihr das 8 kleine Licht unseres Wissen und hoffen, ihr einmal auch das groBe Licht unseres Glaubens schenken zu diirfen." ,,Und wer ist jene hiibsche Kleine im schneeweiBen, et- was steifabstehenden Gewand?" , Sie heiBt Syo-mi, was auf koreanisch .Baumwolle' be- deutet, und sie tragt WeiB wie die meisten Leute des Lan¬ des der Morgenstille'. Ihr Vater leitet eine Olfabrik in der Mandschurei, und diese Kleine mit der drachenbestickten Jacke und den engen schwarzen Seidenhosen ist eine Chi- nesin aus Futschau, der .gliicklichen Gegend', und heiBt Hong Tse, auf deutsch .Hagebutte'. Sie wohnte bis vor vier Wochen dicht an der Briicke der zehntausend Jahre, die den MingfluB iiberspannt, und sie kann dir sehr vie! von den groBen Dschunken erzahlen, die am Bug leuchtende Augen haben, um zu sehen, wie sie fahren sollen. Ihre braunen Segel werfen phantastische Schatten auf den griinlichen MingfluB, den hinab sie gleiten." In dieser Weise fiihrte Schwester Helene die kleine Mar¬ tina ein, erteilte ihr allerlei Auftrage und hielt sie so sehr beschaftigt, daB sie nie zum Nachdenken dariiber kam, allein in fremdem Land und unter fremden Menschen zu sein. Die Kinder freundeten sich rasch an und berichteten von ihrer Heimat, dieses Madchen von den wunderbaren 9 Riesensteinfiguren vor Peking, jenes von den ungeheuren Kaoliangfeldern um das Seebad Pai-Tei-Ho, eine kleine Koreanerin hatte schon einen Tiger unweit der eigenen Berghiitte gesehen, und ein chinesisches Waisenkind erin- nerte sich,wie die Kopfjager ihrenVater getotetund dessen Haupt in die Berge getragen hatten. Als Martina 14 Tage in Taihoku war, schien es ihr, als ob Jahre seit ihrem Lan- den verstrichen waren, und sie wunderte sich immer wie- der liber die Fiille des Wissens, iiber die sie plotzlich ver- fiigte. Wenn ihre deutschen Mitschiilerinnen daheim das ahnten! „Willst du mir nicht auf meinem Rundgang helfen, Mar¬ tina?" rief einige Tage spater Schwester Helene und hielt ihr den kleinen Korb hin, der mit allerlei Dingen fur die Armen gepackt war. Das war das Schone an dieser Schwe¬ ster, daB sie immer tat, als ob sie ihren Pflichten nicht allein geniigen konnte und ihr daher jedermann so gerno half, ohne zu ahnen, daB ihm geholfen wurde. Schwester Dolores hatte namlich, ungeachtet all ihres Versunkenseins beobachtet, daB Martina in der Kirche gar haufig in sich hinein weinte, und zwar so oft ein Brief aus dem ferner Hankau eintraf und es ihr zum BewuBtsein kam, wie weit entfernt Vater und Mutter waren. „Sie schlieBt sich den iibrigen Kindern zu wenig an" sagte Schwester Perpetua, „es ist daher am besten, wenn sie in anderer Form abgelenkt wird." Kaum hatte sich das Tor hinter Schwester Helene und deren kleiner Begleiterin geschlossen, als sich eine neue Welt auftat. Unter den tiefen Saulenbogen drangte sich das Volk. Hier wurden eben ausgebriitete Entlein in breite Korbe gegeben, driiben wusch eine Chinesin ihr Kindlein auf offener StraBe, vor dem StraBenbrunnen stand ein nacktbeiniger Mann in einem Holztrog und rieb mit den FiiBen die langen japanischen Mohrriiben, immer wieder frisches Wasser auf sie pumpend und dann wieder lustig auf den Friichten herumspringend, um sie von Schmutz und Erde zu befreien. Ein Tischler hob seinen Hobel mit den Zehen auf, und in der Nische zwischen zwei Bauten lag auf einer Art Altar ein hakenreines Schwein mit einer Apfel- sine im Maul und einer anderen zwischen den Pfoten, wah- rend Herz, Magen, Leber und Niere in einem blauen Ge- faB daneben standen. 10 „Ein Opfer dem Gott des Gluckes ..." erklarte die Schwe- ster. Hinter der HauptstraBe dehnten sich die engen StraBen vor dem Teeviertel. Hier hatten die groBen Teehandler ihre Arbeitsraume. Die verschiedensten Teearten wurden hier gesondert, verpackt, durchduftet. Unzahlige Madchen und Frauen saBen auf Ballen oder auf Kisten und hielten groBe Siebe in Handen, auf die Jasmin- und andere Bliiten geworfen wurden und die nun mit dem fertigen Tee durch- schiittelt werden muBten. Wenn sie vom starken Bliiten- geruch ganz durchzogen waren, wurden die einzelnen Tee¬ arten auf bestimmte Riesenhaufen geschiittet, von wo aus sie in Sackchen geschaufelt und verpackt wurden. „Wer trinkt solch wohlriechenden Tee?" erkundigte sich Martina, die von all den Diiften ganz betaubt war. „Die Chinesen auf Java und in Siidamerika, die groBe Abnehmer gerade dieser Teearten sind. Schau dir diese armen kleinen Madchen an! Sie verdienen nach deutschem Gelde hochstens vierzig Pfennig taglich und sitzen in der Regel zehn bis zwolf Stunden hier. Es ist keine schwere, aber eine langwierige Arbeit." Schwester Helene naherte sich einigen dieser Madchen und steckte ihnen ein Packchen mit Lebensmitteln zu. „Manchmal geht es ihnen so schlecht, daB sie auf Abwege geraten", die Schwester seufzte, „und deshalb bringe ich ihnen ofter etwas zu essen. Wenn wir reicher waren, konn- te ich viel mehr tun." Und noch einmal seufzte sie. Nach einer Weile, als sie schon durch viele StraBen ge- gangen waren, einen Shintoleichenzug gesehen und eine Brautsanfte bestaunt hatten, rief Martina plotzlich: „Da . . . da .. . geht grunes und violettes Federvieh. Sind das . .. sind das .. . am Ende Paradiesvogel?" „Nein", lachte Schwester Helene, „das sind ganz ge- wohnliche Hiihner, die nur so gestrichen worden sind, da- mit ihre Herren sie leicht erkennen, und sie nicht so leicht gestohlen werden konnen..." Da muBte auch Martina lachen. * 11 IV. VOR DEM KOPFJAGERGEBIET . K urz vor Weihnachten erschien Herr Baumann bei der Mission und holte beide Kinder ab, um sie liber die Feiertage nach seinem Landgut zu bringen. Das war eine Freude, als die Geschwister im Zug ihre Erfahrungen aus- tauschen und neue Eindriicke gemeinsam aufnehmen und besprecben konnten. Bei Makwa, was in der Eingeborenensprache „Boot" be- deutet, begannen die ausgedehnten Teegarten mit den rundlichen niederen Strauchern, bei denen Madchen mit weiBem Kopfschutz standen und die zartesten Blattchen vorsichtig abzupften, um sie in flaschenformige Korbe glei- ten zu lassen. AnschlieBend an diese Teegarten waren die Jasminfelder in vollster Bliite. Audi hier wurden die sich eben offnenden Knospen gesammelt. Die hohen Berge scho ben sich immer naher und bei Toyen war man schon im Hiigelland. „Steigt nur auf die StoBkarre und setzt euch auf die umgestiilpte Kiste", befahl Herr Baumann und zeigte auf das komische Ding auf vier Radern, das nur eine Platte mit vier Eisenstangen in jeder Ecke hatte. Ein dunkelhau tiger, halbnackter Formosaner ergriff die beiden riickwar- tigen Stangenund gab der Karre, die auf Schienen lief, einen StoB, schob sie einige Meter weit kraftig an und setzte sich beim erstenleichten Gefall darauf, dennnun lief der sonder- bare Wagen ganz allein und sogar mit ziemlicher Geschwin- digkeit. Einige StoBkarren hatten sogar ein Segel vorge- spannt und lieBen sich vom giinstigen Wind treiben .. . Das Landgut Herrn Baumanns lag hinter Taikei, der ge- siindesten Stadt Formosas, unweit des Tamsuiflusses, und das Haus war hauptsachlich im japanischen Stil gehalten, hatte mattenbedeckte FuBboden, Schiebetiiren, offene Ver- anden mit hellklingenden Gliicksglockchen, die der Wind immer wieder zum Lauten brachte, und einen Baderaum mit runder brauner Tonne, in die man erst klettern konnte, wenn man vier Stufen einer Leiter erstiegen hatte. Audi wurde zu den Hauptmahlzeiten immer „Go han", der ehren- werte Reis, und nicht Brot geboten, und wenn man sich nachts niederlegen wollte, gab es keine Betten, sondern 12 nur warme. seidengefiitterte Steppdecken, die man auf die tadellos reinen Matten breitete. / ,Das ist einfacher und gesunder", pflegte Herr Baumann zu sagen. Frau Baumann aber, eine rundliche und guther- zige Frau, kam noch in den Schlafraum, als die Geschwister schon bis zur Nase unter der Decke staken, kiifite sie miit- terlich auf die Stirne, machte das Kreuzzeichen iiber sie und sagte:- „Kinder, geht nie mit einer Luge zu Bett, und lebt. immer so, daB ihr Gottes Blick nicht zu fiirchten braucht." Leise schob sie die Schiebetiiren zu. Viele Wochen spater sollte sich Alexander mit Herzweh an diese Mahnung erinnern ... Aiartina war selig. Sie folgte Frau Baumann gerne vom Hiihnerhof in den ausgedehnten Garten und durch die Reisfelder in die schone Ortschaft hinab, in der es Tempel mit geschwungenen Dachern, alte Laternen und seltsame Rasthauser gab, Alexander dagegen begleitete den Knecht der Farm zu den Feldern am Tamsui hinab, wo die Was- serbiiffel mit ihren ungeheuren Hornern pfliigen muBten. So lange ihre Haut feucht war, arbeiteten sie tiichtig, doch sobald die lehmige Erde daran trocknete und die lastigen Moskiten sie in den Hautspriingen angriffen, lieBen sie sich kaum halten, muBten losgelassen werden und walzten sich dann im nachsten Schlammtumpel. Dann kehrten sie willig zu ihrer Arbeit zurrick. Per jiingste Sohn des japanischen Kaufmanns war bald sein Freund, Sing Loh, der Chinese, der iiber Neujahr bei seinem Vater weilte, und die beiden Kinder des Knechtes, die dem weiflen Knaben viel Neues zeigten. Onkel Hein¬ rich, wie Alexander Herrn Baumann nennen durfte, hatte ihm zu Weihnachten ein schones, silberschimmerndes Flugzeug geschenkt, das aufgezogen wurde und sich tat- sachlich eine kleine Weile in der Luft erhielt, und alle Kin¬ der beneideten ihn gliihend um diese wundervolle Errun- genschaft. Es war am Tage vor Neujahr und der letzte Tag der gol- denen Ferien. Der alteste Sohn des japanischen Kaufmanns muBte Waren nach Kapansan bringen, zur Polizeistation tief im Tayalgebiet, und er lud die Knaben ein, bis zur Grenze auf seiner StoBkarre mitzufahren. Helle Begeiste- rung erfiillte Alexanders Herz, als er immer naher den ho- hen Bergen fuhr. Als sie einen riesigen Kampferbaum, den exsten, den der Knabe gesehen hatte, erreichten, hieB Taya- 13 mutu die kleine Gesellschaft absteigen, da eine Warnungs- tafel das Betreten des Gebietes verbot. Kaufn war die StoBkarre indessen den Aiigen entschwun- den, so sagte Sing Loh: „Kommt nur mit mir, ihr braucht euch nicbt zu fiirchten, denn ich bin schon sehr oft iiber die Grenze gegangen. Hier gibt es iiberhaupt noch keine Kopf- jager, die sind erst hinter Kapansan gefahrlich ..." • „Warum steht dann hier die Warnungstafel?" erkundigte sich Alexander. „Weil hier die Grenze des Kopfjagergebietes ist und ein elektrischer Zaun, der nicht immer geladen ist, rund um das Tayalenreich geht." Er bog die Aste des nachsten Tsusobaumes zurrick und die iibrigen Knaben folgten dem Chinesen. Herrliche Falter umgaukelten sie, der Duft fremder Bliiten umwogte sie und im Buschwerk raschelte es. Alexander erinnerte sich, daB die Zahl der Giftschlangen auf Formosa eine ganz groBe sein sollte, doch trostete er sich mit dem Gedanken, daB Sing Loh in all diesen Dingen bewandert sein muBte. - Sie traten auf einen baumfreien Hang und hatten von da einen sehr schonen Ausblick in das unbeschreiblich ab- wechslungsreiche Bergland der Tayalen. „LaB dein Flugzeug fliegen", rief Sing Loh, und kurz da- rauf rasten sie alle hinter dem schimmernden Dinge her. Da raschelte es im hohen Suzukigras, die grauweiBen Wedel bewegten sich wie Geister und die beiden Japaner verdrehten die Augen. „Kopfjager!" fliisterten sie und stiirzten so schnell es gehen wollte dem schiitzenden Baumdickicht zu. Eine schlanke Gestalt, in ein merkwiirdiges Kleidungs- stiick gehiillt, schob sich zogernd auf die Lichtung. Wie ein Sack legte sich das gestreifte Hanftuch dicht an den Korper und die groBen Augen im braunen Gesicht blickten sonder- bar schwermiitig. Die diinnen Finger griffen voll Sehnsucht nach dem gleiBenden Wunderding, das von selbst fliegen konnte. Sing Loh war neben Alexander stehen geblieben. „Geh’ weg, Wilder!" rief er bose. Die Augen des fremden Knaben streiften ihn fliichtig und kehrten sofort zum Wunderding zuriick. Er deutete darauf und machte Zeichen, es der Luft anzuvertrauen. Alexander zog es auf und lieB es den zweiten Hang hinabschweben. 14 Schneller als.alle sprang der kieine Tayale hinterher, er- haschte es und hielt es selig lachelnd in Handen. Sing Loh entriB es ihm rauh. „Wenn du es nicht festhaltst, wird es weg sein..." warnte er Alexander. Da vernahmen sie wieder ein leichtes Gerausch hinter sich.. „Komm, laB uns gehen!" rief Sing Loh und stiirzte dem Sehutz der hohen Kampferbaume zu, wohin sich die beiden Japaner schon langst zuriickgezogen hatten. Alex war nahe daran, dem Chinesen zu folgen, als er eine Hand auf seinem Arm fiihlte. Gar bittend schaute ihn der junge Tayale an, doch lag in seinen Augen trauriger Zweifel. „Wer weiB, ob er in seinen unwirtlichen Hdhen einmal das findet, was sein Herz so ganz mit Freude erfiillt", iiberlegte Alexander. „Mochtest du es sehr gerne haben?" fragte er, obschon er wuBte, daB der Junge ihn kaum verstehen konnte, doch mit dem feinen Gefiihl des Wilden hatte der Tayale den Sinn der Frage erfaBt. In seinen Augen glomm jahe Hoff- nung auf, und zogernd, beinahe furchtsam streckte er die auffallend magere Hand aus. 15 Da flog ein Lacheln wie Sonnenschein iiber Alexanders Gesicht. Er legte das Flugzeug in die Hande des Fremden und sagte freundlich: „Ich habe so vieles, wofiir ich Golt danken muB! Nimm und werde froh!" Einen Augenblick spater sprang auch er in den Schatten der Baume und sail nicht mehr das begliickte Aufleuchten der dunklen Augen. V. EINE PFLICHTVERGESSENHEIT M artina fiihlte sich so wichtig wie eine richtige Mission! schwester. Es gab unglaublich viel zu tun, denn die groBen Neujahrsfesttage, die in Landern, wo Chinesen wohnen, immer so larmend begangen werden, weil all s bosen Geister mit scharlachroten Flaggen und mit Feue:- krachern verjagt werden miissen, dauerten voile zwei Wc- chen. Niemand war zu halten. Die kleinen Japanerinnen trugen die Fahne mit der aufgehenden Sonne herum, spiel ten daheim und auf der StraBe Federball und aBen zahe Mochikuchen; die kleinen Formosanerinnen (im Gruna - nichts als lang ansassige Siidchinesinnen) durften zur Neu- jahrszeit in ihren neuen Gewandern herumgehen, alle Fest- lichkeiten mitmachen und in Gesellschaft der Eltern das Theater besuchen, das ein Vergniigungsort von groBter Wichtigkeit war. Man begab sich schon am Nachmittag zur Vorstellung, speiste im Theater und kehrte, wenn das Stuck sehr kurz war, einmal nach Mitternacht zuriick. Die groBe- ren Madchen aller moglichen Rassen, die in der Kloster- kiiche Schwester Perpetua helfen sollten, kehrten unge- achtet aller Ermahnungen spat abends todmude heim und liefen, wenn sie gescholten wurden, nicht selten iiberhaupt von der Mission weg, und so kam es, daB Schwester Dolo¬ res noch mehr Arbeit als sonst in Haus und Kirche hatte, Schwester Helene sich nach Kraften um die nun freien Tee- madchen kiimmerte, und Martina entweder in der Kiiche oder bei den ganz Kleinen mithalf. „Spiel' mit ihnen und laB sie Weihnachtsliedchen sin- gen", rief Schwester Helene im Vorbeihasten Martina