^/"/. ^//^ Littauen und die Littaner. Gesammelte Skizzen von Mo Klagau. Tilsit. Verlag von I. Neyländer. Littancil und die Mauer. Littauen und die Littauer. Gesammelte Skizzen von Mo Olagau. Tilsit. Verlag von I. Äeyländeic. T»«S. Seinen Mndsleulen, den braven Ostpreußen, in lcmdsmaunschaftlicher Gesinnung und als ein Zeichen treuer Liebe für die Hcimath der Verfasser. Vorwort. Nachfolgende Skizzen, im Laufe dieses Jahres in der Berliner „National-Zcitung" und in der Wochenschrift „Daheim" abgedruckt, und auf Wunsch des Verlegers jetzt zusammengestellt, sind eben — Skizzen, das heißt: Umrisse, entworfen in Folge einer läng?rn Rundreise, die ich im Sommer 1867 dnrch meine Heimathsprouinz unternahm; in jenem berüchtigten Sommer, der über Osiprcußeu einen so außer-ordentlichen Nothstand verhangen. Dennoch — weil ich nämlich nicht nur die Früchte jener Reise, sondern auch das Resultat vieljähriger Beobachtungen und Erfahrungen hier niedergelegt, dazu die Forschungen und Mittheilungen anderer Männer, die nach Verdienst erwähnt worden sind, hereingezogen nnd verarbeitet habe — hoffe ich, daß diefe Skizzen ein möglichst treues und anschauliches Bild liefcrn solleu von einer Provinz, die im übrigen Deutschland ebenso unbekannt ist, wie sie wegen der Originalität und Mannigfaltigkeit ihrer Natur und Bevölkerung bekannt zu werden verdient. Möge mein Büchlein also fremde Leser von manchem Vornrtheil befreien, bei meinen Landslenten aber, denen ich es ausdrücklich widme, Zustimmung und Wohlgefallen finden. Berlin, im December 1863. Otto Glagau. Inhalts-Uligabe. I. Liltmicn '»'d Masuren........ 1 — 14 II. An der polnischen Grenze....... 15 — 31 III. Tilsit............. 33—44 IV. An der russischen Grenze....... 45 — 65 V. Die littauische Niederung....... 06 — 100 VI. Littauische Leben und Wesen...... 101 — 129 VII. Littauische Sprache und Dichtung..... 130 — 100 A n h a n g. Durch die Ostpreußische Sahara. 1) Der Eintritt in die Wüste.....163 — 173 2) Eine WaldparadieZ - Trümmer . . . .174—183 3) Kalifornien..........184-194 4) Mitten in der Wüste.......195—206 5) Die Oase......' . . . . 307-319 Fittauen nnd Masuren. Von der großen Tllndfluth, so im Sommer 18«? unser Oftpreußen fast ersäufet hat; und wie der Verfasser sich auf die Reist begiebt. — Daß kittauen noch nicht in Nußland liegt, und in der Stadt Gumbinnen leine Wulfe und Bären umherlaufen. — Von dem Herrn Negierungspräsibcn- und Forstwirthe ? Für Littauen ist Friedrich Wilhelm der Erste ein wahrer Kulturheros geworden, und darum steht er auch in Bronzeguß vor dem Regierungsgebäude zu Gumbinnen. Die Umgegend von Gumbmnen ist wie ganz Littauen flach und eben und durchaus nicht romantisch, dafür aber fruchtbar und sorgfältig angebaut. Ein Terrain, durchschnitten von einer großen Anzahl kleiner Flüsse und Bäche, abwechselnd mit üppigen Saat-geftlden, Futterfeldern und Weidcflurcn, breitet sich weithin vor unfern Augen aus und gewährt mit den wohlhabenden Ortschaften und Höfen, die darüber ausgestreut und meist von dichten Obstgärten eingeschlossen sind, einen recht angenehmen und erheiternde:: Eindruck. In den wohlhabendsten Dörfern, auf den stattlichsten Höfen aber sitzen die Nachkommen der eingewanderten — Salzburger. Unter alleil nach Preußen gekommenen Ansiedlern verdienen die Salzburger sowohl wegen ihrer Moralität als Betriebsamkeit und Wirtschaftlichkeit den ersten Platz. Wie die Saat, die Friedrich Wilhelm 1., der ein ebenso sparsamer Haushalter wie kluger Wu< cherer war, hier ausgestreut, überhaupt herrlich aufgegangen ist und noch zu seinen Lebzeiten hundertfältige Frucht brachte, so haben namentlich die Salzburger des Htönigö Wohlthaten reichlich vergolten. Ihre Ansiedlung war für das Land der größte Gewinn, sie weckten die damals in Preußen und Littauen noch im tiefen Schlummer liegende Industrie; sie wirkten durch ihr Beispiel in der Wirthschaftö-(5inrichtung, durch Fleiß, Sparsamkeit, Ernst und Frömmigkeit mißerst uortheilhaft auf die übrigen Bewohner diefer Gegenden', und sie wurden dem neuen Vaterlande die loyalsten uud tüchtigsten Bürger: Dank der für die damalige Zeit sehr großen Freiheiten und Privilegien, mit welchen der itönig sie beschenkte. Nach dem mit ihnen im Jahre 1736 abgeschlossenen Kontrakte wurden sie nämlich uon den gewöhnlichen Schaarwertsdien-sten entbunden. Sie hatten das Recht, die Wirthschaftsführung eines Jeden in ihrer Societät zu lontroliren, und mit Vorwissen 8 des Amts und der Kammer schlechte Wirthe ab- und tüchtige einzusetzen. Sie erhielten endlich 26 Schulzen und Acltcste, die sie selber aus ihrer Mitte wählten, und von denen jeder als Entgelt für seine Amtsverwaltung eine Hufe Dienstland empfing.*) Eine Salzburgcr Wirthschaft ist noch heutigen Tags der Lobspruch einer guten Haushaltung, auch erkennt man beim ersten Blick den Acker eines Salzburgers an einer bessern Kultur. In Vezug auf Ackerbau und Landwirthschaft ist er, wie gesagt, der Lehrer der Eingeborenen und namentlich der etwa-ö nachlässigen und schmutzigen National-Littauer geworden. Man trete nur auf den Hof oder in das Haus eines Salzburgers. Ueberall blickt einem musterhafte Ordnung, gründliche Reinlichkeit und ein behäbiger Wohlstand entgegen. In dieser wie in andrer Hinsicht hat der Salzburger manche Aehnlichkeit mit dem Holländer. Er denkt nur an Erwerb und persönlichen Vortheil, zu Opfern für das Gemeinwohl ist er gar nicht aufgelegt, und weder besonders gastfreundlich noch umgänglich. An Gutmüthigkeit und Dienstfcrtig-keit übertrifft ihn bei weitem der National-Littauer. Wenn dieser die nöthige Hülfe schon geleistet hat, ist jener, vermöge seiner Peinlichkeit und Schwerfälligkeit, noch lange nicht mit seinem Entschluß fertig. Die Sparsamkeit des Salzburgers streift hart an Geiz. Die älteren Kolonisten follcn, um das Hemde zu schonen, stets splitternackt zu Bette gegangen sein-, auch ihre Nachkommen beschränken sich in ihren Bedürfnissen, so viel sie nur können, und ihre einzige Leidenschaft besteht im Sparen. Sie sind frei von jeder Ehrsucht; Titel, Orden und Würden sind ihnen nur kostspielige und ganz überflüssige Lurusgcgenstände; in der Regel läßt der Vater den Sohn ein praktisches einträgliches Gewerbe ergreifen, und gewöhnlich folgt der Sohn dem Beruf des Vaters. Sind das mehr oder weniger Schattenseiten an dem Character und Wesen des Salzburgers, so schmücken ihn doch wieder mancherlei zweifellose Tugenden. Mit dem Littauer theilt er die Liebe und Ehrfurcht für den König, den Gehorsam gegen die Obrigkeit. Er .... . ? ^»""'k' ^°"^" "°" Pauken, mit besonderer RUcksicht auf die Provinz KUauen. «krst« und »weite Sammlw'g, Kgb. 1795 und 36. 9 ist etwas eigensinnig und hängt zäh an althergebrachten Gewohnheiten, aber die öffentlichen Anordnungen befolgt er willig und ohne sich mit der Untersuchung über ihre Zweckmäßigkeit viel aufzuhalten. Mit dem Littauer theilt er ferner die Anhänglichkeit an die Kirche und ihre Diener, doch ist seine Frömmigkeit weit tiefer und viel weniger äußerlich. In den Familien, zwischen Herrschaft und Gesinde waltet tiefer Frieden und erbauliche Verträglichkeit. Ihre obersten Grundfähe im Verkehr sind Redlichkeit und Treue. Betrug, Diebstahl und andere grobe Verbrechen kommen unter ihnen fast gar nicht vor. Das Vertrauen der Ealzburger gegen einander ist uneingeschränkt-, die bedeutendsten Summen werden ohne Schuldschein, auf bloßen Handschlag ausgeliehen; nur wenn der eine Theil unuerheirathet ist, pflegt man, damit auf dessen Todesfall von den Erben kein Streit erhoben werden könne, aus der Kolonie einen Zeugen zuzuziehen. Unter einander sind die Salzburger äußerst wohlthätig und hülfsbereit; einen ohne seine Schuld heruntergekommenen Landsmann lassen sie nicht leicht sinken; wer aber nicht zu ihrer Nation gehört, hat auf viel Mitleid und Theilnahme nicht zu rechnen. Zwischen dem Salzburger und dem National-Littauer besteht eine natürliche Feindschaft, eine angeborene Disharmonie. Er traut diesem nicht weiter als er ihn sieht, und meistens nicht ohne guten Grund, denn der gemeine Littauer ist äußerst listig und verschlagen und neigt zu Betrug und Diebstahl. Auch liebt er Trunk und mancherlei Ausschweifungen, wogegen der Salzburger ebenso mäßig und ehrbar lebt. Obgleich beide Theile sich zu Einer Kirche bekennen, so hält der Salzburger doch den Littauer wegen des diesem noch immer in starkem Grade anhaftenden Aberglaubens für einen halben Heiden. Heirathen zwischen Salzburgern und Littauem kamen früher gar nicht vor, und auch jetzt noch geschehen sie sehr selten. Ueberhaupt vermischt keine Kolonie in Preußen sich bei ihren Verhcirathungen so ungern mit Fremden als die Salzburger. Wenngleich über ganz Littauen verstreut, gewissermaßen in das National-Littauerthum eingesprengt, und überall von andem deut« 10 scheu Stämmen umgebe,,, halten sie sich doch stets eng bei einander und noch immer ziemlich rein und unuermischt. Ackerbau und Landwirthschaft ist die liebste Beschäftigung des Salzburgcrs: er treibt aber auch städtische Gewerbe, besonders gern die Bierbrauerei und Branntweinbrennerei. Man findet nicht nur fast in allen Städten, sondern auch auf dem platten Lande die für den Littauer so sehr gefährliche Spiritusfnbrikation und Branntweindestillation vorwiegend in den Händen der Salzburger: und es ist ein sehr einträgliches Geschäft, da nicht minder in Littauen wie in Masuren ungeheure Quantitäten von Schnaps vertilgt werden, der in beiden Landschaften für den Arbeiter wie für den Bauer das wesentlichste Bedürfniß, das Haupt- wo nicht einzige Getnwk, sein köstliches Labsal bildet und bei jeder Mahlzeit, bei allen gewöhnlichen und außerordentlichen Gelegenheiten reichlich genossen wird. Ungern widmet sich dagegen der Sülzburger einen: eigentlichen Handwerk, noch ungleich seltener einer Kunst oder Wissenschaft. Jenes ist ihm nicht rentabel genug, und für diese hat er bei seiner durchaus praktischen Veranlagung wenig Sinn. Schon die äußere Erscheinung, das erste Auftreten kennzeichnet den Salzburger. (5r ist in der Regel von massiver etwas schwerfälliger Gestalt und von phlegmatischem derbem Wesen, die Geschlechtsnamen sind meistentheils dreisilbig und endigen auf er, z. V. Nohrmoser, Kapeller, Käswurmer, Zenthöfer, Blei-höfer :c. Endlich verräth den Salzburger auch seine Aussprache. Wenn schon der Dialekt des eigentlichen Ostpreußen seiner Härte, Breite und Gedehntheit wegen im ganzen deutschen Vater« lande berühmt ist, dermaßen, daß man ihn wie den ihm sonst diametral entgegengesetzten Sachsen daran erkennt, sobald er nur den Mund aufmacht, und ob er seine Heimath seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hat; wenn schon der eigentliche Ostpreuße die Umlaute ä, ö und ü, die Diphtonge au, äu, eu und ai nicht mehr kennt und das e regelmäßig in a verwandelt — so ist das Alles bei dem deutschen Littauer noch weit stärker der Fall, in dem Grade, daß jener gegen diesen gehalten, ein klassisches Teutsch 11 spricht. Aber selbst das rauhe polternde Deutsch des Littauers ist wieder klassisch zu nennen gegen dasjenige, welches der Salzburger handhabt. Seine Aussprache ist eine breimäulige, er taut die Wörter und verschluckt sie halb; er ist sicherlich ein ehrenwcr-ther vortrefflicher Mensch, aber er spricht den schauderhaftesten Jargon, den man in ganz Deutschland finden mag. Von dem Nothstande, der in Ostpreußen herrschte, waren die Ealzburgischen Landwirthe, Dank ihrer Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit und ihres durchgängigen Wohlstandes, am wenigsten betroffen. Und das Gleiche galt von dem südlichen höher gelegenen Littauen überhaupt, indem dieses durch Negen und Ueber-schwemmung bei weitem nicht so sehr gelitten hatte wie die Niederungen. Der Voden ist hier durchgehends ein lehmhaltiger, dessen milder Charakter allerdings an einigen Stellen der Kreise Instcr-burg, Ragnit und Tilsit von ganz strengem Lehmacker unterbrochen wird, sich bei Gumbinnen und Stallupöncn aber zu dem vorzüglichsten der Provinz erhebt. Das südliche Littauen hatte im Gegensatz zu den Niederungen noch immer eine Art von Ernte gerettet. Von dem benachbarten Masuren — um auch gleich von diesen: hier im Allgemeinen zu reden — vernahm ich sogar günstige Erntenachrichten. Masuren bildet zu Littauen sowohl in Betreff der Bodenerhebung als der Bodenmischung den schärfsten Gegensatz. Es ist kein ebnes flaches, sondern ein äußerst romantisches Land. Gleich hinter der littauischen Grenze, im Goldapper Kreise, beginnt eine allmälige Hebung des Bodens, ein fast stufenförmiges Steigen, abwechselnd mit kalt- und sandhaltigcn Hügeln. Die ganze Umgegend besitzt einen solchen Ueberfluß an Kalksteinen, daß die Felder damit gepflastert scheinen. Die Hügel sind noch kahl und bieten weite Fernsichten bis nach Polen hinein. Etwas südlicher beginnt dann die Masurische Hochebene, die Wasserscheide zwischen den Flußgebieten des Pregel und der Weichsel. Sie ist überall nut Granitblöcken bedeckt und führt über allmälige Senkungen in see- und sumpfreiche Tiefthäler hinab. Von diesen streichen in lieblicher Abwechselung unterbrochene Hügelketten nach Süden hin 12 und erfüllen mit zahlreichen Seen und kleinen Inseln eine hoch-romantische Landschaft, die Masurische Schweiz, als deren Mittelpunkt das reizend gelegene Städtchen Lyck gilt. Die meisten Hügelgruppen sind mit einem Gemisch von Laub- und Nadelholz geschmückt und uon schattigen Schluchten durchbrochen; lichte Laubund düstre Tannenwälder umzirken die Ufer der tiefblauen malerisch schönen Seen, aus denen grüne Eilande und buschreiche Werder auftauchen, über welche netzstellende Fischerkähne und kleine Dampfer hinfliegen. Den Beschluß macht die Iohannis burger Haide, eine 13 Meilen lange sandige und sumpfige Kiefernwaldung, welche sich längs der polnischen Grenze hinzieht. Ein so hoch romantisches Land kann nicht besonders fruchtbar sein. In der That ist Masuren, wie ein einheimisches Sprichwort sagt, nur „reich an Sand und Steinen". Der Landmann ist hier noch theilweise zu denselben Arbeiten genöthigt, wie sie dem amerikanischen Hinterwäldler obliegen, wenn er an die Urbarmachung des jungfräulichen Bodens geht. Er hat Schritt für Schritt mit Steinen, Baumwurzeln und/Sümpfen zu kämpfen. Die Beseitigung der Steine und Findlingsblöcke, welche in vielen Gegenden, namentlich im Neidenburger Kreise, in außerordentlicher Menge zu Tage treten, war früher zu kostspielig, weshalb Pflug und Egge sie einfach umgingen. Man könnte mit diefen Steinen alle Straßen der Provinz chaussiren, aber da bisher Chausseen in Masuren nicht viel gebaut wurden, pflegt man die gesammelten Steine zu hohen Wellen aufzuschichten oder auch in Gruben zu versenken. Man baut hier, außer Kartoffeln und Hafer, Roggen und Haide-korn; und das in geringer Menge und Güte. Nur oasenartig finden sich in dem durchgängig leichten Sandboden einige höher kultivirte Stellen. Wie in Ostpreußen überhaupt, liegen besonders in Masuren noch weite Strecken völlig unbenutzt; es ist hier ein erstaunlicher Uebersiuß von Land vorhanden, die Bauern besitzen weit mehr an Land als sie zu bearbeiten und zu bestellen vermögen. Die gemeine Bevölkerung ist ebenso arm wie bedürfnißlos. Sie heißen Masuren und sind ein Zweig der Polen, die Nach- Is kommen der alten Masovier. Ihre Sprache steht zur hochpolnischen in einem viel näheren Verhältnisse, als die plattdeutsche zur hochdeutschen-. denn sie unterscheidet sich von jener weniger durch abweichende Wortbildung als vielmehr durch fehlerhafte Aussprache, während die Schriftsprache ganz dieselbe ist. In einigen Gegenden wird ein Jargon gesprochen, der aus einem widerlichen Gemisch polnischer und deutscher in polnische Endungen ausgehender Wörter besteht. Die Kleidung hat wenig Eigenthümliches mehr, doch herrscht bei den Männern die Liebe zur blauen Farbe vor; und ein blauer Rock, mit einer aus weißem und blauem Zwirn gewebten Schärpe umgürtet, ist ihr höchster Putz. Tie Wohnungen sind meistens von Holz gebaut und mit Stroh gedeckt, zuweilen unter demselben Dache mit den Stallungen für das Vieh; besonders bei den Aermeren, deren Haushaltung von Unreinlichkeit strotzt. Die Masuren sind ein elastischer munterer Menschenschlag: wie die Polen gesellig und gutmüthig, bescheiden, ja unterwürfig, aber auch verschmitzt und hinterlistig, träge und liederlich. Mit den Littauern theilen sie die Neigung zu Trunk und kleinen Diebstählen, namentlich Holzfreveln-. und ihre eigentliche Nahrung besteht in Kartoffeln und — Kartoffelfusel. Masuren verhält sich zu dem übrigen Ostvreus;en, wie sich dieses zu den westlichen Provinzen verhält. Es ist in dem entlegenen Ostpreußen der entlegenste Theil, von dein immer sehr stiefmütterlich behandelten Ostpreußen die am ärgsten vernachlässigte Landschaft. Es fehlt hier an allen Verkehrswegen. . Wenn fchon Ostpreußen sechsmal weniger Chausseen hat als die westlichen Provinzen, so hat eben Masuren, namentlich im südlichen Theile, fast gar keine Chausseen. Die masurischen wie die littauischcn Wege sind gleich sehr berüchtigt. Man hat hier die schönste Gelegenheit zu ertrinken oder den Hals zu brechen, je nach der Jahreszeit. Im Herbste sind die Wege buchstäblich bodenlos, und der Landmann vermag dann oft seine Produtte nicht nach der nächsten Stadt zu bringen. Er kann sie überhaupt nicht genügend verwerthen, denn der Transport eines Scheffel Roggen aus dem Kreise Neidenburg 14 nach Elbing, als der nächsten Ostbahnstation, stellt sich bei schlechten Wegen auf über 15 Egr.*) Es sterben in Masuren und Littauen noch immer Tausende, die nie Königsberg, die Hauptstadt ihrer Provinz, gesehen haben; und wer früher aus dem masurischen Hinterlande bis nach dem etwa 10 — 15 Meilen entfernten Gum-liinnen oder Instcrburg vorgedrungen war, galt schon für einen berühmten Reisenden. Wenn Masuren aber Chausseen und Eisenbahnen erhält, dann hat es noch eine Zukunft. (5s ist keineswegs so arm und unfruchtbar, wie es dem ersten Vlick erscheint, sondern es ist nur ein noch unlultivirtes Land. Tcr Voden besteht allerdings aus leichtem Sand, aber er ist weithin mit genügendem Lehm versehen, Mergel ist der stete Begleiter, der Untergrund ist meistens ein günstiger, häufig besser als die Krume — um ernster Kultur eine lohnende Aufgabe zn verheißen.^) Das beweisen auch die neuerer Zeit mit vielem Erfolg unternommene Austrocknung einiger Modcrbas-sins und die Anlage von neuen Wiesenstücken. Unter den bisherigen Verhältnissen und Zuständen ist Masuren allerdings noch ein unfruchtbares Land, denn es besteht in der Hauptsache aus dürren Sandstrecken. Allein gerade deshalb ist das über die anderen Theile der Provinz hereingebrochene Mißjahr für Masuren ein außerordentliches Eegcnsjahr geworden. Tas sandige Masuren kann nie zuviel Regen bekommen, die ewigen Regengüsse des vergangenen Jahres hatten ihm, wie man mir sagte, eine so gute Ernte wie noch nie beschcert, es hatte zum ersten Male guten und reichlichen Roggen und sogar — Weizen gebant. ») Acker- und Wiesenbau der Provinz Preußen. Von Conrab-Maulen, in der erwähnten Festgabe. **) Ebendaselbst. 15 II. An der polnischen Grenze. Von den, merkwürdigen Schicksal, so eine Ortschaft «fahren, die da Eydtlnhnen heiße und dicht bei Polen lieget. — Wie die russischen Eisenbahnen beschaffen sind, und was die Reisenden an der Grenze Alles auszustehen haben. — Von den Schmugglern und ihren ualilvlichcn Fcmtcn, den Ttra?;nicks. — Wie der Verfasser die littanischen PastoreS und Pväzentoreö heimsuchet, und uon ihnen gar wohl aufgenommen wird; dann aber nach Polen hineingehet, und was er in dem Städtchen Wirballen siehet und höret. Wenn man von dem Westen Amerika's hört, das; dort am Ufer eines Flusses, oder auf dem Grunde eines Stevpcnbeckens eine Stadt emporgewachsen, wo vor wenig Jahren noch kein Mensch hauste, so befremdet uns das uicht mehr, denn wir sind au solche Kultmsprünge in jenem Wunderlande gewöhnt. Taß aber eine ähnliche Erscheinung in dem entlegenen dünnbevölkerten Ostpreußen vorkommen tonnte, wird Manchem unglaublich dünken. Und doch ist es eine Thatsache. Am äußersten Ende der Monarchie, hart an der russischen Grenze, wo die die ganze Provinz durchschneidende Ostbahn aufläuft und sich ihre letzte Station Endtkuhnen befindet, standen noch vor acht Jahren zwei elende Käthen — nichts weiter. Jetzt fand ich einen ausgedehnten modern erbauten Ort, dem zur Stadt uichts mehr als der Name fehlt, denn er zählt bereits gegen 2000 Einwohner. Eine lange Gasse artiger Landhäuser und kasernenartiger Rohbauten bot sich meinen Blicken dar, als ich den mächtigen prächtigen Bahnhof verließ, der in Norddeutschland kaum seines Gleichen hat und mit den zahlreichen Nebengebäuden, Güterschuppen und Werkstätten fast allein eine kleine Stadt bildet. Jene Rohbauten sind königliche Gebäude, in welchen das Heer der Eisenbahn-, Zoll- und andern Beamten einquartiert ist. In den übrigen Häusem wohnen Kaufleute, Spediteure und Gewerbetreibende aller Art, die sich seit der im Jahre I860 erfolgten Vollendung IS der Ostbahn hier niedergelassen haben. Diese Häuser, mit Vorgärten, Balkönen nnd Veranden versehen, haben zwar alle ein schmuckes freundliches Aussehen, doch tragen sie auch fast alle in ihrer ganzen Bauart und Einrichtung den Charakter des Unfertigen und Unsoliden. Man merkt ihnen an, das; sie so rasch und so billig wie möglich errichtet sind, nur um dem ersten Bedürfniß zu genügen- und der schöne Schein vermag das mangelhafte Wesen nicht zu verbergen. Eine Ulisolidilät, die sonst in Ostpreußen nicht gefunden wird, da sie dem ostpreußischen Charakter schnurstracks entgegensteht. AIs ich einen kleinen Jungen, der mich auf dem Perron mit emer Schaar von Altersgenossen empfing, die mir alle um die Wette ihre Dienste anboten, aufforderte, mich nach dem mir empfohlenen Hotel zu bringen, entgegnete er: — Ah, das ist noch sehr weit. Ganz in der Nähe liegt ein anderer Gasthof, und es ist ein sehr guter und billiger Gasthof, wo es ihnen schon gefallen wird. — Gut, sagte ich, so wollen wir dorthin gehen. Vor dem Hause angekommen, stutzte ich; denn ich sah zwar eine Einfahrt, aber sonst nichts, was auf einen Gasthof schließen ließ, nicht einmal ein Schild. Doch der Junge begann mächtig zu rufen, und alsbald erschien eine Frau, welcher er mich als einen neuen Gast vorstellte. — Wollen Sie gleich auf Ihr Zimmer? fragte sie mich. — Später, antwortete ich. Wo ist die Gaststube? — Ein Gastzimmer haben wir noch nicht, entgegntete sie etwas verlegen. Wir sind noch nicht gehörig eingerichtet. In der That war das ganze Erdgeschoß, wie ich bald erfuhr, vermiethet, und auf dem wüsten Hofraum noch nichts von Ställen und Schuppen zur Aufnahme von Pferden und Wagen zu entdecken. Ich ließ mich also von einer inzwischen herbeigerufenen schmutzigen Magd nach meinem Zimmer hinaufführen, fand aber auch dies kläglich eingerichtet, und fast schien mir's, als ob es noch eben von der Familie selbst benutzt worden wäre. Auf dem Fensterbrett 17 lehnte eine kurze Tabackspfeife, auf dem Tische lagen ein Brod« messer und andere Utensilien umher, welche die Magd nun rasch beseitigte. Und wie ich zufällig die Hand auf den Drücker einer Thür legte, öffnete sie sich, und ich blickte unmittelbar in das Wohnzimmer der Wirthsleute, in das Angesicht des Hausherrn, der bei meiner Ankunft sich hierher zurückgezogen hatte. Später hörte ich denn auch, daß diefe beiden Räumlichkeiten die einzigen Fremdenzimmer waren; und als mit dem Abendzuge noch eine Dame eintraf, wurde sie in das Nebengemach gewiesen, welches die Wirthsleute nuumehr auch verließen, und die Nacht hindurch — Gott weiß wo — tampirten; denn die übrigen Zimmer der Bel-Etage waren gleichfalls ucrmicthet. Ich hielt mich nicht lange auf nno ging wieder hinunter, wo ich auf dem Flur noch den Jungen in einer Unterhaltung mit der Wirthin fand. Jetzt merkte ich, das; der fo unschuldig aussehende kleine Schlingel der Agent des Gasthofs war, er hatte mich glücklich eingefangen und erhielt nun dafür seine Courtage. So fand ich in Endtkuhncn schon einen Industriezweig blühen, wie ihn nur wenige große Städte aufzuweisen haben. Gasthöfe, Restaurationen, Kaufläden und Handwerker sind in Menge und zum Uebcrfluß vorhanden. Anfangs machten sie alle gute Geschäfte, aber in den letzten Jahren sind die Bedürfnisse der Einwohner geringer geworden, hat der Fremdenverkehr nachgelas: sen. Früher waren die Reisenden, unter denen sich viele reiche Russen befanden, hier zu übernachten gezwungen; jetzt sind die Züge so gelegt, daß man ohne Aufenthalt weiter fahren kann. Früher mußten die Güter der Zollrevision wegen hier aus- und umgepackt werden; jetzt gehen sie direkt bis Petersburg. Eine Menge von Spediteuren ließ sich hier nieder, und alle hatten vollauf zu thun. Viele sind seitdem wieder fortgezogen, die andern feien». Tamals stiegen Grund und Boden, Häuser und Miethen im Preise; jetzt stehen viele Wohnungen leer, die Grundstücke gehen schnell aus einer Hand in die andere und gerathen häufig in Konkurs. Ein Schwindelgeist, eine Ueberspekulationssucht henschte in Eydttuhnen, und charakterisirt noch heute das aus den wunderlich- 2 18 sten Elementen zusammengesetzte Gemisch der Bewohnerschaft, unter welcher sich die verschiedensten Nalicmalitäteu befinden. Ta<> sa rasch emporgeschossene Eydtknhnen ist schon wieder im Vasall begriffen. Ich war nach dem Bahnhof znrückgelelnt, um die Autuuft des russischen Zuges zu erwarten. Da5 russische Geleise, bekanntlich etwas breiter als das preußische, läuft bio Eydttuhueu, uud die Russen bringen ihre Züge selber bis hierher. Ebenso überschreitet auch das preußische Geleise die Grenze und läuft noch eine Strede in das riesige Nachbarreich hinein bis zur ersten russischen Etation Wirb allen, welche der Endpunkt für die preußischen Züge ist. Der Völker verbindende Cchienenstrang hat auch die feste Mauer durchbrochen, mit welcher sich das Zarenreich noch immer von Europa abgeschlossen hält; aber es ist auch die einzige Bresche in dieser Mauer und bisher fast ohne Vedeutuug. Der russische Zug sollte um 9 Uhr Abends eintreffen, uud er war um '/,10 noch nicht da. Doch das schien Niemanden zu überraschen, die Nüssen halten sich nicht so ängstlich an die Zeit, und man ist daran gewöhnt, daß ihre Züge bald eine halbe Stunde früher, bald eine halbe Stunde später ankommen. Endlich schob sich eine plumpe duukle Masse schwerfällig uud fast geräuschlos iu den Bahnhof: es war der verspätete Zug. Die Waggons der Russen sind größer und massiver als die unsrigen, auch wohl, namentlich die der unteren blassen, eleganter und bequemer eingerichtet. Nur waren sie, trotz der fchon längst hereingebrochenen Dunkelheit, noch nicht erleuchtet: — Licht ist eine Sache, an welcher der Russe überall zu fparen sucht. Ich war überrascht, in den russischen Beamten fast nur Deutfche zu finden. Der Zug- uud der Lokomotivführer, die Heizer und die meisten Schaffner waren Teutsche, und fchienen mit ihrer Stellung und ihrem Einkommen zufrieden zu fein. Die Russen fühlen sich dem Dampf und den Mafchinen nicht gewachsen; um diese zu bewältigen und sich dienstbar zu machen, müssen sie nach Deutschen greifen, die als ihre Lehrmeister fungiren. Aber die Russen sind eine äußerst nachahmungssichlige und nachahmnngöfertigc Race; fie fassen leicht und lernen schnell, und sobald sie sich etwas sicher fühlen, werden sie die Deutschen fortschicken. 19 Bald nachdem der russische Zug eingetroffen ist, fährt an der entgegengesetzten Eeite des Bahnhofsgebäudes der preußische vor. Doch sind die Passagiere, bevor sie mit dem letzteren ihre Reise fortsetzen di'nfen, lästigen Plackereien unterworfen. Sie werden zunächst in emcn Saal geführt, wo zugleich von russischer wie von preußischer Seite die Revision der Pässe und des Gepäcks geschieht. Die gleiche Musterung wird naturlich auch auf dem jenfeitigen Bahn-Hofe in Wirballen mit den auf preußischen Zügen dort ankommenden Reisenden vorgenommen: und da auch die Güter- und Post-stückc stets umgeladen werden messen, findet hüben wie drüben ein ebenso langer wie unnützer Aufenthalt statt. Das Leben und Treiben an der Grenze ist ein sehr eigenthümliches und theilwcisc auch anziehendes. Trot; der streng gc-handhabten Grenzsperrung findet ein vielfacher Verkehr zwifchen den beiden Ländern statt. Da sind znnächst die Ueberläufcr aller Art. Im Jahre 18 5 5 befanden sich allein im Neidenburger Kreise gegen 1500, im Cttaßburger 3000 polnische Ueberläufer — lauter rüstige Männer, welchesich als Knechte und Tagelöhner verdingt hatten, nach der Thronbesteigung des jetzigen Kaisers aber wieder nach Polen zurückkehrten und dadurch eine fühlbare Lücke in den Arbeitskräften jener Gegend hinterließen. Denn wiewohl Ostpreußen von allen Provinzen der Monarchie die stärkste Quote seiner Bewohner und zwar auch des weiblichen Geschlechts bei der Landwnthschaft beschäftigt, so fehlt es wegen der dünnen Bevölkerung und ocr hohen Sterblichkcitszisfer doch dem Landbau an Arbeitern. Sehr vortheilhaft müßte deshalb die Aufhebung der Kartell-Konvention mit Rußland wirken, indem dann eine Menge von Ueberläuforn und Auswanderern in Prenßen Beschäftigung suchen würde. — Aber trotz der Konvention leben hier noch immer viele Ucberläufer, die sich den Augen der Obrigkeit zu verbergen wissen oder von ihr auch mehr oder weniger geduldet werden. Wenn diese sich nur dem russischen Mlitairdienst ciüzie-hen wollen, so giebt es auch andere, die wegen begangener Verbrechen übertreten. Längs der ganze Grenze sind hüben und drüben Verbrechen gegen das Eigenthum an der Tagesordnung. Die russischen Diebe flüchten sich mit dem gestohlenen Gut auf preußisches, 3" 20 die hiesigen nut ihrer Beute auf russisches Gebiet. Ebenso wird umgekehrt uon preußische,, Untcrllianen auf russischem Gebiet, von den jenseitigen Staatsangehörigen in Preußen gestohlen und geraubt, gesengt und gebraunt. Tic beiderseitigen Grenzbehörden sind fortwährend mit Uutersnchungeu beschäftigt, die indes; häufig resultatlos bleiben. Ein anderes Motiv des Grenzuerkehrs bildet der Schmuggel, zu welchem sich die Anwohner die Hände reichen. Er wird aller' dings an der polnischen Grenze nicht in so großem Umfange und Maßstabe betrieben, wie an der eigentlich russischen, von Schmalle-ningken bis Memel hinauf: und hat iu den lcjitcn Jahren überhaupt start nachgelassen. Einerseits wird die Grenze uon den russischen Beamten strenger bewacht, und sie sind, weil inzwischen besser besoldet, gegen Bestechlichkeiten etwas unzugänglicher geworden; andererseits hat die jüngste polnische Iüsnrretlion dem Schmuggel schwere Wunden geschlagen, indem sie das Land entvölkerte und verarmen ließ. Die Lente haben kein Geld, können also auch nicht taufen. Wolleu sie aber kaufen, fo erhalten sie jetzt die Waaren dort fast ebenso billig wie bei uns: denn die russische Industrie beginnt mit der deutscheu mehr und mehr zu wetteifern, der (Papier-) Rubel, im Neunwerthc uon 1 Thlr. 2 '/, Sgr., ist im Preise sehr gesunken und gilt zur Zeit nicht mehr als 35 bis 27 Silbergroschen in Preußen. Der preußische Cours aber ist auf beiden Eei-ten der Grenze maßgebend. — Der Schmuggel hat nachgelassen, allein keineswegs etwa aufgehört. Wenngleich nur noch im Kleinen betrieben, bildet er für die Grenzbewohner noch immer einen wesentlichen Erwerbszweig, den sie jedem andern bei weitem vorziehen. In professioneller Weise wird der Cchmnggel hauptsächlich uon Juden und Losleuten betrieben; nebenbei schmuggelt aber auch jeder Andere, so oft sich nur eine Gelegenheit bietet. Niemand sieht im Schmugel etwas Unrechten, sondern nur eine natürliche und gerechte Nothwehr gegen eine despotische unerträgliche Fessel. Aber der Schmuggel hat auch die Grenzbeuölterung, indem er alle Kreise und Schichten derselben durchzieht, bedeuklich korrumpilt, und läßt unter ihr Laster und Perbrechen emporwuchern. Der gemeine Mann 21 neigt zum Trunke, zur Lüderlichtcit und zu»n Müßiggang. Er stiehlt und schmuggelt lieber, als daß er arbeitet, und er ue»thut leichtfertig, was cr erwirbt. Denn das Geld hat au der Grenze, wo es schneller cirkulirt und leichter uerdieut wird, nicht den Werth wie anderwärts. Drittens ist auch der Privat- und Geschäftsverkehr an der Grenze ein sehr lebhafter. Bekanntlich darf diese nur an bestimmten Barrieren, die meilenweit uon einander entfernt liegen, und gegen Vorzeigung eines Passes überschritten werden; aber die Greuzanwohncr kümmern sich um diese Bestimmung nicht eben, sondern treten da über, wo es ihnen am nächsten und bequemsten ist: bei Tage wie bei Nacht, zn Fuß wie zu Pferde, oder gar zu Wagen und mit beliebigen Waaren und Lasten. Die Grenzsperre kann trotz der Armee von Wächtern und Beamten nicht vollkommen durch' geführt werden-. aber die Straszniks — wie die russischen Grenzsoldaten im Munde des Volkes heißen — sind im Großen und Ganzen auch nichts weniger alo strenge Wächter. In ihrer bunt zusammengewürfelten meist schäbigen, schmutzigen, zerrissenen Uniform, in ihrem so überaus nachlässigen und schlotterigen Wesen und Ge-bahren spotten sie der Vorstellung, die einem Preußen uon Soldaten und soldatischer Disciplin beiwohnt. Auf der bloßen Erde hingestreckt oder hinter einen: Gesträuch lagernd, sieht man sie nicht selten an ihren Kleidungsstücken herumflicken oder sich die Langeweile durch ein Schläfchen vertreiben, während sie das Gewehr sorglos bei Seite geworfen haben. Grenzverletzungen finden täglich statt, und tonnen gar nicht vermieden werden, sind aber auch hänfig unschuldiger Natur. Die hüben und drüben weidenden Pferde und Kühe lassen sich's nicht selten einfallen, im Nachbarreiche einen Besuch abzustatten und müssen dann von den Eigenthümern zurückgeholt werden. Es geschieht das unter den Augen der Straszniks, und sie lassen es gewöhnlich ruhig vollführen; plötzlich zeigen sie sich jedoch anderer Meinung, treiben das übergetretene Vieh fort und arrctiren auch den nachsetzenden Hirten, welcher dann erst nach langwierigen Verhandlungen zwischen den beiderseitigen Grenz-Kommissanen freigegeben wird. Ein russischer Beamter ist 22 eben unberechenbar und kehrt sich an kein Gewohnheitsrecht, sondern handhabt heute diese Praxis und morgen die cittgegengeselzle. Im Allgemeinen ist jedoch der Strasznik zugänglich und leicht zu gewinnen. Man wüst ihm ein Geldstück zu: alobald wendet er sich zur Seite, oder er geht davon, und ist nun blind und taub für Alles, was hinter ihm geschieht. Glaubt er einen Kameraden oder Oberen in der Nähe, so macht er wol einen falschen Lärm und schießt in die Luft, aber inzwischen haben die anscheinend Verfolgten das preußische Ufer gewonnen und befinden sich in vollkommener Sicherheit. 2er Etra^znik nimmt nicht nur, er fordert, er bettelt bei Vorübergehenden, die seine Gefälligkeit gar nicht in Anspruch nehmen. „Cigarte! Wuttteü" fleht er mit kläglicher Stimme und trübseliger Geberdc. Ja, eö ist schon vorgekommen, daß solch' kaiserlich-russischer Greuzwächtcr selbst die Grenze überschreitet, Gewehr im Arm, in die Stube eines preußischen Bauern tritt und um ein Almosen bittet. Die Schmuggler haben meist leichtes Spiel mit ihm. Sie eröffnen die Unterhandlung, indem sie ihm eine Flasche stmken Branntweins darbieten. Nur selten vermag er solcher Lockung zn widerstehen; er seht die Flasche an den Mund, leert sie in wenigen knrz auf einander folgenden Zügen und fällt betrunken zu Boden. Was ich hier erzähle, habe ich selber vor acht Jahren mehrfach beobachtet. Ich lebte damals auf einer Domäne dicht an der Grenze, inmitten einer Familie, die mit ihren Nachbarn in Polen einen Umgang unterhielt. Wenn die polnischen Gäste uns besuchten, sehten sie einfach über die Leponc, wie das schmale und seichte Flüßchcn heißt, welches hier die Grenze bildet. Natürlich war der Uebergang verboten, aber keinem Etrasznik fiel es ein, sie daran verhindern zu wollen. Noch sehe ich die eleganten Kavaliere in ihren kurzen Schnurröcken und hohen pelzverbrämten Mühen auf kleinen flüchtigen Pferden in den Hof sprengen; hinter ihnen ein halb Dutzend schnurrbärtiger Diener, und wenn sie zur Hetzjagd ka-nen, auch von ebenso vielen Windhunden begleitet. Wie behend sie von den Pferden sprangen, mit welch' devoter Galanterie sie vor den Damen des HauseZ das Knie beugten und ihnen die Hand 23 küßten, wie gefällig sie sich bewegten, wie anziehend sie zu plaudern Wichten, entweder iu fließendem Französisch oder in gebrochenem aber eben deshalb „so reizend" klingendem Teutsch; wie meisterhaft sie L'hombre und Aillard spielten, und mit welch' gewinnenden Manieren sie uns jedesmal das Geld abnahmen! Und nun gar erst die polnischen Edelfräuleiu! Welch' glänzende feurige Schönheiten, wie uiel Grazie und Ausdruck in jeder Bewegung!! und Gebcrde, welch' süßes Kotettiren und welch' himmlisches Tanzen. Auch wir ritten und fuhren zu ihnen hinüber, und wenn wir an die Lepone kamen, empfingen uns die Straszniks mit abgezogenen Mülicn und ehrerbietigem Grinsen. Sie kannten uns schon nnd nahmen die ihnen zugeworfenen Geldstücke und Cigarren mit unterthänigem Tank in Empfang. Unsere Gastfrcunde dagegen e> schienen in ihrem Heimwesen weit weniger glänzend und anziehend. Schon der Anblick der elenden verfallenen Wirthschafts-gebäude, des schmutzigen, unordentlichen Hofraums und des ruinen-haften Herrenhauses täuschte mich bitter in meinen Erwartungen. Die langsamen, schläfrig herbeikommenden Diener waren in ihren zerlumpten Kleidern, mit ihren ungewaschenen Gesichtern und ungekämmten Haaren kaum wieder zu erkennen. Auch die Herren hatten nur unuolltommen Toilette gemacht, und die schönen Damen, welche wir in einem zweifelhaften Neglia/' überrafchten, flohen uor uns mit hellem Geschrei. Nach einer Weile kamen sie wieder zum Vorschein, jetzt wieder in Sammet uud Seide rauschend, goldene Geschmeide um Avme und Nacken, Alle wieder strahlend und bezaubernd. Aber mein Mißtrauen war einmal geweckt. Die zum Sprüchwort gewordeue polnische Wirthschaft guckte aus jedem Winkel und jeder Ecke, aus jedem Möbel und jedem Geräth. (5s war eine große Tafel angerichtet und zahlreiche Schüsseln gingen umher, das halbe Dutzend Diener, die sich inzwischen in ihre Livreen geworfen hatten, stand in aufmerksamer Haltung hinter unsern Stühlen, eine lebhafte Unterhaltung war bald im Gange, den lustigen Scherz- und Witzworten der Herren antwortete das fröhliche Gelächter, die allerliebsten Blicke der Damen — und dennoch, Messer und Gabeln, Löffel und Teller waren nimmermehr rein uni> 24 blank zu nennen, die Gerüchte hallen ein verfängliche Aussehen u«t» einen räthselhaften Geschmack. Das Beste war der Wem. Die eleganten Kavaliere und schönen Damen sind nun alle verschollen. Einige der Herren hatten sich schon bei dem früheren polnischen Aufstande betheiligt, aber die Verzeihung des jchigmKaisers unter dem Versprechen erlangt, das; sie sich fortan als loyale Unterthanen betragen wollten. Dennoch tralcn sie, als die jüngste Insurrektion ausbrach, wieder in die Reihen der Aufständischen. Sie fielen im Kampfe oder flohen nach Frankreich, ihre Güter wurden konfiscirt. Mit diesen Erinnerungen beschäftigt, wanderte ich am andern Morgen von Endtkuhncn nach dem nächsten.Kirchdorf, wo mir ein paar liebe Bekannte leben, der Pfarrer nnd der Präcentor. Jener fungirte schon vor acht Jahren hier; dieser dagegen, mein Kamerad von der Universität her, war, wie ich ganz zufällig erfuhr, erst seit einigen Monaten hier angestellt. Es wurde mir etwas schwer, ihn, der um uiele Jahre jünger als ich, schon in Amt und Würden, und noch schwerer, ihn schon als Ehemann zu denken; aber er trat mir so anspruchslos und so kindlich wie früher entgegen und nahm die Ausbrüche meiner Verwunderung mit gutmüthigem Lächeln anf. Das junge Paar war erst seit wenigen Wochen vermählt und noch gar nicht eingerichtet; uud sie hatten schon die kleine Wohnung mit Gästen überfüllt; es waren die beiderseitigen Eltern anf Besuch gekommen, und jetzt fiel auch ich ihnen noch in's Haus. Doch sie schienen deshalb mehr erfreut als verlegen und beeiferten sich, auch mich so gut aufzunehmen, als sie es vermochten. Der Präcentor ist in Littaucn das, was man in andern Provinzen den Kantor oder Kirchschullchrer nennt. Doch werden diese Stellen ihrer Einträglichkeit wegen und aus anderen Gründen hier durchweg mit jungen Theologen besetzt. Das Amt des Präcentors ist kein leichtes und ihm liegen mancherlei Verrichtungen ob. Er ist zunächst Lehrer und hat als solcher, wie jeder 25 andere Landschulmeister, die liebe Jugend secho Stunden täglich in den Anfangsgründen der Wissenschaften zu unterrichten. Daneben ist er Organist der Kirche und leitet an jeden Sonntag den Gesang der Gemeinde, sowohl beim deutschen wie beim littauischen Gottesdienst, uon denen der letztere stets dem ersteren auf dein Fuße folgt. Endlich muß der Präcentor seinem Pfarrer bei jeder Amtshandlung assistireu und ihn in Vehindcrungsfällcn vertreten. Das Vonsistorium läßt in der Negcl keinen Kandidaten ins geistliche Amt, der nicht einige Jahre Präcentor gewesen ist. Viele bleiben es ihr Lebelang, einige gezwungen, andere freiwillig; denn manche Präcentur wirft mehr ab als manche Pfarre; manche sind mit einer Hufe Dienstland und einem Einkommen uon mehr als tausend Thalern ausgestaltet. Auch meinem Freunde war, obgleich er uon der Landwirtschaft nicht das Geringste verstand, mit seinem neuen Amte eine nicht unbedeutende Oekonomie aufgeladen. Er sollte Kühe, Ochsen, Pferde und Wagen kanfen, Gesinde und Tagelöhner halten, säen und dreschen, pflügen und Mist streuen lassen. Sein Vater und der erfahrene Pfarrherr unterstützten ihn mit Rath und That, und er war voll Eifer und guten Muthes. Ucbrigens finden sich viele Präcentoren und Geistliche so gut in diese Beschäftigung, daß sie darüber alles Andere vergessen und oft völlig verbauern. Noch fettere „Bissen" als die Präcenturen sind die littaui-schen Pfarrstellen, deren Einkünfte sich meist auf 2—4000 Thaler jährlich belaufen. In diesen Pfarrhäusern herrscht Wohlleben, findet man wie in ganz Littauen eine patriarchalische Gastfrenndschaft. Die Gäste kommen mit Kind und Kegel, mit Dienstboten, Wagen und Pferden und quartieren sich auf Wochen und Monate ein. Allein auch die littauischen Pfarren sind keine Sinekuren, die Amts-geschäfte der Geistlichen im Gegentheil doppelt so groß, wie anderswo. Sie haben an jedem Sonntage einen zwiefachen Gottesdienst abzuhalten, zunächst in deutscher und dann in littauischer Sprache: sie haben deutsche und littauische Konfirmanden, einen ungewöhnlich großen Sprengel, zuweilen auch noch eine Filiale zu besorgen. Noch beschwerlicher ist das Amt der Geistlichen, welche auf der Grenze zwischen Littauen und Masuren angestellt sind. Weil diese 20 in ihrer Gemeinde sowohl Teutsche wie Masuren und ^ittancr haben, müssen sie an jedem Sonntag dreimal in drei Sprachen predigen, und ebenso haben sie dreierlei .Konfirmanden zu unterrichten. Gerade diese Stellen sind indes; nicht sonderlich fimont. Sonntag nach dem Mittagessen fuhr mich der Pfmrcr nach Eydtknhnen zurück, wo er nachdem er heute schon zweimal gepre^ digt, zunl drittenmal sprechen sollte. In denl so schnell aufge^ schossenrn Ort ist ihm nämlich eine Filiale erwachsen, und er hält hier alle vierzehn Tage einen Nachmittagsgottcsdienst ab, wozu einstweilen ein Saal im alten Empfangogebäude hergerichtet ist. Während cr in die.Uirche ging, spazierte ich in da<> russische Reich. Ter russische Schlagbaum befindet sich gleich am Ende des Dorfs, hinter der Brücke, welche über das GrenMßchen führt. Er ist nicht, wie der preußische, aufgezogen, soudern Tag u»d Nacht niedergelassen. Vor ihm müssen die Reiter und Fuhrwerke Halt machen, die Reisenden absteigen und, wie die Fußgänger, sich durch eine schmale Oeffnung zwischen der Varriöre und dem Wachthause zwängen, worauf die Schildwache sie in das Vnrean weist. Hier notirt der erpedirende Beamte ihre Namen, reuidirt die Pässe, und wenn er diese richtig befunden, tritt er mit ihnen hinaus, um auch Pferde und Wagen hereinzulassen, zu welchem Zwecke er eigenhändig den Schlagbaum aufschließt und gerade so weit in die Höhe läßt als unumgänglich nothwenig ist. (5s sieht auö, als ob die Reisenden unter einem Galgen oder gar unter einein scharf über ihrem Haupte schwebenden Fallbeil hindurch fahren müssen: unmittelbar hinter ihnen fällt der Echlagbaum wieder und wird sorgfälltig zugeschlossen. Bis znr Eröffnung der Eisenbahn herrschte an dieser Bar-riöre, die mit einigen umherliegenden Bauerhütten den Namen Kibarten führt, ein lebhafter Verkehr. Wenn ich sie zu jeucr M passirtc, mußte ich gewöhnlich eine halbe Stunde oder länger warten; nicht gerade wegen zu großen Andrangs, sondern weil ich mich nicht gleich entschließen konnte, ein Trinkgeld zu opfern. Tie Herren Expedienten saßen, eine Cigarre rauchend oder mit dem Federmesser ihre Nägel putzend und dazu mit den Füßen bau- 27 melnd, alls den Tischen, ohne mich eines Blicke^ zu würdigen und ohne mein wiederholtes Räuspern zu beachten. Lieh ich endlich meiner Ungeduld Worte, so herrschte man mich an: „Keine Zeit! Warten, warten!" Sobald ich aber Einem oder dem Andern auch nur das kleinste Geldstück zeigte oder auch nnr ein paar Cigarren anbot, sprang er wie elcttrisirt vom Tische, behandelte mich mit der größten Freundlichkeit und fertigte mich im Handumdrehen ab. Auf ein Trinkgeld rechnete Jeder, vom Höchsten bis zum Niedrigsten, und ohne Trinkgeld that Niemand etwas. Nur wenn ein Gesandter, ein General oder sonst eine vornehme Herrschaft angefahren kam, waren die Herren Expedienten flink wie dcr Wind und artig ohne vorherige Bezahlung. Auch vor jeder Uniform, gleichviel ob es eine russische oder preußische ist, haben diese Leute den tiefsten Respekt. So entsinne ich mich, daß ich einst mit einem Postschrciber über die Grenze ging. Dieser hatte sich in große Uniform geworfen, und man empfing uns wie Standcspersonen nnd lehnte das Geldstück, welches wir ihnen boten, mit tiefen Verbeugnngen ab. Für meinen Ausflug hatte ich mich nut einem sogenannten Grenzpaß ve,sehen. Er trägt die Unterschrift des Kreis - Landraths und ist für 8 — 1^ Tage und für eine Tour bis 4 Meilen gültig. Diesmal wurde ich ohne alle Weiterungen abgefertigt. Der weiße Strasznik übergab mich dem grünen Kontrolleur, dessen Ellbogen mit doppelstreifigen Litzen und dessen Brust mit vielen Medaillen geziert war. Dieser sah nicht einmal nach, ob mein Name nicht auch schon im Schwarzen Buch unter den Verdächtigen stand, in welchem Fall ich ohne Gnade zurückgewiesen worden wäre; sondern er hieß mich meinen Namen, der ihm wohl etwas schwer fallen mochte, selber in das Journal eintragen, und rief dann einen Soldaten herbei, der mich nach der Tomoszna oder Zollkammer trans-portircn sollte. Sie lag nur eine Viertelstunde ab, aber doch hielte» vor der Thüre, des Wachthauses verschiedene zweirädrige einspännige Karren, jeder von einem Juden geführt, und jeder wollte mich aufnehmen und gegen einige Silbergroschen fortschaffen. Auf der Tomoozna findet die Zollrevision statt; für gewöhnlich wird nur das Gepäck, selten die Person des Reisenden untersucht. Man 28 trug meinen Namen auch hier in cm Journal, versah den Paß mit einem Stempel, gab ihn mir zurüct und lies; mich gehen. Ich besuchte deu in der Nähe liegenden Bahnhof, welcher an Großartigkeit dem in Cydtknhnen nicht nachsteht und mit denselben Komfort ausgestattet ist. Die Restauration befindet fich in den Händen eines Franzosen, die Wein- und Speisekarte ist in französischer Sprache abgefaßt; dafür sind die Preise aber auch doppelt so hoch, wie in Preußen. Tic nächste Stadt ist Wirballen, etwa eine Stunde von der Grenze. Auf der Chaussee dorthin wurde ich von einem der jüdischen Karren, der sich schon vorhin am hartnäckigsten bewiesen hatte, eingeholt nnd mußte mich ihm nun doch ergeben. Der Jude war mit einem Viertel Dessen zufrieden, was er ursprünglich gefordert hatte, nnd die Fahrt begann. Pferd und Herr wetteiferten mit einander an Magerkeit und elendem Aufsehen, aber beide leisteten weit mehr, als ich ihnen zugetraut hatte. Das dürre hochbeinige Thier griff so waäer aus und sauste mit uns so schnell dahin, daß ich wirtlich fürchtete, die morfche Karre würde in Trümmer gehen oder doch umwerfen. Moses flog auf seinem Sitze, der ans einem losen Brctt bestand, beständig hin und her, während seine langen Beine fast auf der Erde schleiften, und ich klammerte mich mit beiden Händen fest, um nicht hinaus zu fallen. Gleich mit dem Ueberschreiten der Grenze nimmt die Landschaft einen tristen Charakter an. Weite Strecken Landeo liegen uöllig unangebaut da, man stößt nur hin und wieder auf kleine Heerden weidender Kühe und Schafe, und diese sind von jämmerlicher Beschaffenheit. Auch die Höfe, Dörfer und Weiler werden seltener, und die elenden Hütten, meist nur uon Lehm, oft sogar von Torf erbant, gleichen knum noch menschlichen Wohnungen. Wirb allen ist, wie die meisten anderen polnischen Städte längs der Grenze, ein ärmliches schmutziges Iudennest. Alle Handwerker in der Stadt sind Juden, alle Kaufläden, Echänken und Gasthäuser befinden sich in den Händen von Juden: der Jude ist in Polen Alles und was er nirgends sonst wo ist, z. B. Knecht und Fuhrmann, Hirte und Lastträger, neuerdings sogar Beamter. 