zu, 16 „a.ber achte darauf, daB sie nie auf die StraBe laufen und auch nichts essen, was nicht hier im Kloster gekocht wurde !" Schon seit vier Tagen war Martina eine von sich sehr eingenommene, aber pflichttreue Ersatzschwester, nun Schwester Perpetua in der Kiiche helfend und nun unten, bei den Kleinen, Aufsichtsperson spielend, als ihre unange- zweifelte Tugend eine ungewollte, aber verhangnisvolle Triibung erhielt. , Stille Nacht, heilige Nacht..." Sie sangen es alle sehr brav, diese Kleinen, wenn sie auch anstelle von Nacht „nacki" sagten und immer wieder das L mit dem R vertauschten. Da offnete sich die Ture und ein Mischblut, ■— die Tochter eines Formosaners und einer Tayalenfrau — trat ein. Miao Han, eine dicke, fiinfjahrige Koreanerin, trippelte ihr entgegen. Tsang Liu, die drei- jahrige Siidchinesin, folgte ihrem Beispiel. Der Gast packte allerlei kandierte Friichte aus: Bananenscheiben und Ana¬ nas wiirf el, getrocknete Baummelonenschnitten und zucker- bchrustete Litschifriichte. Martina wollte Einspruch erhe- ben, als Tsalo-To ihre Schatze auspackte und unter die Kinder verteilte. Schwester Helene hat es strenge verboten..." begann sie. ,Sei den Kleinen doch nicht um diese geringe Freude nei- disch! Ich war doch auch einmal bei der Mission. Heute allerdings ..." — sie schwieg und verteilte emsig weiter. „Koste selbst, um dich zu iiberzeugen, dafl alles frisch und gesund ist." Martina zogerte, kostete, fand die kandierten Friichte ausgezeichnet und aB mit. Das fremde Madchen war nahe- zu erwachsen und muBte wohl wissen, was recht war. Drau- Ben ging Schwester Dolores vortiber. Sollte sie die Schwe¬ ster fragen? Sie tat es nicht, denn die Kinder hatten ja alle schon gegessen und jetzt zu sprechen, hatte ihr wohl nur eine Riige eingetragen . . . „Nimm noch!" sagte die Fremde, leerte den Rest in Mar¬ tinas SchoB und entfernte sich. Krahend fielen Miao Han und Tsang Liu, ihre beiden Lieblinge, liber die restlichen SiiBigkeiten her. Nach einer Weile forderte Martina die Kleinen wieder zum Singen auf, doch Miao Han runzelte finster die Brauen 17 und erklarte: „Nixi meh . . . tille Nacki. . . heilige Nacki . ." Tsang Liu saB in einer Ecke und sah ebenfalls recht un- freundlich aus. „Martina, komm und hilf mir mit dem Geschirr!" rief Schwester Perpetua aus der Kiiche. „Die Madchen sind ncch nicht heimgekehrt, Schwester Helene muBte zu einer Kran- ken eilen und Schwester Dolores hat alle Vorbereitungen fiir den abendlichen Segen." Schweigend wischte Martina Teller auf Teller. Der Kopf war seltsam leer und ein Kaltegefiihl wollte und wollte nicht weichen. Ihr Blick trubte sich, ein Sehnen nach Ruhe uberkam sie. Klirrend fiel ein Teller auf die FlieBen nieder. Ohne sich zu entschuldigen, wie im Traum, starrte das Kind darauf. Schwester Perpetua war auch miide. Sie betrach- tete ihre kleine Helferin nicht naher, sondern rief kurz an- gebunden iiber die Schulter zuriick: „Geh nur, ich werde schon allein fertig werden!" Warum konnte sich Martina nicht entschuldigen? Stumm entfernte sich die Kleine, betrat den groBen Spiel- saal und fand zu ihrer Freude auffallende Ruhe. Miao Han saB noch immer finster da und Tsang Liu rief ihr zornig entgegen: „Tutse buhao!" Martina spiirte plotzlich, daB auch sie selbst arge Leibschmerzen hatte. „Nicht weinen, bald kommt Schwester He! Du hast zu viele Friichte gegessen", fliisterte sie und versuchte, Tsang Liu in die Arme zu nehmen. „Tutse buhao!" schrie das Kind und stieB sie weg. „Wie geht es dir, Miao Han?" fragte Martina und zog das Kind an sich. Sie erhielt keine Antwort, und als sie sich niederbeugte, Helen ihr die blauen Lippen und die eisigen Hande der Kleinen auf. Die Glocke rief zum Segen. „Wartet. . . wartet ein klein wenig ... ich rufe Schwester He!" Kaltegeschiittelt kreuzte sie den Hof. Heller Licht- schein fiel aus der Kirche, Schwester Dolores sang. Blau- liche Weihrauchwolken umwogten den blumengeschmiick- ten Altar .. . Das waren Martinas letzte Eindriicke. Sie sank auf die Steine nieder und da fanden sie die Schwestern nach dem Segen. Als sie nach Tagen die Augen wieder aufschlug, saB Frau Baumann an ihrem Lager. Es war nicht das kleine Kloster- 18 belt, sondern ein ganz groBes Eisenbett in einem hellen Saal mit vielen gleichen Betten. „Wo bin ich?" — „Im Krankenhaus, Kind. Du wirst bald genesen und morgen schon holt Schwester Helene dich heim." „War ich lange krank?" — „Nein, nur vier Tage. Man hat dir sofort eine Serumeinspritzung gegeben, sonst ware es dir wie Miao Han und der Tsang ..." „Tsang Liu?!" — „ Ja, wie der armen Tsang Liu gegangen, Beide sind tot." „Tot?!" Martina fuhr voll Entsetzen hoch. „Tot?!" wieder-' holte sie tonlos. „Tot." Frau Baumann nickte. „Und nun sag' mir Kind, was ist an jenem Tage vorgefallen?" Martina vermochte nicht zu sprechen. Mit qualvoller Genauigkeit sah sie alle Vorgange jenes Tages: den Besuch der Fremden, die Gaben ... „0 ich bin schuld ... ich bin an ihrem Tode schuld . . ." sdiluchzte Martina und es dauerte lange, ehe die ganze Geschichte herauskam, und weil Martinas Reue einen Riick- fall herbeizufiihren drohte, der bei ihrer Zartheit todlich enden konnte, eilte Frau Baumann zu den Schwestern und bat sie, das Kind zu beruhigen und heimzuholen. Es geschah noch am gleichen Abend und niemand machte ihr einen Vorwurf, aber von da ab ging sie immer still und in sich gekehrt herum, lachte nicht und wollte auch nicht mehr mit den ganz Kleinen spielen. Eines Tages traf sie Schwester Dolores allein im Kloster- hof, da sagte ihr diese: „Martina, es kam, wie es Gottes Fiigung war. Trauere daher nicht liber Unabanderliches! Du bist noch sehr jung und hast die Tragweite deiner Tat nicht zu erkennen vermocht. Merke dir jedoch, daB unser Tun nicht nur uns allein, sondern auch viele andere Men- schen beriihrt Oder beriihren kann." * 2 Karlin, Kopfjager 19 VI. AUF DEM LANDGUT M artina erholte sich bald so weit, daB sie dem Unterricht der Schwestern folgen konnte, aber ihre Wangen blie- ben bleich und ihre Augen ernst. Sie konnte Miao Han und Tsang Liu nicht vergessen. Schwester Dolores fand sie nun ofter als vorher in der Kirche sitzen oder knien und ver- stohlen weinen. Wenn gefragt, warum sie weine, erwiderte sie nur: „Ich bete fur Vater und Mutter." In der Tat trafen die Briefe aus Hankau immer seltener ein. Frau Barch war von den Arzten nach Europa zuriickge- schickt worden und Herr Barch lebte in einer Stadt, die von zwei feindlichen Heeren umzingelt wurde. Auch waren rauberische Uberfalle keine Seltenheit. Umso sehnsiichtiger klammerte sich das kleine Madchen an Alexander, den sie jeden Sonntag bei Baumanns sah und dem sie all ihre Ein- drucke und ihre geheimen Sorgen anvertraute. Am LichtmeBmorgen driickte Schwester Dolores Mar¬ tina ein brennendes Kerzlein in die Hand und sagte la- chelnd: „So sollst auch du in dir das Licht anstecken, auf daB es alien Menschen leuchte." Und Schwester Helene fiigte hinzu: „LaB dein Herz wie diese Kerze sein, deren heiler Schein weithin reicht. Gott will frohe Herzen, weil es so viel Leid auf der Welt gibt." Martina dachte tiber all diese Worte nach und beschloB, kiinftighin mit ihrem eigenen Kummer nicht auch noch andere Herzen zu beschweren, daher lachelte sie Herrn Baumann entgegen, als sie in das Sprechzimmer zu ihm gerufen wurde. Er sagte unvermittelt: „So lange deine Eltern dir feme sind, kleine Martina, bin ich dein Vater und meine Frau deine Mutter, und da wir merken, daB du dich nach deiner Krankheit so gar nicht zu erholen vermagst, haben wir beschlossen, dich auf einige Wochen auf unser Landgut zu bringen. Meine Frau wird dich begleiten, denn ich bin nicht abkommlich, und nun rate, wer noch nach Taikei kommt?" ..Alexander?" fragte sie mit aufleuchtenden Augen. „Ja, dein Bruder. Pater Hubertus sagte mir, daB er sehr gute Fortschritte mache und dahei: vierzehn Tage Ferien 20 nehmen konne, Heute um zwei Uhr wird euch Tante Baumann abholen. Halte dich bereit! 11 Nun konnte Martina aus tiefstem Herzensgrund lacheln. Es war eine wunderschone Zeit, der kurze, milde Winter schwand und die herrlichen Blumen der Subtropen erbliih- ten in verschwenderischer Fiille. Eine Unzahl nie geschau- ter schimmernder Kafer und groBer Falter tauchten auf. bunte Vogel saBen auf bliitenduftenden Zweigen, seltsame Friichte reiften. Martina lebte wieder auf, ihre Wangen roteten sich und ihre ernsten Augen glanzten wieder freudefroh. Nach dem Friihstuck durften sie Kubimacho san, den ja- panischen Kne’cht, zu den Reisfeldern hinabbegleiten, die jetzt eher einem See oder Sumpf glichen, in denen die star- ken Wasserbiiffel pfltigen muBten, oder sie fuhren auf dem zweiradrigen Wagen zu Herrn Burns, dem Englander, der meilenweite Zuckerpflanzungen und eine Zuckermuhfe hatte, in der das braunliche Rohr zerkleinert, zermalmt, ausgedriickt und zuletzt sogar verbrannt wurde, wahrend der grieBartige Zucker nach und nach feiner, weiBer und wohlschmeckender wurde. Manchmal halfen sie auch Tante Baumann im groBen Garten, pfliickten pflaumenahnliche Baumtomaten oder rissen die riesigen Papayas, die Baummelonen ab, die dicht am Stamm wuchsen, griin als Gemiise gekocht und reif als Obst gegessen wurden, oder sie spielten allerlei Spiele mit den braunen Loganntissen, von den Chinesen „Dra- chenaugen" genannt. Da man indessen nicht immer nur herumrennen oder spielen kann, wanderten sie bald nach Taikei hinab, be- freundeten sich mit dem japanischen Schulmeister, und wurden endlich von ihm aufgefordert, am Unterricht teil- zunehmen. Martina verstand noch wenig, Alexander da- gegen hatte bei der Mission eine ganze Menge gelernt und konnte sogar schon ganz gut den Pinsel fuhren. Nun saBen sie oft stundenlang auf den Matten, die Schuhe vor dem Haus, die Beine gleichsam als Kissen beniitzend, malten die schwierigen japanischen Buchstaben, rechneten auf der Rechenmaschine und versuchten, japanische Lieder zu sin- gen, was meist mit einem groBen Lachorchester endete, denn asiatische Musik ist sehr verschieden von der west- lichen, und was dem einen Ohr angenehm klingt, ist dem anderen MiBklang und umgekehrt. 2 * 21 Da traf Alex auch seinen Freund, den Sohn des ersten Kaufmanns von Taikei, wieder; nur Sing Loh war abgereist. Eines Tages sagte ihm Toyomoto: „Ubermorgen muB mein alterer Bruder viele Waren nach Kapansan bringen. Er hat dich und Sing Loh schon einmal auf der StoBkarre gehabt und wiirde uns beide mitnehmen, wenn deine ehrenwerte Frau Tante es gestattet. Ein Schutzmann begleitet uns und wir wiirden in der Polizeistation iibernachten. Da konntest du viele Tayalen sehen, die ihre Tauschwaren dahin brin¬ gen. Hattest du Lust?" Und ob er Lust hatte! Zum Gluck verstand Martina nicht genug, urn den Sinn des Gespraches verstehen zu konnen. Vergeblich sann er nach, wie er eine -Nacht wegbleiben konnte. Da kam ihm ein Zufall zu Hilfe . . . „Hort, Kinder", begann Frau Baumann beim Abendbrot, „ich muB morgen in aller Friihe nach Taikoku zuriickkeh- ren, weil liebe Gaste von auswarts gekommen sind, die nicht Zeit haben, mich hier zu besuchen. Ich kann erst iiber- morgen abends heimkehren, doch habt ihr ja Gesellschaft und Schutz genug." Martina nickte und Alexander beruhigte sie mit vielen Scherzworten. Nach dem Abendbrot verschwand er indes- sen plotzlich, schlich sich zu dem Hause des Kaufmanns hinab und sagte: „0 Toyomoto san, ginge es nicht morgen? Morgen diirfte ich mitfahren, weil wir da iibermorgen schon zuriickkamen! Spater geht es nicht, denn ich soil meine Studien in Taikoku wieder aufnehmen." Nach einigen Beratungen wurde der Aufbruch fur den nachsten Tag um acht Uhr morgens festgesetzt. Ubergliick- lich schlich sich der Knabe in das Landhauschen zuriick und legte sich zur Ruhe. „Ich will niemanden beliigen", redete er sich ein, „ich mochte Tante Baumann und meiner Schwester nur alle Sor- gen ersparen. Wie ich heimkehre, erzahle ich ihnen alles und bitte sie um Verzeihung!" Ja, wenn es nur ginge, wie man es sich traumt... VII. AUF DEM WEGE NACH KAPANSAN „Du bist ein albernes Gor, Martina, das mir keine Freude gonnt", rief Alexander zornig, als er am nachsten Morgen 22 auf die StoBkarre wartete, die unweit des Landhauschens vorbeikommen sollte. „Warum hast du Tante Baumann nichts davon gesagt?" schiuchzte die Schwester und versuchte, ihn zuriidczuhalten. „Weil Frauen immer dumme Angsthasen sind!" erklarte er, stolz, vor drei Tagen dreizehn Jahre alt geworden zu sein. .DummheM und Stolz ...” begann Martina, dodi da tauchte in der Feme die StoBkarre auf. „Ich bringe dir eine wunderschone Hab'ichtmotte, den groBten Nachtfalter der Welt! Du weiBt ja, daB man ihn nur auf diesen Bergen findet. Sei nett und heul nicht, denn sonst... sonst glauben sie . .daB .. daB . . ich keinen Mut habe", vollendete er, denn er wollte nicht, daB Toyomoto erfahren sollte, wie heimlich er sich den Freunden anschloB. Martina zogerte. Sie wollte den Bruder nicht erziirnen und die Aussicht auf einen solchen Falter war schon, aber . . aber . . die Gefahr und die Einsamkeit! „Nimm mich mit!" „Ausgeschlossen! Kleine Madchen sind ein Hindernis auf soldiem Wagen. Man muB auf- und abladen konnen, Kisten schleppen und . . und . . so weiter. Hier bin ich, O Toyomoto san! Leb’ wohl Schwesterchen, und erwarte mich morgen gegen Abend." Er sprang auf die fahrende Karre und verschwand vor Martinas Augen, ehe sie richtig Zeit gefunden, ihm etwas nachzurufen oder ihn noch einmal zu warnen. Es beruhigte sie, daB ein Schutzmann und drei Japaner mitfuhren. Und morgen war er wieder da. Am Nachmittag begab sie sich zum Schulmeister und auch er verlachte ihre Angst. „Flinter Kapansan beginnt erst die wirkliche Gefahr", beruhigte er sie und gab ihr viele schone Falter, auf Reispapier zu malen. Es war eine marchenhafte Fahrt, nach jeder Kurve zeigte sich ein anderes Bild, jeder Hang bot seinen Reiz; die schwindelnden Fahrten in jahe Tiefen, das Erklettern der Karre von Hangen, die steil anstiegen, der immer groBere Weitblick, die machtigen Kampferbaume, die Hanffeider, das hohe Suzukigras, das einem drohenden Riesenfinger glich, das Davonschleichen einer auigescheuchten Gitt- schlange, der Falter- und Blumenreichtum — all das ver- wirrte Alexander, der all diese Eindriicke kaum in sich aufzunehmen vermochte. Bei diesem chinesischen Handler 23 wurden einige Kisten abgeladen, bei jenem Halbtayalen Friichte in Empfang genommen, hier kurze Rast gemacht und driiben die Kampfergewinnung in all ihren Einzel- heiten angeschaut. Der Baum wurde in ganz kleine Stuck - chen zerschnitten, das Holz ausgekocht, der heiBe Dampf durch kiihle Rohre, die durch Wasser liefen, geleitet, und die heraustropfende Fliissigkeit in Biichsen Oder Kriigen eingefangen und nach Taihoku in die staatliche Kampfer- fabrik geschickt. 24 in der Nahe einer solchgn Anlage hielten sie Mittagsrast, afien Reis mit gediinstetem Seegras und tranken griinen ungezuckerten Tee. ,Tst es nicht gefahrlich?" erkundigte sich Alexander, dem die Geschichte zu zahm war. „ Nicht hier", erwiderte der Schutzmann. „Wenn es Tag ist und mehrere Leute beisammen sind, greifen die Wilden nicht an. Sie liegen oft tagelang ganz ruhig im hohen Gras und warten ab. Kommt dann jemand ganz allein des Weges daher, so toten sie ihn aus dem Hinterhalt und springen erst spater aus dem Versteck hervor, um dem Opfer den Kopf abzuschneiden. Der Rumpf bleibt liegen." „Das ist feige!" emporte sich der Knabe. „Das ist so", erwiderte der Schutzmann und zuckte die Achseln. „Im offenen Kampfe waren sie nicht so gefahrlich." Nun fuhren sie weiter und weiter in das wunderschone Tayalengebiet hinein. Die Berge waren hochaufstrebend und herrlich grim, selbst da, wo sie erstaunlich schroff in den tiefblauen Himmel ragten. Tosende GieBbache stiirzten herab, nirgends sah man Dorfer, aber da und dort stieg aus dem dichten Grim ein feiner Rauch auf, der auf mensch- liche Niederlassungen schlieBen lieB. Palmen wechselten mit dem schlanken Tsuso, der wertvollen Aralia papyrifera. Eine Bergratte huschte iiber den Weg. Wie lange sie aber auch fuhren, stieBen sie nirgends auf Eingeborene, obschon es Alexander war, als bewege sich manchmal das hohe Suzukigras ganz leise, wenn die Karre schon lange an einer Stelle voriibergefahren war. Am Spatnachmittag erreichten sie die Polizeistation von Kapansan, ein Dorf ohne Frauen, sehr giinstig auf einer kleinen Hochebene gelegen, von der aus man ein sehr weites Gebiet iibersah und das gegen Angreifer gut zu halten war. Nette japanische Hauschen aus lichtbraunem Holze bildeten eine, sich vor dem Hause des Polizei- inspektors allmahlich zu einem Platze weitende StraBe, in deren Anfang, etwas zuriickweichend, das Schulgebaude stand. Tayalen in verschiedenen Altersstufen liefen auf der kurzgrasigen Wiese einem Balle nach. Toyomoto sprang von der StoBkarre ab und winkte Alexander, ihm zu folgen. Alexander hatte sich sehr genau umgeschaut, ob der Knabe, dem er das Flugzeug geschenkt hatte, auch hier anwesend war, doch gab es keinen Jungen, der ihm ahnelte, 25 und auch seine Frage nach ein,em Knaben mit solchem Spielzeug verlief ergebnislos. Alexander wohnte beim Polizeiinspektor, safi auf den tadellos reinen Matten, aB mit Stabchen aus henkellosen Tassen und Napfen, trank ungezudcerten Grtintee und erzahlte von Europa. Ein junger Schutzmann saB neben dem groBen ReisgefaB und schaufelte immer wieder den „ehrenwerten Reis", der das Brot ersetzte, nach, Sonst gab es gerostete BambusschoBlinge, fein geschnittene Lotos- wurzeln, die mit ihren Lochern an Scbweizer Kase erinner- ten, geraucherten Aal und als Nachspeise aus Ol gebadcene Bananen. Vor dem Schlafengehen lief Alexander schnell noch einmal vor die Tiire und schaute im strahlenden Vollmond- licht sehnsuchtig nach den wunderbar gezeichneten un- zahligen Bergriicken, die kulissenartig die kleine Hoch- ebene von Kapansan umgaben. Nirgends sah man auch nur eine Spur von Niederlassung und dennoch sollten alle diese Hohen dicht bevolkert sein, aber die Bauten lagen hinter hohen Urwaldbaumen verborgen und der Weg dahin sollte weit und anstrengend sein. Genau wuBte es niemand, denn die Tayalen lieBen keinen Fremdrassigen eindringen. VIII. EIN HELFER IN DER NOT A m nachsten Morgen, gleich nachdem Alexander etwas Grtintee getrunken und kalten Reis dazu gegessen hatte, eilte er ins Freie. Die Sonne war eben aufgegangen und die dicht bewaldeten schroffen Berge leuchteten wie Edelsteine. Tautropfen zitterten an den langen schmalen Blattem des hohen Suzukigrases und der dichte Nebel unter Kapansan glich brandender See. Toyomoto trat dem Knaben lachelnd entgegen. „Ich muB beim Verpacken der Waren fur Taihoku hel- fen", sagte er, „doch einer der jungen Schutzleute tragt die beiden Kisten nach Habun hinab und ist bereit, dich mitzunehmen. Am Tage besteht keine Gefahr, aber ver- meide es dennoch, vom freien Weg abzuweichen. Jedes Gebiisch kann gefahrlich werden." 26 So kam es, daB Alexander nicht mit einem alten Be- kannten nach Habun, der letzten Siedlnng von Nicht- Tayalen, hinabstieg, sondern mit einem verlaBlichen Schutz- mann, der jedoch keine personliche Bindung zu ihm hatte. Es war ein prachtvoller Morgen und als sie die beiden Fliisse kreuzten, hatte Alexander vor Seligkeit laut hinaus- singen mogen. „Nun miissen wir liber jene Briicke", erklarte der junge Japaner,»das lange Schweigen brechend und deutete auf etwas, das keiner Briicke glich. Eine Anzahl von schweben- den Brettern reichte iiber das tiefliegende breite FluBbett und wahrend man auf diesen engen Brettern ging und sich in Kopfhohe an einem Seil aus Urwaldkriechern hielt, begann die seltsame Briicke immer mehr und mehr zu schaukeln, bis man das Geftihl hatte, herunterfallen zu miissen. Alexander klammerte sich sehr fest an die hoch- gespannten Lianen und schob sich vorsichtig weiter, bis unweit des anderen Ufers die Schwingungen wieder nadi- lieBen und er mit einem Seufzer der Erleichterung ab- springen konnte. Habun bestand nur aus einigen strohgedeckten niederen Hiitten und einem japanischen Holzhauschen, in dem ein Ehepaar wohnte, das es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den Wilden Gutes zu tun. Die beiden alternden Leute lebten schon seit Jahren in diesem Engtal und hatten sich einige Halbwilde zu Freunden gemacht, die hier in den winzigen Hiitten wohnten und sich von dem Ehepaar be- gehrenswerte Dinge wie Salz, Zucker, Kerzen, Nadeln und ahnliches fiir sich und ihre Stammesgenossen schenken lieBen und sie dafiir vor einem feindlichen Dberfall be- wahrten. Zuzeiten stiegen sogar krankeTayalen bis hierher herab und suchten sich Rat und Hilfe, doch bis nach Kapan- san gingen nur die Beherztesten und selbst von jenen nur die, die Waren tauschen wollten. Alexander begriiBte das Ehepaar, das sich mit dem Schutzmann in ein langeres Gesprach einlieB, Waren ent- gegennahm und auch wieder mitgab, und diese gunstige Gelegenheit beniitzte der Knabe, um sich die wenigen Bauten anzusehen. Die diisteren baufalligen Hiitten waren indessen schnell in Augenschein genommen, ebenso das winzige Reisfeld hinter dem Japanerhauschen, der Garten mit Tropenfriichten, der FluB, der sich in scharfen Kurven hinter dem rasch ansteigenden Berg verlor, und deshalb 27 wanderte Alexander unwillkurlich am FluBrand den ein- ladenden Hohen zu. So schnell wiirde der Schutzmann, wie er wuBte, nicht den Heimweg antreten und vor Mittag verlieB auch die StoBkarre noch nicht Kapansan. Hierher aber, das fiihlte er, wiirde er wohl nie wieder zuriick- kehren... Der dichte Wald nahm ihn auf. Waren das prachtvolle alte Kampferbaume, von deren glanzendem Laubwerk feiner Duft aufstieg! Wie schlank waren die Stamme der wertvollen Tsuso, wie undurchdringlich dicht das Dornen- geranke im Waldesinnern! Wie groBartig wirkten die schroffen Berge, je hoher man kam und je weiter der Ausblidc wurde! Etwas WeiBliches zeigte sich unter niederem Strauch- werk, schlich einem braunen Haufen zu — was war es? Vorsichtig kroch der Knabe naher. Das braune, Zucker- hutformige war . . . war . . . ein Ameisenhaufen und das Tier, dessen lange Zunge vorschoB und in den Haufen stieB . . ., war . . . ein Schuppentier. Der langgestreckte Korper war ganz mit Schuppen bedeckt, der Kopf spitz zulaufend, der Schwanz ebenfalls spitz und schuppig, und nur die Auglein funkelten lebhaft aus diesem erstaunlichen Schuppenpanzer. Das muBte er naher untersuchen. Das Schuppentier aber, das die weichen Ameisen gerne untersuchte, wollte von solchem Tun vonseiten eines Zwei- beinigen nichts wissen. Viel schneller als Alexander ver- mutet hatte, lief das Tier dahin, erst am FluB entlang, doch spater im Busch verschwindend. Ohne sich zu besinnen, eilte der Knabe nach, verfing sich im Klettergeranke, schob sich auf alien Vieren unter dornigen Strauchern durch, ent- ging wie durch ein Wunder der Umschlingung einer Gift- schlange, die von einem Aste baumelte und die er in ihrem Morgensonnenbad gestort hatte, und hielt endlich atem- holend auf einem freien Hang inne. Das Bild hatte sich vollig verandert. Der FluB, die Niederlassung, ja sogar der Berg von Kapansan war verschwunden und vor sich sah er neue, aufragende, mit seltsamen Spitzen verschonte Berge, mehrere Hochtaler und Flachen, die scheinbar be- baut waren. Hohes Suzukigras bildete eine Mauer gegen den nahen Wald hin und aus einer Baumkrone sprang in weitem Bogen ein fliegendes Eichhornchen mit ausgespann- tem Flugfell. Das wollte er sich aus der Nahe ansehen . . . 28 Wieder lief er, Ort und Zeit vergessend, fiber die unebene Wiese, die in Wirklichkeit ein aufgelassenes, weil aus- geniitztes Feld war. Sein FuB versank in jahe Vertiefungen, und als er endlich die Stelle erreichte, an dem das niedliche Tierchen gelandet haben muBte, war es natiirlich langst verschwunden. Etwas anderes aber wurde horbar, wenn es auch unsichtbar blieb. Ein leises Rascheln im nahen Strauchwerk, und das Suzukigras jenseits des schmalen Pfades, den er jetzt erst bemerkte, schwankte wie im Wind, obschon es vollkommen ruhig war. Alexander blieb stehen, spahte angestrengt in das Dunkel des Dickichts und spiirte, wie sein Herz laut zu pochen begann. Umkehren? Mit dem unsichtbaren Feinde im Rfik- ken? Vorwartsgehen? In das Feindesland hinein? Um Hilfe rufen? Wer sollte seinen Notschrei vernehmen^ Aber auch ein Stehenbleiben barg zu viele Gefahren in sich. Er wiirde sich in das Suzukigras fliichten und versuchen, durch den daranschlieBenden unteren Teil des Waldes allmahlich eine Schleife zu bilden und dem FluB entlang nach Habun zu- rfickzueilen. Mit einem Satz verschwand er im hohen Gras und lief schneller als er je zuvor gelaufen war, aber er fiihlte, daB die Wedel, die sich bewegten, immer die Stelle verrieten, an der er war. Das Rascheln hinter ihm wurde merklich starker und zu seinem Schrecken sprang von der entgegengesetzten Rich- tung ebenfalls etwas . . . jemand . . . auf ihn zu. Im nachsten Augenblick vernahm er ein scharfes surrendes Gerausch und spiirte gleichzeitig, wie zwei Hande ihn heftig zu Boden rissen. „Ein Kopfjager!" dachte er und empfahl seine Seele Gott. Er war mit dem Gesicht nach unten gefallen, nun ver- suchte er sich halb aufzurichten und seinem Gegner in das Gesicht zu schauen. Sein Blick traf eine nackte Gestalt, die einen Bogen in der Hand hielt und diister auf ihn nieder- starrte. Vom Giirtel hing eine strohumwickelte Scheide, in der ein langes Messer stak, das der Wilde nun langsam hervorzog und zu Alexanders erneutem Schrecken jeman- dem reichte, der anscheinend hinter ihm stand. Als er rasdi den Kopf umdrehte, erblickte er ein Knabengesicht, in das langsam ein Lacheln stieg. Sein Bekannter mit dem Flugzeug! 29 Der Tayalenknabe reichte dem Manne mit dem Bogen das Messer zuriick und schien eine Erklarung zu geben. Alexander wurde allmahlich der Zusammenhang klar. Der Mann hatte ihm aufgelauert und ihm den Pfeil nach- geschickt und der Knabe hatte ihn erkannt und ihn nieder- gerissen, um ihn zu retten. Nun gab er dem Manne, dem er „Yaba: Vater!" zugerufen hatte, das Messer zuriick, um anzudeuten, daB auch er nicht den Kopf des Fremden nehmen wolle. Ein langeres Wortgefecht entspann sich. Der Knabe schien etwas zu wiinschen, das der Mann nicht zu gewahren ge- neigt war. Nach einer geraumen Weile gab der Bogen- tragende ein Zeichen und entfernte sich, obschon er die beiden Knaben immer noch im Auge behielt. Da neigte sich derTayale zumWeifien nieder, zog ihn hoch und versuchte, ihm mit Hilfe von Zeichen, japanischen Brocken und aller- lei Lauten begreiflich zu machen, daB sein Vater — der groBe, groBe Hauptling (hier rollte er die Augen!) — wohl auf seinen Kopf verzichte, weil er, Tainu, ihn sich als Gabe erbeten habe, daB er aber die Bedingung stelle, der weiBe Knabe solle mit ihnen in das feme Dorf ziehen und da leben. Ob fur immer oder nur fur eine Zeit, konnte Alexan¬ der nicht erfahren. Der Tayale deutete mit dem Zeigefinger auf sein Herz und sagte: „Tainu!" Das entsprach einer Vorstellung. Dann fragten seine Augen den Fremden. „Alexander!" erwiderte dieser und lachelte. .A ... x ... x .. . dere?" begann der Tayale, lieB sich das Wort wiederholen, lachte laut und herzlich auf, schiit- telte den Kopf und sagte dann: „Ale!" Das muBte genugen. Stumm deutete er zu den schroffen Hohen des aller- letzten Bergriickens hinauf, dann schlug er einen kaum sichtbaren schmalen Pfad durch das Dickicht ein. IX. KUMMERWOLKEN E s dammerte schon, als Frau Baumann in Toyen den Zug verlieB und sich seufzend auf die StoBkarre setzte, die der alte Diener ohne groBe Hast ins Rollen brachte. Unweit 30 des Landgutes sah sie eine kleine Gestalt stehen, die in direr Haltung etwas Bedriicktes hatte. ,,Bist du es, Martina?" fragte sie. „Wo ist dein Bruder?" Martina zogerte. Sie hatte Alexander so gerne eine Riige erspart, aber nun war nichts zu machen, daher berichtete sie von des Knaben Fahrt nach Kapansan, und schloB mit den Worten: „Er muB jeden Augenblick zuriickkehren, die StoBkarre hat sich nur verspatet. Ich war schon zweimal unten bei Toyomoto sans Vater." Wie erwartet, war Frau Baumann sehrbose, um so boser, als sie selbst nie Kinder gehabt hatte und deren Unarten gar nicht verstehen konnte. Sie tadelte Martina, ihn nicht zuriickgehalten zu haben und drohte mit allerlei Strafen; die schlimmste in den Augen des kleinen Madchens war die, nie wieder nach Taikei kommen zu diirfen. Um 6 Uhr war es tiefe Nacht. „Darf ich noch einmal nach Taikei laufen?" fragte Martina, die ganz still in einer Ecke gesessen und sich nicht geriihrt hatte. Frau Baumann nickte kurz und ungnadig. Wahr- scheinlich wagte sich der ungehorsame Bengel gar nicht heim. Erst nach geraumer Weile kam das Kind zuriick. Es war sehr blaB und sagte tonlos: „Die StoBkarre ist nicht zuriickgekehrt. Das soli noch nie * geschehen sein; doch ist der Kaufmann der Ansicht, es wiirden Geschafte sie zuriickgehalten haben. Morgen friih werden sie hier sein, denn in der Nacht ware eine solche Fahrt mit zu groBen Gefahren verbunden." Schweigend nahmen sie das Abendbrot ein. Nach leisem GutenachtgruB schlich Martina auf ihr Zimmerchen und weinte sich in den Schlaf. Als Frau Baumann am nachsten Morgen auf die sonnen- iiberflutete Veranda trat, sah sie vom Ort her schon Martina laufen, und begriff plotzlich, wie hart sie gegen dieses, im Augenblick vater- und mutterlose Kind gewesen war, das selbst ja keine Schuld hatte und das ebenso sehr besorgt wie sie selbst schien. „Bringst du Nachricht?" rief sie der Kleinen entgegen. „Der Kaufmann ist vor einer halben Stunde auf einer StoBkarre nach Kapansan gefahren. Spatestens zu Mittag wird er wieder hier sein, denn er hofft, die Heimkehrenden unterwegs anzutreffen." Indessen wurde es Mittag und Nachmittag und weder der Kaufmann noch sonst jemand aus dem Kopfjagergebiet 31 kehrte zuriick. Frau Baumann begann ernste Befiirchtungen zu hegen, wollte jedoch ihren Gatten nicht