29 Vor allen Thüren saßen, aus allen Fenstern guckten jüdische Männer und Weiber, jüdische Jünglinge und Mädchen; starrten mich neugierig an und verfolgten mich mit ihrem Geschrei, bei ihnen einzutreten und etwas zu kaufen. Auf den Gassen spielten die Binder theilweise nackt, theilweise nur mit einem Hemde betleidet, und alle strectten bettelud die Hände aus. Alsbald war ich von ciuer Schaar zerlumpter Alten, kranken und Krüppel — Alles Juden — umriugt, und zwanzig Andere, linder und (5'rwachsenc — wieder Juden — boten mir die verschiedensten Dienste an. Will man dieser Verfolgung, die anfangs belustigt, bald aber zur Verzweiflung bringt, entgehen, so muß man für seinen Besuch den Sonnabend wählen. Dann sind selbst die Kinder gewaschen, gekämmt, sauber gekleidet und stolziren so durch die Straßen; die Erwachsenen aber haben mit den Festtagstlcidern a> ch die ehrbare, Ruhe und (5rholuug blickende Festtagomiene angelegt; der Aermste sucht dann sein Elend zu verdecken, selbst der Bettler von Profession feiert dann. Aber heute war es leider nicht der jüdische, sondern blos der christliche Schabbes, uud an diesen: entfallen die Juden noch eine ganz besondere Thätigkeit im Schachern und Betteln, zumal sie wissen, daß die Christen am Sonnlag tauflustiger und mildthätiger gestimmt sind. Sonntags suchen die Juden einzuholen, was sie um ihres Glaubeus willen am Sonnabend versäumen mußten; und zu deu jüdischen Bettlern gesellen sich an diesem Tage noch polnische, die haufeuweise vom Lande herei.ltommen. Das Straßenpflaster ist abscheulich und doch noch eine Auszeichnung der Hauptstraße, denn die Nebengassen find, ungepflastert, der Regen bildet hier große Pfützen und Lachen; daneben erheben sich Dünger- und Kehrichthaufen, und dazwischen tummeln sich Kinder mit Schweinen um die Wette. Die Häuser sind selbst iü der Hauptstraße meist einstöckig, morsch und angeräuchert; in den Nebengassen aber, und da wo die Stadt ohne jeden Uebergang in das platte Land auslauft, sieht man Hütten von Holz und Lehm erbaut, so niedrig, daß man mit dem Kopf an das Dach stößt, und statt der Fenster nur mit schießartigen Oeffimngen versehen, die des Nachts und bei schlechter Witterung mit Lumpen 30 verstopft werden. Eine merkwürdige Staffage zu diesem architektonischen Hintergründe l'ilden die Offiziere des hier gmnisonircnden Regiments des Großfürsten Thronfolger in ihren glänzend weißen mit goldenen Schnüren besehen Uniformen, wie sie auf diesen schmutzigen Gassen, zwischen diesen Hütten umherflaniren oder von einem Wirth^hans znm andern schlendern. Ein anderes Vergnügen giebt es nämlich hier für fie nicht: es fehlt sowohl in der Stadt wie in der Nachbarschaft auf den, Lande an Familien, nut welchen sie verkehren könnten. Co sind sie anf den Umgang mit einander angewiesen und zu einem langweiligen traurigen Leben vernrthcilt. Im Gasthause machte ich die Bekanntschaft eines Sekretärs von der Tomoszna, und was er mir über seine und seiner .Kollegen Stellung mittheilte, ist erwähnenowerth. Er war von Geburt Nationalpole nnd obgleich er der russischen Regierung loyal anbing, schwebte er doch in beständiger Gefahr, entlassen zu werden, weil jene neuerdings alle Polen ans dem öffentlichen Dienst zu entfernen und durch geborne Russen zu ersetzen sncht. Die Subalternbeamten sind gewöhnlich nur auf Kündigung angestellt und können von ihrem Chef, der sie auch engagirt, jederzeit und ohne Angabe eines Grundes entlassen werden. Trotzdem erhalten sie nach einer Reihe von Dienstjahren unter Umständen eine kleine Pension. (5'ben dieser Pension wegen sind ihre Gehälter noch immer karg bemessen, etwa auf 2—409 Rubel jährlich; doch erhalten sie von Zeit zu Zeit nicht unbeträchtliche Gratifikationen. Allein auch die Gratifikationen hinzugerechnet, würden sie von Dem, was ihnen der Staat giebt, kaum eristiren, wenigstens nicht so leben können, wie sie wirklich leben. Ein Subalternbeamter, dessen Gehalt und Gratifikationen zusammen vielleicht 0 — 800 Rubel ausmachen, giebt thatsächlich über 2000 Rubel jährlich aus. Die Differenz gewährt ihm das Publikum in freiwilligen oder erpreßten Geschenken. — Dieses bekannte mir natürlich nicht der Sekretär selbst, wohl aber habe ichs von Andern erfahren. Der russische Beamte kann nicht immer warten, bis man ihm giebt, sondern er fordert und nimmt, oft heimlich und fast gewaltsam. Wie viele Geld- und Werthsendungen gehen noch immer ganz, oder theilweise verloren; wie viele 31 Ballen und Kisten mit Waaren zeigen, wenn sie endlich in die Hände des Adressaten gelangen, ein mehr oder minder beträchtliches Manco! Die Absender oder Empfänger rellamiren e5 in der Regel nicht, weil das mit vielen Umständen verknüpft, nnd in den meisten Fällen anch vergeblich ist. Wenn die Spediteure die Küsten an der Grenze öffnen, erhält und nimmt jeder von den revidirenden Beamten, was ihm von dem Inhalt gefällt, und der Spediteur hat gute Gründe bis zu einem gewissen Grade gefällig zu fein. Weil die rufsifchen Subalternen fo fchlccht befoldet werden, find sie nach wie vor auf Bestechlichkeit und Erpressung angewiesen. Tarum herrscht auch noch immer in Nußland statt Recht und Gesetz die Laune und Willkür der Beamten; darum ist der Fremde, mögen seine Papiere auch in der besten Ordnung sein, schutzlos und gefährdet, darum athmet er erst wieder frei auf, wenn er den russischen Schlagbaum hinter sich hat. Seit den letzten Jahren ist den russischen Grenzbeamten jeder Verkehr mit ihren preußischen Kollegen, schon das Betreten des preußischen Bodens, streng untersagt; sie muffen fich nach Preußen hincinstehlen. Ob das Verbot nur Turchstcclereien verhüten oder auch die Russen vor der Ansteckung mit dem Gift deutfcher Auftläruug bewahren soll, lasse ich dahingestellt. Die Souue stand schon tief am Horizont, und wir mußten jetzt eilen, die Grenze zu erreichen. Noch einmal ging's nach der Tomoszna, um den Paß von Neuem abstempeln zu lassen; er erhielt nun als Auslrittsuisum einen rothen Stempel, wie er vorher als Eintrittszeichen mit einem weißen Stempel versehen worden war. Ohne Pah und ohne Stempel wird in Rußlaud ebensowenig Jemand heraus- wie hereingelassen. Mit Sonnenuntergang, der auf russischer Seite ciue halbe Stunde früher als auf preußischer eintritt, wird dav Zarenreich unerbittlich zugeschlossen. Reisende, die sich un, wenige Minuten verspäten, müssen vor oder hinter der Barncre geduldig warten, bis es am nächsten Morgen wieder auf-geschlossen wird. Aber mit einem goldenen Schlüssel erschließt es sich auch Nachts. 32 III. Tilsit. Von dm Städten in Nttauen und il're», Handel »ud Wandel. — Wie der Verfasser nach Tilsit lommt, und wie Mt es ihm dort behaget. - Daß die Dzimlcn auch Äienscheu sind, und »vie absonderlich die Schiffe a»5schen, mil denen sie von Rußland nach Preußen fahren. ^ Allerhand Geschichte» von dem Tlromc, der da Memel heißet; und was der Stadt noth thnct, die denselben Namen führet. — Bon den schönen Tilsiterinuen, und wie gefährlich sie den Mannsleuten werden lönnen. Mlit der Vahn kehrte ich von der Landcsgrcnze nach dem etwa 10 Meilen entfernten Insterburg zurüä. Die uier bevölkertsten Städte in Littauen sind in absteigender Folge: Mcmel und Tilsit, Insterburg und Gumbinnen. Insterburg unterscheidet sich sehr wesentlich von der Nachbarstndt Gumbinnen, uon der es nur durch eine Entfernung von 4 Meilen getrennt ist, während der Weg bis Königsberg ungefähr 12 Meilen beträgt. Leine Lage und Umgebung an und zwischen den ziemlich hohen Uferbergen mehrerer Flußchen, die hier zusammenkommen, hat den Ausdruck anmuthiger Nomantik. Obgleich auch hier verschiedene Behörden, Kollegien und Institute — darunter die große Strafanstalt — ihren Sitz haben, ist Insterburg doch nicht, wie Gumbinnen, nur eine Veamtenstadt, sondern bei weitem mehr Handelsort und Stapelplatz, hauptsächlich für Getreide und Leinsaat, die ihm uon einem großen Theile Littauens und Masurens zugeführt und entweder auf dem Pregel in kleinen Fahrzeugen verschifft oder mit der Eisenbahn, an welcher Insterburg einen Knotenpunkt bildet, versandt werden. Daneben befinden sich in der Stadt auch einige Fabriken. Die Bevölkerung beträgt über 14,000 Seelen, worunter gegen Tausend Sträflinge und Gefangene und eben so viele Soldaten sind; während Gumbinnen nur 9000 Einwohner zählt. Den Pregel abwärts breiten sich die herzoglich dessauischen Besitzungen in einer Länge von 4 z Meilen und in einer Breite 33 von '/2^/, Meilen aus. Fürst Leopold von Dessau kaufte sie auf Anerbieten Friedrich Wilhelm''? I. im Jahre 1721 für 70,000 Thlr. und verwendete große Summen auf diesen gleichfalls durch die Pest verödeten Landstrich, der nun schon lange durch hohe Kultur und reiche Fruchtbarkeit weit und breit berühmt ist, in der ganzen Provinz für eine einzige große Musterwirtschaft gilt. Von Insterburg läuft eine Zweigbahn, von einer englischen Gesellschaft erbaut und erst seit wenigen Jahren vollendet, nach dem 7 Meilen entfernten Tilsit. Diese Vahn rentirt sich bis jetzt noch nicht, weil sie am Niemen Halt macht, also eine Sackgasse ist. Ihrer Fortführung bis zur russischen Grenze stellt sich ein kostspieliges Hinderniß entgegen, die Ueberbrückung der Memel, welche man auf mehrere Millionen Thaler veranschlagt. Selten hat mir eine Mittelstadt so imponirt und zugleich mich so behaglich ange-muthet, wie Tilsit. Seine Lage am linken Ufer der majestätischen aber für gewöhnlich sanft und ruhig dahinströmenden Memel, inmitten einer wohlangebauten Ebene, ist reizend und wechselvoll belebt: die Bauart ist solide und übersichtlich. Tilsit besteht in der Hauptsache aus zwei langen breiten Gassen, mit durchgehends noch festen, gesunden und bequemen, meist nicht über zwei Stock hohen Häusern, die sich in ihrer würdigen, echt bürgerlichen Eii'-fachheit von dem modernen Kasernenstil vortheilhaft unterscheiden. Die Stadt kann sich nur in die Länge ausdehnen, nicht in die Breite, weil sie auf einer Seite von der Memel, auf der andern Seite von dem sogenannten Schloßteich eingeschlossen ist. Vielleicht verschuldet es dieser Umstand, daß sich die Bevölkerung seit 50 Jahren kaum vermehrt hat; schon bald nach den Befreiungskriegen betrug sie über 15,000 Seelen, und heute mag die Zahl etwa 17,000 erreichen. Ueberhaupt wachsen die Städte in Ostpreußen langsam-, erst seit man hier angefangen, Eisenbahnen zu ballen, beginnt die Bevölkerung der größeren Städte sich merklich zu heben. Allein Tilsit macht davon wieder eine Ausnahme: seit Vollendung der Ostbahn soll die Einwohnerzahl gesunken sein. Auf die Ursachen will ich zurückkommen. 3 54 Tilsit war bis vor Kurzem ein lebhafter und ist noch immer ein rühriger Fabrik- und Hanbclsort. Von den wenigen Fabriken, die Littauen überhaupt aufzuweisen hat, befinden sich die meisten und bedeutendsten in Tilsit. Cine Papierfabrik und fünf Holzdamufschneidc-fabriken sind durch großartigen Betrieb besondere wichtig. Ein wesentlicher Nahrungszweig ist auch hier wieder dao für Littauen so charakteristische Vranntweinbrennen. Der hier alljährlich stattfindende Pferdemarkt ist der bedeutendste der Provinz und lockt Käufer aus ganz Deutschland und dem Auslande herbei. Schon die Wochenmärkte bieten ein buntes und bewegtes Nild. Die Bauern kommen mit ihren Erzeugnissen schaarenweise, oft aus weiter Entfernung, zu Markt; Tilsit hat ein Hinterland von 8 bis 12 Meilen im Umkreise, eine in Deutschland wohl einzig dastehende Erscheinung. An den Markttagen herrscht ein erstaunliches Gewühl, ein wunderliches Sprachengewirr und eine ungemeine Thätigkeit. Es drängen sich durch einander Littauer, Polen, Nüssen, Inden in ihrer Nationaltracht i und die Liltauer sind wie die Juden geborene und verschlagene Händler. Wie man an den Kanfläden nnd Wirthschaften neben der deutschen Inschrift auch eine littanische nnd polnische, oft auch russische nnd jüdische findet, so schwirren auf dem Markte alle diese Sprachen durcheinander und erfüllen mit ihren theils singenden, theils heulenden, theils zischenden Lauten die Luft. Die Einwohnerschaft selbst ist ans eben solch' verschiedenartigen Elementen zusammengesetzt; alle jene Nationalitäten und Konfessionen wohnen hier, wenn sie nicht etwa über materielle Interessen in Streit gerathen, friedlich nnd verträglich neben einander. Die dienende und arbeitende Klasse sind vorwiegend Littauer, wogegen die oberen Schichten aus Deutschen bestehen; doch unterscheiden sich diese wieder in eingeborene Preuße» und eingewanderte Teutsche, nnter welchen sich viele Salzburger und Mennoniten befinden. Die breite, stets mit zahlreichen Kähnen und Flößen bedeckte Memel führt der Stadt die Produkte des benachbarten russischen Littauens zu, besonders Holz, Flachs, Hanf, Leinewand und Getreide, mit welchen Tilsit, wenngleich es in dieser Hinsicht seit den letzten Jahren verloren hat, noch heute einen einträglichen Zwischen- s5 Handel nach Königsberg hin betreibt. Die verschiedenartigsten, zum Theil seltsam anzusehenden Fahrzeuge segeln und treiben stromauf und stromab. Ganze Wälder schwimmen vorüber; mächtige Fichten, Tannen und Eichen, wie sie auf unserm Erdtheil nur noch in den russischen Urwäldern wachsen; rohe Väume oder behauene Stämme, Klötze und Planken, Brennholz und Nutzhölzer. Sie sind zu gewaltigen Flößen und Triften verbunden, auf welchen die Mannschaft schreiend hin und her länft, indem sie ihr schwankes plumpes Fahrzeug mittelst langer Stangen bald schiebend, bald rudernd oder treibend fortbewegt, vom Ufer oder von anderen Fahrzeugen mehr oder minder geschickt abhält. Auf diesen Flößen ist gewöhnlich eine Strohbude errichtet, zugleich die Vorrathskammer und das Echlnfgemach der Mannschaft, dieser abgehärteten und fast bcdürfnißlosen Naturmenschen, welche im Munde des Volks Dzimten heißen, da sie sich vorzugsweise aus Samogitien oder Szamaiten rekrutiren, wie der schmale Landstrich jenseits der Grenze heißt, welcher das preußische Littauen vom russischen trennt. Zuweilen tragen jene Flöße aber auch ein vollständiges Vretterhaus aus mehren Gemachem, einer Küche und einem verandaartigen Umgang bestehend. Dann ist es die Wohnung des jüdischen Kapitäns, der nicht selten auch Eigenthümer von Floh und Ladung ist und seine ganze Familie mit sich führt. Andere nicht minder gigantifche, oft mehrere hundert Fuß lange Fahrzeuge führen nicht Holz, sondern Getreide, Leinsaat, Flachs, Hanf, Felle und andere Produkte. Auch sie sind weiter nichts als ein riesiges Floß von Baumstämmen, nur mittelst Holz-nägel, Vastseile oder Hanfstricke lose mit einander verbunden, so daß man an dem ganzen Ungeheuer nicht ein Quentchen Eisen zu entdecken vermag. Die Ladung ruht hoch aufgethürmt unter einem schrägen Bretterdach, oder ist mit Vastdecken beschnürt; im ersten Falle heißen jene originellen Fahrzeuge Witt innen oder Strusen, im andern Falle Karopken oder auch Voidaks, je nach der etwas mehr oder minder abweichenden Struktur. Meist gehören sie einem polnischen oder russischen Gutsbesitzer, der sie mit seinen Gutsinsassen, den Dzimten, bemannt und diesen einen Juden als 3* 36 Schaffner vorseht, dem dann sowohl die Beaufsichtigung wie die Beköstigung der Mannschaft obliegt. Zuweilen ist aber auch die Wittinne oder Karopke wieder vollständiges Eigenthum eines jüdischen Unternehmers und die Tzimken stehen in seinen Diensten. Für ihn ist auf der einen Seite des Schiffs ein Stübchen mit einem Fensterchen von grünem Glase abgeschlagen, während die Schiffslente in dem Mittelraum, der sich hier nach beiden Seiten öffnet und eine rohe Vorrichtung zum Ausschöpfen des Wassers enthält, auf das Elendeste wohuen und schlafen. Diese Fahrzeuge fassen ungeheure Lasten, bis 3l)0t) Centner und mehr, und kommen tief aus dem Innern Nußlands. Während des Winters werden sie von den Tzimken gezimmert und zur Vereitung der Matten ans Lindenbast die Wälder verwüstet. Sobald die Frühlingssonne das Eis der russischen Ströme schmilzt, setzen sich die formlosen Kolosse dort in Bewegung, und es vergehen Monate, ehe sie das Iiel u,rer Neise — Mcmel oder Königsberg — erreichen. Ihrer gigantischen Dimensionen und sonstige» Schwerfälligkeit wegen, können sie sich nur langsam fortbewegen; sie fahren nur bei Tage und legen sich, um eiu Zusammenstoßen mit anderen Fahrzeugen zu vermeiden, sobald die Dunkelheit einbricht, an das Ufer; sie dürfen sich nicht auf das knrische Haff wagen, fondern müssen stets den gewundenen Lauf der Flüsse und Kauäle, oft vom Schwarzen Meer bis zur Ostfee verfolgen. Schwer und mühsam ist das Tagewerk der Dzimken; sie müssen, da ihr leckes Schiff viel Wasser fängt, beständig die Schöpfeimer handhaben'. um die mächtigen Nuder zu bewegen, find bis je vier Mann nöthig: sie haben mit unendlichen Schwierigleiten zu kämpfen, da die Fahrzeuge fünf Fuß Wasser brauchen und in trockenen Sommern auf der Memel und dem Pregel, die an seichten Stellen reich sind, leicht festgerathen. Mit der schweren Arbeit steht die magere Kost m keinem Verhältniß. Die gewöhnlichen Speisen sind Kartoffeln, Erbsen, Grütze und Mehlbrei, die sie sich am Ufer in riesenhaften Kesseln und Töpfen selber kochen und die sie aus hölzernen Näpfen und Mulden mit hölzernen Löffeln verzehren. Fleisch tommt fast gar nicht vor, nur thun sie statt der Butter etwas 37 Speck an die Speisen, den sie auch roh zum Brode genießen. Gal-striger Speck und Kornfusel sind ihre größten Leckereien. Nichts geht über die Einfachheit und den primitiven Schnitt ihrer Kleidung. Sie tragen einen langen Oberrock von grobem grauen Filz, oder auch einen umgekehrten Schafpelz, ein grobes Leinenhemde, auf der Brust often, dito Hosen, eine Pelzmütze mit Troddeln, oder einen groben Etrohhut, und an den Füßen Bastschuhe, sog. Parresten. Der Tzimke hält dafür, daß Pelzwerk eben so gut gegen Hitze wie gegen Kalte schütze, deshalb wendet er Sommers den rohen Schafpelz um, so das; die wollige Seite nach außen kommt. Einer trägt sich wie der Andere. „Wie die Bretter, der Hanf, die Matten aussehen, so sehen auch die Tzimken aus, sagt Rosenkranz in seineu „Königsberger Skizzen"; sie gleichen dem Insekt, das noch die Farbe der Pflanze hat, auf der es sein Leben führt." Nur die älteren unter ihnen, welche die Fahrt schon mehrmals gemacht haben, zeigen sich gegen die Berührung mit der Kultur nicht ganz unempfänglich. Sie vertauschen die Bastschuhe mit Stiefeln, den Strohhut mit einer Mütze; sie treiben sich in den Städten auf dem Trödel umher und kaufen sich eine bunte Weste, ein farbiges Wamms oder ein grcllleuchtendes Halstuch. Solche Kulturfragmente paffen nur zu wenig zu ihrer übrigen Tracht. Mit den Knaben stehen sie in beständigem, von Neckereien begleiteten Tauschhandel. Sie geben ihnen nämlich Stöcke, die sie oft recht hübsch zurecht machen, gegen Knöpfe, besonders Metallknöpfe, die für sie einen großen Reiz haben. Die Dzimken sind von schlanker Gestalt, mittlerer Größe, oft von einnehmender, sogar hübscher, aber gewöhnlich etwas einfältiger Physiognomie, mit dunklem dichten Haar und hellen gutmüthigen Augen. Gutmüthig und friedlich ist auch ihr ganzes Wesen, fast kindisch. Obschon sie in den großen Städten oft zu Hunderten beisammen sind, hört man doch nichts Uebles von ihnen, weder von Verbrechen noch von Excessen. In behaglichen, Müßiggang schlendern sie dort durch die Gassen; die Kinderspielwaaren in den Buden, ein Reiter oder eine Musikbande fesseln sie mehr, als die größten Gebäude, die merkwürdigsten Plätze, welche sie in der Regel keines Blickes würdigen. 3ö Trotzdem die Dzimten buchstäblich nichts weiter als das nackte Leben besitzen, sind sie stets heiter und lustig. Scherzend und lachend, sich untereinander und mit den Vorübcrfahrenden neckend, immer schwatzend verrichten sie ihre Arbeit. Abends sieht man sie um das Wachtfeuer gelagert, das wieder, um einen Zusammenstoß M verhüten, die ganze Nacht hindurch auf jeder Wittinne und jeder Karopke unterhalten wird; an gewissen Orten, wo oft Dutzende solcher Fahrzeuge nächtigen, sind dann die dunkeln Wasser des Stromes in magischer Weise beleuchtet. Vei diesen Wachtfeuern erschallen die langgezogenen wehmüthigen Rund- und Chorgesänge der Dzimken; alsbald greift Liner von ihnen zur Violine oder zum Dudelsack, die Andern fassen sich bei den Händen und springen und tanzen im Kreise herum. Der Tanz ist oft ein Solo, oft ein mimisches Gegeneinander- und Umeinandcrhcrumtanzen von Zweien, wobei das schnelle Sichumwerfen besonders mteressirt. Der Oberkörper bewegt sich wenig, aber die Füße sind in kleinen zierlichen Wendungen und Sprüngen unerschöpflich. Die im Ganzen schwächliche Gestalt des Dzimken entwickelt im Tanz alle Schönheit, deren sie fähig ist. Die Violine spielt eine hopserartige Melodie, Tänzer und Zuschauer klatschen mit schallenden Händen den Takt, der Eine oder der Andere bricht auch wohl in ein helles Jauchzen aus. So geht es bis in die späte Nacht, allmälig legen sich Einige zur Ruhe nieder, während die Uebrigen in ihrer Belustigung fortfahren und um die schlafenden Gefährten hernmgaukeln, bis auch sie erschöpft zu Boden sinken. Nicht allein die Ladung, sondern auch das Fahrzeug selbst mit Strohhütte, Bretterhaus und allen sonstigen Utensilicn, wird in Königsberg oder Memel losgeschlagen, denn Holz und Stroh sind in der russischen Heimath fast werthlos, und die Wittinncn wie Karopken vermögen nur stromab, nicht stromauf zu fahren. Die Dznnkcn erhalten nun ihren kärglichen Lohn, der bis uor Kurzem, wo sie sich noch in Leibeigenschaft bef«mden, nicht mehr als Einen Rubel pro Mann für die ganze Reise betrug-. und verwenden ihn meist zum Ankauf einer Handharmonita, einer neuen Geige oder eines schmucken Pfeifenkopfs von Birkenmaser mit Neusilberbeschlag. 39 Seelenvergnügt treten sie die Rückreise an; wenn sie nicht ausnahmsweise ein Dampfboot benutzen, wandern sie zu Fuß und in großen Trupps. Sie marschiren auf dcr staubigen Chaussee bei der glühendsten Augusthitze, aber immer in umgekehrten Schafpelzen und dicken Filzröcken. Eine Anzahl, mit den neuerstandenen Harmonikas und Geigen bewaffnet, die sie abwechselnd während des Marsches erschallen lassen, geht vorauf, die Uebrigen laufen singend und jauchzend, springend und tanzend hinterdrein. Ab und zu macht dann die Flasche die Runde; so gleicht die Schaar einem Vacchan-tenzug. Jeder Dzimke ist ein geborener Musiker, und seine höchste Lust sind Musik und — Schnaps. Der Fremde, welcher den Dzimken zum erstenmal in Tilsit oder Königsberg erblickt, wird durch ihn erinnert, daß Ostpreußen an Rußland grenzt; und wer Rußland kennt, wird bald sinden, daß Ostpreußen mit diesem noch mancherlei Aehnlichkeit und Verwandtschaft hat. Neber den Riemen führt bei Tilsit eine Pontonbrücke, die einzige Brücke, welche bisher über diesen breiten unbändigen Strom geschlagen. Sie ist ohne die Auf- und Abfahrt 1150 Fuß lang; der mittlere Theil ruht auf Prahmen, die Endtheile an beiden Ufern auf Pfählen. Vor Eintritt des Winters wird sie abgenommen und die Pontons in dem Hafen geborgen, den das Flüßchen Tilzele bildet, welches bei der Stadt in die Memcl fällt und von dem jene ihren Namen führt, denn sie heißt richtig nicht Tilsit, sondern Ti lsc. Ein grandioses Schauspiel gewährt in jedem Frühjahr der Eisgang; dann geschieht die Ueberfahrt mit Spihkähnen, nie ohne Mühe und Gefahr; nicht feltcn ist sie tagelang gänzlich unterbrochen. Dann schwillt die Memel mächtig an, dringt bis in die unteren Gassen der Stadt, wenngleich diese 25—30 Fuß über dem gewöhnlichen Wasserstande des Stromes liegen, und überschwemmt auf meilenweite die Niederung, sie in einen unabsehbaren Landsee verwandelnd. An den Niemen knüpfen sich denkwürdige Erinnerungen aus der neueren Geschichte unseres Vaterlandes. Nach den Schlachten 40 von Eylau und Friedland verlegte der Erbe Friedriche des Großen den Sitz seiner Regierung über den nordischen Strom hinaus nach Memel. Da noch keine Chaussee in der Provinz existirtc, so ging die Poststraße über die Sandflüchen der kurischcn Nehrung. Vom Fieber ergriffen, mußte die Königin Louise, wie der Leibarzt Hufeland in seinen Memoiren erzählt, auf dem Wege nach jener Stadt in einer Fischerhütte übernachten, durch deren zerbrochene Fenster die Schneeflocken auf ihr Lager fielen. Tilsit war durch den Krieg um seinen Wohlstand gekommen. Die Stadt, welche die Nüssen verlassen hatten, wurde keineswegs niit Sturm genommen, aber dennoch von den Franzosen ausgeplündert, so daß es, um die Monarchen bei den Friedensverhandlungen aufzunehmen, an den nothwendigsten Bedürfnissen fehlte; man musite sie zum Theil aus Königsberg kommen lassen. Gleich oberhalb der Brücke schwamm mitten in der Memel am 9. Juli 1807 ein prachtvolles Zelt, in welches von entgegengesetzten Seiten gleichzeitig — denn Keiner durfte dem Andern den Vortritt lassen — die beiden Kaiser von Frankreich und Rußland traten. Nach dem Sieger und seinem „Freunde" erschien der Besiegte, König Friedrich Wilhelm Hl. von Preußen, um zu vernehmen, was die Gnade Napoleons ihm von seinem Reiche zu belassen geruhte. Bis zu diesem Tage war es eine Großmacht und umfaßte 5673 Quadratmeilen — noch 570 Quadratmeilen mehr als vor den: letzten glorreichen Kriege von 1866: Napoleon nahm ihm jetzt die Hälfte, 2855 Quadratmeilen, und drückte es dadurch zu einer bedeutungslosen Mittelmacht herab. Hinterher forderte er galant die Königin Louise auf, sich auch ihrerseits von ihm eine Gnade zu erbitten. „Als Königin", erwiderte sie, „habe ich nichts zu bitten; als Mutter meines Volks bitte ich um Magdeburg". — Der Kaiser antwortete auf diese Bitte, indem er ihr am folgenden Tage eine Landkarte schickte, auf welcher Schlesien mit einer goldenen Kette umschlungen und an einem goldenen Herzen befestigt war. Er schenkte ihr Schlesien, da er dieses doch nicht brauchen konnte und hauptsächlich, weil er es noch garnicht hatte, denn Kosel, Glatz und Silberberg befanden sich noch in den Händen der Preußen. 41 An derselben Stelle aber, wo der Friede von Tilsit geschlossen ward, der Preußen so tief demüthigte und Napoleon auf dein Gipfel seiner Macht zeigte, sehten fünf Jahre später die Trümmer des ungeheuren Heeres, das auch Rußland unterjochen sollte, still und armselig, flüchtig und vor Furcht zitternd, über die Memel. Die hier projektirte Eisenbahnbrücke ist deshalb auf die um geheure Summe uon 5 bis 6 Millionen Thaler veranschlagt, weil sie fast eine halbe Meile lang werden, nämlich nicht nnr den Nie-men, sondern auch zugleich die etwas weiter nordwärts befindliche Alte Mcmel, welche jetzt ein stehend Wasser, eine Art Sumpf ist — das Neue und Alte Memelthal — überbrücken müßte. Man hat auch daran gedacht, sie eine Meile weiter stromauf, bei Nagn it, zu schlagen; doch würde die Kostensumme dadurch wenig verringert werden. An der Memel und diesem Brückenbau scheitelte bisher die Fortführung der Insterburg-Tilsiter Zweigbahn. Anch ist man über die Richtung noch nicht einig. Einige wollen sie auf Memcl führen, um diesen wichtigen Seehafen, der von den neuen Kom-munikationswegen mehr und mehr abgesperrt und auf eine mangelhafte Wasserstraße angewiesen, wie ein verlorener Posten außerhalb des europäischen Eisenbahnnetzes liegt, endlich in dieses hineinzuziehen. Andere — und dazu gehören uornämlich die Tilsiter selber, denn es besteht eine alte Eifersucht zwischen ihnen und den Me-melern — agitiren dafür, die Bahn mit Umgehung Memels längs der alten russischen Landstraße nach Tauroggcn zu leiten. Das aber hieße dem Handel und Geschäft Memels den Todesstoß veisetzen, und außer dieser Absicht sind fast keine anderen Gründe vorhanden, nm der zuletzt bezeichneten Nichtung vor jener den Vorzug zu geben. Im Gegentheil soll die russische Regierung den Bau auf Memel wünschen nnd sich in diesem Fall bereit erklärt haben, sofort von Riga aus gegenzubauen. Nach dem Ausspruch zahlreicher, durchaus unbefangener und sachverständiger Männer, mit denen ich zu verkehren Gelegenheit hatte, ist die Fortführung der Bahn nach Memel ein dringenderes Bedürfniß, würde sich auch besser rentiren, als die jetzt beschlossene Strecke Insterburg - Thorn; jedenfalls ist diese ohne jene lein Ganzes, sondern auch nur Fragment. 42 So lange leine feste Brücke über die Memcl führt> bleibt der nordwärts von ihr gelegene Zipfel der Provinz ein verschlagenes, zu Zeiten unzugängliches Eiland, ist er, wenn nicht materiell, doch geistig der russischen Invasion preisgegeben. Zweimal hat ihn Rußland fahren lassen, Peter III. wie Alexander I.: schwerlich würde cm russischer Fürst zum drittenmal so großmüthig sein. Der Hafen von Memcl allciu wäre für Rußland ein unschätzbarer Erwerb, da er vor den nördlicheren Ostseehäfen den Vorzug hat, daß er nicht leicht zufriert. Durch Herstellung einer guten Wasserstraße auf dem Riemen und durch den Bau von Eisenbahnen, die es mit dem Innern des russischen Reichs verbinden, wird Memel selbst als preußische Stadt ein rasch aufblühender Handelsort werden: würde es aber der Fesseln entledigt, die ihm die russischen und preußischen Zölle noch auferlegen, so könnte es das Emporium des russisch-nordasiatischen Verkehrs mit dem europäischen Westen werden, da es vor Königsberg den gewichtigen Vortheil hat, unmittelbar am Meere zu liegen. Die Ueberbrüäung der Weichsel hat erst Westpreußen in den Vereich der europäischen Kultur gezogen; die Ueberbrückung des Niemen würde endlich auch Ostpreußen, die ganze Provinz den Vortheilen und Segnungen solcher Kultur zugänglich machen. Nie Eingangs gesagt, soll die Einwohnerzahl von Tilsit seit Vollendung der Ostbahn gesunken sein; thatsächlich ist sein Spe-ditionshandel seitdem im Verfall begriffen. Der Weg geht nicht mehr über Tauroggeu und Tilsit, sondern über Königsberg und Endttuhnen, wohin ein großer Theil der hiesigen Spediteure übergesiedelt ist. Unabhängig davon ist der von Jahr zu Jahr fortschreitende Verfall des Handels mit Manufaktur- und Kolonialwaaren über die Grenze, welcher hauplfächlich den lästigen und auch durch den neuen Tarif keineswegs beseitigten russischen Zollverordnungen zuzuschreiben ist. Auch das Holz- und Getreidegeschäft geht schwächer, schon wegen der schlechten Wasserstraße. Daneben wird der Ankauf von Holz in Polen und Rußland- immer theurer, weil die Wälder in der Nähe der Flüsse bereits gelichtet sind, die Anfuhr der Hölzer dorthin schwieriger wird mid 5>ie Arbeitskräfte 43 nach Aufhebung der Leibeigenschaft im Preise bedeutend gestiegen sind. Der letztere Umstand drückt auch den Getrcidehandel', abgesehen von wiederholten Mißernten und den durch die neueste polnische Insurrektion herbeigeführten Auefällen und Nachwehen, influiren die in Folge der russischen Reformen eingetretenen Ueber-gangvzustäudl' im Nachbarlande wesentlich auf die dortige Land-wirthschaft und bewirken Alles in Aliem eine ausfällige Verminderung der Zufuhr. Einstweilen können die Tilsiter noch von ihrem früheren Verdienste, von ihren Ersparnissen zehren. Der Lage und Bauart der Stadt entsprechen nämlich auch die Vermögensuerhältnisse und ebenso der Character der Bewohner. Tie Meisten erfreuen sich eines gesicherten Wohstandes, und selbst der Arme ist nicht arm im strengen Sinne des Worts. Von dem allgemeinen Wohlstande zeugen zahlreiche und zum Theil musterhaft eingerichtete und reichdotirte milde Anstalten und Stiftungen, wohlgepflegte öffentliche Anlagen und eine Menge von Lustorten vor allen Thoren der Stadt. Der erste Vergnügungsort ist Iacobsruh, von gemeinnützig gesinnten Bürgern gegründet und dem Publikum zur Erholung übergebeil. Mit Recht sind die Tilsiter auf ihn stolz, und mit Recht wird er in ganz Littauen bewundert, denn er hat weit und breit nicht seines Gleichen und würde der größten Stadt zur Zierde gereichen. (5s ist ein großer parkartiger Garten mit den schönsten Bäumen, A'.leen und Rasenplätzen, mit zahlreichen Gängen, Rcit- und Fahrwegen; mit ihm stehen zwei Wäldchen, die sogenannten Putsch inen, in unmittelbarer Verbindung, in welche man, weiter und weiter wandelnd, sich verliert, ohne es zu merken, bis man endlich in das freie Feld hinaustritt, das ebensowenig wie die Putschincn irgend eine Umzäunung von ihm trennt. Es ist ein wahrer Volks« garten, er wird täglich von allen Ständen besucht, und man findet hier, namentlich an Concerttagen, das Gesinde neben den Herrschaften, die Offiziere des in der Stadt garnisonirenden littauischen Dragonerregiments neben den gemeinen Soldaten. Die Tilsiter verstehen zu leben, sie genießen das Leben und seine Freuden in verständiger Weise. Namentlich pflegen sie der 44 holden Musika und des edlen Gerstensaftes, den drei am Ort befindliche Bainsch - Bierbrauereien in vorzüglicher Qualität liefern. Man trinkt und kommercirt in Tilsit, wie in ganz Littauen und Ostpreußen, gern und spät, mehr und später als in den westlichen Provinzen; man fragt sich nicht selten um Mitternacht, was mau mit dem „angebrochenen Abend" anfangen solle. Von den Tilsiterinnen gilt in noch höherm Grade, was ich von den Gumbiuncr Damen gesagt habe. Die schönsten Liitauerin-ncn wachsen in und um Tilsit, und mit den äußeren Reizen har-momrt ihr muntres liebenswürdiges Wesen. Darin stimmen alle Reisenden überein, auch zwei ältere Wandcrbücher, die mir vorliegen. Das eine „Bemerkungen eines Russen über Preußen und dessen Bewohner, gesammelt auf einer im Jahre 1814 unternommenen Reise" wird Kotzebue zugeschrieben, welcher den Tilsitenunen ein rühmliches Zeugniß ausstellt. Das andere Buch „Kosmopolitische Wanderungen durch Preußen lc. in den Jahren 1795—98" ist in dem sentimentalen Ton jener Zeit abgefaßt. Der Autor ist bisher gegen die Reize der Littauerinnen unempfindlich geblieben-selbst eine Marie, die ihm bis Labiau nachgelaufen, hat sein Herz nicht rühren können, denn es lebt darin einzig und allein das Bild einer Iuliaue, die ihm untreu geworden ist. Wie er aber in Tilsit eintrifft, weift er sich vor Bewunderung über die Schönheit und Liebenswürdigkeit der dortigen Damen nicht zu lassen, und alsbald findet er ein Mädchen „ganz Julianen» Ebenbild, ganz das Ideal seiner Träume". Natürlich hat er nichts Eiligeres zu thun, als die echte Juliane zu vergessen und sich in ihre Doppelgängerin zu verlieben; doch leider will diese nichts von ihm wissen, und so muh er mit seinem Schmerz fürbaß, »ach Volhynien und Podolien ziehen: Gegen den Fremden sind die Tilsiter außerordentlich entgegenkommend — offen, vertraulich und gastfreundlich; wodurch sie sich vor den Bewohnern andrer Handelsstädte und besonders auch vor ihren Nachbarn, den Memelem, auszeichnen. Unter solchen Umständen verflossen mir rasch und angenehm die Tage, welche ich in dieser Stadt verbrachte, und noch zweimal kehrte ich von verschiedenen Ausflügen nach ihr zurück. 