beunruhigen und zogerte, ihm eine Depesche zu schicken. Martina ging bleich wie ein Schatten umher und hielt es nirgends aus. Es dunkelte schon, da vernahmen die Harrenden Stim- mengewirr. Der Dorfschutzmann, der Kaufmann und seine beiden Sohne, der Lehrer aus Kapansan und der junge Schutzmann, mit dem Alexander nach Habun hinabge- stiegen war, traten ein und zogernde Erklarungen wurden gegeben. Der Knabe war in Habun verschwunden und niemand hatte seither von ihm etwas gesehen oder ge- hort. Die freundlichen Nachbarn des Ehepaares hatten ihre Kinder hoch in die Berge geschickt, doch war es ihnen unmoglich gewesen, die geringste Spur zu finden oder irgend eine Auskunft zu erhalten. Ein einziger, wenn auch sehr schwacher Hoffnungsstrahl hatte sich gezeigt: wenn niemand etwas vom Knaben gehort hatte, so hatte auch niemand den leblosen Rumpf gefunden. Vielleicht hatte der Knabe sich verirrt und tauchte irgendwo wieder auf. Oder er war — was kaum glaublich schien — in ein femes Dorf entfiihrt. Da neigle sich der Kaufmann tiber Martina, die vom Stuhl gesunken war und die Besinnung verloren hatte. „Pflegen Sie dieses Kind, Baumann sana", sagte er, „da- * mit der Vater, wenn er aus China zurlickkehrt, wenigstens eine Bliite am Zweig seines Lebensbaumes findet." Da konnte die gepriifte Frau endlich weinen und liebe- voll nahm sie sich des kleinen Madchens an. Am folgenden Tag kam Herr Baumann, fand Martina fiebernd, seine Frau verzweifelt und den Kaufmann sehr betriibt an, denn dieser hatte keine Ahnung gehabt, daB Alexander ohne Erlaubnis losgefahren war. Sie fuhren beide nach Kapansan, stiegen nach Habun. hinab, verspra- chen hohe Belohnungen und suchten eine Woche lang nach Spuren, aber weder die das Gebiet durchstreifenden Schutz- ieute noch die Schulkinder, die in ihre Dorfer zuriickgekehrt waren, urn Nachforschungen anzustellen, wuBten etwas zu melden. Alexander war und blieb verschwunden. * 32 X. ERSTAUNLICHES WANDERN D as war ein seltsames Wandern, das nun fur Alexander begann. Der Pfad war so schmal, daB er einen FuB ge- nau vor den anderen setzen muBte, urn an steil abfallenden Stellen nicht auszugleiten. Manchmal krochen sie auf alien Vieren fiber gestiirzte Urwaldbaume, dann schwangen sie sich nur mit Hilfe von Lianen iiber tosende GieBbache oder erkletterten einen Baum, um von der machtigen Krone aus andere Kronen zu erreichen, oder sie wateten knietief durch breite Fliisse, um fiber scharfkantiges Gestein steil anzu- steigen. Manchmal sahen sie ein fremdes Tier — den wei- Ben Formosaaffen, den ganz schwarzen, nur auf Formosa auffindbaren Mikadofasan, irgend eine bunte Giftschlange oder vogelgroBe Falter; manchmal trafen sie auch schon Leute auf den kleinen Hirsefeldern, meist Frauen, die einen Tatowierungsstrich vom Mundwinkel bis zum Ohr trugen und die Alexander gar nicht so erstaunt anschauten, wie er es erwartet hatte. Tainu kletterte miihelos fiber hohe Baumwurzeln und auf Urwaldbaume, Alexander jedoch fiirchtete sich vor den so oft auftauchenden Schlangen, denn er hatte die Abneigung seiner Rasse gegen diese unangenehmen Kriechtiere, wah- rend der -Hauptling sie entweder mit einem PfeilschuB to- tete oder ihnen, wenn sie nahe genug waren, mit dem Mes¬ ser den Leib durchhieb. Die beiden Teile der Schlange be- wegten sich hierauf unabhangig voneinander, ein fiir den weiBen Knaben schauriger, weil ungewohnter Anblick. Auch giftige Spinnen, mit langen haarigen Beinen fielen aus ihrem plotzlich zerstorten Gewebe und wurden von Tainu geschickt gefangen und zerdriickt. Die Sonne war schon im Sinken und imrner noch setzten die drei ihre beschwerliche Wanderung fort, denn oft muB- ten die hindernden Dornranken einzeln mit dem langen •Messer durchschnitten werden, ehe man weitergehen konnte, und selbst wenn der Pfad fiber einen freieren Hang ffihrte, zeigten sich im Boden so viele Wurzeln von abge- hauenen Urwaldbaumen, daB es Mfihe kostete, fiber das Wurzelwerk hinwegzuklettern. Da Tainu sich mit der Ge- wandtheit eines Affen fiber alle Hindernisse hinweg- kampfte, wollte Alexander sich von einem Wilden nicht 33 bes.chamen lassen und iiberwand daher so gut als moglich die Schwierigkeiten des Weges und auch die zunehmende Miidigkeit. GroB und voll stieg der Mond herauf. Sie hatten die Spitze des ersten, wirklich hohen Berges erreicht und ge- 34 nosseh nun einen wunderbaren Fernblick. Gegen Norden zeigte'sich ihnen das weite Meer, gegen Westen, tief unter ihnen, Bergkette an Bergkette, Hiigelland hinter Hiigelland und Alexander erkannte, daB der Punkt, auf dem er sidi nun befand, gerade die Spitze war, die er amVorabend so sehnsuchtsvoll betrachtet hatte. Nun blickte er mit weit groBerer Sehnsucht nach dem Fleckchen Erde, auf dem Lich- ter auffunkelten und das Kapansan sein muBte ... Der Hauptling gab ein Zeichen und wieder nahmen sie die Wanderung auf, doch diesmal stiegen sie den Berg ein ziemliches Stuck: nieder, begannen den Aufstieg eines zwei- ten Berges und erspahten plotzlich Lichter. Ein merkwiir- diger Laut wie der Schrei eines Nachtvogels durchschnitt die Luft und wurde erwidert, hierauf naherten sie sich dem Feuerschein und standen bald inmitten eines unregelmaBi- gen, von Baumen ganz beschatteten Dorfes. Der Hauptling trat aus dem Kreis um das Feuer heraus und begriiBte die spaten Gaste. Sein Blick ruhte scharf priifend auf dem weiBen Knaben, liber den Tainu Auskunft gab. Ein Zeichen und sie durften sich am Feuer niederlassen. Alexander sank todmiide auf den Erdboden, schaute indes- sen ungeachtet seiner schmerzenden Glieder voll Neugierde auf das merkwiirdige Bild. Die meisten Manner trugen lange und reichverzierte Stabe in den durchbohrten Ohr- lappchen und hatten um den Hals viel Muschelschmudt. Die meisten hatten ein Stuck Hanftuch seitlich umgeworfen, doch Knaben unter sechzehn Jahren waren nackt. Sie naherten sich dem Europaer und befiihlten der Reihe nach sein Haar, seine Haut und seine Gewandung, und als er lachelte und sie eine Goldplombe in einem Backenzahn er¬ spahten, wuchs er machtig in ihrer Achtung. Er verstand nichts von ihren Reden, obschon Tainu sich bemiihte, eine sprachliche Verbindung herzustellen, aber sie zeigten ihm ihre Waffen, ihren Schmuck und ihre Gerate und freuten sich, wenn er vor Verwunderung die Augen rollte Oder zu ihrer Belustigung die kostlichsten Grimassen schnitt, und noch ehe man sich endlich niederlegte, fiihlte er, daB man Tainu ungeheuer um diesen seinen „Schatz“ beneidete. Ein Hauptlingssohn hatte einmal einen jungen weiBen Affen gefangen und ihn gezahmt, aber einen echten „WeiBgesich- tigen" hatten die meisten noch nie gesehen, um wieviel weniger ein Besitzrecht auf solch ein Wunder gehabt. 35 Ungeachtet seines hohen Wertes war Alexander in sei- nem Herzen tiefungliicklich, denn er wuBte, wie sehr sich Martina kranken wiirde und er hatte wenig Hoffnung, aus ' seiner Gefangenschaft entweichen zu konnen. Abgesehen von seinen seelischen Leiden waren auch die korperlichen gar nicht unerheblich, denn seine Beine schmerzten und seine Nase wurde durch einen schier unertraglichen Ge- stank beleidigt, der aus der Erde unter ihm hervorzuquillen schien. Die Hiitte, in der sie lagen, war klein und luftlos und von Zeit zu Zeit kroch etwas iiber den Knaben hin — irgend ein langbeiniges Insekt, vor dem ihm ekelte. Zum Gluck wuBte er nicht, daB der Gestank von einer Leiche herriihrte, die unter ihm in der Erde lag, denn die Tayalen pflegen ihre Toten in den vier Ecken der Hiitte zu begraben und diese erst zu verlassen, wenn alle Ecken ihren Toten haben . . . Beim ersten Morgengrauen wurde Alexander aufgeriit- telt und mufite weiter wandern, und scheu bewundernd sahen ihm die halbwiichsigen Jungen nach, doch war er weit entfernt davon, sich iiber diese Auszeichnung zu freuen, denn es war ihm nicht entgangen, daB der fremde Haupt- ling mit Tainu um den Kopf des weiBen Knaben verhandell und sehr schone Messer und viel Schmuck dafiir geboten hatte. Wiirde er immer nur ein Wertgegenstand bleiben, den man verauBern konnte? Da entschloB er sich, rasch die Sprache der Tayalen zu erlernen, um diesen Freund auch wirklich zu seinem Freunde zu machen. Da er schnell auf- faBte und sich nun auch sehr groBe Miihe gab, war er bald imstande, mit seinen Weggefahrten ein bescheidenes Ge- sprach zu fiihren und sogar der Hauptling, der sich bisher ablehnend verhalten hatte, muBte sich iiber den Lerneifer des „wandernden Kopfes", wie er den weiBen Knaben ge- tauft hatte, wundern. Er nannte ihm die Namen verschie- dener Pflanzen und Krauter und zeigte ihm ihren Zweck und Wert. „Vielleicht werde ich noch ein sehr weiser Wilder!" dachte Alexander und muBte iiber sich selber lachen, um nicht vor diesen Menschen einer fremden Rasse weichlich zu weinen . . . * 36 XI. IM KOPFJAGERDORF W ie eine silberne Wolke nahte die frfihe Dammerung, da stiegen die drei Wanderer wieder einen steilen Berg hinauf und als sie den Gipfel erreichten, stieB Alexander unwillkfirlich einen Schrei des Entzfickens aus, denn von hier aus iibersah man einen GroBteil der herrlichen Insel und auch des Meeres, das wie ein schimmernder Riesenopal tief , tief unten lag; fern im Westen sank die Sonne eben als blutroter Ball... „Hier ist es schon!" sagte der weiBe Knabe, doch der braune verstand ihn und nickte. Ernst begann er zu singen, eher als zu sprechen; — „Mitawange . . . mitakusha, malahanwange . . . malahan- kusha ..." Es klang wie ein Gebet. Viel spater erst begriff Alexan¬ der den Sinn dieser Worte: „Schau die Sonne (den Himmel) an und seinen Segen auf Wasser und Erde!" So oft die Tayalen aufscbauen, sehen sie liber sich den tiefblauen Himmel find wenn sie herabschauen, immer Wasser, nicht nur Wald, deshalb ist Wasser und Erde ffir sie gleichbe- deutend. Ohne Wasser und Erde kein Leben und ohne Sonne — Oder Himmel — kein Segen . . . Schweigend kletterten sie jenseits des Gipfels nieder und folgten einem Kammweg. Wieder glomm in einiger Ent- fernung Licht auf und diesmal begann Tainu zu laufen. Zo- gernd blieb Alexander zurfick und schritt anseiten des Hauptlings weiter, dessen Blicke er prfifend auf sich ruhen ffihlte. Plotzlich streckte der altere Mann die Hand aus und ergriff den Knaben am Arm. Alexander war tief erschrok- ken, bemfihte sich indessen, nichts von seiner Furcht zu ver- raten, weil er einmal irgendwo gelesen hatte, man solle Wilden gegentiber nie feige erscheinen. Ohne zusammen- zuzucken blickte er dem Hauptling fest in die Augen. Da lieB dieser den Arm los und ein Lacheln huschte fiber seine Zfige. „Gut!" sagte er in seiner Sprache und noch einmal „gutt" und der weiBe Knabe ffihlte, daB er eine schwere Probe gut bestanden hatte. Die groBte Hfitte des Dorfes war die des Hauptlings. Tainu kam seinem Freunde entgegengesprungen und ffihrte ihn in den feuererhellten Raum. 37 Auf einem Stein vor dem schwingenden Kessel saB eine magere, stark tatowierte Frau mit Augen wie die eines Nachtvogels. Sie musterte den fremden Jungen vom Schei- tes bis zu den Schuhen. „Yaya!" erklarte Tainu und sah vergniigt aus. Das war seine Mutter. „Eh?" brummte der Hauptling und sank auf einen ande- ren Stein dicht am Feuer. Das war eine Aufforderung an seine Gattin, den Fremden zu begutachten, denn er gab viel auf ihr Urteil. „Mala!“ sagte sie, was ,Sdiutz' bedeutete. Der Fremde war des Schutzes wiirdig. So wurde „Ale", wie er von nun ab allgemein genannt wurde, aufgenommen. Am nachsten Morgen fiihrte ihn sein Freund vor das Dorf, nahm einen Stein, zeigte ihn Ale und begrub ihn dann tief in der Erde. „Viele, viele, viele Sonnen kommen, Monde gehen, Kinder kommen, Greise gehen, unsere Freundschaft (Ich • — und — du — Freund, wie er es nannte) immer, immer gleich." » Da wuBte Alexander, daB ihm ein Treuschwur geleistet worden war und er nicht mehr um sein Leben zu fiirchten brauchte. Spater, als sie beim MorgenimbiB in der Hiitte waren, goB erst der Hauptling, dann dessen Frau etwas Hirsebier in ein merkwiirdiges GefaB, das an einem Stuck Holz zwei viereckige Napfe hatte. Aus diesem GefaB muB- ten beide Kinder gleichzeitig trinken. Das war ihr Bruder- kuB. Da tat das Kind des Westens etwas, das ihm auf alle Zei- ten das Mutterherz der Tayalenfrau eroberte. Er kniete vor ihr nieder und legte sein Haupt auf das Knie der Sit- zenden, die ihn erst erstaunt ansah, doch dann ganz leise und vorsichtig fiber sein weiches Haar fuhr. „Sohn!" sagte sie und wurde von da ab jeden zerrissen haben, der ihm ein Leid getan hatte. Am folgenden Morgen waren seine Kleider verschwun- den und er dachte, daB Tainu sie vielleicht genommen hatte, um auch einmal wie ein Kind des Westens gekleidet zu sein, doch irrte er sich: der Hauptling, den er, genau wie Tainu, nun Yaba, das heiBt Vater nannte, brachte ihm ein hanfenes Lendentuch, etwas, das eine kurze Hose sein wollte und ein gestreiftes Hanftuch, das einen Arm freilieB 38 und den anderen ganz verdeckte, und gleichzeitig Rock, Mantel und — wenn es regnete — Schirm war. Schuhe und Striimpfe waren verschwunden und es wurde ihm lachend bedeutet, barfuB zu gehen und seine groBe Zehe zu iiben, allerlei Dinge damit zu greifen. Nur das Haar war noch nidit lange genug, um in der Mitte geteilt und zu Zopfen geflochten zu werden. Es ging sich nicht leicht ohne schiitzende Schuhe, aber nachdem die Erde im Dorf ziemlich glatt war, gewohnten sich die FuBsohlen allmahlich an zunehmende Harte und an alle Unebenheiten und nach vierzehn Tagen hatte er, wie er sich eingestand, die „Haut eines Biiffels" und lief darauf wie Tainu auf seinen ebenso festen FuBsohlen. Wohl iiberkam ihn manchmal in der Mitte der Nacht qualvolles Heimweh, doch die Notwendigkeit einerseits, sich nie schwach zu zeigen und die Unzahl der machtigen neuen Eindriicke halfen ihm, diesen Schmerz wenigstens teilweise zu uberwinden. Das war kein Wunder, denn jeder Atemzug brachte Neues. Man saB zum Beispiel im Dammern vor der Hiitte, aus der schon der Duft gebratener Wurzeln und Krauter drang. Da fiel auf den Erdboden ein groBer flatternder Schatten und es folgte ein scharfer saugender Ton. Im Ma- laienapfelbaum krachte und knisterte es und, als Tainu Pfeil und Bogen brachte und ins Dunkel schoB, fiel eine Riesenfledermaus herunter. Es war ein fliegender Hund, der auf Obstdiebstahl aus war. Schnell wurde ihm das schone braune Fell abgezogen und der kleine Korper in heiBer Asche gebraten. Die riesigen Schwingen beniitzten die Knaben, um sich eine Art Flugzeug daraus zu machen. Wenn im Dorfe nichts los war, nahm die Hauptlingsfrau die beiden Sohne — wie sie sie nannte — noch tiefer in die Berge hinein, bis sie eine Stelle fanden, auf der keine Urwaldriesen standen, sondern nur wenig wertvolles Ge- holz zu sehen war. Viel wurde umgehauen, dann ziindete man das trockengewordene Strauchwerk an und lieB es abbrennen. Wenn dies geschehen war, wurde der Erdboden muhsam mit einer Art Hacke umgegraben, doch war dies Frauenarbeit, bei der die Knaben nie mitzutun brauchten. War ein Stuck Wald so weit urbar gemacht, so waren sie frei und begleiteten den Hauptling und die iibrigen Manner auf die Jagd. Ale hatte langst einen Bogen erhalten, muBte sich immer neue Pfeile schnitzen und schoB bald mit groBer 39 Geschicklichkeit. Das Fleisch der Vogel, die sie heimbrach- ten, brieten sie, doch aus den Federn machten sie sich allerlei Kopf- und Schulterschmuck zurecht und legten auch mandie hiibsdie Arbeit beiseite, urn Geschenke zu haben, wenn die groBe Wanderschaft begann. Der Vatervater des Haupt- lings hatte eine Frau vom Amistamm zur Frau gehabt und dadurch bestanden noch immer Beziehungen zur Sippe liber den Klippen. „Wir wollen das WeiBgesicht vorfiihren", erklarte der Hauptling, der auf diesen seinen zweiten Sohn nicht wenig stolz war, und Tainu tanzte einen wilden Freudentanz. „Ich liebe es, wenn die Erde unter meinen FiiBen weg- lauft", sagte er, damit seine Wanderlust andeutend. So trafen sie ihre Vorbereitungen zur langen Wander¬ schaft. XII. BEI DEN KLIPPENBEWOHNERN D er Wilde hat es in einer Beziehung besser als der WeiBe: er ist nie mit Gepack beschwert. Was er am Leibe tragt, hochstens noch ein Messer, das in einer Stroh- scheide vom Giirtel hangt, Pfeil und Bogen und etwas mehr Schmuck um den Hals als daheim iiblich ist — Schmuck, der unterwegs verschenkt oder umgetauscht werden kann — ist des Wilden Reisegepack. Wandert er durch Freundes- land, so findet er iiberall Nachtlager und Speise, und zieht er durch Feindesland, so schlaft er in Baumkronen oder in einem Felsloch, nahrt sich von Wurzeln und wilden Friidi- ten und trocknet das naBgewordene Gewand an den war- men Strahlen der Sonne oder an einem Herdfeuer, das er selbst entztindet. So ging es auch den dreien, die Bergkamm auf Bergkamm kreuzten. Wenn sie Feuer haben wollten, rieben sie ein hartes und ein weiches Holz, bis Funken flogen und trockenes Gras in Brand setzten. Wenn sie Hun¬ ger verspiirten, schossen sie einen fliegenden Hund oder einen Vogel und brieten ihn; wenn sie sich in der Nahe eines feindlichen Stammes wufiten, beniitzten sie die Voll- mondnachte zu lautlosem Weiterschleichen und bauten sich fur den Tag aus breitblattrigen Zweigen eine Art Hiitte, in der sie, alien Blicken entzogen, in Ruhe schlafen 40 konnten. Kamen sie dagegen zu freundlichen Stammen, so wurden sie reich bewirtet und „Ale" mufite da seine schon- sten Kiinste zeigen. Daheim hatte er mit Martina oft alle moglichen Tanze getanzt und dazu gesungen und wenn er sich nun im Feuerschein vor den federngeschmiickten Wil- den drehte, glaubte er sich selbst in einen Traum versetzt, aus dem er einmal zu erwachen hoffte. Nach vielen Tagen erreichten sie das Gebiet der Bunun und waren sehr vorsichtig, an welchen Stammen sie vor- beikamen. Einige waren in fruherer Zeit Menschenfresser gewesen und in ihren aus Schieferplatten gebauten Haus- wanden sah man oft als Verzierung eine ganze Reihe von Menschenschadeln. Die den Winden ausgesetzten Dacher waren ebenfalls mit schweren Schieferplatten gedeckt und pit noch mit Steinen beschwert, und anstelle von dichten Waldern gab es oft ode, mit dornigen Strauchern bewach- sene Hange. Die Kleider der Wilden aber waren schoner und reicher, und die Frauen trugen auf einer Art Miitze sehr viele Goldmiinzen chinesischer Fferkunft, Familien- erbstiicke, iiber deren Ursprung es besser war, nicht Nach- forschungen anzustellen. Die Hauptlinge trugen eine eigen- artige Haube, die unter dem Kinn gebunden wurde, doch riickwarts vom Kopfe wie ein Schwanz abstand, von dem kurze Schniire hingen. Um den Hals hatten sie ein Band aus vielen Inselsamenarten und Muscheln und das weitarme- lige Kleid war reich gestickt. Diese Gewander erhielten sie von den angesiedelten Chinesen in der Ebene, denen sie viel Kampfer, allerlei seltene Federn und das wertvolle Tsuo brachten. „Es ist gut, daB Du wie eine Schlange nach dem Hauten aussiehst", fliisterte Tainu ihm bei einem Festgelage zu, „denn mehr als einer, der im Tal vermiBt wird, hat seinen Begrabnisplatz im Magen dieser Leute." Alexander freute sich daher, als sie das Gebiet der Bu¬ nun wieder verlieBen, iiber eine bogenartige Bambus- briicke zum Nachbarstamm und endlich zu den befreun- deten Amis gelangten. Aus schwindelnder Hohe fielen die Klippen steil ab und vor dem entziickten Ange breitete sich der unbegrenzte Stille Ozean aus. „Wieviel habe ich in meinem Leben schon gesehen!" dachte Alexander und das Heimweh, das ihn nie ganz ver- lassen wollte, schlug machtig hoch in ihm. Ach, nie wurde 41 er die kiihlen Walder wiedersehen, nie mehr die Stimme der Seinen horen. „Bist du traurig?" fragte Tainu. „Weit, weit weg sind meine Berge", sagte der Knabe leise, „und da sitzt eine Mutter und wartet; da denkt ein Vater an seinen einzigen Sohn und ..." aber er sprach nicht weiter, denn als er an zwei Kinderaugen dachte, war es ihm, als miisse ihm das Herz brechen. Traumend schaute der junge Wilde in die Feme. „Jeder Vogel will heim ins eigene Nest fliegen ..." Dann schwiegen beide und folgten dem Hauptling in das Amidorf. Hier sahen die Hauser wie Kinder aus, denen das Haar ungekammt in die Stirne hangt. Hirsestroh hing oft unordentlich liber den Giebel nieder oder lag windzerzaust in Biischeln auf dem Dache. Ein Wagelchen mit zwei plum- pen Radern zeigte, daB dieser Stamm schon allerlei heim- zufiihren hatte und die groBen Mannerhiite, an denen rote wollene Quastenwie Glockchen baumelten, verrieten diine- sischen EinfluB. Auch der Webstuhl war ein besserer, ob- schon die Frau auch da mit ausgestreckten Beinen auf der Erde saB, wenn sie daran arbeitete. Die Knaben freundeten sich bald mit den Eingeborenen an, halfen dem Topfer Topfe drehen und sie bunt bemalen, schwangen die schweren HolzstoBel und lieBen sie auf die Hirse fallen, trugen Wasser aus dem Busch und schleppten die gereinigte Hirse in die pfahlbautenartigen Getreide- kammern hinter dem Dorfe. Eines Tages zogen zwei weiBe Jager vorbei und Alex horte, wie der eine ausrief: „Schaa, zwei kleine Wilde, zwei ungewaschene Schonheiten!" Sein Begleiter lachte nur und ging weiter. Da fiihlte Alexander, daB er scheinbar alles, sogar seine Rasse verloren hatte. Doch als er lange in tiefes Griibeln versunken dahin- gegangen war, dachte er plotzlich mit eigener Freude im Herzen: „Nur meinen Gott habe ich mir erhalten ..." Wer das hatte, konnte wohl nie ganz verlorengehen. Als sie an diesem Abend nach Stammessitte um die groBe Holzschiissel saBen und ihre Finger hineintauchten, sagte Tainus Vater: , „Meine Briider des Herzens (damit meinte er seine Freunde) fahren morgen nach der Insel Botel Tobago. Ich war noch nie auf dem Wasser, das still wie blaue Suppe daliegt. Wollt ihr mitfahren, ihr beiden?" 42 Ein Freudenschrei begriiBte die Mitteilung und machte jedes weitere Wort iiberflussig. Als es tagte, standen sie unten, im Schatten der hohen Klippen, und bestaunten das Boot, das seine breiten Segel dem Morgenwinde offnete. XIII. DIE LEBENSRETTUNG D er Hauptling land die ersten Stunden der Fahrt so an- genehm wie die beiden Knaben, die tiichtig mithelfen muBten. Audi als das Fischen mit Netz und mit Angel be- gann, zog er vergniigt mit an der langen Leine, doch als sie mehr und mehr in die offene See gerieten, verringerte sich seine Freude und verschwand endlich ganz. Der eine Schif- fer hatte immerzu die Farbe des fernen Horizonts betrachtet und alle Insassen des kleinen Fahrzeugs waren merkwiir- dig aufgeregt gewesen, obschon das Meer bleiern still lag und der Wind kaum die Segel blahte. „Vom Norden herab kommt etwas!" sagte der alteste Mann und verteilte die Ruder. „Es ist besser, wenn wir uns nicht nur auf den Wind verlassen." Sie ruderten mit gutem Willen, bis sich die Sonne dem Meere zuneigte und der Wind so kraftig wurde, daB die Segel geniigten. Da begannen sich die Wellen langsam zu krauseln, nicht als ob der zunehmende Wind sie aulwirbelte, sondern als ob das ganze Meer ins Kochen gekommen, denn von unten aufgewiihlt, brodelten sie drohend und schienen von alien Richtungen gleichzeitig auf das Boot zuzuzischen. Die Ami zogen die Segel ein, wobei Alexander eifrigst half, der Hauptling aber lag auf dem Boden des Fahrzeugs und riihrte sich nicht, denn er war noch nie auf dem Wasser gewesen und fiihlte sich sterbenskrank. „Wilde Tiere reiBen in meinem Innern an mir", stohnte er, und auch Tainu saB zusammengekauert da und glaubte, daB ihm die Fische in den Magen gesprungen waren. Da schoB der erste StoB des wirklichen Taifuns gegen das Schifflein, erfaBte es und trieb es in rasender Fahrt siid- warts, zum Gluck Botel Tobago zu, dessen Umrisse man in der wachsenden Dunkelheit nur unklar sehen konnte. StoB auf StoB, Welle auf Welle. 43 „Um diese Insel toben immer die furchtbarsten Sturme", kiagte der alte Amihauptling und bemuhte sich, hinter die schiitzenden Berge zu gelangen. Aucb da wiirden die Wel- len noch schroffen Bergspitzen gleichen, aber der Wind wiirde etwas von seiner Kraft eingebiiBt haben, sobald die weite Bucht erreicht war. Das Boot achzte in alien Fugen, der Vater Tainus muBte gehalten werden, um nicht — willenlos wie er nun war — einfach den Wellen zum Opfer zu fallen, die alles Lebende hinwegzuspiilen drohten. Als die schiitzenden Berge kurze Zeit Erleichterung brachten, erholte sich Tainu weit genug, um mit zwei Amileuten ans Land zu waten. Alexander be¬ muhte sich mit den beiden anderen Schiffern um den kran- ken Hauptling, der sich kaum aufrichten konnte und wah- rend sie vergeblich versuchten, ihn zum Aussteigen zu be- wegen (ihn schreckte das selbst hier unheimlich bewegte Meer), pfiff der Wind um die Ecke und brachte das Fahrzeug zum Kentern. Hoch tiirmten sich die Wellen, die Amileute schwammen, so schnell sie konnten, der nahen Kiiste zu, doch der weifie Knabe wollte den Vater seines Freundes nicht ertrinken lassen. Mit alien seinen Kraften bemuhte er sich, den scheinbar BewuBtlosen mit der einen Hand fest- zuhalten und mit ihm dem I.ande zuzuschwimmen, doch die immer steigenden Wogen einerseits, die Schwere des Kor- pers, den er mitziehen muBte, anderseits, verbunden mit der Finsternis, die jeden Ausblick nahm, verlor er immer 44 mehr die Hoffnung auf Rettung. Das Heulen des Sturmes, das Tosen der Brandung verschlang seine Hilferufe. , O Gott, hilf mir!" betete er. „GewiB habe ich in meiner Kindheit Schwimmen gelernt, um nun ein Menschenleben retten zu konnen!" Da zeigten sich Fackeln am Strande und lautes Geschrei gab ihm die Richtung an. Er watete nun bis zum Hals im Wasser, zog den Hauptling hinter sich her, wurde von einer Woge erfaBt und blitzschnell den am Ufer Harrenden zugetragen, die ihn und seine Biirde ergriffen und verhinderten, daB beide zuruckgeschwemmt wurden, als die Welle zuriickflog. Dann brachte man die Gaste in eine der niedrigen, hinter Steinwallen verborgenen Hiitten, wo sie nach wenigen Augenblicken in tiefen Schlaf fielen. Zwei Tage lang vermochten sie uberhaupt nicht aus der sturmgeschiittelten Hiitte zu treten, doch dann war der Sturm voriiber, die Sonne schien mit tropischer Kraft auf Berge und Strand, und die beiden Knaben tummelten sich froh in der neuen Umgebung. Tainus Vater sagte nichts, nur seine Augen leuchteten auf, als er seinen Pflegesohn erblickte. Mehr denn je war er entschlossen, ihn in seinen Stamm aufzunehmen und ihn mit den Jahren zum machtigen Hauptling der Tayalen zu machen. Die Yamijungen waren viel scheuer als die der librigen Wilden und es gelang Alexander schneller als Tainu, den Weg zu ihren furchtsamen Herzen zu finden. Als sie indes- sen zutraulich geworden waren, lehrten sie den fremden Knaben das Spielen auf der Nasenflote, was gar nicht so leicht war, wie es aussah. Zwei nicht zu dicke Bambusrohre wurden nebeneinander gehalten und abwechselnd durch das eine, dann durch das andere Nasenloch hindurchgebla- sen. Manche Floten waren sehr schon geschnitzt und hatten schon kleine Seitenlocher, doch andere gaben nur einen pfeifenden Laut von sich. Ein anderes Instrument glich einem diinnen Bogen mit winzigen Lochern und auch da- rauf lernte Alexander spielen. Mit dem Blick auf die zu- meist abgerundeten Berge, versuchte er einfache deutsche Volkslieder auf diesen mangelhaften Tonwerkzeugen zu spielen und wenn es ihm annahernd gelang, ging ihm ein Stich durchs Herz. Als Tainu dies bemerkte, nahm er ihm die Flote sanft aus der Hand und fiihrte ihn zu den mit Muschelschmuck behangenen Tanzmadchen, die uralte 45 Tanze zeigen muBten, Oder er brachte seinem Freunde herr- liche bunte Fische, wie nur die tropischen Gewasser sie haben, oder sie kletterten die Berge hinauf und suchten nach fremdem Samen, aber wo sie auch gingen und was Alexander auch sehen mochte, das Sehnen seines Herzens gait immer mehr der Heimat... XIV. MARTINAS BEMUHUNGEN D er Marz ging seinem Ende zu, die ersten wirklidi heiBen Tage lagen brutend iiber Formosa. Martina blieb sich immer gleich, sehr ernst und still, und die Rote bliihender Gesundheit kehrte nicht wieder zurtick. Da sagte Schwester Perpetua zu den beiden anderen Schwestern: „Ich wollte ihr noch einige Zeit der Erholung gonnen und ihren elften Geburtstag nicht triiben, nun aber muB ihr das mitgeteilt werden, was ihr nicht erspart bleiben kann." So erfuhr Martina von Schwester Helene, daB Nachricht aus der Heimat eingetroffen war und daB ihre Mutter nicht mehr auf Erden weilte. Ein Schwesterchen war gekommen und gegangen und nun weilten Mutter und Kind beim lieben Gott. . . „Ich mochte auch sterben", sagte Martina, als sich der groBte Schmerz schon ein wenig gelegt hatte. Sie stand vor dem Kirchlein und weinte. Schwester Dolores trat aus der Sakristei und sagte giitig: „Man wird erst heimgerufen, wenn die irdischen Pflichten erfullt sind. Wenn dein Vater heimkehrt, wird er niemand finden — als dich ! Du muBt in seinem kummerverdunkelten Leben das einzige Licht sein." „Und wenn er nie zuriickkommt? Er hat seit vielen Wochen nicht mehr geschrieben." „MuBt du auch iur ihn beten und ihm auf diese Weise Licht sein..." Da wagte Martina nicht mehr zu wiinschen, ebenfalls sterben zu diirfen, aber sie war so still, daB es Schwester Helene ins Herz schnitt. Sie nahm das Kind auf alle ihre Wege mit und zeigte ihm viel Elend und Kummer. Eines 46 Tages, als sie wieder von soldi einem Gange heimkehrten, sagte die Schwester: „Schau, Martina, manche Menschen laBt Gott viel leiden, damit sie das Leid anderer zu verstehen lernen, denn wie soli man helfen konnen, wenn man nicht selbst durch Schweres gegangen ist?" „Waren Sie auch ungliicklich, Schwester?" „Unser Haus brannte ab, als ich Kind war, Vater und Mutter verbrannten, mein alterer Bruder ging zur See und ertrank, die jiingere Schwester war unbeschiitzt und geriet auf Abwege. Da ging ich ins Kloster, um fur sie alle zu beten — fur die Toten und besonders fur die Lebende .. So verflossen Wochen und wurden zu Monden und diese Monde schlossen sich zum Jahr. In China tobten die Kampfe, der Yang-tse war unschiffbar, keine Nachrichten sickerten durch. Lebte Kaufmann Barch oder war er tot? Eines Tages, als sie Schwester Perpetua beim Geschirr- trocknen half, sagte Martina: „Bald bin ich zwolf Jahre alt. In vier Jahren konnte ich als Novize eintreten..." „Das wird sich alles zeigen, wenn die Zeit inne ist, doch bin ich fest iiberzeugt, daB wenigstens ein Mitglied deiijer Familie zuriickkehren wird, und da sollst du dich nicht ge- bunden fiihlen. Wer immer heimkehrt, wird deiner Liebe bediirfen ..." „So glauben Sie, daB ...?" begann eifrig das Kind. „Schwester Dolores hatte einen sonderbaren Traum. Sie sah didi auf einer Wiese stehen und die Arme ausbreiten. Da flog dir ein wilder Vogel zu, den du ans Herz drucktest und kiiBtest, und kaum hattest du's getan, so stand dein tot geglaubter Bruder vor dir ..." „Ach, wenn es wahr ware!" seufzte die Kleine. Von da ab dachte sie wieder starker daran, wie er wohl gerettet werden konnte und plotzlich bot sich ihr eine giinstige Gelegenheit, etwas fur den Verschollenen zu tun. Ein ganz junger und sehr begeisterter Missionar war eingetroffen, doch bat er, nicht bei der Taikohumission bleiben zu miis- sen, sondern um die Erlaubnis, in das Gebiet der Wilden einzudringen. Er wollte auch ganz langsam und vorsichtig vorgehen und voriaufig einige Wochen in Habun bleiben. Martina, die davon horte, schlich ihm in die Kirche nach. Als er sich nach langer Zeit erhob, um die Kirche zu ver- lassen, fuhlte er sich ieicht am Gewand gezupft und schon auf den Stufen begann Martina iiberstiirzt ihre Erzahlung. 