45 IV. An der russischen Grnye. Wie die polnischen Juden sich lleiben, und was fiii llnge Leute es sind. — Von den „Macherjahren" in Schmalleninglen, und daß es mit dem Schmuggel zu Ende gehet. — Wie der Verfasser den russischen Nasaratl besuchet, und was siir lehrsame Gespräche sie mit einander führen. — Von den Listen der „Packcninaler", wie ein Convoi, beschaffen ist, und warum die Dziinten lieber in Preußen als in Rußland Branntwein trinken. — Die russtfchcn Zöllner können nichts „Geschriebenes" leiden, Gcorgenburg ist eine hölzerne Stadt, und ein Controleur unter Umständen schlimmer als ein Nasaratl. Von Tilsit bietet sich dem Reisenden eine vortreffliche und bequeme Communication nach allen Richtungen, zu Wasser wie zu Lande. Außer der Eisenbahn und zahlreichen Posten fahren täglich Dampfböte nach Memel, Königsberg und Kowno. Gleich oberhalb der langen Schiffbrücke lag der russifche Dampfer Kiejstut (Namen eines littanifchen Großfürsten, eines heldenhaften Gegners des dentfchen Ritterordens), auf dem ich meine weitern Streif- und Entdeckungszüge unternehmen wollte. Das Deck des kleinen Dampfers bot ein wirres Durcheinander von Menfchen und Gütern, besonders der zweite Platz, wo zwischen hoch aufgestapelten Ballen, Säcken, Kisten, Fässern und allerhand Gethier, namentlich Kühen und Schafen, sich eine Menge von Leuten drängte. Die Passagiere bestanden größtentheils alls polnischen Juden und Dzimken, beides heimkehrende Holzflößer. Das Hauptkleidungsstück der Juden war eine Art von Kaftan, und was sie darunter verbargen, sollte mir bald klar werden, als einer von ihnen ein Stück Zeug hervorholte und davon mitten auf dem Verdeck sich eine Hose zu schneidern begann. Er hatte sein Werk binnen kaum einer Stunde vollendet, aber es war auch das einfachste Beinkleid, das ich je gesehen. Keine Ahnung von Knöpfen, Säumen :c., sondern nur zwei Nähte von ziemlich weitläufigen Stichen, wodurch zwei Beinlinge entstanden, in welche der 46 Künstler sofort hineinfuhr, worauf er sie unten einfach in die Stiefelschäfte steckte, oben aber durch einen Strick sich um den Leib gürtete. Allerdings war es keine elegante Hose, aber sie entsprach «ollkommen ihrem Zwecke: sie saß bequem und sie hielt warm. Indeß nicht alle Juden hatten den Luxus von Stiefeln auszuweisen, viele gingen barfuß. Juden und Dzimken drängten allmälig uach dem ersten Platze und begannen sich auf den Boden zu lagern, so daß man, um sich bewegen zu können, über sie hinwegschreitcn mnßtc. Der Capitän trieb sie verschiedentlich zurück, aber sie krochen immer wieder heran. Zerlumpt und schmutzig, wie sie waren, verbreiteten sie einen pestilenzartigen Gestank und hatten beständig mit dem Ungeziefer zu kämpfen, auf das sie vor aller Augen ganz ungcnirt Jagd machten, oder einer that auch dem andern diesen Dienst. Es war daher nicht rathsam, in ihre Nähe zu kommen, und der Capitän warnte uns ausdrücklich davor. Trotzdem machte es einen peinlichen Eindruck, zu sehen, mit welcher Verachtung Jedermann diese Leute behandeln zu dürfen glaubte, und wie refignirt und unterwürfig sie selber diese Verachtung über sich ergehen ließen. Tie Matrosen stießen sie fluchend und wetternd mit den Füßen aus dem Wege, und die Köchin weigerte sich, sie mit ihren Gefäßen Wasser schöpfen oder daraus trinken zu lassen. Freilich geht nichts über die Zudringlichkeit der polnischen Juden. Tie Dzimken sind weit bescheidener und manierlicher. Unter ilmen fesselten nieine Aufmerksamkeit namentlich zwei, die Arm in Arm nebeneinander lagen,- der eine, ein grauer, martialisch blickender Schnauzbart mit dem Gliederbau eines Athleten, der andere ein feines schinächtiges Milchgesicht. Wahrscheinlich Vater und Sohn, hielten sie sich zärtlich umschlungen und sangen in klagenden Molltönen ihre Nationallieder, immer mehr in Begeisterung und Rührung gerathend, wozu freilich die zwischen ihnen hin- und hergehende Vranntweinflasche das ihrige beitragen mochte. Der Capitän, in der Meinung, daß ihr Gesang die Passagiere des ersten Platzes belästige, verwies ihnen solchen. Das schien sie sehr trübe zu 47 stimmen, sie summten nur noch leise vor sich hin und überließen sich endlich dein Schlummer. Weit mehr machten die Juden den Capitän zu schassen. Er schwur, daß Gott sie nur zu seiner Qual habe geboren werden lassen und daß sie ihn noch zu Tode ärgern würden. In der That mußte er beständig auf sie Acht haben, ob sie nicht irgendwo etwas mausten oder umgekehrt nicht etwas versteckten. Von Zeit zu Zeit, wenn sie sich unbeobachtet wähnten, zogen sie Zeuge, Tücher, Bänder und andere Süchclchen aus dem Busen, den Taschen oder den Stiefeln, betrachteten sie zärtlich, zeigten sie einander und suchten sie dann unter Deck oder in irgend ein Versteck zu praktiziren. Sie gedachten nämlich, diese Waaren an der russischen Zollstätte einzuschmuggeln: doch der Capitün, der für alle Contrebande, die auf dem Schiff entdeckt wird, verantwortlich ist, falls er nicht den Dcfrauoanten angeben kann, war hurtig hinterher und nöthigte sie unter Schelten und Drohungen, ihr Eigenthum bei sich zu behalten. Jetzt begann er das Passagiergeld einzukassiren. Ein Jude nach den, andern suchte sich darum zu drückn, indem sie unter das Deck oder zwischen die Frachtgüter krochen oder doch beständig ihren Platz wechselten. Der Capitän, der ihre Manöver merkte und ihre kniffe aus Erfahrung kannte, rannte hinter ihnen her; da ihm etliche aber wie Schlangen immer wieder zu entschlüpfen wußten, ward er wüthend und bot die Schiffsmannschaft zu seiner Hilfe auf. Eine allgemeine Treibjagd ging in Scene, die widerwilligen Juden wurden aus allen Winkeln hervorgeholt und gleich einer Heerde Schafe in eine Ecke zusammengetrieben, wo sie dann wohl oder übel den Beutel ziehen mußten. Auch jetzt noch wenMe ein Theil sich hartnäckig zu zahlen, sie betheuerten, keinen Heller zu besitzen und flehten wimmernd und fast kniefällig um Erlaß. Der Cnpitän blieb uncrweichlich, er drohte, jeden, der nicht zahle, aussetzen zu lassen-, und schon stopfte man die Maschine und ließ ein Boot hinab. Die Härte des Capitäns schien mir grausam, aber alsbald mußte ich mich überzeugen, daß ich vorschnell geurthcilt hatte, und das Jammern der Juden eitel Comödie sei. Wie sie merkten, daß sie keine Nachsicht zu verhofsen hätten und der Capitän sich anschicke, 43 . feine Drohung auszuführen, holte allmälig auch der Zerlumpteste und Zäheste ein Geldstück nach dem andern vor. Zögernd kam jedes zu Tage, und bei jedem begann ein neues Wimmern und Feilschen. Vergebens! Der Rubel Fahrgeld mußte voll entrichtet werden. Aber es gefchah in lauter Copekenstücken. Wer russifche Kupfermünze kennt, wird wissen, was es heißen will: Zwanzig und einige Rubel in lauter Copekenstücken! Das war die Revanche der Juden, und wie der Capitän auch zeterte und wetterte, er mußte mit seiner Bürde, die er in einem großen Beutel kaum beherbergen tonnte, abziehen. Nach einer sechsstündigen Fahrt erreichte das Tampfboot die Grenze und hatte damit ein Drittel seiner Tour zurückgelegt. Es fuhr nach Kowno, ich aber stieg bei Schmalleningken an's Land. - Dieses littauische Wort bedeutet zu deutsch Theerbude. Ehemals befand sich hier weiter nichts als eine Hütte, in welcher man aus den Kienhölzern der großen Wälder, die noch heute auf meilenweite die beiden Ufer der Memel bedecken, Then- brannte. Aus der Theerbude ist im Laufe der Zeit ein Ort von etwa 1500 Bewohnern mit dem regen und mannigfaltigen Verkehr der Grenze erwachsen. Noch mehr als Tilsit bietet Schmatleningken ein Gemisch der verschiedensten Nationalitäten, welche der Beschäftigung nach in der Hauptfache theils Kaufleute, iheils Handwerker, theils — Schmuggler find. Es giebt zwar auch einige Bauern, doch nur von kleinem Besitz, so daß die Ackerwirthschaft eine ganz untergeordnete Rolle spielt. Schmalleningken ist nur ein Dorf, aber es hat die Einrichtungen und gewissermaßen den Comfort einer Stadt. Man findet hier Post, Apotheke, Arzt, ein Hauptzollamt, eine Kirche, eine Synagoge, allerhand Kaufläden und Comptoire, ein großes Hotel und verschiedene andere Gastwirthschaften. Die Häuser der sich längs der Memel fast unendlich hinziehenden Dorfgasse sind beinahe alle noch in ländlich-bäurischem Stil erbaut, viele nur geringe Hütten von Holz, Lehm und Stroh. Lebensmittel und Wohnungsmiethe haben hier einen hohen Preis, einen höheren als in mancher großen Stadt, 49 welche Erscheinung man übrigens längs der ganzen Grenze sowohl hüben wie drüben beobachten kann, und die die Grenze geradezu charalterisirt. Neben der hübschen Synagoge nimmt sich die evangelische Kirche sehr ärmlich ans. Sie besteht nnr aus einem kleinen, ganz schmucklosen Betsaal unter dem Dache der gleichfalls höchst beschränkten Pfarrwohnung. Da die Littauer steißige Kirchengänger sind, reicht derselbe oft nicht aus, die Menge der Gläubigen zu fassen. Die Thüren und Fenster müssen dann geöffnet werden, und die Leute erfüllen Flur, Küche und Zimmer der Pfarrwohnung, ja viele drängen sich noch im Hofe und auf der Straße. Es ist schon vorgekommen, daß bei außerordentlichem Andränge der Geistliche sich genöthigt sah, den Gottesdienst unter freiem Himmel, auf einem Platze hinter seinem Hause, abzuhalten und daselbst das Abendmahl auszutheilen. Wie erhebend und rührend auch solche Feier inmitten der hehren Natur sich gestalten mag, es ist doch immer ein Nothstand und er tritt immer greller hervor; die Gemeinde ist aber nicht im Stande, sich aus eigenen Mitteln ein passendes Gotteshaus zu erbauen; schon die Unterhaltung des Pfarrers, so dürftig er auch besoldet ist, nimmt all ihre Kräfte in Anspruch. In Schmalleningkcn übersieht man vom Ufer der Memel aus drei Reiche: Prcußen, Rußland und Polen. Die Memel, die drüben Niemen heißt, bildet von Schmalleningken ab die Grenze zwifchen Rußland und dem „ehemaligen Königreich Polen". Bis ganz vor Kurzem bestand außer der Zolllinie gegen Preußen auch noch eine solche gegen Polen hin, und die russischen Grenzwächter hatten einen doppelten Kanrpf mit preußischen und polnischen Schmugglern zu bestehen, und mit letzteren gestaltete er sich noch schwieriger, da der Strom ihre Expeditionen eher begünstigte, denn behinderte. Erst neuerdings ist diese Zolllime durch die vollständige Einverleibung Polens fortgefallen. Echmalleningken ist wie Endtkuhnen, mit dem es überhaupt viel gemein hat, im Verfall begriffen. Bis vor wenig Jahren war es noch ein wichtiger Handels- und Sueditionsort. Der Niemen war die große Wasserstraße, auf welcher alle Güter und Frachten 4 aus Nußlanb nach Preußen hereinkamen. In Schmallcningken wurden sie revidirt und umgeladen. Die Revision nöthigte die Schiffer zu oft tagelangem Aufenthalt: sie kauften Lebensrnittel und sonstige Bedürfnisse hier ein und fetzten eine Menge von Kaufläden und Handwerkern in Nahrung. Die Umladung und Ver^ sendung der Güter befchäftigte eine große Zahl von Spediteuren und brachte ihnen erkleckliche Procente. Einen ganz außerordentlichen Flor trieb Schmalleningken während des Krimkriegcs. Rußlands Häfen waren bloctirt und um feinen Producten Absatz zu schaffen, fah es sich genöthigt, die Grenzsperre gegen Preußen hin aufzuheben, die Ausfuhr völlig frei zu geben. Das waren für Schmalleningken goldene Zeiten, die „Macherjahre", wie sie noch heute im Munde des Volts heißen. Geld und Gewinn waren fast werthlos geworden, denn das Geld lag auf der Straße, und der Gewinn kam den Leuten in's Maul geflogen: für eine jener hölzernen Hütten, in welchen die massenhaft herznströmenden Kaufleute ihre Comptoirs aufschlugen, wurde damals bis 500 Thlr. Miethe gezahlt; Arbeitslöhne und Lebensmittel erreichten eine unglaubliche Höhe. Aehnlichen Gewinn brachte die letzte polnische Insurrection: die russischen Zoll-Behörden waren flüchtig geworden und es herrschte ebenso völlig freie Einfuhr wie Ausfuhr. Doch die goldenen Tage sind vorüber, für immer vorüber: und die Schmalleningker müssen heute von der Erinnerung und von ihren Ersparnissen zehren, wenn sie solche haben. Durch die Eröffnung der Eisenbahn von Petersburg über Kowno nach Preußen hat der Handel und die Schifffahrt auf der Memel einen fchweren Stoß erlitten, und was davon noch übrig geblieben, berührt doch nicht mehr Schmalleningken, sondern zieht achtlos an ihm vorüber. Die preußische Regierung hat fast alle Einfuhrzölle aufgehoben, die aus Rußland kommenden Güter dürfen in Schmalleningken nicht mehr umgeladen werden, die Schiffer steigen kaum ans Land. Das hiesige Hauptzollamt, welches früher allmonatlich hnnderttausende von Thalern eingenommen hat, kann mit der gegenwärtigen Einnahme kaum die Gehalte seiner Beamten decken und wird wahrscheinlich nächstens in ein Nebenzollamt verwandelt werden. Die meisten 51 Spediteure haben Schmalleningken verlassen, die noch vorhandenen verarmen. Die zahlreichen Handwerker sind ohne Beschäftigung. Wie aber nie ein Malheur allein zu kommen, sondern regelmäßig ein anderes nach sich zu ziehen pflegt, so hat auch Schmalleningken noch einen zweiten, nicht minder herben Verlust zu betlagen. Neben dem Epcoitionshanoel ist auch der Schmuggel verkümmert. Er stand bis vor Kurzem noch in hoher Blüthe, von Echmalleningken bis Memel hinunter. Längs der ganzen Strecke waren große Niederlagen der verschiedensten Waaren errichtet; mit diesen beladen oder auch ganze Fuhren escortirend gingen allnächtlich starke, bis an die Zähne bewaffnete Trupps von Schmugglern über die Grenze, indem sie gemeinhin die russischen Zollwächter entweder zu überlisten oder zu bestechen suchten, oder wenn dieses nicht gelang, ihnen mörderische Schlachten lieferten, wo es dann auf beiden Seiten manch Verwundeten und Todten gab. Man accor-dirte sogar mit dem Nasaratl, wie der Commandeur eiuer 3Ib-theilung von russischen Grenzsoldaten heißt; man zeigte ihm das Eintreffen und den Unifang der Contrebande förmlich an, zahlte ihm eine bestimmte Gratifikation, und zur bezeichneten Stunde fand man die Uebergangsstelle offen, die fönst dort aufgestellten Posten zurückgezogen. Kam es jedoch zum Kampf, fo schlugen sich die Schmuggler, ohnehin kühne entschlossene Leute, bei ihren Expeditionen aber noch dur3) den reichlichen Genuß von Branntwein besonders angefeuert, mit einer Vravour, die einer bessern Sache werth gewesen, und jagten die russischen Soldaten nicht selten in die Flucht. Das Geschäft war ein außerordentlich einträgliches, so einträglich, daß der gemeine Mann jede andere Arbeit verschmähte, und der Unternehmer und Eigenthümer der Waaren, in der Regel ein Jude, es verschmerzen konnte, wenn er einmal beschlagen oder von seinen Kunden in Nußland betrogen wurde. Jedermann an der Grenze schmuggelte damals, im kleinen oder im großen, auf eigene Hand oder im Dienste eines andern. Sogar der Postillon, welcher von Echmalleningken nach Georgenburg fuhr, that es lange, wie er selber mir erzählte: bis er endlich beschlagen, festgesetzt und erst nach Erlegung einer Contraventionsstrafe von 175 Rubel entlassen ward. 4* 52 So war es, aber so ist es nicht mehr. Die letzten beiden Jahre haben dem Schmuggel tödtliche Wunden geschlagen. Die russische Regierung hat neuerdings unter den Grenzbeamten stark aufgeräumt, viele wegen Bestechlichkeit entfernt und durch gewissenhafte Männer ersetzt. Solcher Wechsel ist für keinen Ort an der Grenze empfindlicher gewesen als für Echmalleningken. Der frühere Nasaratl in dem benachbarten Paszwenten war allgemein beliebt, denn er ließ gegen ein Villiges Jedermann schmuggeln, soviel Jedermann wollte, ja er schmuggelte selber, auf eigene Hand und für eigene Rechnung. Als Belohnung dafür versetzte ihn die Regierung nach Sibirien, und an seine Stelle trat ein Mann, der in Schmalleningken ebenso sehr verhaßt ist, wie sein Vorgänger beliebt war, denn er handhabt die Grenzsperre mit unerbittlicher Strenge und hat sich binnen kurzer Zeit zum Schrecken der Schmuggler gemacht. Ueberall hörte ich in Schmalleningten über den neuen Nasaratl jammern und schelten. Er schädigt den hiesigen Geistlichen, indem er nicht die Beichtkinder, deu hiesigen Arzt, indem er nicht die Patienten über die Grenze läßt; er chicanirt die Reisenden und Passanten, er nimmt dem kleinen Mann allen Verdienst. Sein Vorgänger war ein gemüthlicher Mann, der mit Schmalleningken gute Nachbarschaft hielt, die hiesigen Honoratioren besuchte und ihren Besuch empfing, der Nachfolger hat jeden Umgang mit preußischen Beamten zurückgewiesen und überschreitet nie die Grenze. In Begleitung des Pfarrers und des Arztes von Schmalleningken spazierte ich eines Nachmittags nach der russischen Barriere Paszwenten. Am Ende des Dorfs befindet sich das Gebäude des Hauptzollamts und der preußische Echlagbaum. Die Straße führt mm längs einem Flüßchen, das sich in mäandrischen Windungen ergeht und bei Schmalleningten in die Memel füllt. Dieses Flüßchen, so schmal und gewöhnlich auch so seicht, daß man's bequem überspringen kann, scheidet doch zwei mächtige Reiche von einander, und bildet auf einer Strecke von mehreren Meilen die Grenze zwischen Rußland und Preußen. Die Littauer nennen es Szwentoje, das bedeutet: der heilige Fluß, und scheinen an ihm 83 in heidnischer Zeit eine religiöse Feier begangen zn haben. Mit Ausnahme einiger Weide- und Wiesenstücke ist die Umgegend flach und unfruchtbar-. deshalb sagen die Littauer: Smaleninkai szlekti Laukai, Allans kur gaus. Zu deutsch: „EchmaUeningten hat schlechte Aecker; wo wirst Du Bier herbekommen?" Während wir weiter gingen, erzählte der Pfarrer einen charakteristischen Vorfall. Die beiden Töchter des früheren Oberzollinspectors von Echmalleningken pflegten in der Szwentoje zu baden, und hatten sich zum Alls- und Ankleiden ein stilles Plätzchen am russischen Ufer ersehen. Als sie einst, eben dem Wasser entstiegen, die ersten Gewänder über sich warfen, entdeckte sie ein diensteifriger Strasznik. Er nöthigt sie, halbbekleidet wie sie sind, ihm zu folgen, und die armen jungen Damen, welche vor Scham und Angst zu vergehen drohen, werden trotz ihrer Thränen und flehentlichen Bitten nach dem zwei Meilen entfernten Georgenburg transvortirt und hier festgehalten, bis der herbeieilende Vater sie erlöst. Längs dem russischen Ufer erheben sich in gewissen Entfernungen kleine hölzerne Baracken. Es sind die Wohnungen der Strasz-niks, von denen einige ihren Dienst zu Fuß, andere zu Pferde besorgen. Nachdem wir die Straße längs der Szwentoje etwa tausend Schritte weit verfolgt hatten, kamen wir an eine kleine Brücke, deren Geländer zur einen Hälfte die preußischen, zur andern Hälfte die russischen Landesfarben zeigt, und die von den beiden Staaten gemeinschaftlich unterhalten wird. Vor ihr erhebt sich der preußische Adler, hinter ihr der russische Doppelaar. Die Brücke gilt noch für neutrales Gebiet; sobald wir sie überschritten, standen wir vor dem russischen Echlagbaum. Ich wie meine Begleiter waren ohne Pässe, aber der Arzt nöthigte uns, getrost unsern Eintritt in das große Czaarenreich zu nehmen: er kenne den Nasaratl und stehe dafür, daß uns kein Leid geschehen werde. Wir thaten ihm zögernd den Willen, und er ging in das Wachthaus, um den Nasaratl zu bitten, uns hier etwas umsehen zu dürfen. Alsbald kehrte er zurück und meldete, 54 unsere Vitte sei gewährt. Es war jedoch wenig zu sehen. In der Wachtstube lagen, saßen oder standen ein Dutzend Soldaten herum, die sich fast alle des Rocks entledigt hatten, und von denen einige schliefen, andere gar nichts thaten. Sie grinsten uns freundlich an, Niemand verstand ein Wort Teutsch, und wir erfuhren hinterher, daß sie aus allen Gegenden des Riesenreiches zusammen-geweht wären, vom Ural und Kaukasus, vom Don und der Wolga. In einem Hofgebäude befanden sich die Pferdeställe und ein russisches Dampfbad. Die kleinen Steppenpferde waren zottig und unansehnlich, aber wie mich der Arzt versicherte, von vieler Ausdauer und an große Strapazen bei schlechtem Futter gewöhnt. Wenn die Grenze alarmirt wird, tragen sie die Soldaten, meistens geschickte Reiter, im Windesfluge dahin, und man sieht dann nur Staubwolken aufwirbeln und wieder verwehen. Das Pferd des Nasaratl war ein kleiner wolliger, feuriger Tscherkesse. Schon wollten wir den Rückweg antreten, als der Nasaratl, welcher bisher unsichtbar geblieben war, zu uns herauskam. Es war ein Herr in den Vierzigern, mit dunkelm Haar und gleichfarbigem Vollbart, wohl und kräftig gebaut. Man sah seiner etwas gebückten Haltung und seinem etwas breitbeinigen Gange sofort den professionellen Reiter an. Er begrüßte uns mit einer dem Russen eigenthümlichen fast devoten Freundlichkeit und in fließendem, nur scharf accentuirtem Deutsch; fragte, wie es uns gefallen, bedauerte, daß hier nichts Besonders zu sehen sei und bat uns endlich, mit ihm in sein Zimmer zu treten. Wir fanden ein schlicht möblirtes Gemach, doch mit der nöthigen Bequemlichkeit; der Hausherr bot uns Papiercigarren mit türkischen, Tabak gefüllt und starken Thee, den er schnell und mit eigener Hand in einer Maschine von Messing — russisch: ZHmavai-, d. i. Selbstkocher — bereitete. Alsbald kam eine lebhafte Unterhaltung im Gange. Der Nasaratl, von Geburt ein livländischer Edelmann, war seit einem Lebensalter Soldat in russischen Diensten. Er erzählte von seinen Feldzügen im Kaukasus und anderen Orten, und wie oft ihn schon der Dienst von einem Ende des Riesenreiches bis zum andern umhergeworfen; und er sprach von diesem wechselvol- 55 len, abenteuerlichen Leben nut unverkennbarer Liebe, aber ohne jede Selbstgefälligkeit. Obgleich er als geborener Deutscher und in der evangelischen Confession erzogen, deutsche Sprache und deutsche Bil-dung pflegte und hochschätzte, so fühlte er sich doch ganz als Russe und sprach mit Stolz von seinem großen Vaterlande, uon der gegenwärtigen Entwicklung und bedeutungsvollen Zukunft Rußlands. Seine eigene Stellung, erklärte er mir, sei keineswegs ein Ciuil-amt; uiclmehr wäre cr jetzt Offizier in der Grenzarmee, wie früher bei der Linie, in welche er mit seinem Range jederzeit zurückkehren lönne: nur stehe die Grenzbesatzung nicht unter dem Kriegs-, sondern unter dem Finanzministerium. Auf dem Tische lagen ganze Folgen Berliner Zeitungen. — Ich lese sie, meinte unser Wirth, um mich über die politischen Verhältnisse und Vorgänge des Auslandes zu unterrichten; was aber unser Rußland betrifft, so zeichnen sich die deutschen Zeitungen insgesammt durch ebensoviel Unwissenheit wie Befangenheit und Voreingenommenheit aus. — Zum Beispiel? fragte ich. — Zum Beispiel, antwortete er, die polnische Insurrektion. Sie alle haben gelesen von den Greuelthaten, welche russische Soldaten an den Insurgenten, an wehrlosen Greisen, Weibern und Kindern verübt haben sollen. Nicht wahr? — Nun gut, ich sage Ihnen, ich versichere Sie auf Ehre und Gewissen, daß der russische Soldat solcher Unmenschlichteiten überhaupt nicht fähig ist. Es giebt leinen gutmüthigeren, nachsichtigeren Menschen als den gemeinen Russen; er bleibt noch gutmüthig und nachsichtig, wenn er auf das Heftigste gereizt wird. Tie Schilderung jener angeblichen Greuelthaten ist selbstverständlich aus polnischer Feder geflossen und von deutschen Blättern ohne Prüfung übernommen worden. Solche Greuelthaten sind wirtlich geschehen, nur nicht von Russen an Polen, sondern umgekehrt von polnischen Insurgenten an russischen Soldaten und den verschiedensten Personen, welche im Verdachte der Spionage standen oder auch nur für den Aufstand leine Sympathien zeigten. Ich selber habe es bei Tauroggen erlebt, mit blutendem Herzen mit ansehen müssen, wie polnische Bauern russische Gefangene und solch' 56 Verdächtige bei lebendigem Leibe Glied um Glied uerstümmelten, mit einer Bestialität und einem Raffinement folterten, wie sie bei civilisirten Völkern nicht wieder angetroffen werden wird. Es giebt keine tückifchere, grausamere Nation als die Polen. Murawieff, der sogenannte Henker von Polen, hat ihnen viel zu viel Nachsicht geschenkt. Der im übrigen so gleichmüthige kühle Mann hatte sich förmlich in Haß und Wuth geredet. Um dem Gespräche eine andere Wendung zu geben, drückten wir ihm unser Bedauern wegen seiner vereinsamten Wohnung und Lebensweise aus, frugen ihn, ob er nicht Langeweile und das Bedürfniß nach Verkehr und Gesellschaft fühle, zumal er unverhei-' rathet sei. — Mein Dienst beschäftigt mich vollauf, antwortete er einfach; und mein Dienst bietet mir viel Abwechselung und Zerstreuung; die Mußestunden fülle ich durch Lektüre aus. Die Schmalleningker Herren baten ihn um seinen Besuch. — Sie sind sehr gütig! sagte er mit verbindlichem, aber ablehnendem Lächeln: Es ist den Beamten verboten, die Grenze zu überschreiten, und ich thue nichts gegen meine Instruction. Dann geleitete er uns bis zur Brücke, und mir die Hand reichend, äußerte er: — Ich wünsche, daß Sie eine bessere Ansicht über Rußland nach Berlin mitnehmen möchten. Der Nasaratl wandte sich und kehrte in das Wachthaus zurück. Nicht ohne Interesse blickte ich ihm nach. Es war ohne Zweifel ein intelligenter, gebildeter Mann, und ein Mann von Ehre und Noblesse. Es gelüstete mich, einen kleinen Ausflug nach Georgenburg, der nächsten russischen Stadt, zu machen. Also miethete ich mir einen Wagen, und der Besitzer, ein littauischer Bauer, fuhr mich' selber. Es war ein pfiffiger, umsichtiger Bursche, und ich ließ mich von ihm über Schmuggel und Schmuggler unterrichten. 57 Selbst bei Tage ist die Aufsicht schwierig, wie viel schwieriger bei Nacht! Und die Nacht ist die eigentliche Zeit, wie für den Dieb und den Räuber, so auch für den Schmuggler. Er haßt Mondlicht und Sternenschein, seine Wonne sind dunkle, regnerische, stürmische Nächte. In solchen Nächten, wo man nicht die Hand vor Augen sehen kann, wo Regen und Sturm jedes Geräusch verschlingen, lauern die Packenin gker — wie die Schmuggler von den Packen mit Contrebande heißen, die sie auf dem Rücken tragen — hinter einem Gebüsch auf den Moment, wo der Strasz-nik sich einige Schritte entfernt. Auf Händen und Füßen, im Gänsemarsch immer einer hinter dem andern, setzen sie sich nun lautlos in Bewegung, indem sie bei jedem verdächtigen Ton innehalten und den Athem einziehen. Nur im äußersten Nothfall werfen sie die Waaren von sich und ergreifen die Flucht- sonst suchen sie den Strasznit einzuschüchtern oder unschädlich zu machen. Die preußischen Beamten kümmern sich um den Schmuggel nach Rußland nicht' sie haben nur darauf zu sehen, daß die Schmuggler sich auf preußischen: Boden nicht mit geladenen Gewehren betreten lassen. Fast jeder Reisende schmuggelt oder wird zum Schmuggeln angeworben; wegelagernde Juden, denen er ganz unbekannt ist und die ganz seiner Ehrlichkeit vertrauen müssen, zwingen ihm hüben kleine Quantitäten von Kaffee, Thee, Zucker :c., Tücher oder Zeuge auf-, und drüben erwarten ihn schon andere Israelite« und nehmen ihm die Waaren ab. Die Person des Reisenden wird nicht durchsucht oder doch nur oberflächlich; aber auch Leute, die täglich über die Grenze spazieren und den Beamten als professionelle Schmuggler bekannt sind, wissen, obgleich sie bis auf's Hemde visitirt werden, doch jedesmal etwas durchzuschmuggeln. Der Hauptartikel der Contrebande ist Spiritus, weil er mit dem höchsten Eingangszoll belastet ist; er wird in Schweinsblasen gefüllt und diese unterhalb des Fuhrwerks aufgehangen. Auch sind die Wagen und Schlitten mit einem doppelten Voden versehen und dazwischen verbirgt man die Waaren. Genug, der Schmuggel hat tausenderlei Wege und Listen, und werden die alten verrathen, weih er immer neue zu erfinden. 5S — Wer den russischen Boden betritt, ist Arrestant! äußerte gestern scherzend der Nasaratl. Aber es ist thatsächlich nicht anders. Jedem Reisenden wird an der Grenze der Paß abgenommen und er darauf unter Bedeckung nach der nächsten Tomo^zna oder Zoll-lammer transvortirt. Diese befindet sich von der Barriere Paszwen-ten nicht weniger als 2 Meilen entfernt, nämlich erst in Georgenburg. Wenn es dem Beamten beliebt — und dem jetzigen Nasaratl soll es öfters belieben — so müssen die Reisenden, ob sie auch nur in dem hart neben dem Wachthause liegenden Dorfe Geschäfte haben, zunächst nach Georgenburg wandern, also hin und zurück einen Weg von 4 Meilen machen, ehe sie das Ziel ihrer Reise betreten dürfen. Der Controleur, der unsere Pässe abnahm, unterschied sich sehr unvortheilhaft von seinem Vorgesetzten, dem Nasaratl, der heute nicht einheimisch war. Er schien durchaus ein Trinkgeld haben zu wollen, was er durch die wunderlichsten Manöver zu verstehen gab. — Sie wollen also gleich fahren? fragte er mich in gebrochenem Deutsch. — Gewiß, antwortete ich. -- Es sind aber nur noch ein paar Mann in der Wacht-stube: wir haben heute schon viele Convois gegeben — — — Er hielt inne, lächelte verschämt und klopfte mir vertraulich auf die Schulter. Ich uei stand ihn sehr gut, nahm aber die Miene an, als ob ich ihn nicht verstände. ^- Sie werden warten müssen — — — fuhr er fort und blickte mich wieder mit bedeutungsvollem Grinsen an. — Warten Sie eine Stunde — vielleicht auch zwei — — — Wenn es sein muß, will ich warten: aber ich meine, Wagen und Reiter sollen gleich abgefertigt werden. — Wenn ich aber kein Convoi habe — — — — Nun gut, dann muß ich warten. Worauf ich ganz unbefangen ihm gegenüber Platz nahm. Es entstand eine lange Pause. Er fuhr fort, mir zuzulächeln und zuzuzwinkern, schüttelte den Kopf und streckte sogar Hie Hohle Hand 59 gegen mich aus. Da ich ihn aber immer wieder nur verwundert ansah, gab er endlich die Hoffnung, mir etwas zu entlocken, auf und rief zur Thüre hinaus. Bald darauf trat ein Soldat in das Bureau, mit einer Flinte bewaffnet; der Controleur übergab ihm die Püffe, und wir konnten unfere Fahrt fortfetzen. Als ich im Vorbeigehen einen Blick in die Wachtstube warf, tonnte ich mich überzeugen, daß es an Soldaten keineswegs fehlte. Fußreifende müssen allerdings verziehen, bis eine bestimmte Anzahl beisammen ist; Reiter und Wagen follen dagegen, wenn noch Mannfchaft vorhanden, ohne Verzug ein Convoi erhalten. Der Reiter ist genöthigt, so langsam zu reiten, daß der Soldat bequem neben ihm hergehen kann. Begleitet dieser ein Fuhrwerk, so steigt er, wenn noch Platz übrig, mit hinauf; wo nicht, wird er von der Station beritten gemacht. Mein Convoi setzte sich also neben den Kutscher. Es war ein schmächtiger, nicht mehr junger Mann, der all' unsere Fragen mit Kovffchütteln und abgebrochenen Lauten beantwortete. Als ich ihm aber ein Fünfzehnkopekenstück bot, verstand er mich sofort und begann nun lange Geschichten zu erzählen, die mein littauischer Wagenlenker einigermaßen errieth und mir verdolmetschte. Jener erzählte, daß er aus dem Gouvernement Woronesch, also mehrere hundert Meilen weit, zu Hause sei; daß er, wie die Litzen auf seinen Aermeln bezeugen, bereits sieben Jahre diene, und erst nach weitern drei Jahren entlassen werde, welchem Augenblick cr mit großer Sehnsucht entgegensehe, denn er besitze daheim einen Nauerhof nebst Weib und Kind; die Löhnung sei sehr knapp, er habe stets Hunger und noch mehr Durst. Er ging in seiner Vertraulichkeit so weit, daß er mir seine Flinte zur Besichtigung bot, sie dann auseinander schrob, ihre Construktion an den einzelnen Theilen erläuterte und eine Patrone öffnete. Die unchaussirte Straße führte durch einen langen Nadelwald, wo wir einen starken Trupp von Fußreifenden beiderlei Geschlechts einholten, die gleich uns nach der Tomoszna escortirt wurden. Die Mehrzahl bestand wieder aus Dzimlen in allen Altersstufen: 60 singend lind lärmend schwankten und stolperten sie einher, alle von Schnaps trunken. — Sieh mal, sagte mein Fuhrmann — die Littauer haben in ihrer Sprache kein „Sie", und nennen auch, wenn sie deutsch sprechen, Jedermann „Du" — sieh' mal, sagte er, als ich ihn darauf aufmerksam machte, der Branntwein ist in Rußland sehr theuer, deshalb haben sich die Leute an der Grenze noch eine Güte gethan. An der Spitze der Schaar marschirte ein Soldat, und ein zweiter schloß den Zug. Dieser hatte viel Mühe, um seine Pflegebefohlenen vorwärts zu bringen; den meisten wurde das Gehen schon fehr sauer, ja einige sanken zu Voden und mußten erst durch Püffe und Schläge wieder aufgerüttelt werden. Zwei oder drei konnten endlich nicht mehr von der Stelle und blieben wie todt liegen, aber der Soldat wußte sich zu helfen; er ließ sie von ihren noch rüstigen Kameraden auf die Schultern laden und fo fortschaffen. Im Walde, anf der Hälfte des Weges nach Georgcnburg, befand sich ein neues Wachthaus, wo Halt gemacht und die Convois gewechselt wurden. Hier, eine Meile von der Grenze, ist nämlich ein zweiter Zollcordon eingerichtet, und wenn die Schmuggler den ersten glücklich vassirt haben, bleibt ihnen noch diefer zu durchbrechen. Ja, in Georgeuburg ist wieder noch ein Detachemcnt von Grenztruppen zum Nachsetzen und Verfolgen der Schmuggler aufgestellt, so daß sie durch eine dreifache Kette fchlüpfen müssen. Mau hat hiernach eine Vorstellung, welch' eine Armee von Truppen allein die Grenzsperre nöthig macht: und es ist einleuchtend, daß der größte Theil der Zolleinnahmen zum Unterhalt der Grenzbesatzung verbraucht wird. Aber die russische Regierung bleibt hartnäckig bei ihrem System; sie hält auch, nachdem preußischerseits fast die ganze Einfuhr freigegeben, die gangbarsten Artikel mit den höchsten Zollsätzen belastet, und hat nur für einige Dinge, namentlich Holz, Pelz und Schnupftaback, freie Ausfuhr verstattet. Selbstverständlich geschieht das weniger aus volkswirthschaftlichen als aus politischen Gründen. 61 Auf dem Hofe der Tomoszna zu Georgenburg, einem ganz stattlichen und modernen Gebäude, fand nun die eigentliche Zollrevision statt. Wir mußten absteigen, und der Wagen wurde von oben bis unten durchwühlt. Dann wandte sich einer der Beamten, die das Geschäft vollzogen, an mich und fragte: — Haben Sie Papiere? Man hatte mich in Schmalleningken gewarnt, keinerlei Geschriebenes mitzunehmen, weil mir das Ungelegenheiten bereiten könne; doch ich hatte diesen Nath unbeachtet gelassen und etliche lose Blättchen mit Bleistiftnotizen zu mir gesteckt. — Nein! antwortete ich. — Lassen Sie mich sehen, sagte er, und machte Miene, mir in die Tasche zu greifen. Ich verhinderte ihn daran, indem ich die Notizzettel hervorzog und sie ihm darreichte. — Was ist das? rief er und begann mit feinem Collegen eifrig zu studiren. Ich merkte jedoch bald, daß meine nicht fehr deutliche Handschrift ihm ein Gewirr von Hieroglyphen blieb. -— Ich muß diese Papiere mit mir nehmen und dem Kam-merdirettor vorlegen, erklärte er. — Wie es Ihnen beliebt! Sie mögen sie ganz behalten; es liegt mir nichts daran. Meine Gleichgültigkeit schien ihn zn beruhigen. — Reisen Sie in Geschäften oder zum Vergnügen? begann er wieder. — Zum Vergnügen. — Und was haben Sie hier notirt? — Adressen von Bekannten und Gasthöfen, allerhand Ausgaben und was dergleichen Notizen auf einer Reife mehr sind. Soll ich es Ihnen vorlefen? — Bitte, lassen Sie nur! Hier haben Sie die Blätter zurück. Aber ich rathe Ihnen, wenn Sie wieder nach Rußland kommen, bringen Sie keine Papiere mit. 62 Jetzt waren wir frei und durfton unseres Weges gehen; aber die Pässe blieben auf der Tomoszna nnd wurden uns erst bei der Rückfahrt dort ausgehändigt. Georgenburg, gleichfalls am Niemen gelegen, der von hier bis Kowno wirklich an Schönheit der Ufer mit dem Rhein wetteifert, gehört der Fürstin Wassilo witsch, die auch hier ein hübsches Schloß hat. Die Stadt ist ganz von Holz erbaut und etwas weniger schmutzig als ein polnisches Iudennest, aber mit Juden ebenso reich gesegnet. Es giebt hier nicht weniger als drei Synagogen, von denen eine der Familie Feinburg in Kowno gehört, die sich durch Reichthum und durch Wohlthätigkeit gegen ihre Glaubensgenossen auszeichnet. Sie vertheilt gegen 2000 Thaler jährlich an die Armen. Wie in Wirballen sah ich mich alsbald auch hier von einer Schaar von Bettlern, Kindern und Erwachsenen umringt, die sich an meine Fersen hingen, mir winselnd und wimmernd den Weg versperrten. Ich wußte mir endlich nicht anders zu helfen als dadurch, daß ich einen krausköpfigen „Bocher" von etwa fünfzehn Jahren engagirte, der mir gegen ein Trinkgeld freie Bahn schaffen sollte. Mit großem Geschick und bestem Erfolg entledigte er sich dieser Aufgabe. Wie ein Herold schritt er vor mir her, indem er, einen Kniltel schwingend, mit diesem die andrängende Menge zurückscheuchte, und dazu rief er mit schriller Stimme und in einem fort: — Laßt den Herren ßufrieden! Der Herr ist mein! Er wird geben mir! Euch giebt er nischt! In diesem Aufzug gelangte ich nach dem ersten Gasthof. — Was gilt der Rubel in Preußen? Mit diesen Worten bewillkommnete mich der jüdische Gastwirth. In der That ist der preußische Cours des Rubels für jeden Geschäftsmann in Rußland eine Lebensfrage, denn er macht seine sinkäufe und Verkäufe zum größten Theil in Preußen. Im Gastzimmer saßen einige Offiziere von dem hier garni« sonirenden Uralischen Regiment. Ein junger Lieutenant, der nur russisch sprach, ließ mich durch den Wirth fragen, ob ich mit ihm eine Partie Billard spielen möchte, und ich ging es gerne ein. m Wir maßen unsere Talente auf dem alten gebrechlichen Billard: ich spiele schlecht, aber mein Gegner spielte noch schlechter, und so gewann ich die Partie. Ein dicker Hauptmann trat nun an seine Stelle und spielte mit einer Eleganz und Sicherheit, die mich in Verwirrung und Beschämung setzte. Er war aus den nissischen Ostseeprovinzen gebürtig, des Deutschen vollkommen mächtig und besaß eine leichte und gefällige Unterhaltungsgabe. Nach einer Weile gingen die Offiziere davon; einige hatten wenig, andere gar nicht getrunken. Als ich darüber gegen den Wirth meine Verwunderung äußerte, antwortete er achselzuckend: — Sind arme Leute. Haben kein Geld. — Speisen sie auch hier? — Früher, jetzt nicht mehr. Konnten nicht bezahlen, sind mir noch schuldig, borge ihnen nichts mehr. — Aber wo essen denn die Herren? Sie sind doch meist noch unuerheirathet? Giebt es hier noch ein anderes Sveise-hauo für sie? — Sind alle unverheirathet. Jeder ißt bei sich zu Hause, wenn er was hat, oder bei einem Kameraden. Sie lassen sich das Essen durch ihre Burschen kochen. — Der Hauptmann hat ein großes Vermögen geerbt, aber alles durchgebracht. Wenn der heute Geld gehabt, hätte er gleich mit Ihnen Champagner getrunken. Alle geistigen Getränke sind in Rußland dreimal theurer als in Preußen, weil auf ihnen eine hohe Steuer ruht und die Gast-wirthe für das sogenannte Patent eine hohe Abgabe entrichten müssen. In jeder Gaststube hängt ein von der Polizeibehörde des Orts revidirter und bestätigter Preis-Courant aus, aber die Wirthe kehren sich, dem Fremden gegenüber, daran nicht, sondern fordern was ihnen beliebt. Dem deutschen Reisenden machen sie die Rechnung stets in preußischem Gelde, doch thut man gut, sich mit russischer Münze zu versehen, weil man damit bei dem jetzigen Stande des Rubels 15—30 Procent erspart.- Mit Sonnenuntergang hört der Grenzverkehr auf, deshalb mußten wir mit der Heimfahrt eilen, und wirklich erreichten wir noch vor Thoresschluß den Schlagbaum, cm' welchem jetzt ein gro- 64 ßer Andrang herrschte, denn all' diese Fuhrwerte und Fußgänger wollten noch nach Preußen hinüber. Der Controleur lugte zum Fenster und mich erblickend rief er mit seinem alten Grinsen: — Sie kommen sehr spät, mein Herr. — Nicht zu spät! antwortete ich und schickte den futscher mit den Pässen hinein. Alsbald kehrte dieser zurück und meldete mit verstörtem Gesicht: — Die Pässe sollen nicht in Ordnung sein. Du möchtest zum Controleur kommen. — Sehen Sie her, rief mir der würdige Beamte entgegen; auf den Pässen steht nur das Eintrittsvisum, es fehlt die Austrittsbescheinigung der Hammer. — Das ist also ein Versehen der Kammer. — Mag sein, aber ich kann Sie nicht passiren lassen; Sie müssen mit den Pässen nach Georgenburg zurück. — Sie scherzen? sagte ich lachend. — Nein, ich kann sie wirklich nicht durch lassen. Ich merkte, er wollte mir durchaus ein Trinkgeld abpressen, aber ich war eben so fest entschlossen, ihm nichts zu geben. — Sie scherzen?! wiederholte ich und lachte noch stärker. — Oder soll ich zum Nasaratl gehen? fragte ich plötzlich ernst werdend. — Der Nasaratl kann Sie auch nicht durchlassen. Es ist wider das Gesetz. Jetzt legte sich der Littauer, welcher inzwischen hereingekommen war, ins Mittel, flüsterte mit dem Controleur und sagte dann demüthig: — Nein, nein, wenn der Herr Controleur nicht will, darf er uns nicht durchlassen. Ich lächelte und schwieg still. — Der Herr findet das spaßhaft, meinte nun giftig der Controleur; der Herr ist wohl zum ersten Mal in Rußland?! — Ja, ja, bestätigte unterwürfig der Littauer; der Herr kennt das nicht. Wieder flüsterte er mit dem Controleur und dieser ging endlich, um den Schlagbaum aufzuschließen. as — Was flüsterten Sie mit dem Menschen? fragte ich meinen Fuhrmann. — Ich habe ihm eine Flasche Rum versprochen. — Warum das? Ich hätte mich an den Nasaratl gewandt und dieser würde unö schon durchgelassen haben. ^ — Sieh mal, entgegnete der Littauer, wenn an den Pässen wirklich etwas fehlte, konnte uns auch der Nasaratl nicht durchlassen. Tas darf er vor dem Controleur nicht. Und ich will es mit dem Manue nicht verderben, denn ich passire öfters die Grenze und wenn er will, kann er einen immer chikaniren. Darum habe ich ihm die Flasche Num versprochen, und ich will sie ihm geben. — es v. Die Uttanische Niederung. Wo die Niederung ansängt und wo sie aushört, und wie sie sonst beschaffen ist; insbesondere von den Deichen und Neberschwemnnmgcn, Wiese» und Ochsen, Häusern und Menschen daselbst. — Von dem Gro^u Moosbruch und dem (kroßen Äaumwald; unr d»h «s troh der Berliner Zeitungsschreiber noch Wälder in Ostpreußen giebt. — Am Großen Fricdrichsgraben und längs dem Äurischen Haff wohnen die Kuren, die eigemlich zu den Amphibien gehören, aber gern Branntwein trinlcn und den Gerichten viel ,n schaffen machen. — Wie die Pfarrer und Schulmeister am Haff sich aus den Fisch-fang legen, und mit Fischen salariret werden. — Geschichten vom Elchwild in Ibenhorst. ^- Warum i!ord Dudley nicht schießen wollte, und wie die Frau Kronprinzessin sich die Kleider der Frau Oberförstcrin leihen mußte. — Allerlei Unterhaltung filr Sportslcute, auch Einiges filr Geologen. — Vom Herrn Ialutis und seinen Vasallen. — Wie Haff und Nehrung entstanden sein sollen, und was filr ein Ende die Gelehrten ihnen prophezeien. — Daß die Welt doch mil dem Fortschritt geht, und die Schulmeister in Ostpreußen eine Gehaltszulage i.öthig l'.iben. — Von dem Flecken Ruß und dem Mingc-Lra-Wöhne-Schmeltcll-Kanal. — Zum Schluß: Haide und Saud, Torfbaracten >md blutarme Leute. Wei Tilsit beginnt die große littauische Niederung. Sie umfaßt außer den drei Kreisen Tilsit, Heinrichswalde und Heudekrug noch einen Theil des Kreises Nagnit und ein großes Stück vom Kreise Labiau, erstreckt sich also noch in den Regierungsbezirk Königsberg hinein. In diesem weitern Begriff enthält sie über 70 Quadratmeilen und gegen 200,000 Bewohner. Die Stadt Tilsit selbst ist ringsum schon vom Niederungs-boden umgeben; sie liegt in einem Defile, welches, im Norden, Süden und Osten durch mäßige Anhöhen eingeschlossen, sich westlich auf eine Entfernung von etwa 7 Meilen bis zum Kurischen Haff allmälig abdacht. Nie Memel, welche sich 1 '/^ Meilen unterhalb Tilsit in die Ruß und in die Gilge theilt, durchströmt es mit diesen beiden Hauptarmen, die sich mit zahlreichen Nebenarmen in das Kurische Haff ergießen und ein Delta einschließen, dessen äußerste Breite an der Basis wohl 12 Meilen beträgt. 67 Schon ein Blick auf die Landkarte zeigt ein Strom-Geäder, so verworren, daß es geradezu unentwirrbar erscheint; und wirklich haben selbst die Eingeborenen Mühe, die Verbindung dieses Wassernetzes kennen zu lernen. Bald trifft man reißende Stromfalle, gegen welche die Fahrzeuge bisweilen kaum heraufgezogen werden können, bald Kanäle mit todtem Wasser; bald Stromarme, die sich wieder in Afteranne verwandeln, bald Afteranne, die sich umgekehrt in wahre Ströme umwandeln und dem Hauptarme das nöthige Wasser entziehen; bald Kreuz- und Querarme, die weder zum Stei« gen noch zum Fallen des Wasserstandes in der eigentlichen Fahrstraße etwas beitragen. Hier hat man einen Zufluß, dort einen Abfluß, der sich aber durch Auffchwellung des Haffs schon morgen wieder in einen Zufluß verwandelt. Der Fremde gebe es nur auf, sich in diesem Strom-Wirrwarr orientiren zu wollen: jede Wasserstrecke hat noch ein Dutzend verschiedener deutscher und littauischer Benennungen, die ebenso das Ohr wie jene das Auge verwirren. Vor zwei Jahrhunderten war die Niedemng noch ein wüster unwirthbarer Bruch, der Aufenthalt wilder Thiere; jetzt gehört sie zu den fruchtbarsten und wohlhabendsten Gegenden der Monarchie. Zuerst fanden sich betriebsame Leute, welche die höher gelegenen Flecke zum Wohnsitz wählten und sie urbar machten. Damals konnten noch Memel, Ruß und Gilge ungehindert über ihre Ufer treten: bald aber sing man an diese mit Dämmen und Deichen zu versehen, es kamen mehr und mehr Ansiedler herzu, und unter ihren Händen verwandelten sich die Sümpfe und Moräste in lachende Wiesen und üppige Aecker. Jedoch ist die Eindeichung der Flußarme noch heute nur eine theilweise und mangelhafte, die das Delta durchschneidenden zahllosen Gräben und Kanäle vermögen doch nicht eine gehörige Entwässerung durchzuführen, und seine Basis ist völlig un, eingedeicht und den Fluthen des Haffs preisgegeben. Alljährlich sinden zur Zeit des Eingangs und oft auch im Herbste mehr oder minder große Überschwemmungen statt. Sie richten zwar stets Verwüstungen an, aber im Großen und Ganzen sind sie doch für die littauische Niederung, was die Ueberschwemmungen des Nils für Aegypten sind, indem sie der Landschaft die Dungstoffe von 5" ö3 den getreidcrcichen Fluren Rußlands und Polens zuführen, sie damit in außerordentlichem Grade befruchten und das Memeloelta zu dem ostpreußischcn Gosen machen. Es ist daher vor der Wissenschaft noch fraglich, und auch die Anwohner sind darüber noch nicht einig, ob die theilweise Eindeichung jener Flüsse ihnen nicht mehr Schaden als Nutzen bringe, für die Befruchtung ihrer Lündereieu nicht geradezu ein Hemmnis; sei. Verschiedene Thatsachen scheinen das zu bestätigen. So sind die auf dem nördlichen Ufer des Rußstromes gelegenen Plnschkcner Wiesen nicht eingedeicht und werden bei jedem Eisgang überschwemmt-, aber gerade sie und das benachbarte Memelthal gewähren die stärkste und gedeihlichste Futter-Ausbeute in der garzen Niederung. Nachdem die Frühjahrs-Wasscr der Meinet und Ruß sich verlaufen, überziehen sich diese Wiesen oft in wunderbar kurzer Zeit mit dem schönsten Grase, und ein Ertrag von 50 Ccntnern pro Magdeburger Morgen in zwei Schnitten ist nichts Seltenes. Der Flusi führt ihnen stets neue 'Schlammstoffe, namentlich auch thonige Massen zu, sie bedürfen keiner anderen Düngung uno liefern ungeschwächt dieselben reichen Erträge. Tic südwärts gelegenen, eingedeichten Kaukehmer Wiese,: dagegen, welche nicht überschwemmt und auch nicht künstlich gedüngt werden, ihre werthuollen mineralischen Bodenbestandtheile vielmehr in dem verkauften oder als Dung auf die Getreidefelder geführten Heu beständig ohne Ersatz verlieren, haben während der letzten Jahrzehnte sehr merklich in ihren Erträgen nachgelassen, obgleich es ihnen an Feuchtigkeit sonst nicht fehlt. Die eingedeichten Theile der Niederung werden immer niedriger und unergiebiger. Auf die regelmäßigen Ueberschwemmungen sind die Niederunger vorbereitet und zu ihrem Empfange lange vorher gerüstet. Sie halten Heerschau über die Deiche, stellen auch während der Nacht Wachen aus, die Fackeln in den Händen halten und einander ihre Sigale zurufen. Mit langen Stangen und eisernen Haken bewaffnet, stehen sie Mann an Mann auf ihren Mauern, den Dämmen, und erwarten klopfenden Herzens den furchtbaren Gast, der schon auf Meilenweite seine Ankunft mit Donncrgetös 69 verkündigt. Und mm beginnt das Ringen mit der empörten Fluth, mit den treibenden Eisbergen, die sich festsehen und auf die Dämme schieben wollen. Sie werden mit den Stangen vom Ufer abgehalten oder mit den Haken zerschlagen und wieder in Bewegung gesetzt: Strauch, Mist, Erde, Pfähle, Bretter und Etroh liegen bereit, um jeden Dammriß sofort wieder zu verstopfen und dem gierig nachstürzenden Wasser den Weg zu versperren. Aber alle Angst, Mühe und Kosten, die der Durchzug des furchtbaren Gastes verursacht, werden reichlich aufgewogen durch das Geschenk von Schmutz und Schlamm, welches er zurückläßt. Anders ist es mit den außerordentlichen Ueberschwemmungen, die dann und wann Sonnners eintreten, durch Rückstau des Haffs und der Flüsse Aecker und Wiesen bis zur Unkenntlichkeit zerstören, die ganze Ernte vernichten. Eine solche Kalamität hat die littauische Niederung im vorigen Jahre betroffen. In Folge der wochenlangen fündfluthartigen Regeugüsse trat im Juli eine neue Ueber-schwemmung ein, die fast die ganze Landschaft unter Wasser setzte. Das Heu wurde fortgeschwemmt oder verdarb auf den Wiesen, das Getreide verfaulte auf dem Halm oder erwies sich doch nicht werth, gesichelt und eingebracht zu werden, Kartoffeln und Gemüsepflanzen ertranken. Schon in Tilsit sah ich die eisten Spuren dieser furchtbaren Verheerung. Die Memel war über ihre Ufer getreten und bis in die untere Stadt gedrungen, wo das Wasser in den Gassen mehrere Fuß hoch gestanden, was sich noch an den Mauern der deutschen Kirche abzeichnete, deren herrlichen auf Kugeln ruhenden Thurm einst Napoleon bewundert und den er nicht mitnehmen zu können fo sehr bedauert hatte. Der unbändige Strom hatte ein paar Fahrzeuge gegen die lange Schiffbrücke geschleudert und mit ihnen auch diese zertrümmert. Er hatte sich über das ganze neue und alte Memelthnl ergossen und so einen meilenbreiten Landsee gebildet. Wie im Frühjahr beim jedesmaligen Eisgang, mußte auch jetzt mitten im Sommer die Uebcrfahrt von Perfonen und Gütern auf Kühnen geschehen. 70 Die Wasser hatten sich noch nicht uöllig verlaufen. Auf meiner Reise durch die Niederung sah ich noch viele Aecker, Weiden und Gärten theilweise unter Wasser stehen, aus dem ein Baum oder ein Zaunpfahl vorragte; andere waren mit Schlamm und Sand bedeckt, fußtief aufgewühlt und arg verwüstet. Auch die immer etwas hoch gelegenen Häuser, Ställe und Schuppen hatten unter der Ueberschwemmnng gelitten. Oft waren die Grundmauern unter-wafchen oder gar geborsten, Bretter und Planken fortgerissen und das Dach durchlöchert. Viele der Bewohner lagen zu Vett oder schlichen umher, geschüttelt vom Fieber, das die faulige Luft erzeugt hatte. Der obere Theil des Delta wird in seiner größern Fläche als Getreide- oder Wechselland, für Kömerbau und Grasmchung bewirthschaftet: nur ein kleinerer Umfang davon bildet permanente Wiesen. Er befindet sich bei feuchter Lage hoch genug, um gegen Sommerstau geschützt zu sein. Sein Name „Wechselniederung" deutet auf das Verfahren, welches in beliebigem Wechsel dieselben Stücke zeitweise als Acker und wieder als Wiese nutzt. Hier wird vieles und gutes Sommergetreide gebaut; dem Wintergetreide schadet gewöhnlich die Nässe, Weizen kann nur an höheren Stellen mit Vortheil gezogen werden. Die Bestellung des Bodens erfordert jedoch schwere Arbeit, insofern bei nasser Witterung die Pferde nicht fortkommen, bei großer Trockenheit der Acker zu fest und zu hart wird. Der Eindruck, welchen der obere Theil der Niederung auf den Fremden macht, ist im Wesentlichen derselbe, welchen man in den Werdern an der Weichsel empfängt, nur daß hier die Viehzucht in den Vordergmnd tritt, während dort die Pferdezucht überwiegt. In beiden Landschaften ist die Wohlhabenheit der Bewohner gleich groß und durchgängig, doch fällt sie an der Weichsel mehr in die Augen als an der Memel. Man findet hier keine so großen und schönen Dörfer, wie sie die Werder zieren, sondern meist zerstreut liegende Besitzungen, und die Gebäude sind in der Regel nur von Holz gebaut und mit Strohdächern versehen. Auch die Entwässerungsanlagen lassen, wie erwähnt, viel 71 zu wünschen übrig. Tie Besitzer sind vorwiegend Bauem mit einem Areal von einer Hufe kulmisch und weniger, oder sogenannte Köl-mer, in deren Händen sich mehrere Hufen befinden. Besitzungen von 4 — 6 Hufen kommen höchst selten vor, und Güter über 10 Hufen giebt es außer der großen Grafschaft Rautenburg, die über eine Quadratmeile umsaht, nur drei. Früher gab es in der ganzen Niederung kein einziges Rittergut, und es durften hier weder Juden noch Katholiken wohnen, die auch jetzt noch nur in geringer Anzahl vorkommen. Noch heute existirt sowohl im Kreise Heinrichswalde, wie im Nachbartreise Heydelrug, keine einzige Stadt, sondern es finden sich dafür in beiden nur etliche größere Flecken, eine Erscheinung, die nur noch einmal in Westpreußen vorkommt, wo der Kreis Karthaus keine Stadt auszuweisen hat. In der ganzen Niederung giebt es außer Tilsit keine andere Stadt, und. wenn man sie der Lange nach von Wehlau bis Memel durchreist, trifft man auf dem ganzen ä0 Meilen langen Wege nur Dörfer und Flecken. Der mittlere Theil der Niederung ist vorwiegend Wiesenland. Die Wiesen werden jährlich bis dreimal geschnitten und liefern ein so kräftiges Heu, daß die Pferde ohne alle Körner auch bei der schwersteil Arbeit dabei wohlgenährt sind. Selbst die Schweine füttert man mit Heu, das in großen Lasten auf Kähnen und Wagen nach Königsberg, Memel und Tilsit geführt wird, mit welchem die Niederung die ganze Provinz und selbst das benachbarte Rußland versorgt. Grundstücke mit lohnendem Heu-Absatz halten außer einigen Milchkühen wenig oder gar kein lebendes Inventar. Jene liefern außerordentliche Quantitäten von fetter Milch, aus der aber nur Butter, nicht Käfe gemacht, und die im Uebrigen zum Aufziehen der Füllen, Kälber und Ferkel verwandt wird. Die Thiere werden das ganze Jahr hindurch im Stall gefüttert oder gehen nur zeitweife auf lumpigen durchgetretenen Weiden, oder sie grafen auf dem Nachwuchs geschnittener Wiesen. Da man keine Ackerarbeit hat, also auch keine Ochsen braucht, werden diese fettgegräst und drei- oder vierjährig zum Schlachten verkauft. Sie liefern ein saftiges, wohlschmeckendes Fleisch, sind deshalb sehr gesucht und 72 stehen gut im Preise. Neuerdings werden sie auch mit der Eisenbahn versandt-, an einen Erport zu Wasser, obgleich diese so nahe liegt, hat man noch nicht gedacht. Der untere Theil der Niederung endlich besteht aus humosem Sandboden, Bruchland und Dünensand und ist thcilwcise mit großen Forsten bedeckt. Nieser weite Landstrich ist gänzlich un-eingedeicht und wird durch die Fluthen des Eisganges oder bei anhaltendem Westwinde durch die Stauwellen des Haffs bis auf einzelne Bodenerhebungen unter Wasser gesetzt. Da>> Wild der Ibenhorster Forst, darunter einige hundert Elcnthiere und wohl gegen tausend Nehe, drängt sich dann auf dem schmalen Nucken einiger mit Kiefern bestandenen Sandhügelkettcn in dichten Nudeln zusammen und bleibt ulehrcre Tage dort hungernd stehen. Zuweilen hört die Kommunikation zwischen den einzelnen Ortschaften auf und jedes Dorf bildet dann tagelang eine unzugängliche Insel, aber auch zu anderen Zeiten geschieht der Verkehr fast nur zu Wasser. Hier erreicht nämlich der Wirrwarr von Flußarmen und Kanälen seinen Höhegrad, hier hört der eigentliche Ackerban gänzlich auf. Es giebt in den Fischerdörfern am Kurischen Haff alte Leute, die Zoche, Egge und Wagen niemals, ein Pferd nur zur Winterszeit bei Eisbahn gesehen haben. Jedes Haus besitzt eiuen oder mehre Kähne, auf welchen alle Wege gemacht werden. Die Kinder schiffen zu Kahn nach der Schule, die Erwachsenen wallen zu Kahn nach der Kirche, der Kahn bringt die Arbeiter nach den Wiesen und Gärten und schafft das gemähte Heu und das ausgenommene Gemüse nach Hause. Nur auf einigen höher gelegenen Flecken wird etwas Sommerroggen und Sommergerste gebaut, im Uebrigen alles Getreide von Außen bezogen, gegen Heu, Fische und Gemüse eingetauscht. Dieses besteht hauptsächlich in Weißkohl, Mohren, Pastinnk, Runkeln, Petersilien, Zwiebeln und Kartoffeln. Bei mühevoller Arbeit ist der Ertrag außerordentlich und übersteigt oft auf wenigen kleinen Gartenrücken, die nahe bei dem Hause liegen, den Getreidebcdnrf der ganzen Familie. Aus Pasti-nal wird ein schmackhaftes Brod gebacken, aus Gelbrübcn eine Art Bier gebraut. Auf scheinbar unzugänglichen Torf- und Moorbrü- 73 chern baut man die schönste Kartoffel, wegen ihrer dünnen fast durchsichtigen Schale Glanz- oder Atlas-Kartoffel genannt. In früherer Zeit wollte fich kein Käufer dafür finden, fo daß die Bauern, um sie los zu werden, sie erst mit nassem Lehm bestreichen mußten; jetzt werden sie auch ohne diese Tünche gern getauft, denn sie sind wohlschmeckend und der bekannten Kartoffel-krankheit nicht unterworfen. Einen andern Erwerb gewährt der amphibicnartigen Bevölkerung das im Haff und an den Etromufern wachsende Schilfrohr. Gewöhnlich unter dem mittleren Nasserstande befindlich und nur zeitweise über den Spiegel der Gewässer hervortretend, wird es mit der Sichel geschnitten, in Bündel gepackt und zur Bedachung von Gebäuden über ganz Littauen verkauft. Ein solches Schilfdach ist um zehn Jahre dauerhafter als ein Strohdach, freilich auch theurer. Der Plan, die Niederung gegen das Haff hin einzudeichen, ist schon öfter in Erwägung gezogen; ob aber ein solches Werk überhaupt lohnend sein möchte, steht dahin; denn abgesehen von den großen Kosten wären zur Zeit des Eisgangs immer Dammrisse zu fürchten und der befruchtende Segen der Ueberschwemmun-gen könnte hier noch weniger als oberwärts ersetzt werden. Solch' triste armselige Gegenden haben den höchsten Reiz für mich und umstricken mich mit dem Zauber ihrer einförmigen melancholischen Nomantik so sehr, daß ich mich nur schwer von ihnen losreißen kann. Der Küstenstrich am östlichen Ufer des kurifchen Haffs ist indeß keineswegs so einförmig, wie er dem ersten Blick erscheint, sondern es entrollt sich dem aufmerksamen und unerschrockenen Wanderer hier ein Bild uon Mannigfaltigkeit und Abwechselung, sowohl hinsichts der Natur als der Bewohner, die ihn in Erstaunen und Bewunderung versetzt. Auf der Grenze des Heinrichswalder und Labiauer Kreises zieht sich eine Art uon Nildniß hin, die fast zwei Quadratmeilen umfaßt. Es ist der vielberufene sogenannte Große Moos- 74 bruch: ein anscheinend ebenes, nach angestelltem Nivellement bis 13 Fuß über den Wasserspiegel des benachbarten Nemonien-Flus-ses sich erhebendes Terrain, das erst in weiter Ferne von Wald nmkränzt wird. Die Oberfläche ist mit schwachen Kupstcn oder Buckeln bedeckt, wie sie sich in Folge eigenthümlicher Gruppirung des Pflanzenwuchses auf allen Brüchen zeigen. Die ganze Vegetation besteht in Torfmoos, Haidekraut, Ampfer, Porst, Sonnenthan und zahlreichen Moos- und anderen Vecrcnarten. Nach den interessanten Bohrversuchen, welche Oberlehrer Dr. I. Schumann, einer der fleißigsten und zuverlässigsten Durchforscher Ostpreußens, hier angestellt hat*), ist die Hauptpflanze, die den Körper des Bruchs bildet, das schon genannte spitzblättrige Torfmoos. Dr. Schumann konnte einen Erdbohrer von 13 Fuß Länge ohne besondere Mühe hinabstoßen. In einer Tiefe von 2 bis 9 Fuß finden sich zahlreiche Stubben von Kiefern; an vielen Stellen stößt man erst bei 20 bis 30 Fuß Tiefe auf festen Boden, Sand oder blauen Thon. Wie die unterste Schicht des Bruches beschaffen, ist noch zweifelhaft. Einige meinen, daß der ganze Bruch mit all' seinen Bewohnen: schwimme; jedenfalls smd die unteren Schichten lockerer, wasserreicher, als die oberen. Der Moosbruch ist nämlich nicht unbewohnt; außer Kranichen und Uhus, die hier zahlreich nisten, auher Bibern, die in dem den Bruch durchströmenden sehr tiefen Flüßchen Lautne hausen — haben sich hier auch Menschen niedergelassen. Das Haus des Bruchbauern ist ein primitives Gebäude. Der Schornstein fehlt, wie alle anderen Luxusartikel; den Heerd bildet eine Lage Ziegel, über welcher an einem langen hölzernen Haken ein Kessel schwebt. Das hauptsächlichste Werkzeug des hiesigen Bauern ist ein Spaten, der genau die Form eines kurzen Ruders hat. Er ist entweder ganz von Holz oder unten mit Eisenblech beschlagen. Diese Art wird gebraucht, um neues Bruchland anzugreifen; jene reicht aus, wenn das Land schon Kultur hat. Auf dem schwarzen.alten Kulturlande stehen in üppigem Wüchse alle Sorten von Gemüse, vor- ») Neu« Preuß. Plovinzialblätter, blitte Folg«, Band 8. S«it« Hl. 73 nehmlich die schon erwähnte Atlas-Kartoffel. Man zieht zwifchen den Beeten tiefe Furchen, um der Luft Zutritt zu verschaffen. Dadurch wird die obere, in eine braune Masse umgewandelte Moosschicht bis auf etwa 6 Zoll Tiefe trocken gelegt. Alles Tiefere ist, wie das Auge lehrt, ein mit Wasser getränkter Schwamm: bei jedem kräftigen Schritt schwankt der Boden. Man legt die Kartoffeln oben auf und bedeckt sie mit einer Handvoll Dünger und der aus den Furchen gegrabenen Moorerde. Ebenso wird die Frucht zur Zeit der Ernte mit der Hand mühelos ausgenommen, und trägt hier sicher 10 bis 15fältig. Doch auch das neue Bruchland bedarf des Dungs, der durch Zerkleinern der abgestochenen Kupsten gewonnen wird, die man andrerseits auch wieder in Haufen setzt und zur Feuerung benutzt. So weiß sich der Mensch überall einzurichten, so lernt er in der Oede auch das Kleinste und sonst Werthlose benutzen, das ihm bisher gänzlich Unbekannte seinen verfchiedensten Bedürfnissen und Zwecken anpassen. Allein nicht nur einzelne Gehöfte, auch ganze Dörfer haben sich schon auf dem Moosbruch etablirt. Die es durchkreuzenden Wege sehen aus, als wären sie mit hellrother Lohe bestreut. Nur hin und wieder sieht man einzelne kaum fußhohe Zwergbirken und Kiefern. In Schenkendorf ruht uur das Schulgebäude auf einem Pfahlrost, hier ist der Bruch fchon weuiger wankend. Schüudorf hat sogar festen Lehmboden mit erratischen Blöcken und gute Getreidefelder. Hier hebt sich aus dem Bruch das feste Land inselartig enlpor, um erst hinter Mauschern wieder unterzusinken. In dieser Gegend hat der Bruch zugewachsene und offene, aber nur seichte Teiche, und an den Rändern gute und ergiebige Torfstiche. Die Kolonisten sind nicht Eigenthümer, sondern Pächter der Forst, befinden sich aber trotzdem, da sie mäßig und sparsam leben, in leidlichen Verhältnissen. Wollte die Regierung den Bruch in Parzellen zerlegen, und diese zu möglichst billigen Preisen verkaufen, würde sie einerseits ein gutes Geschüft machen und andererseits eine Menge weiterer Ansiedler herbeilocken, die bald das ganze Areal in Acker- und Gemüseland umwandelten. Der Be? 76 sorgnist, daß sich der Staat auf diese Weise ein Proletariat von Grundbesitzern erziehen möchte, widerspricht das Wohlbefinden der jetzigen Pächter. Ter Große Moosbruch ist der nördliche Theil des Großen Baumwalds, der ohne ihn noch 4 Meilen lang und 3 Meilen breit ist, vorwiegend aus Nadelhölzern besteht und nicht weniger als sieben sich um Labiau gruppircnde Oberförstereien umfaßt. Ein Theil dieses ausgedehnten Waldes ist noch als zur littauischcn Niederung gehörig zu betrachten; im Uebrigen enthält sie nur noch das große Nruchterrain am ätnrischen Haff, welches eben die beiden Reviere Nemonien und Ibenhorst bildet. Ist die Niederung sonach holzarm zn nennen, so gilt dies doch keineswegs von dem übrigen Littauen und noch weniger von Ostpreußen überhaupt.^) Zwar ist die Provinz nicht so waldreich wie die Mark, Schlesien, Westfalen und die Nheinlande; zwar haben die Rodungen in den Privatforsten eine ungebührliche Höhe erreicht, und auch die Staats-forsten durch den Fraß der Nonnenraupc und des Borkenkäfers (von 1853 — 60) eine furchtbare Verheerung erlitten — aber das Waldareal beträgt noch immer über 18 Prozent der Gcsammtfläche, und außerdem ist ein Mangel an Brennmaterial wohl niemals zu befürchten, da die fast die ganze Provinz durchziehenden Torf- und Vraunkohlenlager geradezu unerschöpflich und bisher noch wenig ausgebeutet sind. Bei dem bisherigen Holzüberfluß in Ost- und Westpreußen war der Holzverbrauch ein ungeheurer, und noch heute ist man hier nicht an Sparsamkeit gewöhnt. Um noch einmal auf den Großen Moosbruch zurückzukommen, so ist er nebst dem ihn durchströmenden Nemomenfluß nach Schumann's Ansicht nichts anderes als die breite Mündung des alten *) Eine Berliner Zeitung, »velche es sich ;ur Aufgabe gemacht, cine» von mir in der Zeitschrift „Daheim" veröffentlichten Aufsatz „Der Nothstand in Ostpreußen" zu einem Dutzend verschiedener Leitartikel und Feuilletons zuzuschneiden — »hue dabei meinen Namen zu erwähnen — hat sich durch einen dort vorlommendeu Passus, „daß das Klima in Ostpreußen in Folge des Aushauens der Wälder an der Seelüfte sich mehr und mehr verschlechtere", zu der lühnen Äehauptung verleiten lassen: es gäbe in Ostpreußen überhaupt leine Wälder mehr, sondern cö fänden sich hier nur noch einige buschartige Flecke!! 77 Niemen, welcher nach dem Gesetz, das alle norddeutschen Ströme beherrscht, seinen Lauf allmälig immer mehr nach Norden umgewandt hat. Der Nemonien gehört zu dem Kanalsustem, welches die Memel mit dem Pregel verbindet. Er lorresponoirt mit diesem durch den Großen Friedrichsgraben und die Deime, mit jener durch den Seckenburger Kanal und die Gilge. Der Scckenburger Kanal dient zugleich zur Entwässerung des südöstlichen Viertels der Niederung; doch hat sich die beim Dorfe Petricken angelegte Wasserhebemnschine bisher nicht besonders bewährt. Der Nemonien ist der Sammelabfluß des Wassers aus den sumpfigen Waldungen der Niederung. Ein prächtiger Strom, theilweise bis 40 Fuß tief und beim Ausfluß ins Hass über 400 Fuß breit. Rechts und links begleiten ihn üppige Wiescnstrcifen, uon den Littauern Pane-monien genannt, hinter ihnen grüßen schöne Erlenwälder. An den Ufern stehen gelbe Mummeln und Pfeilkraut und hochauf-strcbende Vlumcnbinscn mit blaßrothen strahlenreichen Dolden. Zuweilen theilt ihn eine langgestreckte Wieseninsel in zwei Arme, und eine der beiden Durchfahrten ist durch ein Gestell uon Netzen abgesperrt, in welchen man riesige Welse fängt. Einen hochpoetischen Anblick gewährt es, wenn in der Morgenfrühe eines sonnigen Sommer-Sonntags Schaaren uon Mädchen und Burschen in ihrer bunten Nationaltracht nach der Kirche fahren und oon taktmäßigen Schlag der Nuder, welche die Kähne den stolzen Strom entlang treiben, mit ihren Wechselgesängen begleiten. Beim Dorfe Wiep gelangt man aus dem Nemonien in den Großen Friedrichsgraben, einen über 2 Meilen langen Kanal, der bei Labiau in die< Deime, einen Arm des Pregels, führt. Er ist ohne alle Strömung, einem stehenden Gewässer gleich, und durchschnittlich nur ^ Meile, oft nur wenige Nuthen vom Kurischcn Hass entfernt, das wegen dieser großen Nähe bei Stunn-fluthen in den Kanal überspült und ihn durch den eingeschwemmten Moorgrund so sehr «erflacht, daß fortdauernd kostbare Vnggerungen unterhalten werden müssen. Auf der Nordwestseite begleitet ihn ein von der ausgeworfenen Eide gebildeter und jetzt noch durch 78 die fortgesetzten Naggenmgen erhöhter Treideldamm, der in trockener Jahreszeit als Fahrweg benutzt wird. Im Laufe der Zeit sind auf beiden Ufern zahlreiche Ansiedelungen entstanden, Hut sich längs dem ganzen Kanal eine Doppelreihe von Häusern und Hütten gebildet, welche meist mit Vorgärtchen versehen und durch Wald-, Wiesen- und ActerstüÄe von einander getrennt sind, wodurch diese an sich schon sehr lebhafte Wasserstraße außerordentlich an Reiz gewinnt. Tie Anwohner treiben Viehzucht, wozu der reiche, wenn auch sehr unsichere Heuertrag der Wiesen einladet: daneben Fischerei und bedeutenden Gemüsebau. Hier sind Pferde Raritäten, hier geschieht die Kommunilation fast ausschließlich zu Wasser-, selbst Kinder von 6 bis 8 Jahren setzen in Böten mit improuisirten Rudern, nämlich abgeschnittenen Wcidestöcken, von einem Ufer zum andern über. Die ganze, durchweg littauische Bevölkerung am Küstengürtel des Kurischen Haffs, von Labiau bis Memel hinauf — im Volksmunde Kureu genannt — steht hinsichtlich ihrer Sitten, Neigungen und Lebensart mit Recht in üblem Ruf. Die Wohnungen sind schmutzig, die Menschen unsauber, faul, roh und verwegen. Zwar wird hier nicht, wie in der mehr landeinwärts gelegenen Niederung, der Branntwein an Sonn- und Festtagen von Männern und Frauen mit Löffeln aus großen Schüsseln gegessen-. aber beide Geschlechter ftöhnen auch hier der Trunksucht; auch hier ist eine Suppe beliebt, die aus einem Gemisch von Schnaps und Syruv mit eingebrockten! Brod besteht. Die Prozcßsucht der Littaucr ist sprüchwörtlich geworden, aber von ihnen machen die sturen den Gerichten bei weitem am meisten zu schaffen,'mrgends ist die Zahl der schwebenden Streitigkeiten, Vergehen und Verbrechen größer als bei den Kreisgerichten zu Labiau, Heydekrug und Mcmel. Wegen Anbringung eines Fensters, über die Benutzung eines Fußweges oder Durchganges vrozessircn sich dje Leute von Haus und Hof. Einzelne und Massenprügeleicn sind etwas Alltägliches, wobei es nicht selten zu schweren Körperverletzungen und sogar zu Todtschlägen kommt. Jedermann, gleichviel ob ann oder wohlhabend, ist hier ein geborener Holz- und Wilddieb; viele Personen betrei- 79 ben beides gewerbsmäßig und leben ausschließlich davon. Es giebt ganze Dörfer von Wildschützen, und die Forstbeamten haben einen schweren Stand-. häufig kommt es zwischen ihnen und den verwegenen Frevlern zu einem Kampf auf Leben und Tod, und schon mancher Förster ist ein Opfer seiner Berufstreue geworden. Die gröbsten Verbrecher machen diese Gegenden unsicher. Für eine Flasche Branntwein findet sich überall ein Zeuge, bereit auszusagen, was man von ihm verlangt. Es treten falsche Zeugen auf, blos um der ihnen vom Gericht auszuzahlenden Reisekosten wegen, welche sie hinterher mit ihrer Partei theilen. Noch verschmitzter als im gewöhnlichen Verkehr zeigt sich der Littauer vor Gericht; er weigert sich hier konsequent, deutsch zu sprechen und deutsch zu verstehen, sondern es muß, auch wenn er dieser Sprache vollkommen mächtig ist, stets mit ihm durch Dolmetscher verhandelt werden, weil er auf diese Weise zum Bedenken und Antworten Zeit gewinnt- und er antwortet nie direkt, sondern so zögernd und ausweichend als möglich. Am Grohen Friedrichsgraben findet sich bei den größeren Beschern noch eine gewisse Wohlhabenheit; rechts von der Deime und am Haff weiter hinauf ist jedoch die Bevölkerung eine durchgängig arme. Es hausen hier Arbeiter, Fischer und zahlreiche sogenannte Eigenkäthner mit einem winzigen Grundbesitz von 5 bis 6 Morgen, der in der Regel noch dazu hoch verschuldet ist. Unter der Ueberschwemmung, welche die ganze Niederung betroffen, haben am meisten diese Haffdistritte gelitten. Hier hat es überhaupt keine Ernte gegeben, weder an Heu und Grummet, noch an Kartoffeln und Gemüse; jenes ist, wie schon früher gesagt, verdorben oder weggeschwemmt, diese ertrunken. Und gerade hier ist der Arbeiter und Eigenkäthner darauf angewiesen, während des langen Winters, wo er nichts verdienen kann, sein Leben einzig und allein von dem Ertrage der Merstreifen zu fristen, die er eigenthümlich besitzt oder nur gepachtet hat, und von denen er nicht weiß, wie er sie zum Frühjahr bestellen soll. An der Hafsküste fand ich schon auf meiner Reise einen Nothstand vor, wie er schlimmer später nirgends existiren konnte. Um mir einen Begriff von dem erlittenen Schaden zu geben, zeigte man mir auf den Wiesen einige zurückgebliebene Haufen von Heu. Es war schwärzlich und wie verbrannt anzusehen, und kein Vieh mochte es fressen. Dann brachte man mir einige Getreideähren, dem Anschein nach voll und reif; als ich die Hülsen jedoch öffnete, fand ich statt des mehlreichen Kerns nur ein klebrig'es Mus. — „Das ist unsere Ernte!" sagte man mir, und überall fragte man voll Verzweiflung: „Was werden wir essen, wovon werden wir leben? Wir haben für uns weder Vrod noch Kartoffeln uud für das Vieh kein Futter. Wir müssen's abschaffen, wenn wir's nicht umkommen lassen wollen." Und daß dieser Jammer und diese Furcht nicht übertrieben sei, bestätigten mir die verschiedenen Schullehrer und Geistlichen, die mich umherführten. Etwas besser als die Arbeiter und Kä'thner sind die Fischer dran, indem diese nicht blos auf die Ausnutzung ihres kleinen Landbesitzes angewiesen sind, sondern ihren eigentlichen Erwerb in den Gewässern finden. Iuwendt, Gilge, Tawe, Inse, Karte ln sind die bedeutendsten Fischerdörfer an der östlichen Haffküste: aber so große und ausschließliche Fischerdörfer, wie sie außer hier meines Wissens nur noch an der Samländischen Ostseeküste existi-ren. Alles duftet hier nach Fifchcn, sogar die Schnle, Pfarre und Kirche. In jedem Hause fabrizirt man Fischthran vermittelst einfacher Auskochung faulender Fischköruer: vornämlich wird dazu ein kleiner singerlanger Fisch, Stint genannt, verwandt, den man zu Billionen im Haff fängt. Der Thran wird theilweise in der eigenen Wirthschaft als Veleuchtungsmaterial verbraucht, zum größeren Theil verkauft. Jedermann fischt hier, sogar, wenn auch natürlich nur nebenbei, der Schulmeister und der Pastor. Fisch ist für Menschen wie Thiere das Hauptnahrungsmittel-, man ißt ihn als Fleisch wie statt Brod und Gemüse; und man füttert mit ihm Hühner, Enten, Gänse und Schweine fett, deren Fleifch davon einen thranigen Gefchmack erhält. Gedörrter und eingesalzener Fifch ist für den Winter der Hauvtmundvorrath. Schulmeister und Pfarrer erhalten einen wesentlichen Theil ihrer Besoldung in Fischen; die Stellen sind daher schlecht und verrufen, es finden sich dazu nur 51 Anfänger, welche aber, wenn sie einige Jahre hier ausgehalten haben, mit guten Vedienstungen belohnt zu werden pflegen. Das Kurische Haff ist noch immer außerordentlich fischreich, es versorgt ganz Littauen mit den schönsten Fischen und zu den billigsten Preisen. Wenn die Fischer auf den Fang fahren, rüsten sie sich oft für 3 — 5 Tage aus, denn sie segeln meilenweit auf das Haff oder die Küsten entlang, und können bei starkem und widrigem Wind verschlagen werden. Ihr ganzer Proviant besteht nur in Brod, Zwiebeln und Schnaps; im Uebrigen leben sie von dem, was sie fangen, essen die Fische roh und braten sie an einem hölzernen Stecken lebendig 'in ihrem Fett. Nicht nur jedes dieser Dörfer, wie ich früher fagte, sondern jedes Haus in ihnen bildet zu gewissen Zeiten eine Insel. Sie sind auf den Lagunen des Haffs erbant, und man hat deshalb das überhaupt reizend gelegene Karkeln das kurische Venedig genannt. Vor diesem schon zum Kreise Heudekrug gehörigen Fischerdorf breitet sich in fchr tiefer Gegend das wegen seines Wildes hoch-berühmte Forstrevier Ibenhorst aus. Der Grund ist torftger Moorboden; im Frühling gewöhnlich überschwemmt; wenn trocken, dem Fußtritt elastisch widerstrebend. Jüngeres Erlenholz wechselt mit Wiesen, beides von schnurgeraden Gräben durchschnitten, welche von Hnmus gebräuntes Wasser halten. Auf sandigen Hügeln wachsen Föhre und Fichte. Der Uhu nistet auf der Erde zwischen Erlcnstämmen i Kraniche, die Eier brüten, lassen ihren Posaunenton klangvoll durch den Wald hallen, und der Heuschreckenfänger täuscht durch sein einförmiges Geschwirr den Hörer. In diesem Bruch-walde, der keineswegs das Bild einer Wildniß gewährt und sich durch großartigen Baumwnchs auszeichnet, wird seit der Regierung Friedrich Wilhelm II. das herrliche Elchwild gehegt, das sich außerdem auf unserm Erdtheil nur noch in den russischen Ostseeprovinzen, m Finnland und auf der skandinavischen Halbinsel findet, und wie der ebenfalls in Ostpreußen früher einheimische Auerochs bereits im Aussterben begriffen ist. 0 52 Der Elch oder das Elen ist ein anscheinend plumpes, schwerfälliges, in der That aber leichtfüßiges Thier. Der massive gewaltige Körper — bis 8 Fuß lang, am Widerriß 0 Fuß hoch und 4 — 600, zuweilen 1000 Pfund schwer — und die plumpe Gestalt bekunden seine antediluvianische Herkunft. Der Leib ist verhältnißmäßig kurz und dick; breit an der Brust: hoch, fast höäerig am Widerriß, gerade am Rücken, niedrig am Kreuz. Er ruht auf hohen und starken' Beinen von gleicher Länge, welche in schmale gerade tiefgespaltene Hufe endigen; die Afterklauen berühren leicht den Boden, der ganze Fußbau gestattet dem Elch beim Gehen auf feuchtem Boden seinen Schuh sehr zu vergrößern, wie es das Rennthier auch vermag. Auf dem kurzen starken Halse ruht der große langgestreckte Kopf, welcher in eine dicke aufgetriebene Schnauze endigt. Die Augen sind klein und matt, liegen tief in den stark hervortretenden Augenhöhlen und sind nicht geeignet, den so häßlichen Kopf zu verschönern. Große lange breite Ohren stehen nach feitswärts gerichtet am Hinterkopf, neigen sich aber oft schlotternd gegen einander. Das Geweih des erwachsenen Männchens besteht aus einer einfachen sehr ausgebreiteten platten schaufeiförmigen Krone mit oft zwanzig Zacken, und kann ein Gewicht von 40 Pfund erreichen. — So erscheint das Elen wie eine häßliche Karikatur des Edelhirsches: doch hat der Anblick eines starken Elenhirsches mit aufgesetzten Schaufeln etwas Imposantes. Die Behaarung ist lang, dicht und straff; sie besteht aus gekerbten brüchigen Grannen, unter denen kurze feine Wollenhaare sitzen; über die Firste des Nackens zieht eine dichte, der Länge nach getheilte Mähne. Die Färbung ist ein ziemlich gleichmäßiges Röthlich-braun, nur die Beine sind aschgrau. Bei der Zahmheit des Elens darf man ihm nahe kommen und es ruhig betrachten; nur wenn es angeschossen nicht mehr von der Stelle kann, nimmt es den Jäger an, d. h. es schlägt mit den Schaufeln oder VordcrlÜufen nach ihm, und ein solcher Schlag kann leicht tödtlich werden. Gejagt, eilt es in gewaltigen Sätzen über Gebüsch und grundlosen Moorboden dahin, indem es die Läufe horizontal ausschnellend Halt gewinnt, wo ein Stier von gleichem Gewicht versinken würde. Ein Rudel von 15—20 Elchen macht die Luft erzittern, als näherte sich im Galopp ein Reiterregimcut. Beim Laufen macht das Elen durch Aneinanderschlagen der beweglichen Afterklaue und Hufe ein eigenthümliches Geräusch, welches der Waidmann „Echel-lern" nennt. 1848, im Jahre der Iagdfteiheit, war das Elchwild in der Ibenhorster Forst bereits auf 10 Stück reducirt; seit 1851 hat es sich unter der Aufsicht und Pflege des Oberförster Ulrich wieder auf 250 Stück vermehrt. In ganz Europa giebt es nur eine Hegung, welche diesem stolzen Elchforst verglichen werden kann, das ist der Bialowiczer Wald mit seinen Auern. Während des Sommers hält sich das Elchwild in den bruchigen Erlenwaldungen auf und geht im Herbst, wenn das Wasser sich mehrt, auf den höheren Voden in das Nadelgehölz über. Es lebt hauptsächlich vom Laube und den jungen Zweigen der Bäume. Im Frühjahr tritt es Abends auf die Wiesen und auf Roggenfelder. Nur im Winter, zur Zeit der Noth, macht es sich an das Nadelholz, von dem es die jungen Triebe abbeißt-, doch soll der Schaden, den das Elchwild überhaupt verursacht, sehr übertrieben werden. Jedenfalls steht er in keinem Verhältniß zu dem Werthe des schönen und lebendigen Denkmals, welches diesem berühmten Ureinwohner Preußens hier errichtet ist, und welches so viel naturwissenfchaftliches Interesse gewährt. Kein zoologischer Garten kann dieses Naturbild erreichen. Herr Ulrich fand im Sommer 1800 in seinem Revier ein junges Elchkalb, das vermuthlich die Kugel eines Wildschützen verwaist hatte. Er nahm es mit sich und wies ihm eine Kuh als Amme an. Das Thier gedieh und wuchs heran, lief den Menschen wie ein zahmer Hammel nach und leckte seinem Herrn beim Wiedersehen Hand und Gesicht. Für den Garten entwickelte der junge Elch, nachdem er seiner Amme entwachsen war, ein gefährliches Interesse. Er aß gern Bohnen, Kohl und Salat, und als man die Thüre vor ihm verschloß, sprang er gewandt über den 5 Fuß hohen Zaun. Wenn sein Herr in den Forst ging, mochte er ihn gerne begleiten, und mußte oft gewaltfam zurückgehalten b* 64 werben. Einst traf er auf solchem Spazicrgang ein Rudel feiner wilden Brüder. Die betrachtete er aufmerksam und sie schienen ihn lebhaft zu interessircn; jedoch gefiel es ihm bei drm Herrn Oberförster besser und er kehrte getreulich mit ihm aus dem Walde zurück. Dieses zutrauliche Thier kam später nach Berlin, in den zoologischen Garten, wo es seiner langen Ohren wegen von einem gebildeten Publikum gewöhnlich als „fremder Esel" angesprochen wurde aber bald erkrankte und verstarb. Auch das im Hamburger Thiergarten gehaltene Exemplar kränkelte beständig und siechte zusehends dahin. Ein Elch in Ibenhorst zu schießen, ist eine außerordentliche Gunst; die Ermächtigung dazu erfolgt nur auf besonderen Vortrag des Finanzministers durch Allerhöchste Kabinetsordre. In den Annalen des Forstreviers stehen der Herzog von Gotha, der Prinz Friedrich Carl und einige Namen aus der Generalität und dem Herrenhause verzeichnet. Ein österreichischer Prinz wird als schwacher Treffer genannt. Im Spätherbst des Jahres 18L1 traf der britifche Gefandte Lord Dudley hier ein. Mit einer Kabinetsordre in der Tasche, welche ihm erlaubte einen Elchhirsch zu schießen, kam er nach Ibenhorst und studirte die seltenen Thiere in stundenlanger Verfolgung und Betrachtung; als man ihn nun fragte, warum er denn nicht schieße, antwortete er unwillig: ebenso gut könne er zwischen seine Viehheeroe gehen und einen Stier todten. — Nicht anders scheint der Kronprinz gedacht zu haben, als er im Sommer 1863 die Forst besuchte. Nachdem ein Nudel Elche auf eine Wiese zusammengetrieben war, ging er mit der Kronprinzessin am Ann bis zur geeigneten Stelle, die geladene Doppelbüchse in der Hand. Das hohe Paar betrachtete lange die malerische Gruppe, vergeblich harrten jedoch die Forstbeamten auf den Schuß des Prinzen; er ließ sein Rohr gesenkt und blieb bis ein heraufziehender Gewitterregen zur Umkehr trieb. Beide würben bis auf die Haut durchnäßt und da ihr Gepäck bis zur nächsten Station vorausgesandt war, so lieh sich die Prinzessin einen Anzug von der Frau Oberförsterin. Weil diese wackere Dame aber in ihren körperlichen Dimensionen der hohen Frau bedeutend überlegen 65 war, soll die Scene einem Maskenscherz nicht unähnlich gewesen sein, denn auch der Prinz mußte seine Kleider mit Hülfe des Oberförsters in umgekehrter Weise wechseln."') Der Elch vernimmt und äugt ausgezeichnet, wittert oder windet aber weniger gut. Er ist weit weniger scheu als das Edelwild-, wenn ihn der Jäger gefehlt hat, trollt er oft nur eine kurze Strecke fort, bleibt dann stehen und läßt Jenem Zeit, noch einmal zu schießen. Trotz seiner Größe und Nahbarteit ist es aber doch nicht leicht, ein Elcnthier auf der Stelle zu todten, da seine dicke Haut die Kraft der Kugel abschwächt, und selbst Schüsse in die Eingeweide leicht heilen. Allein sicher ist der Schuß durch Herz, Gehirn oder Rückgrat. Wie sein nordameritanischer Vetter, das ülaoke-lleer, von den Indianern, wird auch unser Elen zur Winterszeit von den Wilddieben mit dem Speer gejagt. Sie suchen das Thier auf blankes Eis zu treiben, wo es, so lange sein Huf noch kalt ist, fest eingreift und im schnellsten Lauf ausdauert. Auf Schlittschuhen verfolgt, erhitzt es sich aber leicht, gleitet aus und stürzt, um von mörderischen Lanzenstichen durchbohrt zu werden. Im Schwimmen ist der Elch Meister. Er durchschwimmt mit Leichtigkeit die breiten Fluharme und soll schon öfter über das Haff gesetzt haben. Auch geht er nicht blos aus Noth oder zur Brunstzeit in's Wasser, sondern, wie manche Rinderartcn, zu eigener Lust und Freude, um sich zu baden und zu kühlen, besonders wenn ihn Hitze und Inscktenschwärme plagen. Mit seines Gleichen lebt er friedfertig und gesellig, jedoch nur zur Paarungszeit halten sich auch die alten Hirsche mit den Rudeln zusammen. Gewöhnlich besteht die Familie aus einem Altthier, zwei fertigen Thieren, welche zum Herbst brunsten werden, zwei Schmalthicren und zwei Kälbern. Die Elchkuh wirft das erste Mal ein Junges, später in der Regel zwei auf ein Mal, meist ein Pärchen, seltener zwei von gleichem Geschlecht. An kalten Wintcrtagen sieht man um die Zeit des Sonnenaufgangs auf dem Ibenhorstcr Nruchrevier zuweilen, so weit der Blick reicht, ") Diese anmuthigc Geschichte erzählt Huqo 2 (enstleben) in seinem „Weihnachtsbesuch in der Memcl-Nieberung" (Altpicuß. Monatsschrift Band 1.); einen Aufsah, den ich «uch sonst benutzt hab«. 36 gleich einer zerstreuten Heerde, Gruppen von Elchen und Nehen in friedlichster Gemeinschaft bei einander stehen, bis der nahende Mensch sie zu flüchtigen Sprüugen treibt. Der durch sein Thieralbum als trefflicher Künstler bekannte Graf Krokow hat hier über ein Jahr verweilt, um das Elen in den verschiedensten Stellungen zu zeichnen. Auch abgesehen von Ibenhorst und dem Elch ist die Haff-Niederimg ein klassisches Iagd-Terrain. Die Wasserjagd auf den einzelnen Armen und Zuflüssen der Mcmel, wie auf den mit Röhricht bewachsenen Uferwicsen, lockt selbst den Roving Englishman hierher. Auch Lord Dudley trieb sie damals trotz des abscheulichsten Novembcrwetters mehrere Tag lang, während er in dem Hause des Herrn Anckcr zu Nuß, der von 1858 — 60 als Landtagsmitglied und Mitstifter der Fraktion „Iimg-Littauen" bekannt ist, Gastfreundschaft genoß. „Lord Nuschekopf", unter welchem Titel ihn „Kladderadatsch" der Geschichte als Krönungsbotschafter aufbewahrt hat, spielte mit stoischem Phlegma Schach, nahm täglich zwei kalte Bäder und schoß sogar zum Schrecken einiger andern Engländer Sonntags nach der Scheibe. Der alte Jäger, welcher den sechs Fuß hohen eisensehnigen Mann auf die Schucpfcn-jagd begleitete, klagte trotz seiner eigener Fuchslunge, daß Seine Lordschaft den Teufel im Leibe habe; kein Mensch könne ihm folgen, kein Graben wäre ihm zu breit oder zu tief, ohne Hühnerhund wate er bis zu den Armen durch Sumpf und Wasser, um sich die geschossenen Vögel sslbst herauszuholen. Die Hassküste ist für den Sportsman ein wahres Paradies. Neben der Jagd auf allerlei Gethier in Bruch und Wald, Wiese und Sumpf hat er hier auch noch Gelegenheit, sich, wenn auch nur in passiver Weise, am Lachsfang zu ergötzen; zu sehen, wie man den edlen Salm berückt. Es gab früher in dieser Gegend mehrere sogenannte Lachswehren, jetzt ist nur noch eine vorhanden, und zwar im Skirwith. Die Ruß, der nördliche Arm der Memel, theilt sich ihrerseits wieder in vier Arme, welche von dem großen Memeldelta einen Ausschnitt, das kleine Rußdelta, bilden. Der südlichste dieser 87 Nebenarme heißt eben Stirwith; er trennt das Ibenhorster Revier von dem Rußdclta und ist gleichfalls ein mächtiger Strom, bis 120 Klafter breit und über 3 Klafter tief. Unfern seiner Mündung ins Haff sieht man von einem Ufer zum andern eine Reihe von Pfühlen sich hinziehen, an welchen das vom Grunde aufsteigende, bis 3 Fuß aus dem Wasser emporragende weitmafchige Netz befestigt ist. Es hat eine stromaufwärts gerichtete Schnibbe, und sie ist des Lachses Verderben. Bekanntlich steigt dieser Seebewohner zur Frühlingszeit in die Flüsse hinaus, um zu laichen. Im Skirwith trifft er Anfangs Mai ein, und von da ab bis Ende September wird die Wehr zugezogen. Da der Lachs meist dicht an der Oberfläche schwimmt, so können die Fischer bequem wahrnehmen, wie er das Netz untersucht, um irgend eine Oefsnung zu finden. So wird er stets nach der Schnibbe hin geleitet und geht hier in die Falle, nämlich m einen vor der Wehr aufgestellten sogenannten Venter, ein Netz, aus zwei offenen Trichtern und einem geschlossenen Beutel bestehend. Morgens, Mittags und Abends wird der Venter von den Fischern heraufgezogen und geleert. Da der Lachs auf dem Trockenen sehr unbändig ist, so giebt man ihm schon im Wasser ein paar Schläge auf den Kopf. So betäubt, werden die Eingeweide ausgenommen, die Bauchhöhle mit Salz und Pfeffer eingerieben, und je zwei oder drei Lachse in einen geflochtenen Korb mit Stroh verpackt. Die meisten gehen nach Königsberg. Zuweilen fängt man hier Lachfe, die einen gelben Haken im Maule haben, also bereits an der Angelschnur gewesen sind und sich wieder befreit haben. Man unterscheidet im Skirwith Silberlachse oder Weibchen und Hakenlachse oder Männchen-. die größten messe» 4 Fuß. In guten Zeiten enthält der Venter bis hundert Lachse, manchmal aber nicht einen einzigen, da die Thiere in Zügen zusammenhalten. Merkwürdig ist's, daß sie hier nicht eine Wehre von nur 3 Fuß Höhe überspringen, während sie anderer Orten sich nicht durch solche von 5 — 10 Fuß abhalten lassen sollen. Hier mag der Lachs wegen des geringen Salzgehalts der Ostsee, wegen der Länge des Haffs, vielleicht auch wegen der geringen Strömung im Skirwith weniger 66 lebhaft sein. Oft steht er tagelang vor der Wehre, ehe er in den Venter geht. Leider nimmt anch an dieser letzten und früher so ergiebigen Wehre der Fang von Jahr zu Jahr ab. Während er noch I860 über 1000 Lachse betrug, soll die Stückzahl im vorigen Sommer etwa 5 —600 gewesen sein. Im Nusidelta stehen wir auf jungem angeschwemmten Boden. Vor dreihundert Jahren lag der Flecken Ruß dicht am Haff, jetzt ist er °/, Meile von ihm entfernt. Tie Basis des großen Memeldelta>Z vergrößert sich noch fortwährend, und zwar, wie die Nogat-Nicderung, durch Bildung von Vorländcreien, hier Werdet genannt. Ter Prozeß der Verlaudung schreitet an beiden Strömen in vollkommen gleicher Weise uor, geht jedoch an der Nogat schneller. Während die Vorländereien dieseö Stromes in den letzten hundert Jahren um eine halbe Meile inv Frische Haff gerückt sein sollen, haben dieselben an der Memcl seitdem nur um etwa eine Vier-telmcile zugenommen. Einige erst ungefähr dreißig Jahr alte Werdet sind schon hübsche Wiesen, andere noch jüngere fangen schon an sich zu berasen, die jüngsten werden beim höchsten Wasserstande noch überschwemmt. Zahlreiche kleine Fluß-Niederungen sind vollständig versandet, die übrigen werden mit jedem Jahre seichter. Ter Boden ist z» allen Zeiten höchst elastisch, theilweise noch bruchig; jetzt fand ich ihn vollkommen aufgeweicht und fast unwegsam, so daß ich bei meinen Streifereien entnieder im Schlamm waten oder große Pfützen und Lachen umgehen mußte. Wie eine Insel ragte aus diefcm Schlammsee der kleine Kirchhof von Warruß hervor, den ich erkletterte und wo sich mir eine Umschau über die ganze Gegend bot. Alle Kirchhöfe in der Niederung sind auf künstlichen Erdhügcln angelegt; dennoch kommt eö nach Ueber-schwemmungcn nicht selten vor, daß Wogen und Sturm die Gräber aufdecken, die Särge und Leichen bloßlcgen. Auch der kleine Friedhof, auf dem ich jetzt stand, hatte weder Bäume noch Grasnarben, der Wind trieb mit der losen Sanddecke ungehindert sein Spiel; und die winzigen, oft nur fußhohen Grabkreuze und Denk- 89 tafeln hatten in dem lockern Vodcn leinen festen Halt, sondern standen schwant und zur Seite geneigt. Ein trübseliger Anblick. Ringsumher nur Wiesen und Weiden, die aus grauem Allu-vialsandc bestehen, aber sonst nicht schlechte Erträge liefern und eine, wenn auch gerade nicht starke, Viehzucht begünstigen. Die letzte Uebcrschwemmung hatte sie jedoch für die nächsten Jahre mit geringer Ausnahme vernichtet. Das Torf Warruß liegt nahe am Haff, kurz vor dem Ausfluh de<' gleichnamigen Stromarmc«, der früher die Hauptmündung der Memel war, während eo heute die nördlicher fließende Atmat ist. Im Dorfe wohnen kleine Leute, die abwechselud Fischer, Tagelöhner und Weidebauern sind, nur winzige Parzellen besitzen oder zur Miethe wohnen. Den» entsprechend, besteht der Ort aus niederen Hütten und elenden bathen. Um so mehr zeichnete sich vor diesen ein bald an, Eingang ins Torf gelegenes massiv erbautes Hans mit Vorgarten, Vorschauer und größeren Fenstern aus, welche Gardinen schmückten. Auf meine Frage, wer hier wohne, antwortete mir ein junger Mensch: „Das gehört dem Herrn Iatutio", wobei er das „Herr" mit Ehrfurcht betonte. Ein verfallenes und fast schon verwittertes Wirthshaus, nur an dem hölzernen Wolm vor der Thüre zum Anbinden der Pferde erkenntlich, verlockte mich zum Eintreten. Das große Gastzimmer halle außer einer langen sich um die Wände herumziehenden morschen Bank, zwei gebrechlichen Tischen und eincm Brcttergcstell, auf welchem einsam uno verlassen eine irdene Flasche stand, keine andern Möbel aufzuweisen. Der Wirth und seine Frau hockten auf der Erde und flickten an einem Cegel; zwischen ihnen, auf der ausgebreiteten Leinwand, faß ihr einziges Htind, ein Mädchen von 5 —K Jahren. Beide waren kleine fast zwerghafte noch junge und äußerst muntere Leute; sie — drall, weift nnd hübsch; cr — dürr, gelb- und gnomenartig. Man tonnte mir weder Vier noch Kaffee geben, nicht einmal ein Butterbrot»; nnr etwas Schnaps war noch vorhanden, den mir die Frau aus der irdenen Flasche eingoß und mit dem freundlichsten Lächeln kredenzte. 