47 Der junge Missionar horte sehr.gefesselt zu und als sie ihn bat, nichts zu unterlassen, um ihren Bruder aufzufinden, gab er ihr frohen Herzens das Versprechen. „Idi werde nicht eher zuriickkehren, als bis ich seine Spur gefunden habe. Vielleicht ist es mir gestattet, dir gute Nach- richten zu bringen — ich wiinsche es — aber selbst wenn ich Trauriges berichten muB, sollst du von mir horen." XV. DAS KOPFJAGERFEST D a Tainu und dessen Vater fur alle Zeiten genug vom „Wasser, das einer blauen Suppe glich", hatten, fuhren sie den allerkiirzesten Weg zur Hauptinsel zuriick und durchwanderten diesmal das ganze Gebiet der Paiwan, die im auBersten Siiden wohnen und schon hohere Lebens- anspriiche machen. Alexander erinnerte die Tracht der Paiwan, insbesondere dys Jacken und Rocke der Frauen, sehr an die siidchinesi- sche, nur das Kopftuch, das beinahe turbanahnlich gewun- den war, und aus dem manchmal eine Feder schaute, verriet urspriinglichen Geschmack. Halsschniire und Armbander wurden viel getragen und nur die ganz jungen Knaben lie- fen nackt oder mit einem Lendentuch herum, und brachten in riesigen Bambusrohren das Wasser von FluB oder Quell heim. Die Hauser waren aus ungleichen Steinen gebaut und iiberall, wo Raum vorhanden war, sah man einen Men- schenschadel. „Von lang, lang zuriick", wurde den Gasten erklart, aber Alexander dachte, dafi dieses Jang, lang" hochstens we- nige Jahrzehnte bedeuten konnte. Hier schliefen die beiden Jiinglinge nicht beim Haupt- ling, sondern im „Jiinglingsheim", das in jedem Dorf war und unter der Aufsicht eines Dorfaltesten stand. Abends, wenn sie alle gut gegessen und dann Betel gekaut hatten, wie das im Siiden Sitte ist, pflegte einer von ihnen etwas zu erzahlen und so begann Tainu in seiner Sprache, doch mit etwas Anpassung an die Art der anderen Stamme: „Als unsere Erde noch jung war, standen zwei Sonnen am Himmel, die abwechselnd ihr Licht auf Felder und Wasser warfen. Da war es so unertraglich heiB, daB nie- 48 mand es aushalten konnte, die Menschen starben, die Biiume die Blatter verloren, die Friichte verdorrten und die Bache austrockneten. Da sagte ein Tayalenhauptling: ,Ich will ausziehen und die Sonne bekriegen, denn wir sterben, so lange uns zwei Sonnen leuchten.' Er zog mit vielen starken jungen Mannern aus und wanderte iiber viele Berge und wurde allmahlich alt. Da schickte er einen der jiingsten Manner ins groBe Tayalendorf zuriick und bat um Hilfe. Ein ganz junger Hauptling folgte als einziger dem Ruf, doch trug er seinen kleinen Sohn auf dem Riicken und als dieser erwachsen war, nahm er seines Vaters Pfeil und Bogen und stieg immer hoher, bis er der Sonne nahe kam. Er zielte und der Knochen des fliegenden Hundes, der die Pfeilspitze bildete, traf die Sonne. Ihr Blut floB iiber den ganzen Himmel und viele Nachte und viele Tage war Fin- sternis. Der Mann aber, der die Sonne besiegt hatte, lag tot auf dem hochsten Gipfel, denn er war zum Greis ge- worden . . . Daheim jedoch wuBte man, daB er gesiegt hatte und das Blut der sterbenden Sonne iiber den Himmel floB. Nun leuchtete nur eine Sonne und alles erholte sich, wuchs und gedieh. Da tauchte eines Abends ein schwaches bleiches Ding auf und naherte sich. Es war die zweite Sonne. Wenn sie voll ist, sieht man die Spur vom Knochensplitter des Tayalenpfeiles und da nimmt sie wieder ab und wird klein. So waren wir Sieger von altersher und werden es immer sein." Viele, viele Geschichten erzahlten sie, Nacht auf Nacht, bis der Hauptling sich daran erinnerte, daB er irgendwo auf Erden Weib und Hiitte, Dorf und Feld hatte und wieder weiterzog, und wahrend sie wanderten, wurde es Alexan¬ der klar, daB schon zwei Jahre verstrichen waren, .seit er hinter Habun in den Urwald geschritten und dadurch ein Wilder geworden war. Der Tayalen-Hauptling merkte, daB Ale, sein zweiter Sohn, zum Manne heranreifte. „Wenn wir heimkehren, soil Tainu seinen Kopf bringen und dann du, denn friiher bist du nicht Mann und kannst nicht Mannerrechte fordern. Dann darfst du ein Weib zu dir nehmen und darfst mitsprechen im Rate der Manner." Alexander neigte stumm das Haupt und schwieg. Nie wiiide dieser aiteinde Mann, der in seiner Art so gut gegen ihn gewesen war, verstehen, daB es ihm unausdenkbar blieb, ein Menschenleben zu nehmen. Oft schon hatte er 49 sich bemiiht, Tainu begreiflich zu machen, wie unrecht es war, den Lebenslauf eines Mitwesens zu unterbrechen, aber der Wilde vermochte das nicht zu fassen. „Nur ein Feind!“ oder „Nur ein Unbekannter!" pflegte er zu erwidern oder er wies darauf hin, daB es Stammessitte war. „Ihr habt auch Krieg", behauptete er, wenn in die Enge getrieben, und dagegen war nichts zu sagen. Im ersten Dorfe, das sie im Tayalengebiet erreichten, herrschte groBe Aufregung. Der Sohn des Hauptlings hatte einen Kopf heimgebracht, einen schonen Chinesenkopf, und dieser sollte gefeiert werden. Der junge Mann, der da- durch zu neuer Wiirde gelangte, erhielt einen schonver- zierten Stab und durfte damit in jede Hiitte treten und sich eine Gabe wahlen. Alle seine Spielgefahrten beneideten ihn und alle jungen Manner begriiBten ihn als einen der ihren. „Die schonsten Jiinglinge sollen den Kopf bewachen", befahl der Hauptling und als er Tainu und Ale sah, be- stellte er auch diese zum Ehrendienst um die „Kopfbude". Auf einem mit Palmenstroh iiberdachten, reich geschmiick- ten Gestell thronte das Haupt des ungliicklichen Chinesen, das mit halb geschlossenen Augen eigentiimlich verzerrt herabzuschauen schien. Die Knaben saBen alle im Kreis um diese „Kopfhutte", warfen Blumen hinauf, schlugen die Haridflachen gegeneinander und sangen: „Kopf gewonnen aus fremdem Land / Kopf erhascht von unserer Hand / wir sitzen dich zu ehren hier / wir reichen dir Friichte und Hirsebier / sei willkommen in unserer Reih f ruf deine Freunde auch herbei!" XVI. BEIM ZAUBERER E s nahte schon die Zeit der Sommersonnenwende und selbst hoch oben im Bergwald war es heiB. Seit drei Wochen waren Tainu und sein Freund wieder daheim und Yaya bemiihte sich, die mageren Gesellen ein wenig auf- zufiittern. Etwas laufende Erde unter den FiiBen war gut, aber zu viel machte zu diirren Ast. Da rief der Hauptling sie eines Morgens, als alles noch schlief, und fiihrte sie liber zwei Hohenriicken. Alexander 50 schlug das Herz, denn zum erstenmal schlug der Hauptling wieder die Richtung ein, aus der sie vor mehr als zwei Jahren gekommen waren. Hinter dem zweiten Gipfel hiel- ten sie sich indessen mehr nach Sonnenuntergang zu und gelangten allmahlich in ein wildes, felsenreiches Zwischen- tal. Sprodes Gras schlug hart gegen die nackten Beine und domenbesates Schlinggewachs warf sich iiber Schiefer- geroll. Der Hauptling blieb vor einer Hohle stehen und hustete zweimal. Ein halbnackter Greis erschien in der diisteren Offnung. „Yaba-yaba, hier sind meine zwei Sohne! Sie sollen bei dir bleiben, bis ihnen alle Stammesbrauche bekannt und sie zur Jagd nach dem ersten Kopf bereit sind. Lasse sie bei dir erstarken und mogen sie sodann heimkehren und beweisen, daB sie Manner sind." Der Hauptling legte die iiblichen Gaben wie Messer, Salz, Tabak, ein Hauflein Bergreis und etwas Hirse als Bezah- lung vor dem Zauberer und Wildenarzt nieder, und nahm Abschied von den beiden Knaben, die erst zuriickkehren durften, wenn sie den ersten Kopf genommen hatten. Tainu tat es voll stolzer Zuversicht, doch Alexander blickte dem Hauptling nach, so lange das letzte Restchen der wehenden Feder auf seinem Kopfputz zu sehen war, denn er war fest entschlossen, lieber zu sterben, als einem Menschen das Leben zu nehmen, am wenigsten so heimtiickisch aus dem Hinterhalt. Tag auf Tag nahm sie der seltsame, beinahe weiBhaarige Greis mit sich in eine andere Gegend, lehrte sie den Wert der Pflanzen, zeigte ihnen, wie man heilen, doch auch wie man jemand vergiften konnte, erklarte ihnen, wie man aus dem Streifen des Windes am besten kommendes Wetter erriet, wie man den Tieren und Vogeln des Waldes Fallen legen muBte und wie man sich das Herz einer storrischen Frau gefiigig machte. Am Abend jedoch saBen sie vor der Hohle, blickten aus dieser freien windgefegten Hohe iiber das Meer und iiber die Klippen, und lernten uralte Sagen und uralte Lieder wiederholen. Zauberspriiche oder Uber- lieferungen, alles muBte so lange wiederholt werden, bis jede Gefahr, etwas davon zu vergessen, beseitigt war. Dann, als das Sonnenrad schon wieder nach unten schwang und die Tage der groBten Hitze vorbei waren, begann der Zauberer, Alexanders Haar zu olen und zu 51 bursten und es zu zwei langen Zopfen zu flechten, die bei Jagd Oder im Kriege hochgerollt getragen wurden, sonst aber iiber Schultern oder Brust herabhingen. „Die Teilung am Scheitel ist wie die Teilung des Lebens. ein Teil ist Kindheit, der gehort der Mutter, ein Teil ist Manntum, der gehort dem Vater. Uber beiden Teilen scheint die Sonne..." Manches von dem, was der Greis ihnen sagte, blieb deni WeiBen dennoch unverstandlich, weil ihm die letzten Zu- sammenhange fremd waren. Als er merkte, daB ihre Zeit, wo ihre Ausbildung zu Ende gehen sollte, nahe war, bat ei mit Tainu von einem fernen Gipfel Krauter besondere Art holen zu diirfen, und wie erwartet, begleitete sie der Alte auf diesem anstrengenden Wege nicht. Als die Kraute, schon zu Biindeln geordnet waren, blieb Alexander nodi immer sitzen und blickte weit tiber das Meer hinaus. „Tainu", sagte er plotzlich, „ein Fisch verkommt, wenn er ans Land gezogen wird, ein Vogel singt nicht, wenn man ihn in einen Strohkorb steckt, und auch ein Mensch kann nur da gedeihen, wo Altvertrautes ihn umgibt. Mein Herz ist an dein Herz gewachsen wie der Kriecher an den Ur- waldbaum, doch meine Seele — das leuchtende, fiihrende Ding in mir — straubt sich gegen das Nehmen eines frem- den Lebens. Die Zeit der Entscheidung naht: Du muBt mich toten und ... und meinen Kopf in dein Dorf zurucktragen , oder . . oder . . du muBt mich fliehen lassen . ." „Ist das Ding — das leuchtende Ding in dir, von dem du sprichst — so stark, daB du nicht bleiben kannst?" „Es ist mit meinem Gott verbunden", sagte Alexander und unwillkiirlich schaute er zur strahlenden Sonne -auf „Ich weiB seit langem, daB deine Gedanken weit fort fliegen wie Vogel, die der Sturm treibt. Der Stein liegt im Boden vergraben . . . Ale . . , ich mochte dich nicht verlieren . . . „Komm mit mir", rief sein weiBer Freund, „komm in meine Heimat, wo der Wind iiber Korn wie iiber Gold streift, wo die kiihlen Tannen fest geschlossen wie eine Reihe von Kriegern stehen und wo im Winter funkelnde Sterne niederflattern ..." „Ja, aber diese Sterne sollen kalter als Quellwasser sein ..." und Tainu schiittelte sich. Da wurde es ihm klar, daB auch sein Herz an Altgewohntem hing und er begriff das Sehnen seines Freundes. 52 Venn der Mond wieder Farbe verloren hat, sollen wir ausziehen, urn einen Kopf zu suchen. Das ist die Zeit, -w tin unsere Freiheit beginnt. Wir tun, als zogen wir ostwarts, doch werden wir den Pfad nach Westen ein- schlagen, und dann . . er schwieg und sah finster zu Boden. „Vielleicht werde ich wieder die dunklen Baume der Heimat sehen und jene Menschen wiederfinden, die meine Kindheit durchsonnt haben, aber wo immer ich auch gehen werde, meine Gedanken werden dich immer umflaftern, Freund, wie die Falter eine sich offnende Knospe." Da lachelte der Tayale, denn ein Wilder empfindet ebenso tief wie wir, aber sein Kummer halt nicht so lange an wie unser Leid. XVII. DIE LETZTE BLUTE F rau Baumann hielt das Staubtuch in der rechten, einen roten Papierfacher in der anderen Hand, als es drauBen klingelte und sie den chinesischen Diener hinausschickte, um nachzuschauen, wer zu dieser unanstandigen Stunde — es war etwas liber 8 Uhr vormittags — zu lauten wagte. „Eine glosse Hell ihm dlauBen!" meldete er. Das stimmte Frau Baumann nicht vergniigter, denn sie wuBte nicht, ob sich das „groB" auf korperlichen Umfang Oder auf hohe Stellung bezog, und um alle Zweifel los zu sein, trat sie in das Vorzimmer, in dem der Unbekannte angeblich wartete. „Wer in aller Welt . . .?" begann sie und prallte hierauf vor Erstaunen zuriick, „Herr Barch? wirklich und wahr- haftig Herr Barch?" Kurze Zeit hierauf saBen die drei alten Bekannten beisammen und sprachen auf das eifrigste miteinander. Die Nachricht vom Ableben seiner Gattin hatte Herrn Barch nach Monaten in Hankau erreicht, wo er von Rauber- banden gegen Losegeld gefangengehalten worden war, doch vom Verschwinden seines Sohnes wuBte er nichts, und erhielt erst Kunde davon, als er seinen alten Freunden vorschlug, ihn zur Mission zu begleiten, wo er die Kinder abholen wollte. 53 „Ich habe schon die Schiffskarten fur uns alle in der Tasche", erklarte er mit vergnligtem Lacheln, „denn vom Osten habe icb genug. Ich sehne mich nach der deutschen Heimat, nach der Kiihle unserer Walder und all den Vorteilen, die uns WeiBen eben doch nur ganz Europa bietet. Zudem ist es hochste Zeit, daB der Junge ..." Herr Baumann legte die Hand auf den Arm seines Freundes. „Machen Sie sich auf eine kummervolle Mitteilung ge faBt 1 *, begann er und langsam erfuhr der ungliickliche Vater von dem Verschwinden seines Sohnes und von all den vergeblichen Versuchen, auch nur eine Spur von dem Verschollenen zu entdecken. Was indessen weder Herr noch Frau Baumann voraus-- gesehen hatten, war der Umstand, daB Herr Barch sich von dem Augenblick an weigerte, seine kleine Tochter zu be- suchen. Seine Trauer gait so ausschlieBlich dem verlorener; Sohn, daB das gutmiitige Ehepaar zuerst erstaunt und danr. bose wurde. „Mensch, Sie haben auch noch eine Tochter ..." „Mein Junge, mein Junge!" klagte Herr Barch und gab keine Antwort. Da wurde Frau Baumann so argerlich, daf sie das Zimmer verlieB. „Er soli sich schamen, so undankbar gegen Gott zu sein, der ihm das eine Kind erhalten hat!" brummte sie und ihr Gatte muBte ihr beistimmen. Er hatte von allem An- fang an das stille und bescheidene Madchen lieber als diesen „ungehorsamen Schlingel", wie er Alexander im Herzen immer nannte, und konnte seines Freundes Tun gar nicht verstehen. Erst am folgenden Tage lieB er sich bestimmen, die Mission aufzusuchen, und selbst da begab er sich zuerst zu den Patres und sprach mit ihnen liber den Knaben, der so plotzlich verschwunden war. Er begriff das Sehnen des Kindes nach dem groBen Erleben und ziirnte ihm nicht so sehr wie Herr Baumann, in dessen Augen Alexanders Tat geradezu ein Verbrechen schien. Als er endlich vor Schwester Perpetua stand, war er so sichtlich in bitteres Griibeln versunken, daB die energische Schwester es fur gut fand, ihm eine Riige zu erteilen. Wenn Leute absichtlich blind waren, muBte man ihnen die Augen offnen . . . „Sie legen keinen Wert darauf, eine Tochter zu haben", begann sie, von Frau Baumann schon liber alles unter- 54 riditet, „und ich finde, daB ein junges Madchen kaum in eine Art Junggesellenheim paBt, denn etwas anderes wird Ihr kiinftiges Heim wohl kaum werden. Wir Missions- schwestern sind daher der Ansicht, daB Martina bei uns bleiben soil, wo ein stiller, aber schoner Wirkungskreis ihrer harrt und wo sie — Anerkennung und Liebe findet." Jetzt wollten diese Schwestern auch noch sein zweites Kind behalten! Da horte sich doch alles auf. Das wiirde er sich nicht bieten lassen. Wer war Martinas Vater? Er oder . . .? „Ich wiinsche meine Tochter nach Europa mitzunehmen", erklarte er. „Da miissen wir vor allem das Kind selbst fragen", erwiderte Schwester Perpetua, denn sie wollte Herrn Barch erst den Wert des jungen Madchens klar machen. „Martina ist nahezu dreizehn Jahre alt und ungewohnlich klug fur ihr Alter. Wir konnten ..." „Sie ist aber doch mein Kind!" schrie Herr Barch, der x ernstlich zu fiirchten begann, auch das zweite Kind ver- lieren zu miissen. „Ich will meine Tochter sehen!" rief er unliebenswiirdig. „Sie gehort mir!" „Das soil sie selbst entscheiden", entgegnete Schwester Perpetua, aber sie schmunzelte dabei in sich hinein, und befahl der chinesischen Novize, Martina zu holen, die sehr bald erschien. Sie trug ein weiBes Gewand und ihre weiBe Haarschleife war so gebunden, daB sie ein Haubchen vor- tauschte. Sehr grofi, sehr still und sehr hiibsch war sie geworden... Herr Barch traute seinen Augen nicht. „Bist du mein kleines Madchen?" fragte er und seine Augen leuchteten auf. „Nein", sagte sie und senkte die Augen, damit er das frohe Auffunkeln nicht bemerken sollte, „ich bin deine groBe Tochter, Vater!" Da nahm er sie in seine Arme und fand auf einmal, daB erganz und gar nicht ohne dieses sein Kind leben konnte... Schwester Perpetua schmunzelte. „Schwester", sagte Herr Barch sehr artig, „gestatten Sie, daB ich meine Tochter (war das plotzlich ein stolzer Ton!) gleich mit mir zu Baumanns nehme? Und was ich noch hinzufiigen mochte: In vierzehn Tagen geht das Schiff 55 von Tainan ab. Bis dahin mochte ich Martinas Bucher usw. gepackt wissen. Vielen Dank!" „Jetzt weiB er doch, daB eine Tochter Vorteile hat", sagte Schwester Perpetua zu den beiden anderen Schwe- stern, denen es beiden leid tat, das junge Madchen scheider. zu sehen, doch die alteste Schwester erklarte beinahe streng: „Sie muB ihren Vater begleiten. So ein frauenloser Mann verkommt ja ganz, wenn er nichts weiblich Sorgen- des um sich hat." XVIII. DER TOD STREIFT ALEXANDER D ie Zeit der Vorbereitung war zu Ende. Mit allerlei Zauberspriichen kraftig gemachte Waffen -— Messer, Pfeile und Bogen — wurden den Knaben in die Hand ge- driickt, die richtige Stunde des Tages zum Weggehen be- stimmt und auch die Richtung angegeben. Langsam schritten die beiden Freunde den hohen Berg herunter und hielten sich zuerst, wie befohlen, ostwarts, doch nach der ersten Nacht, die sie in einer Baumkrone verbrachten, bemiihten sie sich, allmahlich mehr und mehr nach Westen zu ge- lanjen. Immer wieder kletterten sie einen Berg hinauf und wieder in ein Hochtal hinab, um zu rasten, zu plaudern und dann wieder aulzusteigen, um die nachste Hohe zu iiberwinden, und nach Ablauf einer Woche sah Alexander in der Feme viele Lichter tanzen. „Das ist Taihoku", sagte sein Freund, der frliher viel in diesen Bergen herumgeklettert war. Ein tiefes Sehnen stieg in dem weiBen Knaben auf. Wenn er dahin fliegen konnte, wenn seine Sehnsucht ein Vogel ware, dessen Schwingen ihn triigen , . . Ganz andere Gedanken erfullten dagegen Tainu, der bei all seinen guten Eigenschaften und seiner aufrichtigen Freundschaft fur den weiBen Freund, doch ein Wilder mit all den wilden Trieben eines solchen war. Fur Alexander war der Aufenthalt bei dem Zauberer und Wildenarzt nur ein Ereignis seines Tayalenlebens gewesen — eins von vielen — fur Tainu dagegen bedeutete diese Lehrzeit wirklich eine Wende: Er stand vor dem Erreichen der 56 vollen Manneswiirde und alles, was jetzt noch zu tun war, hieB einfach „Kopf". Es war etwa zehn Tage seit dem Verlassen der Hiitte und sie hatten. schon eine ganze Bergkette hinter sich, als Tainu bei einer Rast einen merkwiirdigen Laut vernahm. Alexander horte lange nicht so gut wie der junge Tayale und riihrte sich nur nicht, weil beide eben gegessen hatten und ausruhend im tiefen Schatten dichter Straucher lagen. Tainu lauschte, hob vorsichtig seinen Bogen, lauschte angestrengter, schlich sich auf dem Bauche kriechend aus dem Dickicht hervor. Sein Freund glaubte, daB er irgend ein Tier gesehen hatte und riihrte sich nicht. Da flog der Pfeil, ein Schrei, ein Rocheln, Tainu schoB beinahe so schnell wie sein Pfeil auf die Lichtung hinaus, zog sein Messer und hieb dem Schwerverwundeten das Haupt ab. Als Alexander auf die kleine unebene Wiese trat, ver¬ nahm er das letzte Rocheln, sah den Rumpf und in Tainus Handen das blutende Haupt eines chinesischen Grenz- soldaten. Im nachsten Augenblick lag er auf der Erde . . besin- nungslos. Es dauerte lange, bis er das BewuBtsein wieder erlangte und sein erster Blick fiel auf den Kopf, den Tainu fein sauberlich auf grofie Blatter gelegt hatte, wahrend er sich mit noch blutenden Handen um den Freund bemiihte. „Geh weg!" schrie Alexander und stieB ihn zuriick, „riihr' mich nicht an du . . . du . . . Morder!" Tainu verstand ihn nicht. Das war sein Kopf, sein erster wunderbarer Kopf, und hier stieB ihn sein alter Freund von sich und schrie ihm etwas entgegen, was wohl ein Schimpf sein sollte? Verstandnislos starrte er den Ent- riisteten an. Alexander begriff allmahlich, daB dem Tayalen der Begriff fur seine Tat fehlte, daB er nicht verstehen konnte, warum nicht jedermann ebenso begeistert wie er selber war, und unendlich miide und traurig sagte er nur: „Geh heim, Tainu, trag' deinen Kopf ins Dorf und . . . laB mich!" Dann sank er zuriick und verfiel in ein hitziges Fieber . .. Obschon der junge Wilde den Grund der jahen Ab- neigung nicht verstehen konnte, fiihlte er doch, daB der WeiBe immer zusammenzuckte, wenn er ihn beriihren 57 wollte.'daB er alles zuriickwies, was er ihm brachte, dafi or aufschrie, so oft er — halb aus seinen Fiebertraumen erwachend — den Kopf des Handlers sah, und daher schleppte er ihn tiefer ins Dickicht hinein und begann wieder einen Pfad zu suchen.und zu lauschen. Als ein Tayale eines anderen Stammes auf ihn zukam, trat er aus dem Versteck heraus und sagte: „Nimm diesen Kopf und frag' ihn in dein Dorf — als den deinen!" Das Opfer fiel ihm schwer. „Ich aber mochte, daB du mir zum Lohn hilfst, einen Schwerkranken so weit hinabzutragen, bis wir einige Meilen von Kapansan sind. Willst du das?" Nach einigem Zogern willigte der Fremde ein und vereint trugen sie den immer arger Fiebernden den Berg hinunter. „Wenn du dich immer nach Siidwesten haltst, kommst du nach wenigen Stunden zu zwei Flussen. Am Zusammen- fluB der beiden liegt Habun. Von da brauchst du nur den Berg zu erklettern und du bist in Paya san (so nennen die Wilden Kapansan, was viereckiges Holz bedeutet), wo die fremden Teufel sitzen." „Nimm den Kopf und geh’!" sagte Tainu, flocht aus allerlei Zweigen eine Hiitte um den bewuBtlosen Freund und stieg dann zogernd die letzte Hohe hinab. 58 XIX. DER JUNGE BOMINIKANER ERLEBT ETWAS V iele Monate waren vergangen, seit der junge Missionar Martina versprochen hatte, nach dem Verbleiben ihres Bruders zu forschen. Er war in Kapansan gewesen und hatte sich mit den Tayalenkindern angefreundet, hatte etwas von ihrer Sprache erlernt, hatte einzelne von ihnen sogar bis nach einem der ersten Dorfer begleitet und war wohlerhalten von dort zuriickgekehr.t, aber niemand hatte ihm etwas von einem weiBen Jungen zu sagen gewuBt. Es war eine wunderbare Vollmondnacht und obschon i bn das j apanische Ehepaar gewarnt hatte, nie nach Einbruch der Nacht weit von den Hiitten zu wandern, fuhlte er sich plotzlich versucht, den FluB entlangzugehen und die herr- hche Stimmung zu genieBen. Wie Silbertau perlten die Mondtropfen vom steifen Laub der Kampferbaume und such der FluB schimmerte wie geschmolzenes Silber. Ohne daB er es bemerkt hatte, war er immer hoher gestiegen. Da warnte ihn plotzlich ein leichtes Rascheln, das seiner Ansicht nach von keinem Tier herriihren konnte. Er lauschte angestrengt. Nichts. Vorsichtig drehte er sich um und schritt dem Flusse folgend, wieder hinab, doch diesmal weit schneller als er heraufgestiegen war. — Da teilten sich die Biische und im strahlenden Mondlicht stand ein junger Tayale vor ihm. Er trug die Federkrone, die immer anzeigte, daB ein Kind vor der Weihe zum Manne stand und auf Kopffang ausging, und die schonen ernsten Ziige zeigten sehr viel Entschlossenheit. Eine Minute standen sich die beiden Gestalten ganz unbeweglich gegeniiber, dann hauchte der Tayale: „Kapansan?" Der Missionar nickte. Sein weiBes Gewand leuchtete doppelt im Glanz des vollen Mondes. „Du Arzt? Du Krauterzauberer?" fragte der Wilde und blickte ihn erwartungsvoll an. Der junge Priester nickte. „Du krank?" fragte er. „Ale!" sagte der Junge und seine Augen umdiisterten sich, „Ale!" Der Missionar hatte keine Ahnung, was das Wort be- deuten sollte. Er hatte es noch nie gehort. Was tun? „Du kranken Freund?" 59 Heftig nickte der Wilde, trat naher, legte die Hand aui den weiflen Armel und fragte: „Kannst du . . . rrrrrrrr . . er ahmte den Schiittelfrost nach, „wegmachen?" Der Missionar hatte etwas Chinin bei sich. „Ja." Da winkte ihm der Wilde und deutete hohenwarts. „Ale!" sagte er noch einmal. Zogernd folgte ihm der Europaer. Es war nicht ratsam, in die Berge zu steigen, aber vielleicht konnte er durch eine Heilung des Leibes einer Seele nahekommen. Lange stiegen sie schweigend den Berg hinauf, dann bog der Tayale vom schmalen Pfad ab, faBte den Missionar bei der Hand und zog ihn immer tiefer in das Dickicht hinein. Endlich bog er eine Menge dichter Zweige aus- einander und nickte stumm. Der WeiBe kniete nieder und schaute hinein. Da lag fiebergeschtittelt ein zweiter Knabe. Schon eine ganz fliichtige Untersuchung zeigte dem Dominikaner, daB es sich nicht um Malaria, sondern um etwas anderes handeln muBte, und er versuchte dem zweiten Knaben begreiflich zu machen, daB er am besten unten, in Habun, gepflegt werden wiirde. Zu seinem Erstaunen willigte der Wilde sofort ein und vereint trugen sie den in Fieberwahn Redenden und Stohnenden den steilen Hang hinab. Kurz vor Habun legte der Tayale den Korper nieder, warf sich dariiber hin und weinte bitterlich. „Du trag' ihn — fort!" schluchzte er, und rief dann ganz verzweifelt: „Ale! Ale!" Ehe der Missionar ein einziges Wort zu sagen vermochte, hatte er das Buschwerk auseinandergerissen und war ver- schwunden... XX. EINE UBERRASCHUNG W as haben Sie denn da? erkundigte sich Miyanoshita sama, als sie am folgenden Morgen den Dominikaner iiber etwas geneigt sah, das einem Lager ahnelte und in Wahrheit eine Menge Hirsestroh war, iiber die eine Decke lag, auf der etwas Dunkles schlummerte. „Ich pflege einen Kopfjager", erwiderte der Gefragte. „Er scheint sehr krank zu sein und redet immer unzusam- menhangende Dinge. Ich verstehe ja leider die Sprache 60 noch nicht gut genug, aber er wiederholt immer die Worte ,Kopf' und dann .Freund' .Morder' und .Tainu'. Ich kann mir keinen Reim daraus machen." Die Knaben scheinen auf Kopfjagd gewesen zu sein", sagte sinnend die Japanerin. „Sie erzahlten mir doch, dafi audi der andere Wilde den eigenartigen Kopfschmuck trug, den die Tayalen gerne anlegen, wenn sie den ersten Kopf erobern wollen." Der Missionar seufzte. War das etwa eine Beschaftigung fiir ein Menschenwesen? Es vergingen mehrere Tage und immer noch fieberte der Kranke. Der junge Dominikaner hatte sein Brevier heraus- geholt und betete seine taglichen Gebete. Der Abend sank. Die Zikaden zirpten laut im hohen Tropengras, groBe Nachtfalter flatterten durch das tiefe Dammern. Da sagte eine Stimme hinter dem Lesenden: „Sind Sie . . . ein Missionar?" Der Gefragte schnellte herum, denn die Frage kam vom Wildenlager her und war in deutscher Sprache an ihn gerichtet gewesen. Das war Zauber! „Sind Sie . . .?" begann die ratselhafte, schwachklingende Stimme von neuem. Das Buch fiel auf den Boden, der Missio¬ nar neigte sich fiber den Tayalen . . . „Was in aller Welt . . .?" Ein sehr schwaches zitterndes Lacheln flog einen Herz- schlag lang fiber die bleichen Lippen. , Ich bin kein Wilder", sagte er, „ich bin Alexander Barch ..." „Martinas Bruder!" ’ rief der Dominikaner und schlug die Hande zusammen. „Ja, wie . . . wie . . .?" „Wo ist Tainu?" fragte der Knabe plotzlich, dann kam das ganze Erinjiern des Schrecklichen fiber ihn. „Der Kopf?" schrie er und sank bewuBtlos auf sein Lager zuriick. —.