90 — Ist der Krug Ihr Eigenthum? fragte ich. — Gott sei Dank, nein! erwiderte förmlich vergnügt der Gnom. (5r gehört dem Herrn Iakutis. Ich habe ihn nur in Pacht, aber ich werde zu Michaeli aufziehen, denn ich verkaufe hier nicht soviel als ich Pachtgeld zahlen muß. — Trinkt man denn im Dorf keinen Schnaps oder Bier? — Man trinkt's schon, antwortete er pfiffig. Aber wenn die Leute Geld haben, kommen sie nicht zu mir: dann taufen sie sich's selber in Ruß, wo sie's auch billiger und besser bekommen. Er kicherte in sich hinein, als ob ihm dies Thun sciner Nachbarn zur größten Befriedigung gereiche. Ich äußerte den Wunsch, eine Epazierfahrt auf's Haff zu machen, und der Gnom erklärte sich sofort bereit, mit mir hinauszusegeln. — Ich thu' es gern und umsonst, sagte er, und kicherte wieder. Dann rollte er das Segel zusammen, lud es auf die Schulter und ging mit mir nach der kleinen Bucht, welche die Warruß bei ihrem Ausfluß bildet. Das ist mein Boot! sagte er mit Selbstgefühl und trat in eine flache Nußschale, die noch dazu halb mit Waffer gefüllt war. Er schöpfte es mit einer kleinen Schaufel aus und forderte mich auf, einzusteigen. Ich zögerte etwas, mich diesem „Seelenverkäufer", wie man diese winzigen gebrechlichen Fahrzeuge sehr richtig nennt, anzuvertrauen; er aber kicherte ob meines Bedenkens und redete mir zu, nur keine Bange zu haben. Während wir hinausruderten, kamen wir an verschiedenen Wiesenstücken vorbei. Auf einem derselben war das Heu zum Trocknen ausgespreitet und man fuhr es jetzt ein. — Diese Wiesen, sprach mein Schiffer, sind die größten und besten im Dorf, und sie gehören dem Herrn Iakutis. Auf den andern ist alles Heu ersoffen, aber Herr Iakutis macht, wie Sie sehen, noch einen hübschen Schnitt. — Wer ist denn dieser Herr Iakutis? fragte ich. 91 — Herr Iakutis ist der reichste Mann im Dorf, entgegnete der Kleine. Dem Herrn Iakutis gehört halb Warruß zu eigen, und auf die andere Hälfte hat er Geld ausgeliehcn. Wir sind alle seine Schuldner. In der That spielt dieser Herr Iakutis, ein ehemaliger Kahnschiffer, wie ich später erfuhr, auch im politischen Leben eine Rolle. Früher war Herr Iakutis ein eifriger Fortschrittsmann, und so lange er es war, waren es auch sämmtliche Narnisser. Das Jahr 1866 hat jedoch in den politischen Ansichten des Herrn Iakutis eine Umwälzung zu Wege gebracht; er huldigt nunmehr dem „Götzen der Macht und des Erfolges", d. h. er geht mit dem Grafen Bismarck- und demzufolge stimmte bei den letzten Wahlen auch ganz Warruft wie Ein Mann für die Regierung. Sobald wir in das eigentliche Haff gelangten, wurden Luftzug und Wellen merklich stärker. Der Kleine zog die Nuder ein und spannte dafür das Segel auf, das er fleißig benetzte und mich ein wenig mit. Mit halbem Winde flogen wir schnell hinauf, und hatten nach einer Stunde wohl schon über eine Meile zurückgelegt. Auf dieser Höhe kann man bei hellem Wetter, wie heilte, ein gutes Stück Wasser und auf meilenweit die beiderseitigen Ufer übersehen. Das Kurische Haff, in der Vorzeit Mümmel genannt, wird von dem Memelstrom und zahlreichen andern Flüssen gebildet, und ist das größte aller preußischen Binnengewässer, da es über 28 Quadratmeilen umfaßt. Die Kurische Nehrung, eine schmale Landzunge, trennt es von der Ostsee, mit welcher es durch eine schmale Oesfnung, Tief oder Gatt genannt, bei Memcl verbunden ist. Die Länge des ganzen Wasserbeckens beträgt uon Norden nach Süden 13 Meilen, die Breite im Süden bei Kranz 6 Meilen, beim Ausfluß der Nuß 2 Meilen und an der Mündung bei Memel nur etwa 100 Ruthen. Die Gestalt nähert sich der eines rechtwinkligen Dreiecks. Das Ufer besteht auf der Ostseite, längs der littauischen Niederung, aus flachen Wiesenebenen und Brüchen-. auf der Südseite an der samländischen Küste, zwischen Kranz und Labiau, aus sanften Abdachungen mit freiliegenden 92 Steinen: auf der Westseite aus den bis 180 Fuß ansteigenden Dünenbcrgen der Nehrung. Die Haff- und Nchnmg5bildimg kommt nur an der Seeküste der Provinz Preußen uor, und hat auf der ganzen Erde nicht wieder ihres Gleichen. Tie Tiefe diefes Strandsccs und Süßwasserbcckens ist ungleicher und geringer als im Frischen Hass; bei Memel an 34 Fuß, südwärts davon nur 5 —C Fuß, im Uebrigen durchschnittlich zwischen 6 — 15 Fuß. Deshalb, bcsouders aber wegen der minder günstigen Lage, wird das Kurischc Haff weniger beschifft als das Frische. Dazu kommen auf der Fahrbahn selbst gefährliche Stellen uor: z. V. bei Schwarz-ort, drei Meilen südwärt» uon Memel, wo sie nur aus einer 4 — 500 Fuß breiten Rinne besteht, die nicht fern uon der Nehrung hinzieht, viele Krümmungen hat und in ihrer Tiefe sich häufig uer-ändert. Die Schifffahrt ist um der öfteren Stürme willen, sowie der Untiefen und des kurzen Wellenschlages wegen, namentlich im nördlichen Theil gefährlich. Die gefährlichste Stelle, das Schrecken aller Schiffer, ist aber die Win den bürg er Ecke, westlich uon der nördlichen Mündung des Nnßstromes. Von diefer ins Haff hineinragenden Landspitze, auf welcher ehedem ein festes, um 1409 erbautes Ordensschloß stand, erstreckt sich eine Steinlage weit ins Haff hinein, und bildet fo eine die Schiffe bedrohende Untiefe. Die vom Rußstrom herkommenden Wassernlassen verursachen eine starke Strömung nach der Windenbnrger Ecke und von dieser nach Norden hin; und diese Strömung allein ist es, welche die Fahrbahn bei Schwarzort noch offen erhält. — Das Haff wird, außer von zahlreichen Reife- und Lastkähnen, Flößen und Triften, neuerdings auch von Dampfern befahren, die eine regelmäßige Verbindung zwischen Memel, Tilsit, Labiau und Kranz (Königsberg) unterhalten. Für den Geologen ist das Kurische Haff nnd seine Umgebung ein anziehendes Problem. Das neueste Resultat wissenschaftlicher Forschung erklärt das Haffbecken als eine Bildung erst der gegenwärtigen Entwickelnngsveriode und hat dafür mancherlei Bcweife beigebracht. 93 Die Steinlage der Windenburger Ecke beweist, daß das Land ursprünglich sich viel weiter erstreckt hat, allmälich aber weggespült ist und die Steine zurückgelassen hat. Der Platz, alls welchem zur Ordenszcit das Windenbnrger Schloß gestanden, liegt weit im Haff' die Stelle der im Jahre 1705 abgebrochenen Windenburger Kirche ist seither ebenfalls im Wasser versunken. Ehemals eristirte weder Haff noch Nehrung, sondern an Stelle beider zog ein aus Littauen kommender und mit erratischen Blöcken bcladcner Höhenzug von der Windenburger Ecke etwa 4 Meilen weit in die See hinein bis nach Rossiten auf der heutigen Nehrung, was theils aus der gleichen Richtung der beiden Landecken, theils aus der gleicheu Anordnung ihrer diluuialen Erdschichten — Lehm, Lehmmergel, graublauer Schluss — zu entnehmen ist. Tamals hatte nach I. Schumann's Behauptung, wie schon erwähnt, die Memel ihren Hauptabfluß im Nemonien, wohl (i Meilen südwärts von der Mündung des heutigen Nußstroms. Tie an der ostpreußischcn Küste nordwärts ziehende Strömung der Ostsee führte den aus den tertiären Schichten Samlaudö ausgespülten Bernstein fort, um ihn an dem damals weiter vortretenden Strande zwischen Windenburg und Memcl abzusetzen. So entstanden die reichen Bernsteinlager in dem nördlichen Theil oeö heutigen Haffo und die weniger ergiebigen Schichten an der heute gegenüber liegenden Mste bei Prötul-Z. Später durchbrachen jene Ostseeströmung und die sich in ihrem Laufe immer mehr nordwärts wendende Mcmel die diluviale Halbinsel; es bildete sich eine Brücke zwischen dem samländischen Kranz und dem zur Zeit insularen Nossiten uud setzte sich von hier bio uach dem heutigen Eandkrnge bei Memel fort. So entstand die Nehrung und zwischen ihr und der alten littauischen Seeküste ein Nin-nenwasser, das Haff. Noch gegenwärtig wirken die Strömung der Memcl und die vom Westwinde gepeitschten Hasfwellcn unterminircnd und zerstörend auf die steil abfallenden Erdschichten der Windenburger Ecke. Es ist fraglich, ob die auf der äußersten Spitze angelegte Steinpflaster-dossirung im Stande sein wird, den weitern Ruin der schmalen Landzunge, auf welcher ein Leuchtthurm mit fixem Licht steht, auf- zuhalten. Die Neigung des Hauptabflusses der Memel, nordwärts zu rücken, dauert noch hellte fort. Ist die Art und Weise, wie sich Haff und Nehrung gebildet haben, ein anziehendes Problem, fo drängt sich noch ein anderes, nicht minder interessantes in der Frage auf, welches ihre nächste Zukunft sein wird. Einige vermuthen die allmälige Verlandung des ganzen Haffs, wie sie zusehends an der littauischen Niederung vorschreitet. Andere, uud namentlich wieder I. Schumann, prophezeien einen vollständigen Untergang der Nehrung, an der die See-wie die Haffwellen unaufhörlich nagen. Sie prophezeien den einstigen Durchbruch der immer schmäler werdenden Landzunge; die auf ihr gelegenen, theils durch ältere Wälder, theils durch Plantagen, theils durch diluvialen Voden besser versicherten Ortschaften, wie Echwarzort, Nidden, Nossitten und Sarkau, würden sich dann von einander lostrennen und eine Zeit lang vereinzelte Inseln bilden, bis auch sie von der Fluth begraben würden. Eine traurige Aussicht für die nneingedeichte Niederuug, die, wenn die See das Haff verschlingen sollte, damit in große Gefahr kommen, vielleicht ganz überfluthct und weggerissen werden würde. An einigen Stellen, wie bei Sarkau, kann ein Durchbruch der Nehrung schon jetzt jeden Tag geschehen! Wir hatten nun fast die Höhe der Windenburger Ecke gewonnen; der kleine Nachen tanzte auf den Wogen, die ihn abwechselnd in die Höhe hoben und ihn dann wieder in die Tiefe sinken ließen. Nur ein paar Zoll Bord ragten noch über das Wasser empor, das uus weiß umschäumte und in Flocken hereinspritzte. Ich begann unruhig zn werden und drang auf Umkehr. Aber der Kleine versicherte, daß es nicht die geringste Gefahr habe; erst jetzt, meinte er, mache die Fahrt Vergnügen, und er hatte nicht übel Lust, nach der Nehrung hinüberzuschiffen, was er in diesem Seelenverkäufer schon öfters versucht haben wollte. Nur widerwillig gab er endlich nach und wandte das Voot zur Rückfahrt. Uebrigens war feinen Einfällen, wie ich hinterher erfuhr, denn doch nicht ganz zu trauen. Bei einem ehelichen Zwiste hatte er seiner Frau gedroht, in's Haff zu fpringen, und da sie fpöttifch be- zweifelte, daß er dazu Muth genug besitze, stürzte er zum Hause hinaus und lief spornstreichs ans Wasser, in das er sich kopfüber hineinwarf. Aber die Frau war ihm nachgeeilt und zog ihn lachend und scheltend heraus; denn er war schlau genug gewesen, eine seichte Stelle zu wühlen. Wir nahmen den Rückweg durch die Binsen, die das Ufer des Haffs und des Warrußstroms in weiten mannshohen Feldern umkränzen, und theilweise so dicht standen, daß unser Boot kaum hindurchkonnte. Mit diesen Binsen beginnt der Prozeß der Verlandung. Eie werden hier nicht, wie in der Danziger Niederung, alo äluhfutter benutzt, wohl aber, wie schon erwähnt, zum Dachdecken verwandt, oder auch getrocknet und in den Ofen geworfen. Ein andres Produtt der Hafftüste sind die Haffmücken, die in wolkenartigen Schwärmen die Luft erfüllen, die man auf Schritt und Tritt förmlich einathmet, und sobald man nur den Mund öffnet, zu Dutzenden verschluckt. Eine abscheuliche Plage für Menfchen und Vieh. Kurz vor der Landungsstelle erblickte ich ein Haus, das ich nie vergessen werde. Es stand unmittelbar und mit zwei Seiten am Wasser und schien jeden Augenblick in dieses hineinstürzen zu wollen. Der Grund und Boden, auf dem es stand, war ihm unter den Füßen fortgenommen, von den Wogen weggespült worden. Es stand nur noch mit Einem Bein auf dem festen Lande und schwebte mit dem andern über dem Wasser, wobei es ein einziger Nothpfahl unterstützte. An der einen Seite war cine Thüre angebracht, die wahrscheinlich ehemals auf einen Hof geführt hatte, jetzt aber gerad' auf den Strom ging. Die gleichfalls dein Wasser zugekehrte Rückwand der elenden verräucherten Hütte war theilweife Heralisgefallen, und so sah man bequem in ein höchst ärmlich meublirtes Gemach, wo eine Frau hantierte und ein ölino in der Wiege lag. Ob das Haus erst durch die Ueberschwemmung so gelitten oder sich schon vorher in diesem Zustaude befunden, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls war es ein Bild tiefer Armuth und Hülflosigkeit. Als ich aber gegen meinen Führer äußerte, K6 Armlith scheine mir überhaupt das Loos der hier wohnenden kleinen Leute zu sein, wollte er das durchaus nicht wahr haben. — Es ist hier ganz ant, sagte er, und ich möchte nicht anderswo leben. Wenn man ein Boot hat und mit der Flinte umzugehen weiß, kann man hier nicht verderben. Sein Töchtcrchen kam uns entgegen und ich gab ihr das Geldstück, welches ich ihrem Vater für seine Mühe bestimmt hatte. — Taö Margellchen*) geht schon nach Pokalna in die Schule! sprach er stolz. Meine Eltern verstanden nur Littauisch, ich und meine Frau sprechen schon ganz gut Deutsch, und das Kind wird nun gar lesen und schreiben lernen. Ja, die Welt geht doch mit dem Fortschritt; wenn sich der Herr Iakutis auch jetzt anders besonnen hat. ' Von Warruh ist es nur ein „Katzensprung", wie man in Ostpreußen sagt, bis zum Nachbardorf Pokalna. Es liegt gleichfalls an einem Mündungsarm der Rich, etwa eine Viertelmeile vom Haff entfernt. Zu beiden Seiten der nicht so breiten Pokalna, von welchem der Ort seinen Namen führt, ziehen sich die Häuser desselben in langer Reihe hin. Eine Dorffeite kann mit der andern nur zu Wasser verkehren, weshalb man, ebenso wie am großen Friedrichsgraben, hüben, und drüben vor jedem Hause ein Noot sieht. Die Pokalna bildet zugleich einen Hafen für die Fischer- und Lastkähue der Bewohner, welche jedoch mehr Viehzucht, Wiesen- und Gemüsebau treiben, und die von außerhalb oft Rinder zur Fettgräsung in Pension nehmen. Nur die linke Dorfseite ist gegen den Austritt des Flusses mit einem Damm versehen, aber hinterwärts den Ueberschwemmuugen des Haffs preisgegeben. Der Schulmeister zeigte mir denn auch, wie das Wasser ihm bis an die Fenster gekommen, wie es tagelang und fußhoch in seinem Gärtchen gestanden und ihm die ganze Ernte ersäuft habe. Er besaß außer dem Morgen Dienstacker noch ein kleines Grundstück zu eigen und befand sich deshalb in erträglichen Vermögens- ") Provinzialismus filr Mädchen. Verhältnissen; aber unter seinen Kollegen herrschte, wie er mir mit< theilte, schon jetzt ein bitterer Nothstand. Der baare Gehalt, welchen die Landschullehrer in Ostpreußen beziehen, beträgt nicht mehr als 30 — 50 Thlr. jährlich; im Nebligen sind sie außer der Ka-lende, die sie von der Kommune erhalten, wesentlich auf den Ertrag ihves Dienstlandes angewiesen. Tritt nun eine Mißernte ein, so gehen sie der Hälfte ihres mageren Einkommens verlustig und wissen, da sie in der Regel mit einer starken Familie gesegnet sind, weder ein noch aus. Die Aufbesserung der Stellen im Regierungsbezirk Gumbinncn ist bisher noch frommer Wunsch geblieben- und deshalb war den dortigen Lehrern eine Theuerungszulage weit dringender nöthig, als den eigentlichen Staatsbeamten. Ueberhaupt gehörten, um das hier beiläufig zu erwähnen, sowohl die Landschullehrer wie die kleinen Handwerker in Ostpreußen während des Nothstandes zu den verschämten Armen. Da sie ein Gefühl von Standesehre abhält, zu betteln, waren sie viel schlimmer daran als die Arbeiter und Tagelöhner, welche ihr Elend ungemrt zur Schau trugen und daß man sie unterstütze, wo nicht gar völlig ernähre, geradezu als ihr Recht geltend machten. Der Handwerker, welcher ohne Gesellen und Burschen arbeitet, und nicht zugleich etwas Kaufmann und Fabrikant ist, geht mehr und mehr zu Grunde, wird bald gar nicht mehr existiren. Deshalb war der vom Abgeordneten Kosch in der Kammer gestellte Antrag, die Dar-lehnskafsen auch den Handwerkern zu öffnen, ein durchaus begründeter. Im Nußdelta ist wegen der sumpfigen Luft eine Art von Wechselfieber endemisch, wenigstens müssen solches die Neuangezogenen mehrere Jahre durchmachen, bis sie sich endlich an das Klima gewöhnen; aber viele können es nie ganz ertragen und siechen, wenn sie sich nicht fortmachen, langsam dahin. Der Damn: auf der Südseite von Pokolna führt bis nach Nuß, und ebenso ziehen sich die an ihm stehenden Gehöfte und Käthen von jenem Dorfe bis nach diesem, wohl eine halbe Meile entfernten Marktflecken hin, welcher wieder von fast unabsehbarer Ausdehnung ist, so daß beide Orte eine fortlaufende Häuserreihe 7 bilden, die im Ganzen gegen eine Meile lang ist. Ruß liegt an der Stelle, wo sich der gleichnamige Memelarm in 4 (früher in 13) Wasserläufe, nämlich in die Atmat, Pokalna, Warruß und den Slirwith theilt. Von ihnen ist die Atmat die nördlichste und die Hauptmüudung der Ruß, über 1000 Fuß breit; und sie allein ist für größere Fahrzeuge schiffbar. Dem Marktflecken Nuß fehlt zur Stadt nur der Name und eine geschlossenere Bauart; er zählt gegen 3000 Einwohner und ist gewissermaßen der Vorhafen von Memel. Von hier gehen Reisekähne, Bordinge und mächtige Holzstöße dorthin. Letztere, aus den Wäldem der Gouvernements Minsk und Volhnnien herabkommend, und nur leicht gearbeitet, werden in Ruß auseinandergenommen und solider konstruirt, um den Wellen des Kurischen Haffs widerstehen zu können. Die Memeler Handlungshäuser haben hier ihre Factoreien und Spediteure, welche alljährlich Holzmassen im Werthe von I'^^-A Millionen Thaler ankaufen und weiter fpediren. Ein großer Theil wird in Ruß wie in Memel zu Eifenbahnfchwellen verarbeitet, und diese gehen nicht bloß nach den westlichen Landern Europas, sondern selbst nach den südamerikanischen und ostindischen Häfen. Doch mögen die Holztriften auch stärker verbunden werden, die Fahrt über das Haff bleibt immer mühevoll, langwierig und gefährlich. Zur Zeit des eigentlichen Transports, im Herbste, ist das Haff häusig durch Stürme aufgeregt, dann wird entweder die Fahrt wochenlang verzögert, oder die Flöße gehen in Trümmern; wobei das Holz, wenn es nicht, wie das fchwere kostbare Eichen, untersinkt, weit weg über das östliche Ufer zerstreut wird. Besonders ist es die berüchtigte Windenburger Ecke, die allen Fahrzeugen, welche aus dem Memelstrom ins Haff wollen, ein wahres Kap der guten Hoffnung wird, alljährlich Dutzende scheitern läßt. Die schwach gebauten Wittinnen dürfen die gefährliche Reise schon gar nicht wagen, deshalb konnte auch der Getreidehandel in Memel bisher nicht aufkommen. Schon lange dachte man daran, das Kurische Haff, wie man es im Süden durch die Kanalverbindung zwischen Gilge und Pregel umgangen hat, auf ähnliche Weise auch in seinem nördlichen Theile zu umgehen, nämlich die Windenburger Ecke zu durchstechen und längs der Ostküste einen Kanal bis Memel hin zu ziehen. Und dieses Project ist nun endlich zur Ausführung gekommen-, seit 1663 ist der Minge-Drawöhne-Echmeltell-jtanal, wie er nach den drei Küstenslußchen heißt, die er mit einander verbinden wird, in Angriff genommen und geht seiner Vollendung entgegen. Die Rußer fürchten von diesem Kanal eine Verminderung ihres Handels und Wohlstandes: aber gewiß ohne Grund. Nur die Art des Geschäfts wird eine andere werden, insofern als künftig die hiesigen Spediteure für eigene Rechnung Getreide, Holz und Rohprodukte aus Rußland ankaufen und in Memel verkaufen werden. So wird sich auch die Anzahl der Dampfschneidemühlen hier vermehren und diese den Etablissements in Memel eine größere Konkurrenz machen. Die Anlage von Fabriken mit Dampfmaschinen ist in Ruß um so leichter, als sich in der Umgegend Torfbrüche befinden, die zusammen über eine Quadratmeile umfassen und bisher noch wenig ausgebeutet worden sind. Andererseits wird aber auch neben der vrojettirten Schienenstraße von Tilsit nach Memel erst der Minge-Kanal dem Memeler Hafen seine volle Bedeuwng geben. Den Beschluß der großen littauischen Niederung macht im Norden gegen den Kreis Memel hin ein Landstrich, der einen grellen Gegensatz zu dem sonst so gesegneten Memeldelta bildet. Alte Dünenkelten durchziehen ihn in weiten Bogen und umzirken wüstenartige Flachen, schon von ferne an ihrer weihen Farbe kenntlich. Es sind „todte Sande", weil sie weder Thon noch Humus führen, also auch keine Kulturpflanzen treiben können; die ganze Vegetation besteht aus Haidekraut, Bocksbart und spärlichen Kiefern. Die Landstraße nach Memel führt von Heydekrug bis Prötuls durch Kiefernwälder und Eandhügel, zwischen denen armselige Feldmarken und Torfbrüche eingestreut liegen. Entsprechend dem unfruchtbaren Boden dieser Gegend, die man mit der Lüncburger Haide vergleichen kann, ist die Bevölkerung eine sehr arme. Neben den Bauern findet sich eine bedeutende Anzahl von Häuslern und kleinen Parzellenbesihern, die sich während der letzten dreißig Jahre auf früher fiskalischem Torf- und Haideboden angesiedelt haben. 7. 1V9 Wenn selbst die Wohnstätten der Großbauern meist nur aus rohen Lehmwänden bestehen, so sind die Behausungen dieser Ansiedler oft noch im primitivsten Stil aus Torfstücken aufgebaut, die ziegelartig zu einer Wand übereinandergeschichtet, im Laufe des Winters allmülig entfernt und zur Feuerung benutzt, im Sommer aber wieder ergänzt werden. Wie schon gesagt, sind die Bewohner der Haide an Armuth uud Entbehrung gewöhnt, aber sie bauten doch sonst Kartoffeln, mit denen sie den langen Winter hindurch ihr Leben fristen. Im letzten Jahr hatten sie jedoch keine Kartoffelernte, und so mußten sie ohne Gnade — hungern oder betteln. 101 VI. Littauisches Leben und Wesen. Von dem Manischen Hochland und der littauischen Schweiz, dem heiligen Rombinus und den schönen Daumen. — Wie die Uagainerinnen ihr Haar flechten, und wie die littauischen Mädchen sich llcidcn; auch daß sie fein sticken und weben, tanzen und singen lönnen. — Conterfei des littauischen Bauern und was sonst von ihm zu melden ist; insbesondere wie er sich sein Haus selber bauet, und daß er Vieles lann, was andre Leute nicht lönnen. — Von der Klete und wozu sic dient; von der „Kranzabnahme" und dm „Thränen der Braut". — Was der hochehrwitrdige aber schon lange gestorbene Herr Theodorus kepner von den Littaucrn erzählt und wie er ihnen eigentlich gar nicht grün ist, sie aber doch in manchen Stücken auszeichnet und belobt. — Die Littauer freien und leben nach der Patriarchen Weise, sind gegen den Mäßigleitsvcrcin und für den Kornus und Allaus. — Von der iüttaucr Gastfreundschaft und Frömmigkeit, und was sie von ihren Geistlichen verlangen. — Ganz zuletzt: katholische Äavläne, Teufelsbannereieu und die Maldcningler. Gleich der Niederung bildet auch der südliche Theil von Manen, das sogenannte Hochland, eine durchaus flache Ebene. Es verdient diese Benennung nur im Gegensatz zu der etwas tiefer gelegenen Niederimg- nicht seiner Erhebung wegen, die an und für sich eine sehr geringe ist. Gehört doch die ganze Provinz Preußen zu dem neuen Lande, daö von der Ostsee aus gegen die Karpathen zu nach und nach angespült worden ist. Nur einige unbedeutende Höhenzüge durchstreichen sie in verschiedenen Richtungen, und von ihnen findet sich in Littauen nur Einer, am Ufer der Memel, eine Meile oberhalb Tilsit. Wer diesen Strom im russischen Littauen gesehen, besonders seine steilen schönbelaubten Waldufer zwischen Kowno und Georgenburg, erkennt ihn bei seinem Eintritt ins Preußische kaum wieder: er strömt nunmehr in fast geradem Laufe durch weite Ebenen und weist nur gleichförmige niedrige Ufer. Nur noch einmal treten diese näher zusammen und erheben sich wieder, das linke bei Ober- ML Eisseln bis gegen Tilsit, das rechte bei Echreitlaugken bis zum Rombinus hin, wo sie auf beiden Seiten sich bald zur Niederung verflachen. Diese Uferlaudschaft ist die malerischste Gegend Littauens und erfreut sich deshalb einer großen Berühmtheit; von weit und breit wallfahren die Eingcbornen nach der littauischen Schweiz und der Fremdling wird zuerst auf diesen Punkt aufmerksam gemacht, der nach der Meinung der Littauer in Bezug auf romantischen Reiz nicht seines Gleichen hat. Der am andern Ufer schrägeüber sich erhebende Rombinns hat nur eine Höhe von 150 Fuß, gilt aber trotzdem, weil er eben in diesem Flachlande der höchste Punkt ist, den Littauern für einen hohen und heiligen Verg, an welchen sich ihre älteste Geschichte, zahlreiche Sagen und mancherlei Gebräuche und Vorbedeutungen knüpfen. Er ist zunächst ein Wetterprophet. Vermöge der thon- und talkartigen, jede Feuchtigkeit leicht anziehenden Bestandtheile wechselt der Berg an den nackten Außenwänden oft seine Farbe. Das helle Blaßgelb bei trockener Luft geht bei trübem Wetter, wo er sich wie in einen schwachen Nebel hüllt, in ein duftiges Dunkelroth über, welche Veränderung ziemlich sicher auf Regen deutet. Auch auf den Gang der Gewitter scheint er, gleich einer Wetterscheide, seine Wirkung zu äußern: die meisten längs der Memel von Westen heraufziehenden Wetter weilen in dieser Gegend, oder vertheilen sich von hier aus. Vom Strom nur durch einen schmalen Rand getrennt, steigt der Rombin nackt und jäh auf, und gewährt auf seinem Gipfel eine weite und anmuthige Umschau. Man erblickt in der Tiefe den rauschenden Strom, welcher das ausgedehnte grünende Wiesenthal in kühnen Bogen umschließt. Rechts liegt Tilsit mit dem Schloßberge und seinen Thürmen, links die prächtigen Gärten von Ragnit, Tusseinen und Ober-Eisseln. Und wendet man sich, so sieht man weit in die Niederung hinein, bis sie in blauer Feme mit dem Horizont verschmilzt. Hierher verlegten die alten Littauer den Sitz ihrer Götter. Einst umschloß undurchdringlicher Laubwald den heiligen Berg, versteinernde Quellen rannen von ihm nieder, und ein mächtiger 103 Granitblock schmückte seine Kuppe. Noch sind hier oben die doppelten Wälle kenntlich, welche ein geschlossenes Viereck bildeten, noch jetzt lilliz, Matiä, d. i. Schloß genannt. Noch erkennt man die Opfelstelle nach Süden zu; auf der östlichen Seite sollen die Priestern?ohnungen und Tempelgebäude gestanden haben. Hier wurde Potrimpos, der Echlachtengott, verehrt; hier ertheilten seine Priester die Orakelspiüche. Bis aus Smolensk und Moskau kamen Fürsten und Könige mit Weihgeschenken, die sie auf den Opferstein legten. Auch Kranke berührten den Stein und kehrten genesen nach Hause. Alljährlich vereinte der Berg ganz Littauen in einem religiösen Feste, das unter Gesängen und Tänzen dem obersten Gotte zu Ehren begangen wurde. Auch der Oberpriester residirte hier, und er war zugleich der oberste Richter im Lande. Wie das auf den Stein gedrückte Schwert anzeigte, wurde hier oben Gericht über Leben und Tod gehalten. Neben Potrimpos wurde auf dem Berg auch Laima, die Schicksalsgüttin und Helferin bei der Geburt, verehrt. Ihre Priesterinnen hießen Laumen, und ihren Altären durften sich die Frauen nur in reinlichen Kleidern und festlich geschmückt nahen. Brautleute pilgerten hinauf und flehten um eine glückliche Ehe; Wöchnerinnen dankten für ihre Genesung und baten um Segen für die Neu« gebornen. Ringsumher waren zum Schutz des Heiligthums zahlreiche Burgen errichtet, auf der Seite des Berges selbst die Ramige und drüben am entgegengesetzten Ufer die Ragaina, von der die heutige Stadt Ragnit den Namen führt. Die Hügel, auf denen die Schutzburgen gestanden, heißen Schloßberge, und sind noch heute an der abgestumpften Kegelform und sattelartig eingebogenen Kuppe kenntlich. Oft findet man auf ihnen noch die Spuren von Wall und Graben, und der Spaten fördert altes Waffengeräth zu Tage. Doch die Bauern mögen ihre Aecker und Weiden nicht umwühlen lassen, sie sehen in den Alterthumsforschem nur Schatzgräber, und haben schon manchen Antiquarius mit derben Schlägen für seinen Forschungseifer gezüchtigt. Als das Ordensheer in das Littauer-Land einbrach und die Schuhburgen in Trümmer sanken, flohen 104 die Priester des Potrimpos mit Zurücklassuug ihrer reichen Schätze. Noch vor 50 Jahren grub man aus dem Rombin eine Menge goldener Ketten, Gürtel und Armringe, große silberne Becken und Schalen — wahrscheinlich Priesterschmuck und Opfergeräth. Noch erzählt man von dem „Nombinus-Zinn", dav damals nach Tilsit verkauft wurde, säckeweis und den Sack zu 6 Sgr.; es war aber lauteres Silber und der schlaue Käufer wurde ein steinreicher Mann. Doch die meisten und kostbarsten Schätze ruhen noch in der Tiefe des Berges. Die Priester des Potrimpos waren geflohen, aber die Laumen blieben, und das Volk hielt, auch nachdem es mit Feuer und Schwert zum ueuen Glauben gezwungen, in heimlicher Treue zu ihnen. Zwar bei Tage durften sich die Laumen nicht mehr blicken lassen, aber nach Sonnenuntergang kamen sie aus dem Berge herauf, plätscherten im Wasser und klopften ihre Wäsche. Gar oft hörte man sie dabei hell lachen und lieblich singen. Den Guten und Frommen zeigten sie sich gütig und freundlich, beschenkten die Armen, trieben harmlosen Spaß mit den Einfältigen, entwandten ihnen etwas oder leiteten sie irre; nahmen schlechten Eltern die Kinder weg, die sie mit Zwergen und Wechselbälgen vertauschten. Noch zu Anfang dieses Jahrhunderts fuhr keine Hochzeit vorüber, ohne am Opferstein zn beten. Die Braut legte ihre zartgewebte Leinwand, schön gestickte Strumpfbänder und andere Gaben auf den Stein nieder. Noch immer wurden die Laumen befragt, und sie antworteten mit sinnigen Worten oder in verständlichen Zeichen. Der Opferstein war ein länglich rundcr Block, mit schräg geebneter Oberfläche! er hatte 15 Ellen im Umfang, maß an der niedrigen Seite 5 Fuß, an der höheren 9 Fuß, und stak dabei noch tief in der Erde. Er lag mit dem niedrigen Ende nach Süden, so daß die Sonne ihn immer treffen mußte: daher glänzte die volirte Oberfläche beim Aufgang und Niedergang des Tagesgestirns durch den Reflex der schräg auf den Stein fallenden Strahlen wie ein goldener Wunderschein. Die Masse war harter roth-schwarzer Granit mit Hornblende, und soll dieselbe Steinart gewesen sein, aus welcher die kolossale Schale vor dem Berliner 105 Museum besteht. Ein Schwert in fast diagonaler Richtung war auf ihm eingegraben, weiter abwärts ein Tempel und eine Menge von Klauen der verschiedenen Opferthiere. Erst als man vor sechszig Jahren den heiligen Stein zu sprengen beschloß, zogen auch die Laumen uon danncn. Vergeblich hatten sie vor dem Frevel gewarnt und schwere Ahndung verheißen: sie wurden nicht gehört. In bangen Klageliedern nahmen sie vom Berge Abschied und standen festlich gekleidet und mit Kronen auf dem Haupte an den aufgehäuften Schätzen. Sie riefen einen Nachen herbei, stiegen hinein und als sie am jenseitigen Ufer landeten, prophezeieten sie dem alten Fährmann: Der heilige Berg werde mit seinem Gipfel in die Fluthen stürzen und Alle, die an den Stein Hand legen, ein rächendes Gericht treffen. Und es geschah also. Schon beim Sprengen des Steins wurden die Arbeiter an Augen und Händen arg beschädigt und Alle, die sich mit ihm zu schaffen machten, verkrüppelten; die Anstifter fanden den Tod. So der Müller Schwarz aus dem benachbarten Dorfe Barden, der sich aus dem Hauptstücke einen Mühlstein fertigte und ihn in seine Mühle setzte. Er verarmte und ward eines Tages gefunden in's Kammrad geflochten und gräßlich verstümmelt. Erst seitdem hörten die Strafen auf; und nun wurden auch die übrigen Stücke theils zu Fundamenten benutzt, theils als Hauspalladium — gleich den Perkunoskeulen, die gegen Gewitter schützen und Wunden heilen — von Jedem, der ihrer habhaft werden tonnte, genommen und sorgsam bewahrt. Ter Platz, wo der Opferstein gelegen, ist nur noch zur kleinern Hälfte vorhanden, die größere liegt bereits in der Tiefe, und bald wird auch jene nachfolgen. Dann aber werden auch die übrigen Schätze zum Vorschein kommen: die Wiege, die Hacke, die Egge, die Pflugfchaar und das Tischgcrüth, Alles von Silber und Gold. Jetzt hausen auf dem Rombin die Avmainßs, die den nächtlichen Wanderer necken und ine führen. Damm singen auch die Bursche, wenn sie in dunkler Nacht zum Liebchen schleichen, ein Lied, das in der Uebersetzung des Herrn Oberlehrer Gisevius in Tilsit also lautet: Finst're Nacht deckt Wald und Fluren, Ich sind' nicht des Weges Spuren; Und der Mond scheint bleich, Geister huschen durch's Gesträuch. Wo sind ich den Weg, Ach, zur Braut den grünen Steg! Noch immer ist der Rombinus ein heiliger Vcrg, den Alt und Jung nur mit Ehrfurcht betritt, und den man Nachts ängstlich vermeidet. Auch die Laima lebt noch im Herzen der Littauer. Zwar spreitet sie dem Kinde bei der Geburt nicht mehr das Laken unter; zwar läßt sie, wenn den Anwohnern ein unerwartetes Schicksal bevorsteht, nicht mehr auf dem Rombin ihre Stimme hören: „Die Laima rief, die Laima schrie, Lief mit bloßem Fuß über den Berg;" — aber sie wird noch immer als die Schicksalsbringerin und die Göttin des Glücks genannt. Vei überraschenden Ereignissen sprechen die Littauer, welche alle strenge Fatalisten sind, noch heute: laip I^aim» lewe, So hat es die Laima gefügt! oder bei gewissen Unternehmungen: 8u I>aima laimeöu, Mit der Laima werd' ich glücklich sein! Auch ihre Linde beim Dorfe Bardehnen, am Fuße des Rombin, ein über 600 Jahre alter Baum, dessen Wurzel drei Stämme trägt, steht noch heute in großem Ansehen. Ehemals waren alle Linden der Laima geheiligt und ihr Fest wurde im Juli gefeiert, wenn die Linden blühten. Und sind die Laumen auch fortgezogen, überall finden sich noch Spuren ihres Waltens und ihres Einflusses. Die Mädchen dieser Gegend gleichen in Gestalt und Gesichtsbildung den holden Priesterinnen. Man findet unter ihnen Köpfe mit wahrhaft antiken Profilen, mit der von den Malern so gepriesenen Wellenlinie, und einen durchweg freien Wuchs mit edler Haltung. Sie haben von den Laumen die Kleidung und die Haartracht angenommen, und die Laumen haben sie sticken und webcn, singen und tanzen und noch manches Andere gelehrt, 107 Besonders ausgezeichnet sind durch malerische Tracht und die Kunst, ihr Haar zu stechten, die Ragainerinnen (in der Umgegend von Ragnit). Sie stechten zwei breite 10 — 18 strahlige Zöpfe, welche in Form eines Ringes fest um den Kopf gelegt werden, nach jeder Seite einen Buckel bilden, und das übrige glattanliegende gescheitelte Haar gewissermaßen einrahmen. Die Arbeit erfordert nicht wenig Zeit und Mühe und sogar fremde Hülfe; weshalb die Mädchen auch nur alle acht Tage das Haar von Neuem flechten, und die Freundinnen in der Frühe des Sonntags zu diesem wechselseitigen Dienst und Ausputz einander besuchen. Doch wissen sie die Flechten die ganze Woche hindurch in der besten Ordnung zu erhalten, indem sie bei der Arbeit ein Tuch oder eine Binde um die Stirne schlagen. Die Kunst, das Haar in dieser zwar fremdartigen aber anziehenden Weise zu stechten, ist fast ein Geheimniß der Ragainerinnen, selbst für die andern Littauerinnen, die sich oft vergebens mühen, jene Zöpfe nachzufiechten. Die Tilzen erinnen (in der Umgegend von Tilsit) tragen das Haar ungescheitelt, ihre Zöpfe sind nicht so zierlich, dafür aber mit bunten seidenen Bändern geschmückt, die lang und breit über den Nacken herabflattern. Verheirathete Frauen und gefallene Mädchen dürfen das Haar nicht stechten und müssen es mit einem Tuche bedecken. Die Kleidung der Frauen wechselt ebenso wie die littauische Mundart fast mit jedem Kirchspiel. Nur ein Kleidungsstück findet sich überall, wo noch die Nationaltracht in Gebrauch ist — die Marginne; wahrscheinlich von mei^a, die Jungfrau, abzuleiten, indem es vorzugsweise von Mädchen getragen wird-, oder auch von inarß»8, bunt, weil es rothgestreift oder buntgewürfelt zu sein pflegt. Ursprünglich war es eine Art Shawl, etwa vier Ellen lang und mindestens eine Elle breit, der von der Unten Schulter bis zu den Füßen herabhing, den rechten Arm unbedeckt lieh und an den Hüften von einem Gürtel zusammengehalten wurde. Jetzt ist diese luftige Bekleidung selten geworden und durch ein Röckchen von loletter Kürze verdrängt, das nur von der Hüfte bis zum Schenkel reicht. Es heißt gleichfalls Marginne, zeigt dasselb« 108 Muster und dieselbe Farbenmischung und besteht gewöhnlich aus Wolle, nur ausnahmsweise aus Seide. Von der kurzen bunten Marginne hebt sich schön das blendend weiße Hemde von feinem Linnen ab, das bis zum Halse hinaufgeht und an der Achsel und dem Handgelenk mit Arabesken in schwarzer Farbe ausgenäht ist-, sowie die feuer- oder blutrothen oder auch blauen Zwickelstrümpfe, welche in Schuhen mit hohen Absätzen stecken. Auch das Mieder ist von heller, gewöhnlich rother oder grüner Farbe: und über die Marginne werden noch ein halb Dutzend leichter Schürzen gebunden, von denen die oberste reich gestickt ist. Fast an jedem Finger glitzern ein paar Ringe von Silber, Zinn oder Messing, auch wohl mit böhmischen Steinen eingefaßt; von dem Kopfe weht, aber ohne das Gesicht zu verdecken, ein Schleiertuch, wieder von weißem feinen» Linnen und mit selbstgewebten Spitzen besetzt. An ihm, Slepeta genannt, läßt sich ebenso wie an der Haartour erkennen, ob die Person noch eine Jungfrau ist oder nicht. Im ersteren Fall hängt nämlich der mittelste Zipfel über den Haarknoten herab; bei Verheiratheten ist er eingebunden. Zur Winterszeit tragen die Littauerinnen einen bis an die Knie gehenden Pelz, den sie Pa-musztinnis nennen. Er ist dunkelblau, mit Goldtressen und gelben und grünen Schnüren besetzt, gewöhnlich mit Lämmerfell gefüttert und mit Fischotterfell ausgeschlagen. Von einem bunt gearbeiteten breiten Gürtel, an dessen langen Enden starke Quasten hängen, zusammengehalten, umschließt er in großen Falten den Leib, während von den Schultern ein mit sinnigen Stickmustern sauber gewebter Linnenshawl herabfällt. Im Ganzen ist die Tracht zu überladen, auch zu bunt- und grellfarbig, besonders diesseits der Memel, als daß sie für geschmackvoll gelten könnte; doch macht sie einen frappanten und bleibenden, weil durchaus fremdartigen und vielfach an den Orient erinnernden Eindruck. In dieser ihrer Nationaltracht begrüßte Friedrich Wilhelm IV., als er, damals noch Kronprinz, nach Littauen gekommen war, eine Anzahl junger hübscher Mädchen in Tilsit. Vorher hatten sich ihm Tilsener Stadtdamen in Manischem Kostüm vorgestellt, aber er verlangte echte Littauerinnen zu sehen, und so erschienen vor ihm schmucke Ragainerinnen, an denen er ein großes Behagen äußerte. Sie beschenkten auch seine Gemahlin mit einem kunstreichen Wert ihrer Hände: mit einer Schürze und einem Shawl, beides von ungebleichtem Linnen mit weißer Stickerei und gelben Borten. Auf das Paßband der Schürze waren die Worte gestickt: „Aus Liebe und Verehrung von treuen Littauerinnen dir geschenkt". Die Laumen haben die Littauerinnen stricken und nähen, weben und sticken gelehrt, darum besitzen sie in diesen Dingen eine so hohe Kunstfertigkeit. In den niedrigsten Hütten findet man die Mädchen am Stickrahmen sitzen, und die ausgespannte Leinewand, auf welcher sie mit zugespitzter Kohle, oft ohne jedes Vorbild und ganz nach eigener Erfindung, die gefälligsten Zeichnungen entwerfen, mit aller Sauberkeit ausnähen. Sie weben die feinste Leinewand, klöppeln die feinsten Spitzen, mit welchen sie ihre Hemden und Röcke, Hand- und Taschentücher umsäumen; und stricken in ihren Leibfarben: Roth, Blau, Grün gar bunte und artige warme Handschuhe. Sie verfertigen schöne seidene Gürtel, Strumpf- und Hosenbänder, mit Blumen und Buchstaben von Gold und Silber durchwirkt, welche sie ihren Liebhabcm und Beichtvätern, auch durchreisenden Fremden, verehren; auch wohl auf Bestellung arbeiten. Höchst überraschend ist es, in diesen Bändern oft französische oder englische Devisen eingestickt oder eingewirkt zu finden, deren Bedeutung die Vauermädchen natürlich nicht kennen, die aber in ihrer Familie schon seit Jahrhunderten nachgebildet werden. Die littauischen Mädchen, welche sich noch in ihre Nationaltracht kleiden, fertigen alle Stücke ihres Anzuges selbst und allein, indem sie die Stoffe nicht nur weben, sondern auch verarbeiten. Darum kommt ihnen die Kleidung jedoch nicht billiger zn stehen, als wenn sie selbige kaufen würden-. im Gegentheil theurer. So tostet ihnen das Material blos zu einer Marginne bis 20 Thlr.: die Weste noch gar nicht mitgerechnet. Dafür sind diese selbstgearbeiteten Kleider aber auch dauerhafter und würdiger, und man legt einen eigenen Werth darauf, daß sie eben nicht gekauft sind. Die besten und kostbarsten Sachen, der volle Putz wird selbstverständlich nur an Sonn- und Festtagen getragen. 5W Allein, wie die Sprache, ist auch die Nationaltracht der Frauen sichtlich im Schwinden begriffen. In den Kreisen Inster-bürg, Gumbinnen, Darkehmen und Stallupönen ist sie fast verschwunden ; aber auch in der Niederung, im Tilsitschen, Ragnitschen und selbst Memelschen, wo die Nationallittauer noch am dichtesten sitzen und gegen die Deutschen das Uebergewicht haben, macht sich immer mehr der deutsche Einfluß geltend; und viele Littauerinnen finden es schon bequemer und billiger, sich nach ihren deutschen Nachbarinnen zu tragen und wie diese die Stoffe zu ihren Kleidern in der Stadt zu taufen. Ist die Nationaltracht erst im Schwinden begriffen, so sind die Nationaltänze fast ganz verschwunden. Man tanzt, wie die Deutschen, Walzer und Galopp, Zweitritt und Schottisch: man bewegt sich wie die Deutschen, mit bäuerischer Schwerfälligkeit. Die Bursche juchzen nicht einmal, nur die Dirnen bringen etwas Ab« wechselung in diese Einförmigkeit, indem sie mit den hohen Absätzen ihrer Schuhe und Pantoffeln die Musik im Klivp-llapp-Talt kastag-nettenartig begleiten. Zuweilen wird bei einem Iaunimmis oder Tanzvergnügen noch der Kepvurinnis oder Huttanz aufgeführt; dann erst kommt Seele und Leben in die wandelnden Statuen, bann entfalten die Tänzerinnen ihre natürliche Anmuth und Würde. Der Hepvurinnis ist eine Art Contretanz, und er wird nur von Mädchen dargestellt. Vier Paare, die eine Hälfte mit Hüten versehen, führen unter gefälligen Pas die verschiedensten Touren auf, wobei sie bald die Hände in die Seite gestemmt, bald mit abgezogenem Hut einander grüßend, sich gegen- und durcheinander bewegen, sich fliehen und haschen. Der Tanz bewegt sich im "/, Takt und gewährt ein naivartiges Bild. Wenn es an Musik gebricht, sind die Tänzerinnen um eine Aushülfe nicht verlegen; sie singen dann zum Tanze. Alle Littauer sind als Natursänger wie Naturdichter bekannt. Die littauische Jugend übertrifft die deutsche in geschwinder Erlemung der schwersten Melodien, seien es weltliche oder geistliche, und man kann ihren wohlklingenden, taktfesten Gesang nicht ohne Bewegung hören. Wenn di« Mädchen ihre theils erlernten, theils aus dem Steigreif gedichteten Liebeslieber und Liebestlagen singen, tönt ihre Stimme in einem weichen wollüstigen Schmelz, und derselbe Ausdruck lagert sich dann um Mund und Augen, so daß der Fremde, wenn er auch nicht die Worte versteht, doch den Sinn erräth. Indeß singen sie nicht nur Liebeslieder, sondem bei Festlichkeiten und Gelagen, an denen sie übrigens wacker theilnehmen, auch Trink- und Commerslieder. Es macht einen wundersamen Eindruck, bei einer Hochzeits- oder andern Feier die jungen Mädchen ein Trinklied anstimmen zu hören, wie es sonst von Stubenten und lustigen Zechbrüdern gesungen wird. Z. N. *) 1. Nimm das Gläschen in die Rechte. 2. Trink es Liebster bis zur Hälfte. 3. Du mußt's leeren bis zum Boden. 4. Stülp' es um ohn' Einen Tropfen. 5. Wieviel Tropfen, soviel Gläser. 6. Gieb's zurück, wo's angefangen. Bei der langen Schluß-Fermate auf der Dominante wird regelmüßig und nach dem Takt getrunken. Die Nagelprobe, das pro paena-und Zutrinken wird nicht anders gehandhabt wie bei einem burschikosen Commerce. Nach der letzten Strophe ertönt das 8>veik8, Sei gesund! oder 6el'k8>veik8, Trinket gesund! oder .4nt 8weik3t»8, Auf Gesundheit! — das entweder Allen gilt, oder auch wie das 8moIÜ8 an Einzelne gerichtet wird, deren Namen man nennt. Männer wie Weiber trinken Allaus, das littauische Vier, oder süßen Kirschbranntwein, sie reichen beim Zutrinken einander die Hand, oder küssen und umarmen sich. Noch verwunderlicher ist's, daß auch diese lustigen Zechlieder sich in weicher Tonart bewegen, sich wie Trauergesänge oder feierliche Choräle anlassen. Da singen sie z. B., um das Allaus-Trinlen einzuleiten: kerkit, zerkit ir ^iiiallit! — einen Chorus, dessen Inhalt an das bekannte Trinklied in Lucrezia Borgia erinnert, indem der Text in der Uebersehung von Gisevius also lautet: *) Uebersehung von Gisevius. Laßt uns trinken, laßt uns singen, Froh sein, küssen, scherzen! Wohlgebraut ist der Allaus, Gäste bat' ich mir in's Haus, Nehm sie auf von Herzen. Aber diese Aufforderung zum Trinke«: und Frohsinn tönt düster «nd schwermüthig wie ein Grabgesang. Das Moderato herrscht bei allen Gesängen wie im geselligen Benehmen der Littauer vor; angeborenes Phlegma und ein resignirter Sinn lassen es, selbst wenn sie sich im tnmkenen Zustande befinden, nicht leicht zu tumnl-tuarischen Scenen kommen. Der Grundzug im Wesen der Frauen ist Ernst und Stille; die in Lebensfülle und Lebenslust prangenden jungen Mädchen erscheinen in Freude und in Schmerz von einer sanften Melancholie umflossen, die ihnen noch einen Reiz mehr verleiht. Noch in einer andern Kunst sind die Littauerinnen geschickt; sie reiten vortrefflich, und was wohl nicht erst gesagt zu werden braucht, ganz nach Männerart. „Der Littauer wird, wie das Sprüchwort lautet, mit dem Zaume in der Hand geboren." Schon kleine Knaben von 4 — 6 Jahren sieht man ohne Sattel und Zaum, indem sie sich nur an der Mähne festhalten und so zugleich das Thier lenken, ihre Rosse tummeln. Der Littauer geht und fährt weniger, als er reitet; er schont die Pferde nicht so sehr wie der deutsche Bauer; selbst die kleinsten Wegstrecken legt er gern zu Pferde zurück; er reitet aufs Feld und in die Kirche, wie auf Besuch und nach der Stadt. Auch die Frauen reiten, so oft sich dazu eine Veranlassung bietet, besonders jenseits der Memel. Am Markttage sieht man junge und alte Weiber in Schaaren zu Pferde nach der Stadt ziehen, ihre Produkte, welche sie dort verkaufen wollen, hinten aufgeladen; und ebenso bepackt, nämlich mit allerhand Waaren versehen, traben sie nach Hause. Als Friedrich Wilhelm IV. nach Memel kam, holten ihn 24 erlesene junge Mädchen in littauischer Nationaltracht zu Pferde ein und führten ihn, den ganzen Weg entlang ihre Dainos singend, in die jubelnde Stadt. Gewiß die originellste und reizendste Garde, die sich je einem Fürsten dargeboten hat. 113 Ueber so viel Künste und Fertigkeiten vernachlässigen die Littauerinnen jedoch keineswegs ihre eigentlichen Berufspflichten. Eie arbeiten mehr und ebenso schwer als die Männer, sie beschränken sich nicht auf die Arbeiten im Hause und der innern Wirthschaft, sondern helfen auch auf dem Felde und auf der Scheune, beim Nudern und Fischen; sie pflügen und dreschen, fahren ein und spalten Holz. Man findet sie nie ganz müßig; selbst wenn sie bei der Feldarbeit Mittagsruhe halten, nehmen sie ein Strickzeug oder ihre Stickereien vor', und den langen schweren Tag wissen sie nicht besser zu beschließen, als indem sie gemeinschaftlich eine Daina anstimmen. Wie sie selber gegen Hitze und Kälte fast unempfindlich sind, gewöhnen sie auch ihre Kinder schon frühzeitig an die härteste Lebensart. Wenn diese erst zwei oder drei Tage alt sind, geben sie ihnen schon Branntwein zu trinken, und lassen sie später bei jeder Witterung baarfüßig und im bloßen Hemde herumlaufen. Ob die littauischen Frauen hingegen auch wirthschaftlich, ordentlich und reinlich sind, ist nicht leicht zu sagen. Die Urtheile darüber lauten aus älterer wie neuerer Zeit verschieden, und was ich selbst wahrgenommen, spricht sowohl dafür als dagegen. Ich sah schmutzige übelriechende Wirthschaften, wo Menschen und Thiere einträchtig bei einander wohnten, wo die Kinder in der Wiege fast von den Fliegen aufgefressen wurden, und die Erwachsenen beiderlei Geschlechts sich vor Schmutz und Lumpen kaum sehen lassen konnten; ich fand aber auch saubere Häuser und Insassen, nicht anders wie bei den Salzburgern. Wahrscheinlich stehen in dieser Beziehung die Littauer in der Mitte zwischen den Deutschen und den Slaven; sie sind nicht so schmutzig und so lüderlich wie die Masuren, doch auch nicht so sauber und wirthschaftlich wie die Deutschen: allein wie deutsches Beispiel und deutscher Einfluß sich nach allen Seiten immer mehr geltend machen, so zwingt beides auch sichtlich die Littauer zu größerer Ordnungs- und Reinlichkeitsliebe. Wenden wir uns nun zum männlichen Geschlecht, so ist dieses durch schlanke muskulöse Gestalt und regelmäßige Gesichtsbildung nicht weniger ausgezeichnet. Die Littauer sind eher groß als klein, 8 114 und durch ihre straffe aufrechte Haltung erscheinen sie noch größer als sie wirklich sind. In der Negel haben sie dunkelbraune Haare, helle Augen und cine frische Gesichtsfarbe. Tie Physiognomie ist ausdrucksvoll, ihre Züge sind oft etwas listig, aber im Ganzen angenehm. Sie lieben einen Schnurrbart nnd lassen das Haar gern lang über den Nacken herabfallen; nur die Jüngern und Diejenigen, welche im Heer gedient, schneiden es kurz ab. Wenngleich ihr Gang und ihre Bewegungen für gewöhnlich laugsam und schwerfällig erscheinen, so können sie bei Gelegenheit doch flink und behend sein; sie sind in den meisten Leibesübungen geschickt und zu den verschiedensten Arbeiten und Geschäften anstellig. Von einer eigentlichen Nationaltracht ist bei den Männern nicht mehr die Rede. Ihre Kleidung wird gleichfalls von den Weibern gesponnen, gewebt und meist auch geschneidert. Im Sommer tragen sie einen langen Lcinenkittcl von weißer, grauer oder dunkelblauer Farbe, ohne Knöpfe, nur mit Haken und Oesen und an den Acrmcln mit einem kurzen Aufschlage versehen. Ein gelblederner Gürtel, oder von hellblauem oder hellgrünem Zeug, Pah genannt, schließt diesen Kittel fest um den Leib; Winters vertauschen sie ihn mit einem Rock von gleicher Farbe, aber von dickem, grobem, selbstgeiucbtem Tuch und gemeiniglich mit couleur-tem Kragen und couleurten Aufschlägen befetzt. Die Kopfbedeckung ist im Sommer ein niedriger schmalkrempiger Filzhut, im Winter eine blaue sturmhaubenaitige Tuchkappe, welche heruntergezogen auch Nacken und Gesicht bedeckt und nur Mund und Augen frei läßt, in die Höhe geschlagen aber das Aussehen derjenigen Kappen hat, welche sich auf Abbildungen der alten Schweizerbauern finden. Bei Schnee und Sturm ist die littauische Kapuze ein höchst praktisches Kleidungsstück. — Dieses Conterfei des littauifchen Vanern sieht man in den umliegenden Städten vor vielen Schänken und Kaufläden aushängen; es schwelgt in grellen, dick aufgetragenen Farben, aber es ist dafür auch nicht zu verkennen und erfüllt seinen Zweck besser, als jede Inschrift, indem es das durch die Gassen irrende Original zum Eintreten verlockt, ihm einen nicht mihzuverstehenden Wink giebt, daß es hier seine ewig durstige 115 Seele erquicken oder seine Lischle, einen geflochtenen Vastkober, der ihm an einem Stricke um die Schultern hängt, mit Licht, Seife und andern in der Wirthschaft nöthigen Artikeln füllen kann. Die knappe, ein- und gleichförmige Kleidung des Littauers giebt ihm einen militärischen Anstrich, und wenn die Bauern aus der Kirche kommen oder sich sonst in Menge zusammenfinden, glaubt man eine Abtheilung Soldaten zu sehen. Wirklich ist der Littauer ein ebenso loyaler Unterthan wie leichteinexercirbarer Soldat. Bei seinem gefügigen und willfährigen, fast willenlosen Wesen, bietet er ein Trillmaterial, wie man es nicht besser wünschen kann: er hat sich auch in allen Schlachten mit Tapferkeit und Unerschrockenheit geschlagen: wer von ihnen Soldat gewesen, be« trachtet sich zeitlebens mit Stolz uud einen» Selbstgefühl, dem er bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit mündlichen Ausdruck und handgreiflichen Nachdruck giebt. Den Schuster läßt der Littauer nicht viel verdienen. Schuhe und Stiefel trägt er selten, und seine sonstige Fußbekleidung macht er sich selber, daher es auch früher hieß: Der König von Preußen besäße eine Provinz, darinnen lauter Schuster wohnten. Bei der Arbeit tragen die Männer Klumpen, das sind Schuhe ganz von Holz, oder Parresken, wie die Dzimken, die Weiber Schlorren, das sind Holzpantoffeln mit Lederkappen. Früher waren auch Strümpfe bei beiden Geschlechtern nicht gebräuchlich, sondern man umwickelte Füße und Waden mit leinenen Lappen; dies geschieht jetzt nur noch von den Aermeren. Dagegen sind die Parresken von Lindenbast in vielen Gegenden noch allgemein im Gange. Sie werden mit schmalen Riemen bis auf die Waden gebunden, halten warm und sind bequem und dauerhaft. Auch ihre Häuser bauen und zimmern sich noch viele Littauer selbst, namentlich die in entlegenen Gegenden wohnen. Die Wohngebäude sind schmal und niedrig, oft wie ein Blockhaus von runden Baumstämmen errichtet, mit winzig kleinen Fenstern und nicht selten noch ohne Schornstein. Auf dem großen saalähnlichen Flur befindet sich, häufig auf der platten ungedielten Crde, der Heerb, gewöhnlich nur in einer Ziegcllage bestehend. Der Rauch streicht die 9* A' Decke entlang zu den Tbüren hinaus, von welchen die vordere auf die Gasse, die hintere gerade gegenüberliegende auf den Hof führt. Der Rauch erfüllt den ganzen Raum mit dichten» Qualm, kämpft mit dem durch die gewöhnlich offen stehenden Thüren her-einströmenden Zugwind, belegt Decke und Wände mit einem glänzend schwarzen Nuß und räuchert auf seinein Wege die an der Decke hängenden Fische, Würste und Speckseiten gar. Dennoch ist der Flur im Sommer der gewöhnliche Aufenthaltsort für die Familie; man ißt und arbeitet hier, und wenn die Leute naß geworden sind, setzen sie sich um den Heerd herum und trockenen am Feuer und Qualm ihre Kleider. Nur Winters logirt man in der Etubba, wie auch das ganze eigentliche Wohnhaus von dem aus dem Deutschen entnommenen Worte heißt. Hier ist das Hauptmöbel ein riesiger Ofen von rohen Ziegeln, bei Wohlhabenderen uon grünverglaseten Kacheln. Abends erleuchtet eine Thranlampe oder ein brennender Kienspan den engen heißen Raum. Das jüngste Kind schaukelt in der Lopze oder Wiege, die mitten im Gemach von der Decke an zwei Stricken herniederhängt, leicht in Bewegung gesetzt werden kann und sich lange in der Schwingung erhält. Tische, Stühle, Bänke und alles andere Haus- und Wirthschaftsgeräth, wie Wagen, Schlitten, Eggen, Stränge, Siehlen und Zäume, fertigt der geineine Mann sich selbst. Ueberhaupt ist der Littauer ein Tausendkünstler; er macht Alles nach, was er sieht, obgleich er nur die einfachsten Werkzeuge, wie Axt, Säge, Messer und Bohrer besitzt. An seinem Wagen und Schlitten sucht man, gleichwie bei den Fahrzeugen der Dzimken, oft vergebens das kleinste Stückchen Eisen. Daher das Sprüchwort sagt: „Der Littauer reitet in den Wald und kommt zu fahren heraus". Das heißt, er hat sich inzwischen einen Wagen oder Schlitten gefertigt. Doch giebt es auch in der Niederung und in anderen wohlhabenden Gegenden große und stattliche Gehöfte: die Wohn- und Wirthschaftsgebäude sind dort zuweilen massiv aufgeführt und mit gebrannten Dachpfannen gedeckt. Gewisse Nebengebäude, wie Wasch-, Back- und Brauhaus, finden sich auch bei armen Bauern, 117 die ihr Brod nicht nur selber backen, sondern auch das Mehl dazu selber mahlen, auf sogenannten Querleu, kleinen höchst einfach konstruirten Handmühlen. Ich kann hier nicht eine Bemerkung unterdrücken, die über die Nahrungsweise des gemeinen Mannes in Ostpreußen aufklären wird. Bekanntlich hat Justus v. Lie big, angeregt durch den Nothstand, empfohlen, das Nrodgetreide nicht zu mahlen, sondern nur zu schroten, indem durch Absonderung der Kleien 10 — 15 Prozent an Masse und wichtige Nahrungsbestandtheile verloren gehen. Diese Notiz ist von allen Zeitungen, merkwürdigerweise auch von ostpreußischen, nachgedruckt und eifrig zur Nachahmung empfohlen worden. Nun muß man wissen, daß der Bauer in Ostpreußen das nicht erst von Herrn v. Liebig zu lernen braucht, sondern stets ein Kleienbrod ißt, indem er nicht daran denkt, das Brodgetreide zu beuteln, sondern es einfach schrotet. Die Armen nehmen sogar zu ihrem Brode ungeworfeltes, noch mit Spreu vermischtes Korn: ja sie geben ihm noch einen besonderen Zusatz von Spreu und Hafer, welches Mischgetreide dann Mengsel heißt und ein Gebäck liefert, von dem ein älterer Schriftsteller sagt: „Es ist meistentheils so schlecht, grob und speilicht, daß es mancher Hund nicht fressen will." Was also von der Theorie als eine neue Entdeckung verkündigt wird, lebt schon seit Jahrhunderten in der täglichen Praxis! — Diesem oft 4 — 6 Wochen alten steinharten, erdschwarzen Speilenbrod verdankt unser Bauer auch seine festen weißeu Zähne und einen Magen, der riesige Quautitäten verschlingen und fast gar nicht verdorben werden kann. Früher hatten die Littauer neben jeder Haushaltung auch eine besondere Badestube, die sogenannte Pirt. Es war ein dunkler kaum mannshoher Ort, in der Mitte befand sich ein Haufen von Feldsteinen, ringsherum zogen sich hölzerne Bänke. Durch ein unterirdisches Feuer wurden die Steine erhitzt und dann mit Wasser begossen. Das ganze Gemach erfüllte sich mit heißen Dämpfen. Nun gingen die Leute nackend hinein, streckten sich auf die Bänke, und Einer bearbeitete den Körper des Andern mit kurzen Besen von Virtenreis, bis die Haut fast wund war, und 118 in Folge der erstickenden Hitze der Schweift in Strömen ausbrach. In dieser gleichsam kochenden Verfassung liefen die Badenden hinaus und stürzten sich in den nahen Teich oder wälzten sich zur Abkühlung im Schnee herum. Dieses Bad, vor dem selbst ein spartanischer Jüngling zurückgebebt haben würde, gebrauchten auch ohne Bedenken Mädchen und Frauen; wie die Männer, etwa alle vierzehn Tage. Waren die Kleider, wie es nicht selten vorkam, voll Ungeziefer, so hing man sie einfach in die Badestube, wo die sengende Hitze alsbald die unbequemen Thierchen tödtete. Außerdem wurde die Pirt zum Trockenen des Getreides und zum Darren des Malzes gebraucht. Leider ist diese Art von Dampfbad, die noch heute unter den russischen Bauern gang und gäbe ist, bei den Littauern abgekommen. Das jetzige Geschlecht ist schon weichlicher. Dagegen findet sich in jeder littauischen Wirthschaft noch immer ein anderes Nebengebäude. Es heißt Kletis, welche Benennung etwa dem deutschen Speicher entspricht; doch dient es sehr verschiedenen Zwecken. Die Klete ist in der Regel ein kleines hölzernes Gebäude mit einem laubenartigen Vorbau, wo im Sommer die Großmutter sitzt und spinnt; aber ohne eigentliche Fenster, nur mit Luken oder viereckigen Oeffnungen versehen, die mit hölzernen Laden verschlossen werden. In der Kletis lagern die Schätze von Betten, Wäsche und Kleidern; bei den Aermeren auch die Getreide- und Mundvorräthe — die Wohlhabenderen besitzen hierfür besondere Gebäude. Weil die Klete das Werthvollste umschließt, was eine Familie besitzt, so pflegen einige Mitglieder derselben gleichsam zur Bewachung der Schätze hier zu schlafen. Desgleichen dient die Kletis auch zur Anfnahme von Gästen, und pflegt daher oft noch ein besonderes Gastzimmer zu enthalten. Außer alledem hat dieser Ort noch eine tiefe Bedeutung für das Ehe- und Familienleben, für ein bereits begründetes wie für das neu zu begründende Hauswesen. Hier findet nämlich mit der Nutaka oder angetrauten Braut die wichtige Ceremonie der Kranz-abnähme statt. 119 Am Morgen nach der Trauung begeben sich die neuen Ehegatten, alle ihre Verwandten und sonstigen Hochzcitsgäste, die sich wieber eingefunden haben, auf den Hof. Hier wird ein großer Kreis geschlossen, in diesem eröffnet der Eheherr den Ehrentanz mit der jungen Fran; sie tanzt der Reihe nach mit allen Männern. Zwei Frauen, uon denen die Eine ein Tuch bereit hält, warten nnr ab, bis sie mit dem Dewirs, dem Bruder oder nächsten Anverwandten ihres Gatten, tanzt. Geschieht dies, so eilen sie auf die Tänzerin zu und suchen sie zu erHaschen. Sie ergreift die Flucht, die Mädchen, einander an den Händen haltend, umtanzen sie, können sie jedoch nicht mehr schützen; die Verfolgte bemüht sich durch den Kreis zu kommen, der aber dicht geschlossen keinen Ausweg darbietet; sie muß sich endlich gefangen geben und wird von den Frauen, nachdem sie ihr sogleich d«e> Tuch über den Kopf geworfen, in die Klete geführt, wo bereits die Anyta oder Schwiegermutter auf einem mit Kissen bedeckten Swhl sitzt und sich erst nach vielen Vorstellungen bewegen läßt, den Platz der Nutaka einzuräumen. Hat diese sich gesetzt, so treten zwei Brüder oder Verwandte des jungen Ehemannes uor sie hin, nehmen ihr den Kranz ab, lösen das Stirnband und flechten die Zöpfe aus. Die Schwestern, Vcrwandtinnen und Freundinnen der jungen Frau stimmen ein Lied an, das im Ragnit'schen in der Uebersetzung von Gisevius also lautet: Ach, wer löst die goldncn Flechten, Und zerzaust Dein glänzend Haar, Setzt Dir auf das zarte Häublein, Schön zu seh'n, und doch so schwer! Ach mit Schmerzen trägt das Köpflein Diesen ungewohnten Schmuck-, Heiße Thränen weint die Tochter, Von der Mutter jetzt gctivmtt. Weine nicht, geliebte Schwester, Stille Deinen bittern Schmerz; Denn die Schwieger hat Dich gerne, Und der Liebste ist Dein Schuh. 120 Die Mädchen singen und tanzen dabei um die Nntaka und schlagen den die Zöpfe lösenden Männern mit grünen Zweigen auf die Hände. Sind diese mit ihrer Zerstörung fertig, so ordnen die Frauen das Haar ansei Neue und legen cm Tuch darüber. Ties reißen die Mädchen sogleich wieder herunter, wao sich dreimal wiederholt. Nun erst wird der jungen Frau die Materie, das volksthümliche Wulstentuch uon weißer Leinwand mil gestickten Enden, aufgesetzt, worauf der junge Ehemann sich zu ihr niederbeugt, ihr einen Kuß giebt uud sie der Versammlung mit den Worten vorstellt: „Dies ist meine Frau!" Sogleich tritt der Oßwis oder Schwiegervater hinzu und hebt die junge Frau vom Stuhl, welche nun die neuen Eltern auf das Herzlichste begrüßt und ihnen die mitgebrachten Geschenke überreicht. 2er Schwiegervater erhält ein Stück Leinwand, die Schwiegermutter eine vollständige Bekleidung von Kopf bis Fuß, die Schwägerinnen Marß-tinelen oder gestickte Ueberhemden, und alle Mädchen, die während des Ausflechtens gesungen haben, schöne mit Spitzen besetzte Handtücher. Nach Vertheilmlg dieser Gaben werden den Herumstehenden die „Thränen der Braut" dargeboten, das ist eine mit Honig und Branntwein gefüllte Schüssel: Jeder genießt davon der Reihe nach ein paar Löffel, bis die Quelle versiegt ist. Dann führt der junge Mann die junge Frau in's Haus, wohin ihnen die Andern folgen. Durch diese Ceremonie hat die junge Ehefrau die Hausweihe erhalten und ist in die Familie ihres Mannes aufgenommen. Doch legt die Schwiegermutter damit das Regiment nicht immer nieder, sondern sie führt es oft noch lange, wo nicht gar bis zu ihrem Tode fort, und die Schwiegertochter ist weiter nichts als die erste Magd des Hauses; ihr Mann, so lange der Schwiegervater die Wirthschaft behält, nur dessen Knecht. Es kommt vor, daß auf einem Bauernhofe mehrere verheirathete Söhne und Töchter mit ihren Männern und Frauen nnd Kindern sitzen, welche gemeinschaftlich wirthschaften, oder uon den Eltern als Knechte und Mägde gehalten werden. Ein älterer Schriftsteller, Theodor Lepner, Pfarrer im Ragnit'schen, schreibt darüber, wiewohl er 121 sonst den Littauern gar nicht grün ist, Folgendes:*) „Ls haben die Littaucr aber einen sonderlichen Griff ihre Töchter zn versorgen, denn wenn der Vater siehet, daß ihm zu seinem Acker-Bau und Leistung des Schaarwerks ein Arbeiter fehlet, oder auch die Tochter nicht gesucht wird zur Freyschaft, so schickt er einen Freys-Mann in ein Haus;, und lässet um einen Schwiegersohn werben, erhält er abschlügige Antwort, welche nicht geachtet, oder von ihm vor einen großen Schimpf gehalten wird, so schickt er weiter. Visweilen nimmt er auf die andre Tochter auch einen Schwiegersohn und schaffet ihm (sich) ruhige Tage, denn ein Schwiegersohn muß wie ein Knecht arbeiten, und bekommt davor keinen Lohn als nur Kleider und etzliche Plützgen Haber und Lein zu säen. Oefters halten sie Söhne bei sich und geben ihnen Weiber, da wimmelt es von den Kindern dieser Söhne. Die Schwiegertochter muß gleich einer Magd arbeiten und bekommt davor nur ein Plätzgen Lein zu säen, davon bespinnt sie sich, ihren Mann und Kinder. Je mehr die Littauer Arbeiter im Hause haben, je besser stehet es um sie. Man muß sich aber verwundern über die Antrüchtig-keit dieser Leuthe. Vey den deutschen Bauern gehet solches nicht an; da kan selten ein Vater mit einem Sohn in einem Hause leben; dafern der Sohn dem Vater zur Hand gehet, so geschieht es doch nicht von der Schwiegertochter. So eine Beschaffenheit hat es nicht, wenn der Littauer einen Schwiegersohn in sein Haus nimmt; unter ihnen blühet die Einträchtigkeit und der Gehorsam. Sie erhalten durch zusammengesetzte Arbeit sich mit einander, die Kinder, insonderheit die Töchter, werden versorget, und dürffen nicht veralten." Diese Schilderung, welche an die Patriarchenwelt erinnert, trifft noch heute zu. Wie Jakob dem Laban um Rahel sieben Jahre diente, alfo dienet noch heute unter den Littauem ein Bauerbursche bei dem Vater seiner Liebsten um die Braut; und ver- *) Das um 189« abgefaßte Äiichlem führt den Titel: „Der Prcuschc Nltauer", ist im Jahre 1744 in Danzig „bey Ich. Heinrich Riidigern" erschienen, der Kurfilrstin Sophie Charlotte gewidmet, und schon sehr selten geworden. Superintendent Jordan ,» Nagnit, Vater des bekannten Dichters Wilhelm Jordan, hat davon eine neue Ausgabe veranstaltet, aber auch diese ist im Buchhandel bereits wieder vergriffen. schiedene Dainos feiern den Vernytis oder das Knechtlein, welches nm seiner Liebe willen sich einer langen Prüfung und Dienstbarkeit unterwirft; denn wiewohl die Sitte sich aus der Zeit der alten Preußen herleitet, wo die Braut durch dargelegtes Lösc-geld erkauft werden mußte, so hat sie doch hauptsächlich den Zweck, den angehenden Eidam kennen zu lernen; und aus demselben Grunde wird auch, wenngleich es schon jetzt seltener geschieht, die Vraut des Sohnes von den Eltern in's Haus und damit in Dienst genommen. Indeß dient das „Knechtlein" doch weniger ans Liebe und um die Person der Auserwählten, als weil er mit ihr eine Mitgift oder Erbschaft verhofft. Wie bei allen Bauern, ist auch unter den Littauern Freiwerbung und Heirath ein Geschäft, das von beiden Theilen vorsichtig und nach langen Verhandlungen über den gegenseitigen Besitz abgeschlossen wird. Die Verlobung geschieht nicht eher, bis der Vraut oder dem Bräutigam das Grundstück verschrieben ist; und daß die Verlobung noch rückgängig wird, wenn sich plötzlich der eine oder der andere Theil in seinen Erwartungen getäuscht findet — ist ein Fall, der sich nicht feiten ereignet. Einem jungen Bauer im Ragnit'schen war er, wie mir der betreffende Pfarrer mittheilte, bereits dreimal passirt. Zu drei verschiedenen Malen war er, jedesmal mit einer andern Braut, aufgeboten worden, hatte sich aber immer wieder „besonnen", weil er die Aussteuer der Braut nicht genügend gefunden. Die Verlobung geschieht sowohl in der Kirche wie im Kruge. Nach der Kommunion tritt das Brautpaar mit den beiderseitigen Eltern und Freunden vor den Altar, der Prediger hält eine kleine Anrede an die Liebenden, und sie geloben in seine Hand einander eheliche Treue, wechseln aber keine Ringe. Hieral^ wird die Gesellschaft von den Eltern der Braut in den Krug geführt und niit Branntwein und Fladen (dünnen selbstgebackenen Kuchen) traktirt. Deshalb und weil der Branntwein bei der Feier die Hauptrolle spielt, sagt man: „Das Paar hat sich znsammengetrunken". Der Littauer führt alle Unterhandlungen beim Glase; kein Handel, kein Geschäft wird ohne Branntwein abgeschlossen, jedem Vertrag muß der Schnaps erst das Siegel aufdrücken. Alles was 123 man vom Littauer fordert, gewährt er für Branntwein eher als für Geld. Deshalb haben die Mäßigkcitsuereine nirgends mehr Entrüstung heworgerufen und weniger Anhänger gefunden als unter den Littauern. „Wären wir anno 1814 ohne Branntwein bis Paris gekommen?" fragten sie. „Sind nicht unsere Väter beim Kornus steinalt geworden, und ist er nicht das beste Heilmittel gegen Erkältung, Fieber und zwanzig andere Krankheiten?" „Es ist eine Sünde und Tyrannei, daß man den armen Leuten nun auch noch ihre einzige Herzstärkung nehmen will!" — Wirklich haben sie nicht so Unrecht. Der Branntwein ist dem gemeinen Mann in Ostpreußen wegen des rauhen Klima's, bei seiner schlechten Nahrung und harten Lebensart ein wesentliches, fast unentbehrliches Bedürfniß; und nicht im Uebermaß genossen, gereicht er ihm auch keineswegs zum Schaden. Uebrigens wird sein gewohnheitsmäßiger Genuß dem Littauer selten so verderblich, wie z. B. dem Masuren. Zwar bringt auch Jener ein Viertel Hafer oder Gerste, ein Mandel Eier oder ein junges Huhn in den Krug, um es gegen Schnaps umzusetzen; aber nicht leicht wird er dem Trunk zu Liebe ein Stück Hausrath «erkaufen, oder gar Haus und Hof vertrinken, wie es doch unter den Masuren ein gewöhnliches Vor-kommniß ist. Neben dem Kornus steht dem Littauer nichts höher als der Allus oder Allaus, wie er im 66uitivut> Mitivu8 heißt. Er ist das ursprüngliche Nationalgetränk und unterscheidet sich vom Bier dadurch, daß er nicht aus Gerste, sondern aus einem Malz gebraut wird, das halb aus Hopfen und halb aus Gerste besteht und gelinder als das Biermalz gedarrt ist. Daher Hut der Allaus eine blaßgelbe Farbe, die fast ins Weiße fällt, und einen süßlichen leicht berauschenden Geschmack. Die Littauer haben ihn zu allen Zeiten selbst gebraut: auch als es den „Königlichen Immediat-Vauern", um die städtischen Gewerbe in ihrer Nahrung nicht zu schmalem, verboten ward, thaten sie es heimlich: noch heute bereiten sie ihn zu allen Hochzeiten und Festlichkeiten: in jeder Wirthschaft findet sich eine Kammer oder ein kleines Nebengebäude zum Brauen des Allaus vor. Es sind mehrmals Verordnungen ergan- 124 gen, um den Verbrauch zu beschränken; so wurde unter dem Groften Kurfürsten geboten, zu einem Vcrlobniß nicht mehr als eine Tonne Allaus, zu einer Hochzeit vier Tonnen zu brauen und auszutrinten; aber solche Verbote sind selbstverständlich nie beachtet worden. Noch heilte währen die Hochzeitsfeste drei bis fünf Tage, und die ganze ausgebreitete Verwandtschaft und Freundschaft der Braut und des Bräutigams nimmt daran Theil; an jedem Morgen stellt sich der Schwärm der Gäste von Neuem ein und zecht bis in die Nacht, ohne sich stören zu lassen, wenn etwa das junge Paar oder die Wirthsleute inzwischen einen Alisflug unternehmen. Sie weichen erst mit dem letzten Tropfeil; erst wenn eine Schüssel herein-lommt, in welcher als Zeichen der völligen Ebbe der Krähn vom Allausfasse aufgetragen wird, erfolgt der allgemeine Aufbruch. Solch' eine Hochzeit, bei welcher nicht blos vier, sondern zehn und mehr Tonnen Allalls geleert werden, und außerdem noch jeder Gast ein Geschenk von Leinwand oder feiner Wäsche erhält, würde die Festausrichter arm machen, wenn nicht andererseits jeder Gast auch ein Gegengeschenk geben müßte,' außerdem bringen noch die nächsten Freunde und Verwandte manches Fäßchen Allalis und mancherlei Eßwaaren als Veisteuer mit, sodaß die Wirthe gemeinhin auf die Kosten kommen. Am merkwürdigsten ist es wohl, daß es früher Sitte war, auch einen Etcrbe-Allaus zu brauen. In derselben Stube, in welcher der Kranke lag, wurde ein Gebräusel angerichtet und noch vor seinen Augen von der Familie ausgetmnkcn. Kam er wieder auf, so half er nach Kräften dabei; und eine steinalte Wittwe hat, wie Lepner erzählt, ihr Sterbe-Vier wohl über zehnmal austrinken helfen, ehe sie wirklich von hinnen ging. Desgleichen gab man früher der Leiche einen Krug voll Allaus mit in den Sarg, damit sie auf ihrer langen Reise nicht verdurste. Vor 2Y<) Jahren war der Branntwein in Littauen noch unbekannt; erst als die Regierung das Vierbrauen besteuerte, wandte man sich allgemein dem Branntwein zu und fing auch an, den Allaus mit diesem zu versetzen. Bis dahin war auch noch ein anderes Nationalgetränl, der Meth oder Middus, im Schwange, der heute in Preuhisch-Littauen schon selten geworden ist, aber in 125 Russisch-Littauen noch viel getrunken wird. Man bereitet ihn aus Honig und Wasser, und er ist ein berauschendes Getränk; läßt man ihn alt werden, so übertrifft er an Gehalt den Ungarwein und wird als stärkende Arzenei gebraucht. Das dunkele Bier nennen die Littauer Pywas und stellen es ihrem selbstgebrauten Maus nach; für gewöhnlich trinken sie Puspywe und Skinkis; jenes ist ein Halbbier, dieses ist der dritte und letzte Aufguß, Schem-ver oder schlechtweg Trinken genannt, welches der gemeine Mann in ganz Ostpreußen statt des Wassers genießt, das auch eher den Durst stillt, und ihm, wenn er an heißen Sommertagen im Freien arbeitet, besser bekommt. Gastfreundlich und dienstfertig ist der National-Littauer zwar in höherm Grade als der Salzburgcr, aber doch nur in beschränktem Maße; dein Fremden gegenüber nur, wenn er auf einen Entgelt rechnet. Gegen den Fremden wie überhaupt gegen Deutsche zeigt er sich argwöhnisch und zurückhaltend, hinterlistig und voll übertriebenen Selbstgefühls. „So dumm wie ein Deutscher!" sagt er sprüchwörtlich, und ebenso: „Die Deutschen werden bald so klug wie die Littauer sein!" Beim Handel ist er nicht weniger verschlagen als ein Russe oder Jude; er macht sich kein besonderes Gewissen daraus, zu betrügen und aus der Verlegenheit Anderer Nutzen zu ziehen. Nicht mit Unrecht gilt er für einen geborenen Pferdedieb und Pferoetäuscher, er übervortheilt beim Pfcrdehandel selbst seinen Bruder. Auffällig ist der Unterschied zwischen den Littauem diesseits und jenseits der Memel; je höher man nach Memel heraufkommt, desto schlimmer werden die Sitten und desto häßlicher auch merkwürdiger Weise die Frauenzimmer. Trotzdem ist der Littauer überall äußerst kirchlich gesinnt. Er versäumt keinen Gottesdienst, wandert meilenweit und bei dem schlechtesten Wetter zu jeder Predigt und zu jeder religiösen Versammlung, und hält genau die Termine ein, welche zur Verabreichung des Abendmahls festgesetzt werden. Wenn er als Kommunikant vom Altar wegtritt, reicht er Allen, die um und'neben ihm sitzen, die Hand zum Zeichen der Versöhnung; wirklich ist er auch gutmüthig und versöhnlicher Nawr, denn er hat in seiner 125 Sprache nicht einmal ein Wort für „hassen", sondern sagt dafür nur „nicht leiden können." Sobald eine Anzahl sich in der jtirche zusammengefunden hat, fangen sie sogleich an zu singen, und haben oft schon drei bis vier Lieder gesungen, bevor der Gottesdienst beginnt. Sie können nicht genug singen und beten. Ter Predigt folgen sie mit der größten Aufmerksamkeit, besprechen sie hinterher untereinander und gehen auch ivohl noch zum Geistlichen, um sich nähere Aufklärung zu erbitten, oder ihm darüber ihre Ansicht mitzutheilen. Bei besonders rührenden Stellen fangt Einer, gewöhnlich von den Alten, zu stöhnen und zu seufzen an, um dadurch theils seine eigene Andacht zu beweisen, theils Andere dazu aufzumuntern; alsbald stimmen die Uebrigen ein, ein bewegliches Stöhnen und Seufzen erfüllt das Haus und zwingt den Prediger nicht selten inne zu halten. Sie werden nicht leicht etwas unternehmen, ohne dafür auf der Kanzel bitten und nach glücklich beendigtem Geschäft dafür danken zu lassen. Je kräftiger und länger solche Fürbitten und Danksagungen vom Prediger gehalten werden, desto höher werden sie geschützt, und die Geistlichen haben davon, besonders in den wohlhabenden Gegenden, eine gute Nebeneinnahme. Man läßt nicht nur für Menschen, sondern auch für das Vieh beten, um schön Wetter, gute Ernte und Erhaltung von Besitz und Vermögen. Freigebig ist der Littauer nur gegen den Prediger. Das geistliche Amt und seine Inhaber stehen bei den Littauern in hohem Ansehen, sie geben ihren Seelsorgern gem und voll, was ihnen gebührt; Prozesse zwischen Pfarrer und Gemeinde, die in deutschen Distrikten nicht zu den Seltenheiten gehören, kommen im Littauischen fast gar nicht vor. Die Prediger sind in der Regel wieder Söhne von Predigern und heirathen gewöhnlich wieder Predigertöchter; die meisten sind nicht weiter als bis zur Universität, nie über Königsberg hinausgekommen, und oft befindet sich die Pfarre seit drei und vier Generationen in derselben Familie. Diesem Umstände ist es neben der Abgeschiedenheit von den Städten mit zu verdanken, daß sich Volksstamm und Sitten seit der Reformation fast vnyermischt erhalten haben. Doch beginnt unter den jüngeren Geistlichen die Fertigkeit, sich in littauischer Sprache zu unterhalten, schon abzunehmen. Das aber ist die erste Forderung, welche die National-Littauer an ihren Pfarrer stellen. Sie pflegen gern mit ihm einen Privatverkehr und lieben es, auch von weltlichen Dingen mit ihm zu plaudern, was denn manchen Neuling in nicht geringe Verlegenheit setzt. „Wie kommt es, fragen sie ihn, daß Du auf der Kanzel so schön und fließend sprichst, uns aber selber so schlecht verstehst und verkehrt antwortest?" Die Ursache liegt auf der Hand. Der junge Pfarrer ist gezwungen, die Predigt mit Hülse von Grammatik und Lexicon schriftlich abzufassen und sie auf der Kanzel einfach abzulesen oder auswendig zu lernen. Ereignete es sich doch in einer littauifchen Kirche, daß ein Kandidat, ein geborener Masure, die Kanzel bestieg und die Einleitung ganz ruhig in Manischer Sprache hielt; alsbald ging ihm aber das Littauische aus, und er, nicht verlegen, wußte sich zu helfen, sprang schnell ins Polnische über und fuhr darin bis zu Ende fort. Die Littauer meinten hinterher gegen ihren Pfarrer, der Herr habe wohl Französisch gesprochen. Weil dem Littauer das kirchliche Ceremonicll die Hauptsache ist, darf es nicht verwundern, wenn er zu katholischen Gebräuchen neigt. Veim Eintritt in die Kirche verneigt er sich stets gegen den Altar, er macht jedem Crucifix seine Reverenz und verrichtet alle Gebete knieeno. In einigen Gegenden ist es sogar Sitte, für verstorbene Angehörige von Zeit zu Zeit eine Predigt, sogenannte Lavonnische, halten zu lassen, was durchaus an die bei den Katholiken üblichen Seelenmessen erinnert. Noch mehr, der protestantische Littauer besucht auch wohl katholische Kirchen, läßt, um sicher zu gehen, Fürbitten und Danksagungen gleichzeitig auch von benachbarten katholischen Geistlichen abhalten und sich von ihnen Reliquien und Hostien geben, namentlich am Johannistage sich Johanniskraut einweihen, dem er cine gewisse Kraft zutraut. Was Wunder, wenn in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren sich längs der Grenze eine Menge katholischer Kirchen und Bethauser etablirt haben und die aus Polen herübergekommenen Kapläne zahlreiche Proselyten machen l W Auch ans dem Heidenthum hängt dem Littaner nock) mancherlei an, und der Aberglaube hat nnter dem gemüthsreichen phantasievollen Volke einen fruchtbaren Voden. Sie haben noch immer ihre Haus-, Schutz- und Plagegeister, denen sie Libationen weihen oder Salz in das Feuer streuen; sie sind reich an Gespenstern, Ahnungen und Vorzeichen und halten viel auf gute und böse Tage; Zaubereien gelte« bei ihnen für Glaubensartikel, und sie lassen nicht selten Hexen- und Teufelöbannereien vornehmen. Allein bedenklicher als solch' Aberglanbe ist die Sekte der sogenannten Mal-deningler, die über ganz Littauen verbreitet sind und zusehends an Anhängern gewinnen. Tie Geistlichen wollen die Bezeichnung als „Sekte" zwar nicht gelten lassen, indem jene Pietisten noch innerhalb der evangelischen Kirche stehen und sich zu ihren Glaubensartikeln bekennen. Auch besuchen sie regelmäßig den öffentlichen Gottesdienst, aber dieser ist ihnen nicht genug, sie halten noch ihre eigenen und häufigen Versammlungen, Surinkimmen genannt, in welchen das Singen, Beten und Predigen kein Ende findet. Als Redner treten Insvirirte auf, welche die Bibel nach ihrer Weise auslegen, die ganze Provinz bereisen und überall, wo sie hinkommen, die Frommen zusammenberufen. Diese Neiseprediger gehören gewöhnlich den untersten Schichten an, sind arme Handwerker und Tagelöhner, welche nun ein bequemes Leben führen, indem sie aller Orte aufs Beste bewirthet und auch sonst noch beschenkt werden. Die Maldeningker sind voll geistlichen Hochmuths, der sich besonders darin äußert, daß sie nicht selten auch den Geistlichen belehren und zurechtweisen wollen. So erzählte mir ein Pfarrer, die Maldeningker in seiner Gemeinde hätten ihn aufgefordert, in der Kirche beim Beten des Vaterunser das Knieen einzuführen. Einem anderen Pastor stellten sie sogar vor, wie er um seines Amtes willen das Tabackrauchen aufgeben müsse; und wirklich hatte er's eine Weile eingestellt, bis er sich denn doch ermannte und wieder zur Pfeife griff. Sie laden auch den Geistlichen zu ihren Versammlungen, damit er sich dort mit ihnen erbaue. Ein Pfarrer, der solcher Einladung gefolgt war, mußte viele Stunden aushalten wußte es ihnen aber einzutränken. Verschiedene Insvmrte hatten 129 endlose Betrachtungen und Ermahnungen gehalten, ein Dutzend Lieder war gesungen worden und Mitternacht herangekommen, bevor man daran dachte auseinanderzugehen. Aber nun erbat sich der Pfarrer das Wort, und ohne sich an die abgespannten Gesichter, an die müden Augen zu kehren, hielt er der Versammlung eine zwei Stunden lange Predigt, ließ dann noch ein paar Lieder singen und schloß um 3 Uhr Morgens. Diesen Pastor haben die Mal-deningker nicht wieder eingeladen, auch an dem Orte, da er wohnt, keine Surintimmas mehr gehalten. Es ist keine Frage, daß die „Frommen" und ihre Reise-prediger den Geistlichen Konkurrenz machen und diesen deshalb im Herzen zuwider sind, aber sie dürfen sich's nicht merken lassen, sondern müssen sie mit aller Schonung behandeln, denn das Konsistorium hat die Maldeningker in seinen Schutz genommen, ausdrücklich sie zu hegen und pflegen geboten. T3V VII. fittamsche Sprache und Dichtung. Wie der Herr Professor Schleicher nach Vittauen reiset und mit den Nttaucni lateinisch spricht. -^ Daß die littauische Sprache bei den Gelehrten in großem Ansehen steht, und daß sie wirtlich mancherlei Vorzüge und Schönheiten hat. — Von dem Epos, so einst Herr Christian Donaleitis verfasset und Herr Professor Nhesa iu's Deutsche übersetzet hat. — Von den Damos, so die Ättaucr uoch heute aus dem Stegreif erdichten und sogleich in Gesang setzen. — Wie ein littanischcr Platzmeister die Gäste invitirct und dabei mit seinem Pferd bis in die Stube und wieder hinaus reitet. — Wie weit die littauische Sprache noch heute gesprochen wird, und daß sie immer mehr verschwindet. — Zum Beschluß: Herr Oberlehrer Gisevius in Tilsit, der beste Freund der Mtauer, und was er für sie gethan hat. Im Sommer des Jahres 1652 reiste Professor August Schleicher, damals in Prag, jetzt in Jena, nach Littauen, um die dortige Sprache an Ort und Stelle zu studiren. Die Mittel dazu gewährte ihm die kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien. In dem Vorwort zu seiner 1856 erschienenen „Littauischen Grammatik" spricht er von dieser Reise fast wie von einer Expedition an den Nordpol oder in das Innere Afrika's, indem er der „großen Entbehrungen und Mühsale" erwähnt, die er dabei zu ertragen hatte. Solche Aeußerungen sind nicht geeignet, den Ruf, in dem die entlegene Provinz nun einmal steht, zu verbessern: im Gegentheil müssen sie das über Littauen schwebende Vorurtheil, das doch allein in der Unbekanntschaft mit diesem Lande seine Quelle hat, bekräftigen und besiegeln. Und es bleibt unerfindlich, worin Herrn Schleicher's „große Entbehrungen und Mühsale" eigentlich bestanden. Von Professor Nesselmann in Königsberg an den liebenswürdigen Superintendenten Jordan in Nagnit und von diesem weiter über das ganze Land warm empfohlen, fand er, wie er in derselben Vorrede anerkennt, während seines fünfmonatlichen Aufenthalts 131 überall die freundlichste Aufnahme und von den verschiedensten Seiten die hingebonoste Unterstützung. Aber auch nach Abzug der „großen Entbehrungen und Mühsale" bleibt ihm immer das Verdienst einer gründlichen Erforschung der alterthümlichen, für die Sprachwissenschaft sa hochwichtigen Sprache. Er kannte sie bis dahin nur aus Büchern, jetzt hörte und lernte er sie aus dem Munde des Volks selber, im Umgang mit dem gemeinen Mann, dem er, wie Luther es will, „brau auf's Maul sah". Cr miethete sich bei littauischen Lehrern ein, er wohnte in der Hütte des Bauern, in Dörfern, wo er tage- und wochenlang kein deutsches Wort vernahm und gezwungen war, mit seiner Umgebung in Manischer Sprache zu verkehren. So wurde er ihrer Herr und Meister, und gab als der Erste ihr eine wissenschaftliche Grammatik. Freilich mag sich der Professor aus Mitteldeutschland unter den noch immer etwas naturwüchsigen Littauern nicht ganz heimisch gefühlt haben. Manch kleines Abenteuer mag ihm auf seinen Wanderungen und bei seinen Besuchen passirt sein; wenigstens erzählen seine dortigen Bekannten noch heute gern folgendes Stückchen. Schleicher wohnte unter anderm auch bei dem Lehrer Marold in Kurfchcn, und pflegte mit diesem an Sonnabenden nach Pill-tallcn, der Kreisstadt, zu gehen. Pillkallen gilt für das littauifche Abdera, eine Menge Schnurren und Schwanke sind von ihm im Schwange, ob mit Rocht oder Unrecht, mag dahin gestellt bleiben: aber Schleicher sollte erfahren, daß dieser Ruf doch nicht so ganz ungcgründct ware. Tic Pillkaller mochten noch nie einen leibhaftigen Universitätsprofcssor gesehen haben, uud die Kunde, daß ein solcher jetzt ucm Zeit zn Zeit unter ihnen erscheine, brachte die ganze Stadt in Bewegung, Jedermann wollte ihn sehen, und Niemand so recht an ihn glauben. Wo Schleicher stand und ging, sah er sich von verwunderten, zweifelnden Augen angestarrt und verfolgt. Einer der Neugierigsten und zugleich der ärgste Zweifler war ein riesiger Ackerbürger. Als dieser einst sich im Wirthshause und, wie es mit ihm gewöhnlich war, in angeheiterter Stimmung befand, zeigte man ihm einen Fremden: „Siehe, das ist der Professor!" 