- Eine Anfrage an die Mission in Taihoku hatte dem Missionar die Mitteilung gebracht, daB Herr Barch aus China eingetroffen sei und bald nach Europa weiterfahren wollte, zuerst indessen mit seinen Freunden Baumann eine Woche auf dem Landgut bei Taikei zu verbringen gedachte, um den Ort zu sehen, von dem aus sein Sohn verschwunden war. Trotz dieser Mitteilung wagte es der Missionar nicht, die Freudenbotschaft von Alexanders Rettung zu senden, denn der Knabe lag zwischen Leben und Tod und es wiirde 61 fur den Vater schlimmer sein, ihn nur zu finden, um ihn zu verlieren, als spater zu erfahren, daB er nicht mehr am Leben war . . . Da sank das Fieber, der Blick wurde klarer, und langsam kehrte das Erinnern zuriick. Grauengeschiittelt erzahlte er die Geschichte seiner Wanderungen und das Ende seiner Wildenlaufbahn. Ermiidet lieB er sich auf das Lager fallen und schlief bald den ersten festen Schlaf wiederkehrender Gesundheit. Mitternacht war langst voriiber, da vernahm der Missio- nar, wie sich die Tiire langsam offnete und eine schlanke Gestalt hereinschlich. Sie naherte sich dem Lager Alexan¬ ders, doch beriihrte sie den Schlafenden nicht, sondern kauerte sich nur in einiger Entfernung von ihm nieder und beobachtete ihn unausgesetzt. Dann, mit einem tiefen Seufzer, offnete sie ganz lautlos ein Biindel und breitete zu FiiBen des Lagers alle seine Schatze aus: Pfeile und Bogen, Schmuck aus Muscheln und Federn, seltene Falter und merkwiirdige Samen und als sie alles ausgebreitet hatte, legte sie die Hande vors Gesicht und weinte still, aber bitterlich. Ein Streifen des letzten Mondviertels drang durch die Fensteroffnung und warnte den seltsamen Gast vor dem nahenden Morgen. „Ale . . . Ale !" schluchzte er auf, streckte die Hande nach dem Schlafenden aus, und glitt so lautlos durch die Tiire wie er gekommen war. Er wuBte den Freund genesen, doch ihm verloren und kehrte nun in seine fernen Berge zuriick. ★ Am nachsten Morgen fand Alexander all die Gaben zu FiiBen seines Lagers und fuhr erschauernd zusammen. Er konnte den Kopf nicht vergessen. Da legte # sich eine Hand auf seine Schultern und eine ernste Stimme sprach: „Richtet nicht, auf daB ihr nicht gerichtet werdet!" Die Augen des jungen Dominikaners schauten ernst in die seinen. „Dein Freund kam mitten in der Nacht, um Abschied von dir zu nehmen und dir alles zu geben, was sein eigen war. Du darfst ihn nicht nach den Gesetzen deiner Rasse beur- teilen. Er handelte nach seinen Stammesgesetzen und wenn er nicht weitergekommen ist in Wissen von Recht und Unrecht, so tragst wohl auch du selbst mit Schuld daran. Hast du in den Jahren eures Beisammenseins wirklich aus 62 tiefstem Herzen versucht, ihn Besseres zu lehren? Hast nicht du dich willenlos von den Sitten anderer treiben, venn nicht ganz beeinflussen lassen? Sieh, er kam aus den hohen Bergen und suchte mich, urn dich zu retten. Er verzichtete auf seinen Kopf, der ihm Manneswiirde ver- sprach, denn ich habe seither vernommen, daB in einem Dorfe unweit von hier ein groBes Kopffest gefeiert wurde, und er lieB dich ziehen, weil er wuBte, daB es dein Gliick bedeuten wurde. Und du?" „Ich habe vieles unterlassen", seufzte Alexander und neigte beschamt das Haupt. „Du warst ein Kind, als du zu den Tayalen kamst", tro- stete ihn der Dominikaner, „aber nun hat das Leben dich zum Manne gereift, obgleich du den Jahren nach erst ein Knabe bist. Du hast viel Wissen erworben ..." „ Ja, aber ich fiirchte, daB ich alles verlernt habe, was ein Junge in meinem Alter bei uns wissen soli . . ." „Mit FleiB und gutem Willen laBt sich gar manches nach- holen", trostete ihn sein Retter. „Nun aber schlafe, damit deine Krafte rasch zunehmen und ich dich zu deinem Vater und deiner Schwester — sie war es ja, die zuerst von dir zu mir sprach ! — bringen kann", und er erzahlte ihm von seiner Begegnung mit Martina, von Herrn Barchs Ankunft and vom Aufenthalt der ganzen Familie in Taikei. „0 ich mochte gleich . . . gleich . . . zu ihnen fahren ..." sagte Alexander, doch schon wahrend er es sagte, fielen ihm die Augen zu. Er war noch zu geschwacht, um an eine Fahrt agl der StoBkarre denken zu konnen . . . * So sehr er sich den Seinen indessen auch entgegensehnte, war er in'seinen Traumen immer oben bei Tainu. Sie gingen auf die erste Wildschweinjagd und hetzten hinter dem keuchenden Tiere her; der Hauptling lehrte ihn den Bogen spannen, einen Korb flechten, ein Wurfmesser ge- brauchen; Yaya zeigte ihm, wie man weben muBte, wie man eine Krautersuppe kochte, wie man im feuchten Wald dennoch ein Feuer entziindete; Tainu fing ihm eine Riesen- motte, den Habichtsfalter, den Martina so sehr begehrt •hatte; Tainu schnitt ein Bambusrohr als Wasserbehalter zurecht, Tainu zeigte ihm die Baumheimat eines weiBen Affen, Tainu lehrte ihn, wie man Giftschlangen aufstobern 63 und ungefahrlich machen konnte, Tainu . . . Taimi . , . Tainu . . . Er rief den Namen des Wilden, als er am Spatnachmittag erwachte; doch die Hiitte war leer. Da drehte er sich der Wand zu und trauerte seinem Tayalenfreunde nach. Oben, hoch hinter vielen Bergketten, lag ein Stein vergraben . . . Dieser Stein lag sehr schwer auf des weiBen Knaben Herzen. Miidigkeit iibermannte ihn und er schlief wieder . . . Am nachsten Morgen war er sehr hungrig und viei frischer. XXI. EIN KOPFJAGER KOMMT! W ahrend Martina mit ihrem Vater im schonen Garten des Landhauses in Taikei auf- und abschritt, sagte sie zu ihm: „LaB' uns nicht nach Europa zuriickkehren, ohne in Kapansan gewesen zu sein!" „Wird es dein Herz nicht noch trauriger stimmen, Tochterchen, wenn du jene Berge siehst, in deren Hohen* irgendwo, irgendwann dein Bruder das Leben verlieren muBte?". „Nein, Vater, wir haben ja nichts von ihm mitzunehmen, als dieses Erinnern an die griinen, grunen Berge, die sein Bahrtuch sind." — „Wir fahren nach Kapansan!" hieB es beim Abendbrot und zum Erstaunen der beiden sagte Herr Baumann: „Wir begleiten euch! Auch meine Frau war noch nie so weit im gefahrlichen Gebiet und wenn ich auch iiberzeugt bin, daB unsere Kopfe sehr kostbar sind, habe ich doch keine Angst, daB sie genommen werden", versuchte er zu scherzen. „Es sitzt namlich unten in Habun ein junger Do- minikaner, der mehr und mehr EinfluB auf die Wilden ge- winnt und der sie auch behandelt, wenn sie erkrankt sind. Seit er am ZusammenfluB der beiden Fliisse lebt, soli noch kein Kopf genommen worden sein." * Die StoBkarre naherte sich nach vielen Stunden der Hoch- ebene von Kapansan. Die beiden Baumanns wollten gerne 64 da und dort rasten und fanden es iiberfliissig, sich die Rip- pen aus dem Leib riitteln zu lasseni daher war die Sonne schon im Sinken, als sie endlich im Hause des Polizeiinspek- tors saBen, Griintee tranken und Erkundigungen einzogen. Obschon Martina aus dem Haus trat und sich alle Tayalen- kinder zeigen lieB, war es ihr nicbt gestattet, einen einzigen Schritt auBerhalb der Niederlassung zu tun, und enttauscht kroch sie, nach gutem Abendbrot und einem Bad in der gro- Ben braunen Tonne zwischen die Futons. Kaum bemerkte sie durch die Papierfenster das erste schwache Morgen- grauen, so kleidete sie sich rasch an und da niemand zu sehen war, glitt sie ins Freie und blickte vom Ende des Dorfes aus sehnsiichtig nach den schimmernden Hohen hiniiber, die nun von der aufgehenden Sonne vergoldet wurden. „Wo geht der Weg nach Habun?" fragte sie und ein Schutzmann zeigte den steilen Hang hinunter. Zogernd stieg sie hinab. Ihr Vater wiirde es nicht billigen, aber sie ahnte, daB Frau Baumann, die etwas rundlich und mehr als in wenig bequem war, sich zu einer solchen Kletterpartie nie aufschwinge. Doch wahrend sie hinabkletterte, waren Vater und Bau¬ manns auch ins Freie getreten und als sie vernahmen, daB Martina den Weg nach Habun eingeschlagen hatte, klet- terten sie ihr so schnell es gehen wollte nach. „Ach, wenn auch meiner Tochter etwas zustoBen wiirde . . ." stohnte Vater Barch und merkte nun erst, wie sehr er die wiedergefundene Tochter liebte. „Sie ist so ungehorsam wie ihr Bruder!" brummte Frau Baumann, der es kein Vergnugen bereitete, ohne Friihstiick den steilen schmalen Pfad in, — der Himmel wuBte, welche Tiefen, hinabzuklettern. „Sie liebte ihren Bruder", verteidigte ihr Vater Martina, der nun keinen .Tadel ertragen mochte. „Da . . . vor uns . . . nicht weit vom FluB . . . bewegt sich etwas ..." sagte Baumann und schaute angestrengt in die Tiefe, wo die beiden Fliisse unweit der Hangebriicke zusammenstieBen. „In der Tat, das ist Martinas rotes Kleid", meinte Kauf- mann Barch und behielt den roten Punkt im Auge. Da loste sich von jenseits der Brricke etwas Merkwiirdiges los . . . kein Tier und scheinbar auch kein Mensch, etwas mit Federn im Haar und einem wehenden Hanftuch . . . 65 „ Baumann . . . um Himmels willen . . . wenn das Wesen das nun ans Land springt, nicht ein blutdiirstiger Kopf¬ jager ist. . .?“ „Barch", s'chrie sein Freund auf..., „er hat... er hat . . . Martina!" Und mit wachsendem Entsetzen sahen die drei, wie der Kopfjager auf das Madchen zustiirzte und es einfach in die Arme riB. ,-,Menschenfresser, elender Menschenfresser!" schrie Frau Baumann, „wirst du das Kind loslassen?" In ihrem Zorn trat sie rasch vorwarts, rutschte aus und fuhr auf der Kehr- seite den Rest des Hanges hinunter. Die beiden Herren liefen wie gejagt den schmalen Pfad hinab und standen we- nige Minuten spater nur einige Meter vom Kopfjager ent- fernt, der nicht Miene machte, sein Opfer herzugeben, das sich iibrigens gar nicht zu wehren schien. „Er kiiBt sie!" rief Frau Baumann, die soeben ange- rutscht kam, und ihre Stimme klang so entsetzt, als ob sie gesagt hatte: er friBt sie. „Du Wilder, wirst du wohl meine Tochter . . .?" begann Herr Barch und blieb wie vom Blitz geriihrt stehen, denn der ,Wilde' hatte Martina ausgelassen, war ihm um den Hals gefallen und nannte ihn „Vater!" Hatte man solche Kiihnheit schon gesehen, seit die Erde ins Rollen gekom- men war? Er schaute sich den Ausbund menschlicher Keckheit ge- nauer an und merkte, wie seine Knie zu zittern begannen. ..Alexander . . . Alex . . ander . .?" „Ich bin es, Vater!" Uber die Briicke heriiber kam der junge Dominikaner und nun ging es an ein Erzahlen, das kein Ende nehmen wollte. Als man sich einigermaBen beruhigt hatte, erinnerte Frau Baumann an den Umstand, daB bei aller Herzensfreude auch der Magen sein Recht haben wolle und daher begaben sich alle nach Habun, um beim Missionar einen beschei- denen MorgenimbiB einzunehmen. Martina trat an seine Seite und sagte leise: „Haben Sie Dank! Es war Gottes Fiigung, daB mein Bru- der gerettet wurde, doch wenn ich Ihnen nicht von ihm er- zahlt hatte und wenn Sie nicht aus diesem Grunde nach Habun gegangen waren, wurde er an seinem schweren Fieber gestorben sein. Wie soil ich Ihnen danken?" 66 „Ist eine gute Tat nicht schon Lohngenug?" erwiderte er und blickte sie freundlich an. „Ich will es als gutes Omen betrachten und mich bemuhen, den armen Wilden viel Gu¬ tes zu tun — an Leib und an Seele", fiigte er sinnend hin- zu. — Ehe man Abschied nahm, zog auch Alexander den jungen Dominikaner beiseite und sagte; „Ich bin wohl zu jung gewesen, aber Sie, der Sie reifer und wissender sind, versuchen Sie doch, Tainu, meinen Tainu, zu finden, und tun Sie alles fur ihn, was ein Mensch dem anderen tun kann. Vielleicht... vielleicht... unter- lafit' er dann ... um Ihret- und um meinetwillen ... die Kopfjagerei." „Ich werde nichts unversucht lassen", gelobte er, „denn ich habe in jener Nacht, in der ich an deinem Lager kniete, die Giite seines Herzens und seine Liebe erkannt, und wo sich ein Herz selbstloser Liebe offnet, gedeiht jeder gute Same, weil das Licht frei darauf fallen kann. Und wenn du in der Heimat in eine Kirche trittst, erinnere dich deines Tayalenfreundes ...!" „Wie sollte ich nicht?" erwiderte Alexander und wandte das Gesicht ab, um die aufquellenden Tranen zu verbergen. Gegen Mittag stiegen sie, Frau Baumann mit vielem Ge- stohn, nach Kapansan zuriick. Als sie das Haus des Polizei- inspektors betraten, schaute dieser von seinen Akten auf und fragte erstaunt: „Haben Sie einen Tayalen mitgebracht?" „Ja", erwiderte Herr Barch trocken, „der Bengel gefallt mir so gut, daB ich ihn nach Europa mitnehmen will." Als der erstaunte Inspektor den Jungen genauer ins Auge faBte, lachelte er plotzlich verstehend, sprang auf und begliickwunschte den Kaufmann. „Wo in aller Welt haben Sie ihn ausgegraben?" „Er fiel vom Himmel oder wenigstens von der Hange- briicke herab", sagte der frohe Vater, doch dann bat er um einen Kimono und um eine Schere. „Junge", rief er, seinen Sohn ins grellste Licht ziehend, „nun werde ich dir die Wildenzopfe abschneiden, denn es geht doch nicht, dafi meine Tochter kurze Locken und du lange Zopfe hast. Mitnehmen aber sollst du sie, denn sie sollen dich an dein Abenteuer erinnern." „Das, Vater, werde ich auch ohne Zopfe nicht verges- sen ..." und etwas in den Zugen des Sohnes belehrte Herrn Barch, daB er kein Kind mehr vor sich hatte .... 67 Alexander lehnte an der Reling, etwas abseits von den anderen, und weder sein Vater noch Martina storten ihn. So schon es fur ihn auch sein mochte, zu den Seinen zuriick- gekehrt zu sein, so vermochte doch nichts die nahezu drei Jahre auszuloschen, in denen er ein „Wilder" unter ande¬ ren Wilden gewesen war. Auch nun zogen die Bilder seiner Wanderung anseiten des Hauptlings an seinen Augen vor- iiber. Wie vorsichtig waren sie um jene Bununstamme geschlichen, die noch Menschenfresser waren! Wie wohl hatten sie sich bei den Ami befunden, die ihnen geraucherte Fische gebracht und sie nach Botel Tobago gefahren hat- ten! Wieder sah er den heranrollenden Taifun, die haus- hohen Wellen, den Hauptling, den er kaum zu tragen ver¬ mochte, die nackten Yamileute, die schillernden Siidsee- fische, die Kokospalmen im Mondlicht. Er glaubte noch ein- mal Tainus Stimme zu horen, als er im Junggesellenhaus der Paiwan seine Geschichten erzahlte . . . Unbemerkt hatte das Schiff die Anker gelichtet und war aus dem Hafen hinausgeglitten. Immer weiter wurde das Meer, immer kleiner die Insel. Fern im Norden stiegen die schroffen griinen Berge himmelwarts und da — in einem verborgenen Bergdorf — warteten Yaya und Yaba auf ihren zweiten Sohn. Da lag, tief in der Erde begraben, ein Stein, der das Sie¬ gel ewiger Freundschaft bedeutete, und dennoch trieb er nun einer fernen Heimat zu. Martina, die seine bitteren Gedanken erraten hatte, war ganz dicht an ihn herangetreten und fliisterte ihm zu: „Bruder, er hat den Stein ewiger Freundschaft tief in den Boden vergraben, doch du tragst ihn tief in deinem warmen Herzen. So bleibt der deine wie der seine unversehrt." „Schwester!" sagte Alexander und wandte das Gesicht ab. Noch einmal, wie im Treuschwur, fliisterte er: „Tainu!" Nie konnte wirklich vergehen, was in Liebe gebunden war.. . MflRODNfl IN UNIUERZITETNFI KNJI2NICR 00000343069 JUGENDM1SSIONSHEFTE Nr. 1: Andreas Kraus Der Haupfling der Wamafengo Eine Erzafilung aus der afrikaniscfien Mission 48 Seiten, —,50 DM Nr. 2: Alma Karlin Unier Kopfjagern Erzafilung aus der Siidsee 68 Seiten, — ,75 DM Nr. 3: Hugo Kocher Fluchf vor den Urwaldgeisiern Missionserzafilung. aus Westafrika 52 Seiten, — ,50 DM Nr. 4: P. Witgar Dondorfer Bergbuben am See Missionsecsdfilling aus Ostafrika 64 Seiten, —,50 DM EOS YERLAG DER ERZABTEI ST. OTTILIEN NflRODNR IN UNIUERZITETNfl KNJlJNICfl 56G 797 COBISS S Hug. Urian und der Bergsepp 105 Seiten, i — DM Ein BucE von den Tieren und MenscEen unserer Berge * Hugo Kocher Das Dorf der Geheimnisse 192 Seiten, 2, — DM Eine spannende GescEicEte aus dem Missionsleben * Unsere Missions-^ugendHeitschri ft Heidenkind Monatlich 10 Pfennig Bei Sammelbestellung kosten // Exemplare 1 ,— DM * EOS VERLAG DER ERZABTEI ST. OTTILIEN