9* 133 — Wo, wo? schrie er und stürzte vor. Die Persönlichkeit Schleicher's, der still und bescheiden in einer Ecke hinter seinem Viergwsc saft, mochte ihm nicht sonderlich im-poniren. Er lieft einen Ansrnf der Enttänschung hören nnd näherte sich gewichtigen Schrittes und mit durchbohrenden Vlicken dem Gelehrten. — Wollen doch 'mal sehen, ob der Kerl auch Latein versteht, murmelte er. Und nun suchte er die einzige Reminiscenz hervor, über die er seit seinem Abgang von Quarta noch verfügen konnte. — lie 8utor ultra crepiäam! rief er dem Professor zu, der vor Erstaunen keine Antwort fand. — Xe 8lü0l ultra crepiäam! donnerte Jener zum zweiten Male. Aber Schleicher schüttelte nur den Kopf und blickte besorgt umher. Da wandte sich der Andere voll Verachtung uon ihm ab und sprach höhnisch zu den Anwesenden: — Der Kerl will Professor sein und versteht nicht 'mal, wenn ich Lateinisch zu ihm rede. Ein Brodfresser mag er sein, aber nie und nimmer ein Professor! Erst hinterher erfuhr Schleicher, um was es sich denn eigentlich gehandelt habe, und als er wieder nach Pillkallen kam und wieder im Wirthshaus seinen Examinator traf, gedachte er sich bei ihm zu rehabilitiren, ging also auf ihn zu und redete ihn in elegantem Latein an. Diesmal war es der Riese, der die Antwort schuldig blieb. Der Professor fuhr fort, auf Lateinisch in ihn hineinzureden, -aber der Andere, der heute zufällig nüchtern war, starrte ihn nur groß an, als begreife er nicht, was man von ihm wolle. Schleicher sah sich endlich genöthigt, zum Deutschen zu greifen, und fragte in dieser Sprache: — Verstehen Sie mich denn nicht? — Ganz und gar nicht! erklärte Jener ruhig. — Aber Sie sprachen doch neulich Latein? 133 ^- Ja, sehen Sie, erwiderte der Pillkaller ohne eine Spur von Verlegenheit, Lateinisch sprechen wir hier zu Lande nur, wenn wir — betrunken sind. Die littauische Sprache (Ijetum^ka Kallia) gehört zum großen indogermanischen Sprachstamme. „Indisch und Persisch, Griechisch und Lateinisch, Slavisch, Littauisch und Deutsch, endlich die Celtisch genannten Sprachen", sagt Schleicher, „sind die Aeste (Familien) dieses Stammes. Slavisch, Littauisch und Deutsch sind besonders nahe verwandt und bilden ein Ganzes für sich; Slavisch und Littauisch aber gleichen sich in manchen Theilen der Grammatik und im Wortuorrathe so sehr, das; man geneigt sein könnte, sie für Glieder einer und derselben Svrachfamilie zu halten, doch besteht eine große Verschiedenheit in anderen Theilen des Sprachbaus. Das Littauische steht auf einer sehr alten Lautstufe, d. h. es hat sich von jenen lautlichen Veränderungen (Abschleifungen), welche im ^aufe der Zeit an den Sprachen sich zeigen, grösitentheils frei erhalten und überragt in dieser Beziehung namentlich seine slavische Zwillingsschwester: unter allen lebenden indogermanischen Sprachen zeigt es in seinen Lauten die bei weitem größte Alterthümlichkeit, daher seine hohe Bedeutung für die Sprachwissenschaft. In der Grammatik, wenigstens in der Konjugation, gebührt dagegen dem Slavischen der Vorrang." Zu den Sprachfamilien, in welchen das Littauische die erste Stelle einnimmt, gehört das erst in der zweiten Hälfte des 17ten Jahrhunderts untergegangene Preußische oder Altpreußische, dessen Heimath der Küstenstrich zwischen Weichsel und Memel war. Es stand dem Littauischen sehr nahe, fast als Dialekt zur Seite; in seinem grammatischen Bau Überragte es dasselbe sogar an Alterthümlichkeit. Zur Zeit der Reformation ließ Herzog Albrecht den Menschen Katechismus und die Agende in's Altpreußische über-aa"^"'/"" ^ ^"'^ Spl"che in jenen Gegenden damals noch, ^ '") verstanden wurde. Wenn neuere Forschungen es als unzwe.felhaft festgestellt haben, daß die alten Preußen mit ihren 134 Nachbarn, den Littauern, einerlei Abstammung und Religion, Kirchen- und Gemeindevcrfassung hatten, so zeigt jene uns erhaltene Uebersehung die größte Aehnlichteit auch zwischen beiden Sprachen, so dah beide ohne Schwierigkeit sowohl uon Littaucrn wie von Preußen verstanden werden mußten. Tie Wortstämme sind fast immer dieselben, eine Verschiedenheit tritt nur in den Endun-aen bervor. z. B. Eine dritte Sprache dieser Familie ist das Lettische, eine in Laut und Grammatik jüngere Sprache, die sich zum Littauischen etwa verhält, wie das Italienische zum Latein. Sie wird gesprochen in Kurland und dem größeren Theil von Liuland, außerdem vereinzelt, durch Ansiedler bei Memel und auf der Hturischen Nehrung. Die littauische Sprache wird gegenwärtig vom Volke noch gesprochen im nördlichen Theil Ostpreußens, und in weiterer Ausdehnung in den angrenzenden Theilen Rußlands. Eine Linie von Labiau am Kurischen Hass nach Osten bis Grodno, uon hier mit einer kleinen Ausbiegung nach Osten nordwärts bis in die Nähe uon Dünaburg und von da westwärts zurück an die See, etwa nach Libau, dürfte das Gebiet im Ganzen und Großen umschreiben.- Sowohl auf preußischem als russischem Gebiet theilt sich das Littauische in zahlreiche Dialekte, die wie bcim Friesischen und Plattdeutschen mit jedem Kirchspiel, fast mit jedem Dorfe wechseln, sich jedoch sämmtlich unter zwei Hauptdialekte bringen lassen: Hoch-und Niederlittauisch, oder Littauisch im engern Sinn und Zemaitisch. Zemaitisch, abgeleitet von />siM8, niedrig — braucht man gewöhnlich für jeden russischen Littauer, was jedoch nicht ganz zutreffend ist, denn auch auf russischem Gebiet scheidet man dem Libauer, im Süden, vom Zemaiten, im Norden; und auch das preußische Lit- Gott, preußisch Engel, -Dorf, Tochter, -Vater, Tag, Devvus, Angol, Cairao, Dockti, Tavve, Deyo, littauifdj Diewas; Angelas; - Kiemas; Dukte; - Tewas; = Diena. 135 tauen ist nur im kleineren Theile seines jetzigen Gebiets, nämlich südlich der Memel, hochlittauisch; der ganze Norden, jenseits der Memel, spricht zemaitisch oder niederlittauisch. Der Uebergang vom Hoch- zum Niederlittauischen ist ein allmäliger in der Richtung uon Süden nach Norden. Schon im Ragniter und Tilsiter Dialekte finden sich, nach Schleicher, Spuren des Zemaitischen im Vokalismus, bis endlich um Memel das letztere entschieden hewortritt. Der Unterschied usn Hoch- und Niederlittauisch vergleicht sich etwa dem von Hoch- und Plattdeutsch. Die in Rußland erscheinenden Bücher sind in verschiedenen Dialekten abgefaßt' für das ganze preußische Gebiet ist ausschließliche Schriftsprache das Hochlittauische. Wie littauische Sprache und Sitte sich noch am reinsten im Rag-nitschen erhalten haben, so gilt auch die dortige Mundart für klassisch. Hinsichtlich der Flexion und des Satzbaues zeigt das Littauische mancherlei Verwandtschaft und Uebereinstimmung mit dem Griechischen und Sanskrit. Philip Ruhig, ein älterer Grammatiker, wollte es geradezu aus dem Griechischen ableiten, wie er denn im Littauischen gegen 400 griechische Worte entdeckte-. aber seine Nachfolger haben bewiesen, daß eine noch größere Verwandtschaft mit dem Gothischen, Skandinavischen und Slavischen vorliegt. Deklination und Konjugation sind im Littanischen sehr ausgebildet; es hat außer dem Singular und dem Plural auch den Dual und einen zweifachen Ablativ, nämlich den Instrumentalis und Lokalis. Es hat die Partizipialkonstruktion, welche schon kleine Kinder anmuthig zu gebrauchen wissen, und die der Rede Schmuck und Wohllaut, Kürze und Schlagfertigst verleiht; z. B. NÄik8xc2in6aN8 sm!e, gehend fiel er; ?i!iwid»M5 imu^e, indem er zornig war, schlug er. Es ist reich an Wörtern für gewisse Begriffe, namentlich an Ausdrücken, welche sich auf Ackerbau, Zeiteintheilung und Blutsverwandtschaft beziehen. So heißt z. B. kuka» das ganze Feld mit Acker und Wiesen; lu'i-wa das Säcland; pelke das Un-land; äumdi/no schlammiges Land; puüim Brachacker; Kretins Mistacker; inlna Weideland; äi^ne Grasland; pieva Wiese; klonik eine kleine Wiese mitten im Acker; Me eine kahle Wiese, auf der 136 wenig wächst. Den Verwandtschaftsgrad können die Littaucr weit genauer bezeichnen, als wir im Deutschen; beispielsweise heißt des Vaters Bruders äeäiti, dessen Weib öc^ene, des Vaters Schwester äe6e, ihr Mann äeäeiw, der Mutter Bruder zwM«, sein Weib HwMiie, der Mutter Schwester tetta, ihr Mann tetten38, des Weibes Vater Ü8,wi8, des Weibes Mutter unne, des Mannes Vater 82e8?0lu8, des Mannes Mutter ann^ta, des Mannes Bruder äeweris, des Mannes Schwester ma8xa, des Weibes Bruder lHjss0iiil8, des Weibes Schwester 8nzine. Auch die Geschlechtsnamen werden bei Weib und Kindern abgeändert, die auslautende Endung nämlich bei der Frau in ene, bei der Tochter in ikke, bei dem Sohne in ull» verwandelt. Heißt der Name z. B. liain^, so wird die Frau stets Xa^uene, die Tochter l^nilcke, der Sohn K37NUK8 angeredet. Obgleich die Littauer kein eigentliches I a haben, sondern dafür die Frage theilweise wiederholen, so sind ihre Antworten doch kurz und bündig: Hr awenei? Hast du gebracht? ' /U antwortet der Littauer kurz. Hl j82külej? Hast du ausgedroschen? Die Antwort ist, 182. är nuejei? Bist du hingegangen? Die Antwort ist, Xu. Sie sind auch glücklich in der Zusammensetzung und Zusammenziehung von Wörtern; z. B. 823lt-mii-r78 ein Frostling, von 8xM frieren und milti sterben; 6»i8t^ien^8 ein Tagedieb, von ssl»i8ti, zu nichts kommen und öien», ein Tag: vienam pavan38, Glocke; u. s. w. Von Witz und Scharfsinn zeugen auch ihre Sprichwörter, deren sie gleichfalls eine Menge besitzen und die sie gern und häusig gebrauchen, z. B.: Dien 58 d»ne 6anti8, Dienn äÜ5 ir VÜ!M8: Gott hat Zähne gegeben, Gott wird auch Brod geben. 6ii't8 penkeis, 8xe8xei^ I^iromZ ne? >Vjelll,i8: Betrunken (führt man) mit Fünfen, Sechsen; nach dem Rausche nicht mit Einem (einzelnen Pferde). Uutm8ll, winHaz, l.'ma8. — Lang (ist des) Weibes Gewand, kurz (doch des Weibes) Verstand. ^82 ?0N8, tu ?0N8; Ka82 UK82 tX»8Lk'e? — Ich Herr, Du Herr; wer wird die Lischke (den Eß- oder Reisekober) tragen? (Nicht Alle können Herren sein). I.U2 I'M 2tjH', i)S8NlH at8t0/. — Die Krankheit kommt geritten, zu Fuß geht sie davon. Trotz des Wortreichthums ihrer eigenen Sprache mischen die Littauer doch mancherlei Fremdwörter in die Rede, theils gezwungen, um ihnen bisher fremde Begriffe zu bezeichnen, theils aber auch ohne Noth, in unbewußter oder bewußter Nachahmung. Wenn sie deutsch sprechen, lassen sie wie die Franzosen da^ H fort, wo es hörbar sein soll, und setzen es zu, wo es unnütz ist. Also sagen sie Aas statt Hase, und Haas statt Aas, Hochs statt Ochs, und And statt Hand. Pas F, welches sie in ihrer Sprache nicht haben, könne» sie auch nicht aufsprechen; daher sagen sie Peil !83 statt Pfeil, und Perd statt Pferd: und übersetzen Franz durch I'rmlc»«, Fritz durch ?licxkul<, Fähndrich durch ?eiMk8. „Man bedauert", sagt Schleicher, „daß eine solche Sprache zu Grunde geht, ohne eine Literatur zu besitzen, die an Form-volltommenheit mit den Werken der Griechen, Römer und Inder hätte wetteifern mögen." — Nur Ein Werk ist vorhanden, welches aber derselbe Gelehrte ein Meisterwerk nennt, und das auch nach dem Auöspruch anderer Sachverständigen ein Nationalwerk genannt zu werden verdient. Es ist das „Jahr", ein ländliches Epos in vier Gesängen, von Christian Donaleitis, genannt Doualitius. Der Verfasser, geboren 1714, starb 1780 als Pfarrer in Tolmingtehmen bei Gumbinncn und war ein Mann von vieler Gelehrsamkeit und mancherlei Anlagen. Der griechischen, lateinischen, hebräischen, französischen, littauischen und deutschen Sprache mächtig, hat er in allen diesen zu dichten versucht, wovon mancherlei Bruchstücke unter seinen hinterlassenen Papieren sich fanden. Als Lieblingswissenschaften hatte er sich die praktische Mechanik, Optik und Physik erkoren. Im Schleifen optischer Gläser war er sehr geschickt, und die Barometer und Thermometer, die er fertigte, lange Zeit berühmt. Eine gleiche Geschicklichkeit besaß er in der Anfertigung musikalischer Instrumente, von welchen eii Flügelfortepiano, das zweite der Art in Ostpreußen, sehr geschätzt wurde. Das erste ging aus der Werkstatt seines Bruders hervor, der als Mechanikus und Goldarbeiter in Königsberg angesessen war. Mit dieser Beschäftigung verband Donaleitis die Liebe zur Musik und große Fertigkeit im Spiel. Was wenigen Dichtern zu gelingen pflegt, gelang ihm: er komponirte seine Gedichte selber lind trug sie, wenn gute Freunde ihn besuchten, mit Feuer und Zartheit vor. Im Uebrigen frommen bescheidenen Sinnes, lebte er still und hauslich, ein echter Landpfarrer, seinem Amte und den Arbeiten seiner Mußestunden. Donaleitis scheint auch sein Hauptgedicht gar nicht für den Druck bestimmt zu haben, sondern beschränkte sich darauf, einige 155 Partien daraus vertrauten Freunden vorzulesen und abschriftlich mitzutheilen. Erst nach seinem Tode brachte die Wittwe die Handschrift mit anderen Papieren zu einem jungen Freunde des Verstorbenen, dem Superintendenten Jordan in Walterkehmen bei Gumbinnen. Dieser, obwohl er den Werth der Arbeit nicht verkannte, wußte damit doch nichts anzufangen und übergab sie erst zwanzig Jahre später dem Professor Nhesa in Königsberg, welcher sofort die ersten Gesänge ins Deutsche übersetzte und sie dann dem Freiherrn Wilhelm von Humboldt vorlegte, der damals als Vorstand des Kirchen- und Schulwesens zu Königsberg lebte. Humboldt nahm großes Interesse daran und ermuthigte Rhesa zur Fortsetzung. Doch die inzwischen eingetretenen Kriegsstürme unterbrachen die Arbeit und erst um 1818 wurde sie vollendet. In diesem Jahre erschien endlich das Gedicht nebst der deutschen Ucbersetzung von Rhesa und mit einer poetischen Widmung von diesem an Humboldt. Original wie Uebcrsetzung sind in Hexametern abgefaßt. Eine kritische Ausgabe des Textes nebst Glossar besorgte Schleicher 1805 auf Kosten der kaiserlich russischen Akademie der Wissenschaften. Das „Jahr" ist zwar ein didaktisches Epos, aber ein echtes Volksgedicht. Es schildert die Sitten u'ib Gewohnheiten, das Leben und Treiben des littauischen Landmanns, vornehmlich seine Arbeiten und Ergötzungen im Verlaufe der vier Jahreszeiten. Die dialogische Form ist vorherrschend, nnr selten tritt die rein epische Art des Vortrags ein. Alle Beschreibungen, Lehren und Erzählungen werden den sich unterredenden Bauern in den Mund gelegt; die Verglcichungen und Bilder sind alle aus dem Kreise des Landmanns hergenommen, nur selten kommen Anspielungen auf nordische Mythologie und auf die Geschichte der littauischcn Vorzeit. Der Schauplatz ist ein Amtsbezirk in Oberlittanen, welcher mit ausländischen Kolonisten stark vermischt erscheint. Eine sanfte Trauer in: die im Entschwinden begriffene gute alte Ieit, die Klage über das Hereinbrechen von Neucruna/n, und über die unter den Landöleuten des Dichters stark herrschende Sucht, fremde Sitte und Tracht nachzuahmen — geht durch das ganze Epos und findet 140 an verschiedenen Stellen kräftigen Ausdruck, namentlich in folgenden Versen, die in dieser Hinsicht wohl dem Ganzen als Motto dienen könnten: Doch, seitdem die Welt auf Verschwendung sann und auf Großthun, Und sich der Littaucr Stamm mit dem deutschen Geschlechte vermischt,. War alle Tugend dahin, verschwunden auch jeglicher Anstand, Daß nun die jungen Männer die Bastsohlenschuhe, die edlen. Und die Iungfraun nicht die bunten Marginnen mehr leiden Konnten; dic Burschen vielmehr wie Herren mit zierlichen Stiefeln, Und leichtfertig die Dirnen in kurzen Röcken sich zeigten. Nicht mehr schämten sich diese, wie Fräulein geputzt zu erscheinen, So ging leider, die Tugend des Littauer-Volkes verloren! (II, Gesang, Vers 307 — 316: Ucbersetzung von Rhesa.) Außer dem „Jahr" hat Donaleitis noch P^8ak08 oder Fabeln, wieder in Hexametern, gedichtet, die gleichfalls von Nhcsa über-seht und im Jahre 1824 herausgegeben sind. Von einer littauischen Literatur kann nicht gut die Rede sein, da die littauische Sprache erst Ende des 16. Jahrhunderts zur Schriftsprache erhoben wurde; nämlich durch eine littauische Uebersetzung des Katechismus, welche nur wenige Jahre später als die altpreußische Uebersetzung erfolgte. Haben es die Littauer aber nicht bis zu einer Literatur gebracht, so besitzen sie dafür eine alte Volkspoe sie, und dieser Quell sprudelt noch heute frisch und ergiebig. Zahlreiche Dainos oder Volkslieder haben sich auf dem Wege der mündlichen Ueberlieferung von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt, und täglich entstehen neue. Derjenige, welcher sie zuerst der literarischen Welt empfahl, war kein Geringerer als Lessing. „Es ist nicht lange, sagt er in den Literaturbriefen (Thl. 2, S. 241), daß ich in Ruhig's littauischem Wörterbuche blätterte und am Ende der vorläufigen Betrachtungen über diese Sprache eine hierher gehörige Seltenheit antraf, die mich unendlich vergnügte. Einige littauische Dainos oder Liederchen nämlich, wie sie die gemeinen Mägdlein daselbst singen. Welch ein naiver 141 Witz, welch reizende Einfalt! Man kann hieraus lernen, daß unter jedem Himmelsstriche Dichter geboren werden, und daß lebhafte Empfindungen lein Vorrecht gesitteter Völker sind." Am Ende äußert Lessing den Wunsch, daß Ruhig doch mehr solcher Liederchen liefern möchte, aber der fromme Mann, dem diese Aufforderung nicht einmal zu Gesichte gekommen fein mag, hat es nicht gethan. Nach feinem Vorgang machte Herder in den „Volksliedern verschiedener Nationen" (Leipzig 1779) einige Dainos in der Uebersetzung bekannt. Die erste größere Sammlung, im littauischen Originaltext mit gegenüberstehender Ueber-tragung in's Deutsche, veranstaltete wieder Rhesa (Königsberg 1635; neue Auflage Berlin 1843). Außer ihm haben namentlich P. von Bohlen, Gifevius und Nefselmann zahlreiche Dainos, zugleich mit der Melodie, gesammelt, übersetzt und in den «Preußischen Prouiuzialblättcrn" mitgetheilt. Die Tainos sind gröhtentheils erotischer Gattung. Sie besingen die Empfindungen der Liebe, fchildern das Glück des häuslichen Lebens und stellen die Verhältnisse zwischen den Familiengliedern in einfacher Weise uor Augen. In dieser Hinsicht bildet die ganze Sammlung gleichsam einen Cyklus der Liebe, von ihrer ersten Veranlassung durch die verschiedensten Abstufungen bis zu ihrer Vollendung im ehelichen Leben. „Alle dicfe Verhältnisse sind in so mannigfaltigen Formen dargestellt", sagt Rhesa etwas überschwenglich im Vorwort zu feiner Sammlung, „das; ich nicht weiß, ob eine europäische Nation vorhanden ist, welche die Liebe der Nauernhütte in so vielseitigen Brautliedern ausgemalt hätte." Das Erwachen der jungen Liebe, ihre Freuden und Leiden, heimliche Zusammenkünfte, verzehrende Sehnsucht, Flucht oder Entführung, Reue und Schande: alle diefe Empfindungen und Situationen finden in den Dainos ihren Ausdruck. — Bei der Quirdel klagt das Mädchen: Rauschet, rauschet, ihr Mühlensteine! Mir däucht, nicht malt' ich alleine. Warum verfielst Du, o schöner Jüngling, Auf mich, armseliges Mädchen? 142 Du wußtest ja wol, o Herzen sjüngsina,, Daß ich nicht im Hofe st^e. Bis an die Kniee hinein in Sümpfe, Bis an die Achseln hinein in'») Wasser — Armselig meine Tage! Der Bursche reitet zur Braut und fröhlich singt er: Lauf, o Hcngsslein, du men, Brauner Bis zu Schwiegervaters Höfchen. Da kommt das Mädchen vom Rantengarten, DaS Kränzlein flechtend. Elel, her betrachtend, Du zartes Mägdlein, Wie mein Noß erzittert. So wirst Du zittern, wann Du im Brautkranz An meiner Seite stehst. Wie rührend tönt die Klage der Waife: Sie sandten mich zum Walde, In'S Wäldchen hin nach Beeren. Die Beeren hab ich nicht gelesen, Die Heidelbeeren nickt gepflücket. Ich ging hinauf dm Hügel, Zu meiner Mutter Grabe. „Wer weint um mich da oben? Wer tritt auf meinen Hügel?" „„Ich, ich, o liebe Mutter, Einz'ge, die Verwaiste. Wer wird mein Haar nun kämmen? Wer meine Lippen waschen? Wer reden LiebeSwortc?"" Eine wichtige Rolle spielt in den Dainos wie in den Gebräuchen der Littauer die Raute. Sie vertritt bei ihnen die Stelle der Myrthe und Rose. Beide sind wegen des rauhen Klimas selten-. die Mädchen begnügen sich mit Raute, welche durch die Lebhaftigkeit ihres Grüns und die Dauer ihrer Farbe sich empfiehlt. Aus Raute stechten die Jungfrauen ihre Kränze. Sie ist das Bild der Liebe und Unschuld; der Jüngling beschenkt damit seine Geliebte, und in jedem Garten wird sie mit Sorgfalt gezogen. Von tiefer Bedeutung ist deshalb folgende Daina: 143 Als ich ging in den Rautengarten, Sauen Fünfe, Sechse auf mich. Als ich kam aus dem Nauiengarten, Hoben Fünfe, Sechse den Hut empor. Als ich tanzte mit meinem Gesellen, Trugen sie mich auf den Händen. Ais ich tanzte mil frischen Gesellen, Waid mir baS wnße Schürzlein zerrissen. Niemand fragte: Weß ist das Mägdlein? Warfen mich alsbald in den Winkel Beliebt ist die Gesprächsform, welche den Liedern dramatische Lebendigkeit und Bewegtheit giebt. Die Tochter erzählt der Mutter: Krieger zogen schmuck und sckon, Riefen mich wohl mitzugeh». Die Mutter antwortet: Geh nicht, Töchterlein, Du so jung und fein! Wo bleibt bann der Rautenkranz, Der so grün und schön von Glanz?! Häusig ist auch der Refrain, der das Lied erst zum Liede macht, gleichsam zum Singen auffordert. Z. B.: Ein Reiter ,l>g mit in den Krieg. Die Liebste ward traurig und siech. Steh auf, Geliebte, du Tiefbetrübte! Hast noch nicht ausgeruht?! Schon liegt auf der Aahre die Braut, Der Liebste ruft jammernd und laut: Steh auf, Geliebte :c. Man senkt' in die Gruft bald die Braut, Der Liebste glaubt's nicht, er ruft laut: Tteh auf, Geliebte ic. Was die Daino's besonders auszeichnet, ist der hohe Grad von Naivetät, der aus ihnen spricht und den eine Uebertragung nur sehr mangelhaft wiederzugeben vermag. Diese Naivetät ton« 144 trastirt oft nicht wenig mit unserer modernen Anschauung. So lautet eine Daina: Ich hatt' ein junges und umthigeS R»ß, Das lrug mich durch Thäler und Höhen, Gs sprang übcr'S Vächlein, das reißend fiuß, Es schwamm hinüber die Seeen- Ich hatt' ein Mädchen jung und fein, Die konnte nicht spinnen noch weben. Die spann nicht zartig die Fädelein, Sie wob die Linnen nicht eben. Da hatt' ich ein Reislein aus Birkengrün, DaS Reislein war schlankig und eben, DaS lehlte mein junges Mägdelein Wohl feiner spinnen und dichter weben. Doch findet sich trotz der schlichten Natürlichkeit nirgends ein unästhetisches Bild, ein Ausdruck, der den Geschmack beleidigt: vielmehr weht in allen Tainos die reinste Sittlichkeit, die Achtung für das Anständige und Schickliche, eine Zartheit und Innigkeit der Empfindung, die jedes Herz bezaubert. Dieser süße Reiz, dieses sanfte einschmeichelnde Wesen liegt theilweise auch in der Menge von Diminutiven, deren Häufung im Deutschen das Ohr beleidigen würde, und die deshalb unübersetzbar sind. Nicht nur fast jedem Substantiuum, sondern auch vielen Verben wird in der Daina die Diminutivendung gegeben, besonders deshalb, weil es Rhythmus, Metrum und Reim erleichtert und die Sangbarkeit erhöht. Daher ist auch das Improuisiren im Littauischen nicht schwierig. Vei dem geringsten Vorfall erdichten Erwachsene und Kinder aus dem Stegreif kleine Lieder nebst der Melodie dazu. Ein Jeder aus der Gesellschaft muß der Reihe nach einen neuen Vers erfinden, und man sieht Niemand deshalb in Verlegenheit gerathen. Wie in der gewöhnlichen Rede des Littauers, blicken auch aus einigen Dainos Witz, Spott und Schalkheit auf, und in allen muß man die Präzision und Feinheit, ja Eleganz des Ausdrucks bewundem. Feine Anspielungen, treffende Vergleichungen, zierliche 145 Wendungen sind, Dank der Partizipial-Konstruktion, häusig- und dazu kommt oft ein lyrischer Schwung, ein Feuer der Empfindung, das um so mächtiger wirkt, als, wie schon gesagt, rührende Einfalt den Gnmdton bildet. Ein paar Beispiele werden das bestätigen. Tie Mutter fragt ihre auf Besuch gekommene Tochter: Liebe Tochter, Cimonene, Wo erhieltest Du ben Knabe»? Und jene antwortet: Mutler, Mutter, meine Eh«, Durch die Träume kam er. In der Dama, welche die Heimführung der Braut besingt, heißt es: „Warum lehnest Du Dich hin, mein Mädchen, Warum aufgMht, mein junges Mädchen? Sind „icht liolde Jugend Deine Tage, Ist nicht leicht und frisch Dein junges Herze?" „„Sind gkich holde Jugend meine Tage, Ist auch frisch und leicht mein junges Herz noch: Dennoch ist mir leid um diese Tage — Hcule geht zu Ende meine Jugend."" Ill eiuer andern spricht der Liebhaber: Und ich will pflücken zwei schöne Aepfel Und will sie ftnden dem lieben Mädchen. Nicht selber will ich sie tragen. Auch keinem Andern geben; Dem Südwind will ich sagen, Daß er sie hinüberwehe. Und welch tiefergreifende Wirkung oft durch die einfachsten Mittel erreicht wird, dafür mögen folgende Verfe sprechen: Da ließen sich hernieder Drei weiße Schwäne Dort auf des Jünglings Grab. 10 146 Gin Schwan zu ssüßen. Ein Schwan zu Haupte, Vin Schiv.ni zm- Seite. Die Vraut zu Füßen, Die Schwester zu Haupte, Die Mutter an der Seite. Die Braut betrauerte Ihn drei Wochen lang, Die Schwester drei Jahre. Und ach, die Mutter, Die Hochehrwürdige, So lang ihr Haupt am Leben war. Eine dritte Eigenthümlichkeit der Dainos ist ihre sanfte Melancholie, jene süße und wehmüthige Sehnsucht, wie sie aus den Ossian'schen Gesängen ertönt. Die Liebe selbst hat kaum einen Namen und ist noch das heilige unaussprechliche Geheimniß der Natur. Von Kuß, Händedruck, verstohlenen Blicken ist hier nirgends die Rede; nirgends eine Schilderung der Schönheiten und Reize der Geliebten. Sogar die in der Umgangssprache üblichen Ausdrücke Ue!ulÜ8 Liebhaber, Uleliw8a8 der Liebste, .Immikkez Vräutigam — kommen in den Dainos nicht vor; statt dessen heißt es immer nur 8ern?ti8 das Knechtlein, und ihm, dessen Liebe so wahr und innig ist, daß er sich einer langen Prüfung, einer langjährigen Dienst-barkeit bei dem Vater der Geliebten unterwirft — nur ihm ertönen die Lieder. Desgleichen findet sich auch kein eigner Ausdruck für Gattin oder Ehefrau, sondern es wird dafür die weibliche Form von M'8 — Mi, d. h. selbst — gebraucht. Mithin nennt der Littauer die ihm Angetraute: sein Selbst, sein Ich. Die Mehrzahl der Dainos ist erotischer Gattung; andere besingen den Frühling, die Lerche, den Garten, Ackerbau und Fischfang, das Roß; nur wenige sind Trink- und Kriegslieder. Viele haben ein lokales Interesse und knüpfen sich an bestimmte Orte, die ausdrücklich genannt werden, z. V. au Ruß, Warruß, Pokalna, Klaipeda (Memel); oder lassen doch die Gegend errathen, wo sie entstanden sind. Seltener läßt sich dagegen die 147 Zeit ihrer Entstehimg bestimmen. Eigentlich historische Lieder finden sich wohl bei den russischen Littaueru, wo die Heldenthaten ihrer ehemaligen Großfürsten im Gesänge leben; aber fast gar nicht unter den Bewohnern des preußischen Antheils. Nur ausnahmsweise heißt es in einer Daina: Heute trinken wir Alu5; Morgen zieh'n wir wandernd In baS Land der Ungarn. In einer anderen: „Mein Sohn soll Hetmann werden." Und in einer dritten i Als wir zogen nach DanzigS Stadt, Erzitterten die Mauern DanzigS. Als wir zogen in Danzigs Stadt, Erzitterten die Herren DanzigS. Doch scheinen die Befreiungskriege, die fast jedes europäische Volt in Begeisterung versetzten, auch auf die littauifche Muse eingewirkt zn haben, und Dainos wie Was klagie der Vatcr. der Vcjahrte? Or lirß dcn Sohn hmaus i,-'S Feld zieh'n — schreiben sich wohl aus jener Zeit her. In vielen lebt noch das Heidenthum, die alte Mythologie. — Die Bekehrung der Littauer zum Christenthum fällt erst in den Anfang des 15. Jahrhunderts; und vor200Iahren fand Prätorius, wie er in seiner „Preußischen Schaubühne" meldet, noch viele heidnische Gebrauche in der Gegend von Insterburg. Kein Wunder, wenn die heidnischen Gottheiten noch heute in den Sprichwörtern und Liedern der Littauer auftauchen. — „Hat Pcrtun gedonnert, mit Blitzen geschlagen?" fragt eine Taina; und andere erwähnen Zemyna's, der Erdmutter und des Wellengotts Bangvurns. Desgleichen erscheint, wie in der Edda, auch in den Dainos die Zahl neun als eine charakteristische Zeitbestimmung-. wogegen die Eintheilung von sieben Tagen und von Wochen gar nicht vorkommt. 10* 143 Sehr merkwürdig, wcil sie einerseits unzweifelhaft dem ältesten Heidenthum entstammt und andererseits eine ausfallende Aehnlich-teit mit dem bekannten Gedicht von Heine zeigt, ist folgende Daina: Es nahm der Mond die Sonne, Da war der erste Frühling. Die Sonne stand schon früh auf. Der Mond verbarg fich scheidend. Der Mond wandelte einsam, Gewann dcn Morgenstern lieb. Darob eigrimmte der Donnergott, Zerhieb ihn mit dem Schwerte. Die Versart, in welcher die Damos abgefaßt sind, ist sehr verschieden. Einige haben cm jambisches, andere ein trochaisches, noch andere ein daktylisches, die meisten ein gemischtes Metrum, und die Versart steht immcr in genauer Verbindung mit der Melodie. Im vorigen Jahrhundert war unter den Littauern noch viel die K antlys verbreitet, eine Art von Harfe, die sie selbst anfertigten, und auf der sie ihre Lieder begleiteten. Jetzt ist sie selten geworden, von der Geige verdrängt. Diese ist in den meisten Häusern anzutreffen und wird bei Gesang und Tanz stets hcruorgesucht und von den Burschen nach Baucrnmanier gespielt. „Die Melodie", sagt Rhesa, „ist der schwierigste Theil bei Darstellung des Mariischen Volksliedes, weil sie sich gar nicht in die Fesseln der Kunst fügen will. Vei der Aufzeichnung und Abfassung in Noten geht das Schönste verloren. Gleich dem Vogel-gesange entschlüpfen die plötzlichen Aufsteigungen, die schnellen Abfälle, die sanften Verfchwebungen. Es ergehet dem Sammler der Volkslieder bei Aufzeichnung der Melodie ebenso, wie beim Aufsetzen des' Tertes. Der Vorsingende ist in dem Augenblicke, wo der Aufzeichnende ihn absichtlich anhört, wie gelähmt. Schüchternheit und Zurückhaltung bewirken, daß man aus seinem Munde nur triviale Sachen erhält. Viel glücklicher geht die Gewinnung von Statten, wenn man das fröhlich singende Volk unbemerkt belauscht, an ihren festlichen Versammlungen, ohne die Absicht zu 149 erkennen zu geben, Theil nimmt und das Gehörte nachher aufzeichnet." — In der That hat Rhesa, obgleich ein geborener Littauer und aus dein Volk hervorgegangen, es nicht besonders verstanden, an der Quelle zu schöpfen, mit den Bauern unbefangen zu verkehren, und seine Aufzeichnungen beruhen größtentheils auf den Mittheilungen Dritter. In dieser Hinsicht überragt ihn namentlich Gise-uius, auf den ich zum Schluß zurückkomme. Eine besondere Art der Dainos, aber in Ton und Metrum ihnen gleich, bilden die Mysles oder Räthsel lied er. Eins davon ist in der freien Bearbeitung von Rhesa sehr bekannt geworden; es heißt Wintermai und Sommerschnee und lautet wie folgt: Als die Mutter*) jüngst mich schalt, Sprach sie: geh hinaus zum Wald, Hole mir bei Wohl und Weh, Wintermai und Sommcrfchnee. Trauernd irr' ich auf den Höh'n, An den Wäldern, an den Seen, „Kluger Hirt, o sag' mir an, Wo ich beides finden fann!" „„Willst Du gut und treu mir sein, Deinen Ring zum Pfande weih'n. kehl' ich bi.-ses Räthsel Dich, Frommes Mädchen, höre mich."" „Gut und treu will ich Dir sein, Diesen Ring zum Pfande weih'n. Sprich, wo find ich auf der Höh' Wintermai und Sommerschnee?" „„Geh zum grünen Tannenhain, Brich Dir ab ein Zweigelcin, Sprich z»r Mutter ohne Scheu: Tanmngriln ist Wimermai. Geh zum bernsteinreichm Slrand, Echcpfc Dir mit Lilimhand Wellenschaum von blauer See: ___ Wtllmschaum ist Soinmerschnee."" *) Die böse Stiefmutter. 1st) Von den Dainos unterscheiden sich die Giesmes oder religiösen Lieder, wie die Zeitwörter <1»M0ti: weltlich singen und AeMi: geistlich singen. Die Gicsmes bezwecken theils Belehrung — weshalb zu ihnen anch die ^lew-I.Mli! oder Jahreszeiten des Donaleitis, sowie die Pa83ko8 oder Fabeln gerechnet werden: theils wollen sie erbauen. Im letzteren Fall sind sie Giesmes im eigentlichen Sinne, werden von den 8x>vent^'i8 oder Frommen gedichtet und athmen den Geist der evangelischen Kirchenlieder. Sie weichen deshalb in Metrum, Stil und Melodie ganz von den Dainos ab, aber es finden sich auch unter ihnen originelle und poetische stücke. Am seltensten ist eine dritte Gattuug der littauischen Volkslieder, die Raudos oder Todtenklagen, welche die Sehnsucht nach geliebten verstorbenen Personen ausdrücken. Es klagt z. B. die Verwaiste auf dem Grabe der Mutter: Wer wird mir nun wärmen Hände und Füße, Wer wird das Haupthaar mir kämmen? Wer wird die Lippen mir waschen. Wer zu mir reden Wörtlein der Liebe! Oder die Dorfmädchen betrauern den Tod ihrer Freundin: Warum bist Du gestorben. Hattest Du nicht eine liebe Mutter? Warum bist Du gestorben, Hattest Du nicht eine geliebte Tchwestcr? u. s. w. Diese Gattung, mit den alten Begräbnißfeierlichkeiten aus dem Heidenthum herrührend, scheint sich, durch die christlichen Gebräuche verdrängt, fast ganz verloren zu haben. Daß die alten Preußen ähnliche Klagelieder bei ihren Begräbnissen hatten, erzählen die meisten Chronisten: es ist das wieder ein Beweis, wie viel Verwandtes und Gemeinsames in Sprache, Religion und Sitte zwischen den Littauern und den alten Preußen obwaltete. Beide Bruderstämme sind überhaupt von einander nicht zu trennen. Endlich besitzen die Littauer auch noch sogenannte Sprüche. Es sind theils Trinksprüche, theils Einladungen zu Familien- und anderen Festlichkeiten: entweder in Prosa oder in Versen abgefaßt, entweder hergebrachte Reden oder auch Improvisationen. In 151 ihnen spiegelt sich gleichfalls der poetische Sinn dieses Volkes, sein lerniger Witz und seine blühende Laune. Eine Probe mag genügen. Die Einladung zur Hochzeit wird gewöhnlich durch den nächste» Verwandten oder besten Frennd des Bräutigams überbracht. Ter Platzmeister, wie er in Ostpreußen überhaupt heißt, da ihm die Oberleitung des ganzen Festes obliegt — ist stets beritten; Reiter und Pferd mit langen bunten Bändern aufgeputzt. Wo er nun hinkommt, da wartet er nicht, bis ihm das Heck- oder Hofthor aufgemacht wird, sondern er setzt mit dein Pferde hinüber und ebenso über die untere Hälfte der Hausthür; er reitet bis in die Wohnstube, wo sich die ganze Familie sammt dem Hausgesinde lachend aber doch erwartungsvoll um ihn schaart, und vom Sattel herab bringt er jetzt seinen Spruch an: Z. B. *) „Guten Tag, guten Tag, meine lieben Freunde! Nehmt nicht übel, daß ich so dreist ins Hans geritten, nicht nur in's Haus, sondern auch in die Stube. Ich junger Platzmeister und mein junges Pferd; das Pferd hat vier Füße und stolpert, und meine einzige Zuuge verfehlt und erholt sich auch wieder. Ich grüße Euch vom Bräutigam und der Braut und lade zur Hochzeit auf Freitag. Den Martin zum Marschall, die Anna. zur Brautjungfer, und die Uebrigen alle zum Abende; wer einen Löffel und eine Gabel aufheben und einen Krug Allauö austrinten kann. Wir werden reisen aus des Hochzeitsvaters Hause ins Haus Gottes, aus dem Gottteshause in des Königs bunten Krug (Wirthshaus); dort werden wir tanzen und froh leben, Jeder für seinen Groschen. Aber beim Zurückkehren in des Hochzeitsvaters Haus finden wir weiße Tische, bunte Kruge, umflochten, verziert und mit Allaus gefüllt. Dort finden wir Gekochtes und Gebratenes, Essen und Trinken; für unsere Pferde Brücken von Eschen und Krippen von Eichen, mit Hafer angefüllet. — Nicht weit bin ich gereiset, nicht viel hab' ich gelernet; wenn ich wcrdc weiter reisen, werde ich auch mehr lernen. Für mich jungen Platzmeister ein Hemde; wenn uicht ein Hemde, dann ein Handtuch; wenn nicht ein Handtuch, *) Mitgetheilt von, Vchrer Döhring aus Mzballcn bei Mthlauglen; in den „NtUM Pr«uh. Prou.-Blättern", Vand 5. (Jahrgang 1848). 152 dann ein Paar Beinkleider-, wenn nicht ein Paar Beinkleider, dann ein Hosenband; wenn nicht ein Hosenband, dann ein junges Mädchen: wenn nicht ein jungem Mädchen, dann ein Blümchen an den Hut. Mit Gott, mit Gott, meine lieben Freunde!" Der einladende Platzmeister wird nämlich in jedem Hause nicht nur mit Speise und Trank bewirthet, sondern außerdem noch beschenkt, ssewohnlich mit einem Stück Leinwand oder mit landen Handtüchern, die er sofort um den Banch oder Hals des Pferdes windet. Er steigt gar nicht ab, sondern ißt und trinkt im Sattel, nimmt auch dort die Geschenke in Empfang nnd sprengt jauchzend und singend von dannen, wie er gekommen ist. Im preußischen Littauen sind Sprache und Nationalität schon tief herabgedrückt und fast ausnahmslos auf die unteren Volksschichten beschränkt. Besonders im Süden des Sprachgebiets ist das Littauische in raschem Aussterbcn begriffen. Die Kreise Inster-burg, Gumbinnen, Dartehmen, zu Ende des vorigen Jahrhunderts fast noch durchaus littauisch, sind nnnmehr beinahe gänzlich deutsch geworden. In den Kreisen Stallupönen, Pillkallen, Tilsit, Ragnit, Niederung und theilweise auch Labiau, sind ebenfalls die wohlhabenderen Leute und die Bewohner der Pfarrdörfer meist schon deutsch, die Bevölkerung im Ganzen jedoch noch vorherrschend littauisch. In den Kreisen Hendekrug und vor allem Memel ist das littauische Element am stärksten vertreten. Die Städte sind sämmtlich deutsch. Nach den in Ruhland erscheinenden littauischen Büchern, besonders nach dem littauischen Kalender zu urtheilen, muß dort die Sprache noch die wohlhabendere und theilweise gebildete Bevölkerung umfassen. Im Preußischen werden in littauischer Sprache nur die gewöhnlichen Religionsbücher und Erbauungsschriften ge-drnckt: außerdem erscheinen zwei Wochenblätter: der konservative „keiemiä" (Pilger), herausgegeben von Prediger Kurschat in Königsberg; und seit 1663, um diesem die Wage zu halten, der in liberalem Sinne redigirte „I.ietu^illillliü ?»8la8" (Littauer 153 Vote) zu Heydetrug. Beide Blättchen werden viel gelesen und namentlicli übt das erstere großen Einfluß. Mit der Sprache schwindet auch die Tracht und das Wesen der Littauer. Tic Zahl derjenigen, welche ihrer Muttersprache noch treu geblieben sind, sie noch ausschließlich oder doch hauptsächlich reden, mag zur Zeit im Preußischen kaum 150,000 betragen; und dieses Häuflein schmilzt, wie dao der Norbfriesen, sichtlich zusammen. Mit jedem Jahr dringt das Deutsche weiter vor und gewinnt unter den Littauern neue Anhänger. Der Ursachen dafür giebt es mehrere. In den Schulen wird nur der Religionsunterricht in littauischer Sprache ertheilt; alle Kinder müssen auch deutsch lernen, es lesen und schreiben, wenigstens es sprechen und verstehen lernen. Eben so sehr wie die Schule arbeitet die Militärpflicht dem Deutschen vor; jeder Littauer, der zum Heere eingezogen wird, kehrt mit einer mehr oder weniger ausreichenden Kenntniß deutscher Sprache und deutschen Wesens zurück, er ist fortan seinen Landsleuten gegenüber stolz darauf, dünkt sich darum gescheiter und vornehmer als sie. Und selbst wenn der Littauer seine Heimath nie verläßt, er kann sich gegen deutschen Einfluß und deutsche Eroberung doch nicht absperren. Schon in der nächsten Stadt, wo er seine Einkäufe macht und seine Produkte zu Markte bringt, umschwirren ihn auf Schritt und Tritt deutsche Worte; schon aus Mißtrauen, um im Verkehr und Handel wie vor Amt und Gericht nicht überuortheilt zu werden, sieht er sich gezwungen, Deutsch zu erlernen. Selbst in sein Dorf dringen deutsche Kolonisten; es giebt schon keinen Ort mehr, der ausschließlich von Nationalüttauern bewohnt ist; überall haben sich Deutsche eingenistet, und namentlich von den größeren Vaucrhöfen geht, zum Segen der Landwirthschaft, einer nach dem andern in den Besitz von Deutschen über, die mit mehr Kapital und Intelligenz an die Stelle der verschuldeten und durch ihre sprüchwörtliche Prozeßsucht ökonomisch zurückgekommenen Ureinwohner treten. Selbst mit seinem Pastor und Schulmeister kann der Littauer nicht immer in seiner Muttersprache verkehren; denn wie schon früher angeführt, sind Geistliche und Lehrer, die das Mauische 154 wirtlich beherrschen, auch außerhalb ihrer Aintsverrichtungeu fließend zn sprechen vermögen, nur noch selten anzutreffen. Die Manische Sprache und Nationalität ist in raschem Untergehen begriffen; und die Littancr haben das Bewußtsein davon, sie kennen ihr Schicksal und ergeben sich darin. (5ö ist fraglich, ob man nach hundert Jahren im preußischen Antheil noch eine Predigt in Manischer Sprache vernehmen, ob dann noch ein Kind Manisch unterrichtet werden wird. Darum ist es hohe Zeit, das untergehende Volk zu studiren und von ihm zu sammeln, was noch vorhanden ist. Das aber hat sich Ein Mann gewissermaßen zur Lebensaufgabe gestellt, und von ihm will ich jetzt sprechen. Schon ehe ich nach Tilsit kam, hatte man mich an verschiedenen Orten auf den dort lebenden Oberlehrer Gisevius als auf den gründlichsten Kenner des littauischen Voltsthums aufmerksam gemacht, und mir dringend empfohlen, ihn aufzusuchen; selbstverständlich zögerte ich nicht, mich ihm vorzustellen. Es war im August an einem Nachmittage, als ich zu Herrn Gisevius ging. Er wohnt am Ufer der Memel, in dem alten verwitterten Pauperhause, als dessen Inspektor er fungirt. Die Oekonomin der Anstalt wies mich in ein Zimmer, das sofort meine ganze Aufmerksamkeit fesselte. Groß und geräumig, bestand seine hauptsächlichste Ausstattung in einem alten Klavier und in einer Unzahl von tolorirten Zeichnungen, die, nur zum kleinsten Theile unter Glas und Rahmen, sämmtliche Wände von unten bis oben bedeckten: dermaßen, daß nirgend auch nur eine Handbreit Zwischenraum geblieben war. Selbst auf Tischen und Stühlen, ja auf dem Fußboden lagen haufenweise ähnliche Abbildungen, und als ich sie durchmusterte, erkannte ich, daß sie sämmtlich theils Mauische Landschaften, theils Scenen aus dein Manischen Volksleben darstellten. Meine Betrachtungen wurden dnrch die nach und nach her« einkommenden, aus der Schule heimkehrenden Pauperes unterbrochen, und dann erschien auch ihr Lehrer und Aufseher. Nimmer 155 hätte ich dem beweglichen, lebhaften Mann angeschen, daß er, wie er mir später mittheilte, schon mehr Jahre zählte ale> das Jahrhundert. Seine sanften blauen Augen, seine originellen Bewegungen verkündeten heitere Frische und rüstige Kraft. Und nun seine Ueber-raschung und Freude, als ick) ihm den Zweck meines Besuchs nannte! — O, wie freue ich mich! betheuerte Herr Giseuius, indem er wohl an zwanzig Mal meine beiden Hände ergriff und sie herzlich drückte. Ist es denn wahr, ist es denn möglich, rief er wie in fast kindlicher Ekstase, daß Sie allein der Littaucr wegen hierher kommen, daß Sie uon ihnen erzählen wollen, damit die Welt an meinen Littauern Interesse nehmen könnte! — O, sie verdienen es, meine edlen Littauer! — Ich schwöre es Ihnen, sagte er feierlich, sie sind dessen nicht unwerth! Aber ich hatte nicht mehr darauf gerechnet, und darum freue ich mich, freue ich mich so sehr! In der That, er glühte und funkelte vor Freude! Nur mit Mühe tonnte er mir auf dem kleinen Sopha eine Ecke frei machen, indem er die umherliegenden Bilder und Bücher wegräumte. Er selber nahm nur gegenüber auf der Kante ein Stuhles Platz, rieb sich vergnügt die Hände und betrachtete mich mit liebevollen Blicken. Es litt ihn aber nicht lange, still zu sitzen, nach wenigen Augenblicken sprang er auf und lief, um seiner Erregung Luft zu machen, im Zimmer auf und nieder. Dann begann er zu erzählen und zu zeigen, und es ward des Erzählens und Zeigens kein Ende, denn er sprach uon dem Thema feines Herzens. — Was Tie hier sehen, sagte er, ist Alles meiner Hände Werk. Ich habe Alles selber gesehen, Alles miterlebt, Alles nach der Natur selber gezeichnet. Seit fast vierzig Jahren habe ich alle meine Ferien dazu verwandt, um ganz Littauen die Kreuz und die Quer zu durchstreifen. Ich habe mit den Littauern gegessen und getruuken, an ihren Tänzen, Spielen und Festen theilgenommen. Ich habe ihre Sitten und Gebräuche, ihre Märchen und Sagen, ihre Lieder und Sprüchwörter gesammelt. Ich kenne sie wie irgend Einer! 156 Er sprach damit nicht zu viel. Schon aus den „Preußischen Prouinziul-Blättern" kannte ich ihn als einen emsigen Forscher und Sammler; aus den Schilderungen und Mittheilungen, die er dort theils unter seinem wahren Namen, theils unter dem bezeichnenden Pseudonym ,Melauninkav", das ist der „Wanderer", gegeben hat. Und jetzt sah ich seine Wohnung, die in Wahrheit einem littauischen Museum glich. Außer den Bildern besaß er an Büchern so ziemlich Alles, was über Littauen und seine Bewohner erschienen ist: ferner sorgfältig angelegte Herbarien, Sammlungen der einheimischen Gesteinarten, merkwürdige Funde und Pctrefakten, ausgegrabene Waffen, Schmucksachen und Geräthschafteu; überhaupt die zahlreichsten und verschiedenartigsten Belege zur Kunde Littauens, sowohl was die Vorzeit als Gegenwart anlangt. Mit erklärlichem Stolze wies er mir diese Schätze, die ihm um leinen Preis feil sind, denn sie bilden die Ausbeute seiner Mußestunden und das Glück seines einsamen Alters. — Wären Sie doch ein paar Wochen früher gekommen, ehe die Schule wieder angefangen! meinte er. Dann hätte ich Sie auf Ihrer Reise begleitet, ich selber hätte Sie umhergeführt. Ich bin über ganz Littauen bekannt, überall habe ich Gastfreunoe, die mich zu den Ferien herausholen, oder mich's wissen lassen, wenn's bei ihnen eine Festlichkeit giebt. Ich bin nämlich nirgends so gerne, fühle mich nirgends so wohl und heimisch als unter meinen Littauern. Es ist mir bei ihnen stets so, als ob ich in die Zeiten der Homerischen Welt zurückversetzt wäre, als ob das klassische Alterthum wiedergekommen sei. — Und es ist wirklich, fuhr er eifriger werdend fort, ein klassisches hochbegabtes einziges Voll. Was auch die Gelehrten dagegen sagen mögen, ich bleibe dabei, die Littauer entstammen nicht nur dem Orient, sondern sie sind auch mit Egyptern, Griechen und Römern in Berührung gekommen. Wann und wie? kann ich allerdings nicht nachweisen, aber die Thatsache ist mir aus der littauischen Nationaltracht und aus verschiedenen Sitten t5? und Gebräuchen des räthselhnften Volkes unzweifelhaft. — Betrachten Sie nur die Gcsichtsbildung der jungen Mädchen. Sie finden fast in jedem Dorfe antike ideal-klassische Profile. Erinnert die Haartracht der Ragainerinnen nicht an die egnptischen Ammons-hörner- oder trojanischen Kreusaflechten? Sind ihre breiten Stirnbänder nicht ähnlich den Kopfbinden der Vestalinnen, zeigen ihre l'untgestickten Hemden nicht ganz den griechischen Schnitt? Und lebt nicht unter den Littauern selbst noch die Sage, daß sie einst aus Persien vertrieben wurden, ausgewandert sind, wo die Sonne aufgeht, und die Gottheit ihnen geheißen hat, so lange zu wandern, bis sie an ein Meer kommen würden? — Mein theurer Herr, was sagen Sie dazu? fragte Herr Gisevius, und faßte mich eindringlich an einem meiner Nockknöpfe. Ich sagte dazu nichts, dachte aber bei mir, daß der alte Herr durch feine unbegrenzte Vorliebe zu den Littanern sich doch zu etwas gewagten Konjekturen und Hypothesen verleiten lasse. Da ich indeß schwieg, fuhr er gnten Muthes fort: — Wenn ich unter den Littauem bin, kommen mir immer wieder diese Gedanken, und ich kann mich ihrer nicht entschlagen. Sehe ich die Frauen in ihrem reichen Festputz, so glaube ich am Hofe des Prusias uon Vithynien zu sein. Als ich zum ersten Mal einer Hochzeit beiwohnte und die Mädchen mir als Gastgeschenk gestickte Taschentücher überreichten, mich mit Gürtel und Strumpfbändern schmückten, kam ich mir wie auf einem altrömifchen Vei-lager vor. Und als man vor der mit ihrem Gefolge ankommenden Nutata (jungen Frau) das Hofthor verschloß und sie fragte: wer sie sei? und was sie wolle? — mußte ich unwillkürlich der bei den Römern üblichen Sitte gedenken, wo bekanntlich die c^H genau in derselben Weise empfangen oder vielmehr zuuächst in dieser Art zurückgewiesen wurde. Mein bester Herr, ich bitte Sie: ist solche Uebereinstimmung in den Ceremonien bei Römern und Littauern bloße Zufälligkeit, oder darf man mit Rücksicht hierauf nicht vielmehr auf einen inneren Zusammenhang zwischen beiden Völkern schließen? 158 Herr Gisevius schlug mit der stachen Hand trimnphirend auf sein Knie, und da ich ihm nicht zu widersprechen wagte, ging er noch weiter. — Mehr als dies Alles, sagte er, beweist die Musik der Littauer, ihre Sangweise, die einen durchaus altgrichischen Charakter trägt, insofern der Tonfall ein mehr recitativcr und deklamatorischer als melodiöser ist. — Hören Sie nur! Er setzte sich vor das Klavier und sang mit seiner alten zitternden Stimme, aber voll Begeisterung eine Taina. — Achten Sie auf diese düstere Tonart! Sie ist ganz dorisch. — Und jetzt eine lydische, bemerkte er, einen Uebergang machend. — Da haben Sie eine phrygische Weise. — Nun eine ionische. — Und endlich eine äolische. — Was meinen Sie, verehrter Herr, sind das nicht Beweise genug, und starke überzeugende unumstößliche Beweise? Ich antwortete ihm, daß ich leider von der Musik der alten Griechen nicht viel verstände, und da inzwischen mehrere Stunden verflossen, wollte ich mich verabschieden. Aber er litt es nicht, er bat mich so dringend, zu bleiben, indem er mir noch verschiedenes mitzutheilen habe und in diesen Mittheilungen das höchste Vergnügen finde, daß ich ohne ihn zu kränken, nicht gut gehen konnte. Und ich blieb gerne und durfte es nicht bereuen. Eine alte Dienerin trug einen Imbiß auf, und nachdem wir gegessen, setzten wir unsere Stühle auf den Balkon vor die Thüre. Die Vögel spielten und zwitscherten in den Bäumen, die vor dem Hause standen, Segelfahrzeuge zogen auf der breiten Memel an uns vorüber, ein Dampfer legte mit schrillem Pfeifen an der nahen Landungsbrücke an, zu unsern Füßen jagten sich lachend und jauchzend kleine Knaben und Mädchen, Lehrjungen trieben am Wasser ihre Späße, junge dralle nacktarmige hochaufgeschürzte Dienstmädchen kamen mit ihren Eimern und plauderten und scherzten mit blauröckigen sporenklirrenden Dragonern — aber Herr Giseuius sah und hörte von dem Allen Nichts, er erzählte immerfort von seinen Littauern, und er bemerkte es nicht, daß die Sonne Abschied 159 nahm, das schönste Abendroth hinterließ und allmalig die Schatten der Nacht tiefer und tiefer herabsanken und uns dicht einhüllten. Aus seinen Erzählungen, aus allen seinen Reden klang es heraus: er hatte die Littauer nicht blos aus wissenschaftlichem Interesse, sondern um ihrer selbst willen, mit Liebe und Begeisterung studirt; er sah nicht mit der Miene eines Forschers auf sie herab, sondern mit Verehrung und Bewunderung zu ihnen hinauf. Obgleich von Geburt ein Masure, war er im innigen Verkehr mit diesem Volt selbst zum Littauer geworden. Er fühlt und denkt wie ein Littauer und — hat das einst in einer Weise bewiesen, die wohl erwähnt zu werden verdient. Vor zwanzig und mehr Jahren regierte zu Gumbinnen ein eifriger Schulrath, Namens Retlich. Dieser hatte der littauischen Sprache den Tod geschworen, er wollte sie in den Schulen mit Stumpf und Stil ausrotten und erließ deshalb Ukas über Ukas an die Lehrer seines Reiches. Durch ganz Littauen ging ein Schrei des Unwillens und der Verzweiflung, die Eltern klagten «nd jammerten, aber es half ihnen nichts, alle Vorstellungen und Bitten blieben vergeblich. Das schnitt Herrn Gisevius ins Herz und er beschloß sich an den König selbst zu wenden, er richtete also an Friedrich Wilelm IV. ein Schreiben, das etwa folgendermaßen lautete: Euer Majestät, als erhabener Freund und Beschützer von Kunst lind Wissenschaft, lassen Burgen und Schlösser restau-riren, die Denkmale der Vergangenheit tonseruiren. Euer Majestät werden nicht zugeben, daß ein ganzes Volt vertilgt werde, daß man den Littauern ihre Sprache und Nationalität nehme :c. :c. Bald darauf erging ein Rescript des Kultusministern-ms an die Gumbinner Regierung, ihrem Eifer Einhalt zu thun, uno der 8tHw8 quo wliide wieder hergestellt; zum Jubel der Littauer, zum Aerger des gestrengen Schulraths, der vergebens nach dem Urheber forschte. Einige Jahre später tam der König nach Tilsit, wo ihm, als er das Gymnasium besuchte, auch Herr Gisevius vorgestellt wurde. Sobald er den Namen vernahm, äußerte Friedrich Wilhelm 1V0 gegen den Träger desselben, er müsse ihn schon früher einmal gesehen oder von ihm gehört haben: aber wann und wo? — Doch Jener war zu bescheiden und zu ängstlich, mn an sein damaliges Schreiben zu erinnern und schwieg dauon. Herr Giseuius hat weder Weib noch .Kind; ich glaube, er hat nicht einmal mehr einen Verwandten: — seine Familie sind die Littauer, nnd dämm sieht er mit Trauer und Wehmuth das schnelle Hinschwinden dieses merkwürdigen Volts. Anhang. Durch die Ostpreußische Sshm. 11 1. Per Eintritt in die Wüste. Kurisches Haff und Kurische Nehrung. — Weißleuchtenbes Dünengebllrge. — Tobtenftille und Sonnenbrand. — Memel. — Gatt. — Gefährliche Einfahrt, Stranbungen und Tchifsbrüchc. — Ttrandrecht und Stranddieberei. — Hauptdünc, Vorbiine, NebenbUne. — Die Ätoniadcn der Wüsie. — 3tcichstagswahl im „Sanblrug". — Zwei Welten. <^er heute nicht wenigstens in Paris, London, Rom oder Neapel gewesen, darf in gebildeter Gesellschaft gar nicht mitreden. Selbst auf den Pyramiden ein Frühstück verzehrt, in Sibirien einen Zobel gejagt, im Wigwam des Indianers mil diesem eine Pfeife geraucht zu haben — gilt nicht mehr für etwas Besonderes. Immer weiter schweift der Schwärm der Touristen, immer tiefer dringen die Reisenden von Profession in das Innere der entlegensten und nur mit Todesgefahr zugänglichen Länder vor. Bald, so verkündet triumvhirend die Wissenschaft, wird uns kein Fleck auf der Erde mehr unbekannt sein! Allein über dem Schweifen in die nebelhafte Ferne wird nur zu oft die Erforschung der Heimath vernachlässigt. Es giebt im deutschen Vaterlande, es giebt in der preußischen Monarchie noch mancherlei Gegenden und Eilande, die kaum dem Namen nach bekannt sind uud doch des Seltsamen, Fremdartigen und Interessanten nicht weniger bieten als meinetwegen die märchenhaften Gestade, an welche einst Robinson Crusoe oder gar der ehrliche Schiffskapitain Gulliver verschlagen wurde. Schon auf der Schulbank träumte ich in der Geographiestunde von der ostpreußischen Sahara, von der mich damals nur wenige Meilen trennten. Schon damals dachte ich daran, sie zu durchwandern; aber Lehrer und ältere Freunde verwarfen diefen Plan als ein thörichtes Abenteuer, von dem ich nur Strapazen, Gefahren und Langeweile zu erwarten hätte. So unterblieb es, 11* 164 bis ich im vorigen Sommer besuchsweise nach meiner Heimach zurückkehrte. Der Dampfer durchrauschte die grünlich blühenden Wasser des Kurischen Haffs, zur Rechten hatte ich die flache Küste der littauischen Niederung, zur Linken begleitete das Schiff ein langes weißleuchtendes Gebirge, bald von den Sonnenstrahlen rosig angehaucht, bald in bläulichen Duft sich hüllend, und überhaupt in allen Farben des Regenbogens schillernd. Es war das Ziel meiner langjährigen Sehnsucht, es war die Kurische N 3h rung, welche das Haff von der Ostsee trennt, die zuweilen, wenu die Bergreihe sich senkte, und ich mich auf die Spitzen meiner Füße stellte, jenfeits des Gebirges herauffunkelte. Die Kurische Nehrung ist eine etwa 15 Meilen lange, aber nur durchschnittlich /, Meile breite Landzunge, die vom Nadeorte Kranz nach der Seestadt Memel läuft, wo das Haff durch eine schmale Oeffnung in die Ostsee abfließt. Diese Landzunge bildet eine nur von wenigen Oasen unterbrochene Sandwüste, denn sie besteht in der Hauptsache aus einer Kette von Dünenbergen, die sich bis 200 Fuß erheben. Während der Dampfer unter der Nehrung hinsegelt, läßt sich die Form und Beschaffenheit der Dünen deutlich erkennen. Sie fallen mit steiler Böschung ab zu einer schmalen, bald ganz kahlen, bald dürftig begraseten Ebene; oder es sind völlig senkrechte Sturzdünen mit sanft abgerundeter iiante, von der man den Sand fast beständig, bald leise, bald ruckweise in das den Fuß bespülende Hass abfließen sieht. Zuweilen treten sie ein wenig zurück und lassen einen schmalen Streifen von Ufer frei, wo unter dem mächtigen Druck der kolossalen Sandmassen der blaue, vielfach muschelreiche Mergel des Haffbodens aufquillt. Wo solche Streifen breiter werden, kündigt sich ein bereits vom Dünensande verschütteter Teich an, springen keil- und halbkreisförmig sogenannte Haken in das Hass vor, mit kärglicher Weide bestandene Flächen. Von dieser Entfernung aus gesehe», zerfallen die Dünen zunächst in einzelne ziemlich runde Kuppen; weiter nordwärts wird der Zug weniger unterbrochen, erscheint bald höher aufschwellend. 165 bald als sanft eingekerbter Kamm. Oft ist auf Meilenweite lein Mensch, keine Hütte, kein Baum zu erblicken, nicht einmal ein Vogel oder ein Grasbüschel zu entdecken — nur der feine glatte, weiße, die Augen blendende Sand, über welchem der blaue wolkenlose Himmel brütet; oder ein paar Fußstapfen, die vielleicht schon acht oder vierzehn Tage alt sind. So sehr fehlt es der Oberfläche des Sandes an jeder Unebenheit, und so stark markirt sich bei günstiger Beleuchtung auch die leiseste Unterbrechung; jede Abhangsebene färbt und schüttet sich von der unter einem andern Winkel niedersteigenden scharf und deutlich ab. Todtenstille und Sonnenbrand. — Plötzlich erscheint auf der Höhe der Düne in einer schwachen (Ansattlung ein Pferd, ein zweites, ein drittes, eine ganze Heerde, und hinter ihr der berittene Hirte; lauter riesenhafte Gestalten, die sich fast in die Himmelsdecke bohren. Wie die Pferde aber den Berg hinabsausen, werden sie kleiner und. kleiner, geradezu zwergartig; und ebenso schrumpft auch der Goliath von Hirte zu einem kleinen Knaben zusammen. Jetzt stehen sie alle in ihrer natürlichen Größe dicht gedrängt am Ufer des Haffs und stillen, unbekümmert um den Schaum der Wellen, ihren brennenden Durst. Mit dem sich entfernenden Dampfer verweht auch das bewegte Bild. Wieder haftet der Blick an der in schreckhafter Ruhe aufsteigenden völlig kahlen Sturzdüne, die nur von Zeit zu Zeit wie ein sammetglänzender Mantel ihre Beleuchtung ändert. Wieder zieht die Dünenkette in trostloser Oede, in endloser Ausdehnung an den müden Augen vorüber; nur in langen Zwischenräumen erscheinen kleinere und größere Weidenbüsche, ein vereinzelter krüppelhafter Baum, ein dünnes halbuerschüttctes Kieferngehölz, oder gar ein Trupp Fischer, Männer und Weiber, die ihren Fang auf das Land bringen oder die Kähne längs dcm Ufer ziehen. So verrinnt Stunde auf Stunde, bis dann endlich ein armseliges Dorf auftaucht; nur zwei oder dreimal wird die todeswüste Einöde von einem Waldstück oder einer wirklichen Oase unterbrochen. Je weiter nach Norden, desto mehr verflachen sich die Sandhügel, und 166 desto näher tritt auch die jenseitige HafMste heran, bis sie an der Spitze der Nehrung diese fast berührt. Damit haben wir Memel, die nördlichste Stadt iu Deutschland, erreicht, und schon am andern Morgen trug mich die Fähre über das nur 100 Ruthen breite Tief oder Gatt nach der Nehrung hinüber. Mit mir fuhr eine Anzahl von Herren und Damen aus der Stadt, um, wie es die Mcmeler während des Sommers täglich thun, am dortigen Seestrande zu baden. Wir landeten unweit des sogenannten Sandtrugs; außer ihm befindet sich anf diesem Theile der Nehrung nur noch die Wohnung des Försters und ein paar Fischerhütten. Von dem Förster sollte man auf eine Forst, mindestens auf ein Wäldchen schließen dürfen, aber es sind ringsum nur wenige ganz vereinzelt stehende Bäumchen und etwas Gesträuch zu erblicken. Jener Beamte ist mehr eine Art von Gärtner, denn er hat die Anpflanzungen in den Dünen zu leiten und zu beaufsichtigen, welche die Memeler Kaufmannschaft mit großen Kosten anlegen lassen. Sie bestehen vornämlich aus Sandgräsern und werden mit der äußersten Sorgfalt gehegt und geschont; weder Menschen noch Thiere dürfen bei hoher Strafe sie betreten. Durch sie will man dem Wandern der Dünen Einhalt thun, diese zum Stillstehen zwingen, und so der Versandung vorbeugen, die fortwährend Tief und Hafen bedroht. Weil also der Eintritt in die Dünen verboten ist, mußte ich meinen Weg längs dem Hafsufer nehmen und ebenso wenig durfte ich mich den Fortificationswerken nähern, die unweit der Spitze, um im Kriege Einfahrt und Hafen zu vertheidigen, angelegt worden. Die 15 Meilen lange Landzunge endigt mit einer Mole, welche mit weißflockiger Wolle oder zartssaumigem Schnee bedeckt schien. Näher und näher kommend, sah ich, daß es ein Heer von Möwen war, die alle dicht gedrängt am Boden kauerten. Erst als ich fast unmittelbar vor ihnen stand, erhoben sich diese Tausende und abermal Tausende von Möwen und umschwirrten mich mit so entsetzlichem Geschrei, daß mir die Ohren gellten, mit so heftigem Flügelschlage, daß ich fürchtete, sie würden sich auf mich stürzen und mich verspeisen. Sie vereinigten sich über mir zu einem Schwärm, der 167 fast die Sonne verdecke, und ließen sich dann in nächster Nähe von Neuem nieder. An den mächtigen Steinen der Mole stießen die Wogen des Haffs und der Ostsee zusammen. Tie Ausströmung des Haffs ist so stark, daß die Meerenge nur süßes Wasser enthält, welches auch noch eine ziemliche Strecke in die See hinein sich durch seine dunklere Färbung von dem Meerwasser unterscheidet. Noch zu Anfang dieses Jahrhunderts betrug die Breite des Gatts 3000 Fuß, seither hat es sich, indem heftige Eisgänge Stücke von der Nehrung fortrissen und in die Fahrbahn spülten, bis auf 1200 Fuß verengt und bedrohlich verflacht. Die eigentliche Fahrstraße ist kaum noch 100 Fuß breit und nur mit großer Vorsicht zu passiren, so daß in der stürmischen Herbst- und Frühlingszeit hier manches Schiff scheitert. Deshalb bietet man Alles auf, um durch Bepflanzung der Dünen und Anlegung von Buhnenwerten, das sind geflochtene Zäune, in welchen der Sand sich fängt und anhäuft — die Nehrungsspitze zu befestigen und vor weiterer Zerstörung zu schützen. Trotzdem bleibt die Gefahr, daß das Tief in Folge irgend eines gewaltigen Sturms völlig versandet, worauf das Haff einen andern Ausweg suchen, die Nehrung durchbrechen und dann die fchon lange gefürchtet« Vereinigung mit der Ostsee vollziehen würde. Auch die hiesige Rhede ist wegen der vielen Klippen und Sandbänke berüchtigt, und es vergeht kein Jahr, wo sich nicht zehn und mehr Schiffbrüche vor den Augen der Memeler und der Nehrungsbewohner zutragen. Die Mannschaft wird meistens gerettet, aber Schiff und Waaren gehen entweder ganz zu Grunde oder verderben wenigstens. Das auf den Strand gerathene Schiff wird gewöhnlich an den Meistbietenden verkauft, der nun auf eigene Kosten den Versuch wagt, Fahrzeug und Ladung zu heben. Gelingt ihm dies, so hat er freilich großen Gewinn; wo nicht, ist das Geld weggeworfen. Sind die Waaren nur zum Theil verdorben, so behält sie entweder der Eigenthümer selbst, oder er ver-auktionirt sie ebenfalls. In beiden Fällen verliert er ansehnlich; allein eine einzige, glückliche Fahrt bringt alles mit Zinsen wieder ein. 168 Ein alter invalider Matrost, mit dem ich ei» Gespräch an-knüpfte, erwies sich als eine lebende Chronik der Schiffbrüche nnd Strandungen. Unter Anderm erzählte er z»oci Fälle, die sich im letzten Jahre ereignet und ein grausiges Interesse boten. Ein englischer Schoner trieb auf die Nehrung, blieb, sitzen und barst mitten durch. Während die eine Hälfte sofart versank, rettete sich die ganze Mannschaft auf den andern Theil und hielt hier so lange aus, bis ihr der Lootseukutter zu Hülfe kam. — Auf dem Wrack eines andern gescheiterten Schiffes fand man, als man nach 48stündigem Orkan sich endlich ihm nähern konnte, drei Menschen. Der Eine war an den Mastbaum gebunden, bereits eine Leiche und uon seinen Kameraden angefressen. Der Zweite lag in tiefer Ohnmacht und genas erst nach langwieriger schwerer Krankheit. Der Dritte, welcher sich bisher mit dem Fleisch der Leiche das Leben gefristet hatte, war und blieb frisch und gesund. Nenn zur Zeit der Tag- und Nachtgleichen die großen Stürme herrschen, ist der unheilvolle Strand der Nehrung mit Schiffstrümmern und Echiffsgütern oft wie übersäet, und nicht selten spülen auch die Leichen von Menschen und Thieren an. Dann halten, ehe die Beamten dazu kommen können, die Nehrunger eine goldne Ernte. Früher galt, wie anderwärts, auch an dieser Küste das aller Menschlichkeit Hohn sprechende Strandrecht, welches den Schiffbrüchigen allen Eigenthums, selbst der Kleidung beraubte und ihm nur das nackte Leben ließ. Noch heute erzählt man von dem Strandvogt von Rossitten, der in dunklen stürmischen Nächten eine Laterne aushing und so die Schisse auf den Strand zu segeln verlockte, worauf er die Mannschaft ohne Erbarmen tödtete und ausplünderte. Jene böfe Zeit ist vorbei, aber auch noch heute treiben die Nehrunger, wenn sich dazu eine günstige Gelegenheit bietet, wenigstens — Stranddieberei. Vom Sandkruge auf der Spitze der Nehrung sind es volle drei Meilen, bis man erst wieder auf eine feste Ansiedelung trifft. Der Weg über die ganze Landzunge führt meist längs dem Seestrande; und so lange in Ostpreußen noch keine Chaussee existirte, war dies auch die große Poststraße von Königsberg nach Ruhland. 169 Wie oft haben höchste und allerhöchste Herrschaften diese einförmige und ermüdende Fahrt machen müssen! Trotz der besten Pferde nnd zahlreicher Relais ging es in dem tiefen Sande immer nur Schritt vor Schritt und zur Erleichterung der Thiere stets halb in der Seeschälung, so daß die salzigen Wasser in den Wagen spritzten. Auch die russischen Czaaren und Großfürsten sind hier öfters gefahren, am häufigsten die preußische Landcstochter, die Kaiserin Alexandra, wenn sie ihre hohen Verwandten in Berlin besuchte; und auf der Nehrung leben noch ein paar greise Postillone, die sich freudig der erlauchten Frau und der ihnen von dieser gespendeten reichen Trinkgelder erinnern. Von der alten Poststraße aber zeugen noch die morschen schwanken Pfähle und die vereinzelt stehen gebliebenen halbvcrschütteten Weidenbäume längs dem See-strand und in den Dünen, oft auf Meilenweite die einzigen Spuren menschlicher Thätigkeit. Der Strand oder die Uferbanl, welche bei stürmischer See die Wellen überfluthen, hat eine durchschnittliche Breite von 100 bis 200 Schritten; sie erhebt sich von der See allmälig bis etwa 5 Fuß, um sich dann nach dem Innern der Nehrung um 1 bis 2 Fuß wieder zn senken. An dieser Grenze legen die Wogen ihre Bürde nieder: Knollen von Quarz und Feldspath, Korallen und Gruppen von Muschelschalen, auch Reste von Dorschen und andern Fischen, einige Planken und Balken. Von Lebendem sieht man gewöhnlich nur kleine Krebse, die aus ihren senkrechten Sandröhren heraufkriechen und zu Hunderten und Tausenden herumspringen; bis sie etwa um 10 Uhr Vormittags wegen der stärker wirtenden Sonnenstrahlen ihr Spiel aufgeben und in ihre Behausung zurückkehren. Auf den Strand folgt eine unregelmäßige Reihe kleiner, nur 15 bis 20 Fuß hoher Vordüncn und weit hinter ihnen die Hauptdüne, der die ganze Nehrung durchziehende 100 bis 200 Fuß hohe langwellige Sandrücken, von welchem sich in unregelmäßigen Intervallen rechtwinkelig abstrebende Nebendünen nach der Haffseite hinziehen; einige zungenartig und abgeflacht ins Haff hinauslaufend, andere kurz vor dem Haffufer steil abfallend. Das 170 Ganze hat den Charakter der Wüste, der sich weiterhin noch kräftiger und wilder ausprägt. Abgesehen von dem Reiz, den Witterung und Beleuchtung einer jeden Seeküste verleihen, ist diese Strecke mit die einförmigste und ödeste der ganzen Nehrung, da deö vorliegenden Kupstenterrains halber nicht einmal der majestätische Dünenzug überall zur Ansicht kommt. Erst eiuc starke halbe Meile vom Sandkruge folgt wieder eine kleine Abwechselung. Von den Vorläufern der Dünenberge längst erreicht und vom kahlen Flugsande rings umstarrt, erscheint ein kleines Elleyigebüsch mit daran sich schließendem und ins Haff verlaufendem Rohrdickicht und etwas sumpfigem Wieseuboden, der aber bei 2 bis 3 Zoll Tiefe auch nur klaren hellen Sand zeigt. Es ist der einzige grüne Fleck auf der drei Meilen langen Strecke vom Sandkrug bis Schwarzort, dem nächsten Torfe. Es ist die Hirschwiese, die nur in dieser Wüste auf den Namen „Wiese" Anspruch machen darf. Hirsche, Rehe und Hasen, alles Wild ist längst auf der Nehrung ausgerottet, weil es den Dünenanpflanzungen großen Schaden that; selbst die Weidehut für das Vieh der armen Nehrunger ist alts dem gleichen Grunde auf gewisse dürre Flecke eingeschränkt. Statt der Hirsche und Rehe weideten hier jetzt etliche Kühe und Pferde. Es ist das Vieh der Schwarz-orter, das täglich 2 '/, Meilen weit hierher wandert, oder auch tage-und wochenlang ohne Aufsicht eines Hirten hier weidet. Ein Verlaufen ist nicht zu befürchten, denn ringsumher starrt das Sandmeer, in das sich die Thiere schon aus Instinct gar nicht wagen. Schon war ich über eine Meile gewandert, ohne eine Menschenseele zu entdecken. Da, nach der Haffseite hinüberbiegend, erblicke ich plötzlich, ganz dem Character der Wüste entsprechend — ein Lager von Zelten. Es sind die Nomaden der Nehrung, Fischer aus Sarkau, die sich jetzt von ihrer Heimath wohl 12 Meilen befinden. Die Zelte sind aus den Segeltüchern ihrer Kähne und mit Hülfe einiger in den Sand gestoßenen Stangen errichtet und mit der Oesfnung nach dem Winde gestellt. In jedem Zelt wohnt eine Familie, Mann und Weib mit Kindern und Hausthieren, darunter vornümlich Hunde und Katzen, Schweine und 171 Hühner. Im Frühling haben sie ihre Hütten in Sarkau vernagelt nnd sind auf ihren Kähnen davongezogen. Sie befischen die ganze Nehrung, indem sie von Zeit zu Zeit ihre am Haffufer aufgeschlagenen Zelte abbrechen und immer weiter hinauf ziehen. Je nachdem es Wind und Netter erlauben, fahren sie von ihrem zeitigen Lagerplatz täglich auf den Fischfang, und bringen ihre Beute nach Memel oder nach der Niederung entweder selbst zu Markt, oder verkaufen sie an jüdische Fischhändler, die sich bei ihnen einfinden. Erst mit dem Eintritt des Spätherbstes kehren sie in ihre Heimath zurück und leben nun den Winter hindurch von ihrem Sommerverdienst, theils von dem eingelösten baaren Gelde, theils von dein Brodgetreide, das sie bei den Nicoerungern gegen ihre Fische eintauschen. Ihre Hauptnahrung besteht natürlich auch in Fischen, die sie oft gar nicht kochen, sondern ganz roh oder nur an der Sonne gedörrt verspeisen. Es sind blutarme aber sehr genügsame und mit ihrem Leben durchaus zufriedene, weil von Kindesbeinen daran gewöhnte Leute. Nur der Schnaps darf nicht ausgehen, das stört ihr Vehaglichkeitsgefühl sehr empfindlich. So eben waren ein paar Böte heimgekehrt, und ich ließ mir von dem Fange ein Gericht Flunder bereiten, die, obwohl nur in Salz, ohne jede andere Zuthat gekocht, gar nicht übel schmeckten. Als ich meine Schuld bezahlen wollte, meinte die nur mit einem kurzen Unterrock von rothem Fries bekleidete Frau: es wäre ihr lieber, wenn ich statt des Geldes ihrem Manne einen Tropfen Branntwein geben könne; er habe seit gestern keinen gesehen. Leider konnte ich damit nicht dienen. Gern hätte ich meine Wanderung noch bis Schwarzort fortgesetzt, allein die Fischer riethen mir dringend davon ab, indem sie mich an das Gespenst der Nehrung, an den Triebsand, erinnerten. Gerade zwischen hier und Schwarzort gebe es gefährliche Stellen und als Fremdling dürfe ich die Tour ohne Führer nicht wagen. Weil diese Warnung nur zu begründet war, kehrte ich also um und erreichte, bei der glühenden Hitze aus allen Poren 172 schwitzend und in dem brennenden Sande uor Müdigkeit fast umsinkend, um die Mittagszeit wieder den Sandtrug. Hier traf ich eine laute Gesellschaft. Es war gerade der 31. August, und auch in diesem Gasthans sollte die Wahl eines Reichstags-Abgeorducten stattfinden. Sie mußte jedoch unterbleiben, denn außer dcm Gastwirth waren nur noch drei Wahlberechtigte erschienen, während das Gesetz die Gegenwart von mindestens 5 Personen verlangt, bevor sich der Wahluorstand constituiren kaun. Weil man also nicht wählen konnte, fing man an zu trinken nnd schließlich sich zu zanken. Es entspann sich ein heftiger Streit zwischen dem Förster und dein hier zur Verhütung des Schmuggels stationirten Zoll-Controleur einerseits und dem kleinen dicken zinno-berrothcn Führpächter andererseits. Die beiden Beamten behaupteten, dieser sei durch seinen Contract verpflichtet, sie nnd ihre Familien jederzeit gratis nach Memel überzusehen. Der Fährpächter nahm die Behauptung als eine persönliche Beleidigung und schwur mit heiserer Stimme: das habe er nicht nöthig und das werde er nicht thun; denn er sei sein freier Herr und keineswegs der Diener der beiden — — — Die Furcht, mich einer Veamtenbeleidigung schuldig zu machen, hält mich ab, die nun folgenden Ausdrücke des ergrimmten Fährpachters wiederzugeben. Ich weiß auch nicht, was seine Gegner erwiderten, denn, da der Streit eine handgreifliche Wendung zu nehmen drohte, ging ich hinaus, um von der Höhe des Hügels, auf welchem der Sandkrug gelegen, noch einmal die Gegend zu beschauen. Man übersieht hier gewissermaßen zwei Welten: eine fertige und eine erst entstehende oder auch vielleicht schon im Untergang begriffene — darüber sind die Gelehrten nicht einig. Vor mir erhebt sich Memel, ein kleines London, mit seinen saubern geräumigen Gassen, mit den seit dem großen Brande von 1854 zum größten Theil neuerbauten meist nur ein- und zweistöckigen schmucken und soliden Häusern; mit dem schönen bequemen Hafen, in welchem ein Wald von Masten schaukelt; mit der hohen schlanken Säule des Leucht-thunns, mit der grünen Plantage, aus der weiße Land- und Lust- 173 Häuser hervorblicken, und welche es geschickt verbirgt, daß auch Memel eigentlich in einer kahlen, wenig fruchtbaren Gegend liegt. Aber es ist doch immer von Aeckern, Wiesen und Gehölzen umschlossen', während wir jetzt, uns wendend, in die Sandwüste der Nehrung hineinschauen, wo der Mensch wie eine verfrühte Erscheinung sich ausnimmt, denn der Boden vermag ihn nicht zu ernähren: ihm nicht einmal Schutz und Sicherheit gegen das feindliche Element des Meeres zu gewähren. Werden die Fluchen diese armselige Landzunge vollends wegspülen; oder wird sie noch einmal werden, was sie vor Jahrhunderten schon war, — ^in grünes schattiges Waldparadies?? 174 2. Eine Waldparadies'Trümmer. Tei Hochwald von Schwarzort. — Herbstliche Badegäste. — Pastorat und Fischcrlirche. — Kurische Fischerhäuser und ihre Vewolmer. — Im Hochwald. — ^inn8, ein auödauerndoö immergrünes Kraut, im duftigen Blüthenflor; daneben Büsche von Weidenröschen und die zarten Blätter des Hasentlce. Noch belasten sie alle schwere Regentropfen, aber schon regt sich unter und auf ihnen ein geschüf» tiges Leben. Eine Nonnenraupe kämpft uuter heftigen Krümmungen mit einem Ameisenlöwen, diesem Reactionair M excellence, da er in seinem ganzen Leben auch nicht einen Schritt vorwärts thut — und der Neactionair bleibt Eieger. Weiterhin sitzt an dem Aste eines Brombeerstrauchs eine grüne Heuschrecke und ist eben dabei, Toilette zu machen, nämlich ihre Puppenhaut abzustreifen. Eine große Libelle sieht ihr neugierig zu und ver-giht darüber, das wehrlose Thier zu fangen. Hoch über uns ziehen Falken ihre spurlosen Kreise, Reiher fliegen schweren Flugs seewärts hinüber, und einzelne Möwen durchfurchen mit ihren zackigen Flügeln das Lnftmeer. Dazu das magisch wechselnde Licht im Walde, wenn den hervorbrechenden Sonuenblick ein neuer Wollenschauer verjagt, und umgekehrt. Vom Kamm der Hauptdüne laufen durch den Wald etwa fünf oder sechs Seitendüuen nach dein Haff hin, deren höchste Firsten wohl noch 100 Fuß über dem Wasserspiegel liegen mögen; zwischen ihnen sind breite schluchtige Thäler, die entzückende Blicke auf die Hütten des Doifs und das von Dampfern und Segelkähnen belebte Haff gestatten. Und seitwärts cm andres Schauspiel! Auf der höchsten baumreichen Kuppe einer dieser Nebendünen haben sich Cormorans angesiedelt. Früher war dieser Berg der Brüteplatz der Fischreiher, die wohl meinen mochten, der Mensch sei ihr einziger Feind. Da kam vor ungefähr 12 Jahren, vielleicht von den dänischen Inseln, vielleicht auch von der skandinavischen Küste, ein Dutzend Cormorans und begann eine heftige mehrtägige Schlacht mit den Reihern, die den starkfchnäbeligen Fremdlingen endlich 179 weichen und ihre mühsam gebauten Nester preisgeben mußten. Echwarzort schien den Cormorans zu gefallen, denn im nächsten Jahr kam die fünffache Zahl an, und seitdem vermehrten sie sich von Jahr zu Jahr. Während einige beschäftigt sind, die schreienden Jungen zu füttern, sitzen andre neben den Nestern, bös auf uns herabschauend, und noch andere umschwärmen unruhig den Berg. Wegen des klüftigen Hakens, in den der Oberschnabel aus-läuft, und des weit ausdehnbaren tropfartigen Schlundes ist der Cormoran ein Verwandter des Pelikan; ein paar abstehende Federn am Hinterkopf und die meergrünen Augen geben dem Thiere ein keckes unheimliches Ansehen. Cr ist ein überaus geschickter Segler, Schwimmer und Taucher; im Mittelalter wurden an der englischen Küste Cormorans zum Fischfang abgerichtet, eine Kurzweil, mit der sich vornehme Herren belustigten. Neuerdings haben sich auch wieder einige Rehe, Hasen und Füchse im Schwarzorter Walde eingefunden, aber der Förster wird sie unerbittlich vertilgen, sie dürfen um des Waldes willen nicht am Leben bleiben. Und auch die armen Schwarzorter, wenngleich sie mitten im Waldparadiese leben, die Früchte desselben sind ihnen verboten, ihr Vieh darf es nicht betreten. Ein hartes aber nothwendiges Verbot; denn die Existenz des kostbaren Waldes, von dem nichts weniger als die Erhaltung der Nehrung abhängt, würde in Frage gerathen, wenn der Staat den Anwohnern auch nur die geringste Weidegerechtigkeit bewilligen möchte. Der stolze Hochwald führt eine beredte Sprache: er giebt uns ein Bild der Nehrung, wie sie vor Zeiten gewesen, ehe des Menschen Hand, nicht ahnend die furchtbaren Folgen, die fchützende Waldung zu vernichten begann und fo die zerstörende Kraft der Natur entfesselte. Ist doch der Boden, der Sand der Berge und Schluchten um Echwarzort, kein anderer als überall auf der Nehrung, und es bedürfte taum der Tradition oder des augenscheinlichen Beweises, den der vielfach in den kahlen Dünen freigewehte alte Waldboden mit seinen Stubben und verrotteten Baumstämmen liefert, um einzusehen, dah die ganze Landzunge einst solchen Wald hervorgebracht hat. Ja, die ganze Nehrung war noch im Mittel- l2* 160 alter em einziges Waldparadies; der Hochwald von Schwarzort ist nur eine Trümmer davon, und auch er geht, trotz des peinlichsten Schutzes, den man ihni angedeihen läßt, bereits mit Riesenschritten der Vernichtung entgegen. Noch in der Mitte des vorigen Jahrhunderts stand die nördliche Spitze mehr als 1 ^ Meilen vom Torfe ab — im Jahre 1600 nur noch um 1400, heute kaum noch um 400 Ruthen. Während des siebenjährigen Krieges haben die Russen arg in dem schönen Walde gehauset, ihn theils ausgehauen, theils niedergebrannt. Das Uebrige thaten die Dünen. Der Wald wird von zwei Seiten angegriffen, oben am Kamm der Düne und unten am Fuß derselben. 3ln der oberen Grenze kämpfen Vegetation und Dünensand einen ungleichen Kampf; der Wald duldend, ausharrend; der fliegende Sand unaufhörlich angreifend, bis ein Stamm nach dem andern erliegt. Zuerst wird der Vorposten, die alte Rinde, stückweise abgerieben. Bäume, welche in dieses Stadium getreten sind, haben in ihrem hellbraunen Unterkleids zwar ein frisches Ansehen, doch siud sie bereits dem Tode geweiht. Denn bald werden auch die Blätter der jungen Rinde abgerissen und dadurch die Lebensschicht des Baumes blos gelegt. Er stirbt ab und verliert beim ersten Sturm den Wipfel, oder er bricht auch wohl nahe an der Wurzel ab. Beim Vorrücken der Düne wird der Stumpf allmälig verschüttet. Cine neue Reihe von Bäumen wild auf dieselbe Weise angegriffen, ge-tödtet, begraben. Die fußlangen Bartstechten, von denen selbst die jungen Kiefernstämme in regelmäßigen Spiralwindungen umzogen sind, vertreten hier die Stelle der Kränze und Gewinde, mit welchen man die Schlachtopfer zu schmücken pflegte. Ganz anders der Zerstörungsprozeß an der unteren Grenze des Waldes. Von dem Cormoranberge sieht man durch das Geäst eine lange kahle Düne durchleuchten. Sie ist die mächtigste der Seitendünen und begrenzt gegen Norden hin das Revier des heutigen Waldes. In der Richtung ihrer Länge geht sie langsam gegen das Haff vor, schreitet dagegen seitlich schnell fort und wird einst Wald und Dorf begraben. Oberlehrer vi'. I.Schumann 181 aus Königsberg hat berechnet, daß sie in jedem Jahr um 36 Fuß vorrückt; baß sie, sobald sie den Hochwald erreicht, noch schneller vorrücken und in längstens 60 Jahren das Dorf angreifen wird. Einige Jahrzehnte später wird Echwarzort nur noch in der Erinnerung eristiren, wie so manches andere verschüttete Dorf auf der Nehrung. Es mag befremden, daß nach Dr. Schumann's Behauptung, der Wald das Vorrücken der Düne nicht aufhalten, vielmehr bc« schleunigen solle. Der Grund dafür ist der, daß die vom Dorf kommenden Winde durch den Wald gehemmt, ohne Einwirkung auf den Dünensand bleiben, während die Nordwinde ihre volle Geltung behalten. Der nach dem Wald gerichtete Abfall der Düne ist eine rein ausgeprägte schiefe Ebene-, man sieht, selbst bei völliger Windstille, unaufhörlich Sand über die scharfe Kante fliegen. Auf diefe Weise gehen die Bäume allmälig zu Grunde. An der obern Grenze des Waldes sterben sie in Folge der Einwirtunss des Flugsandes ab, werden vom Eecsturm zerbrochen und ihr Stummel allmälig mit Sand überschüttet. Hier unten beginnt die Zerstörung umgekehrt mit dem Begräbniß und endet mit dem langsamen Tode. Man findet Bäume, die 5 bis 10 Fuß bereits verschüttet sind, und scheinbar doch ungestört weiter vegetiren. Namentlich ertragen Kiefern und Tannen eine starke Versandung, allenfalls auch Nirten, weniger junge Erlen. — Trotz des steilen Abfalls läßt sich die Düne leicht ersteigen, und man gelangt so in die Kronenäste alter Bäume und schreitet weiterhin über die Wipfel fort!! — Während einige Bäume erst eben vom Fuß der Düne erreicht werden, sind die davor stehenden bereits bis zur Hälfte des Stammes begraben; und etwas weiter, den kahlen Dünenberg empor, ragen nur noch die Zopfenden der mächtigen Kiefern als kleine auf dem nackten Sande unmotivirt erscheinende Büsche hervor. So unglaublich es auch zunächst klingt, es ist dennoch buchstäblich wahr: Die Düne wandert gleich unerbittlich über den Rasen einer kleinen Walbwiese wie über die höchsten Bäume des Forstes weg. 182 Aber auch hier folgt dem Begräbniß die Auferstehung, allerdings eine gespenstische und schreckhafte. Mit dem Ueberschreiten der Düne befindet man sich in der Welt dieser unheimlichen Auferstehung. Wie der Baum auf der Südseite in die wandernde Düne eintritt, fo tritt er nach etwa zehn Jahren auf der Nordseite wieder heraus. Aber sofort werden die in der Zwischenzeit ausgedörrten Aeste, sobald nur der Sand von ihnen abgewetzt ist, zerbrochen, zerrieben und atomenweise verstreut; und dasselbe geschieht später mit dem verrotteten Stamme. Nur festere Bäume halten Stand und erheben sich 5 bis 10 bis 15 Fuß über die geneigte Düne. Den meisten fehlt indeß oberhalb des Bodens der Splint, allen die Rinde, die aber unter dem Sande stets vorhanden ist. Ja, manchmal bleibt die Rinde fast allein übrig, eine äußerst lockere Holzmasse und etwas herabgefallenen Tand umschließend. Diese unterirdischen Bäume marliren sich nur durch einen laum bemerkbaren Rindenring. Daher 'warnt man auf der Nehrung den Wanderer: er möge sich hüten, nicht in einen Baumstaum zu fallen und darin zu ertrinken! Und wirklich ist das schon öfters gefchehen, und die Förster von Schwarzort und dem nächsten Dorfe, Nidden', haben bereits zu wiederholten Malen Verunglückte aus dieser schauerlichen Todesgefahr errettet. Auf der Nehrung, dieser wüsten Landzunge, häufen sich die Wunder. Noch wunderbarer als der Prozeß von Begräbniß uud Auferstehung, aber aus ihm erklärlich, weil mit ihm zusammenhängend, ist die auf geognostischen Forschungen beruhende Thatsache, daß der Hochwald von Schwarzort auf einem andern älteren Walde steht, ja, daß sich unter diesem wieder ein dritter, der eigentliche Urwald der Nehrung, befindet, hier also drei Wälder sich übereinander thürmen. Der ältere Wald bestand durchweg aus Elchen und andern Laubhölzern, wie das seine Ueberreste bekunden. Einen Theil derselben bilden die bis über 600 Jahre alten, jetzt meistens schon hohlen Eichen von Schwarzort; der andere und hauptsächlichste Theil findet sich unter einer 2'/? Fuß tiefen zunächst grauen und dann grünlichen Sanddecke, m.d er besteht 182 aus einer sechszölligen Humusschicht mit Holzkohle gemengt. Der Urwald endlich liegt noch tiefer begraben, auch über ihm lagert wieder eine ebenso mächtige und ebenso beschaffene Sandschicht, die ihn von dem alteren Walde trennt; er selbst ist in eine wohl 5 Fuß tiefe kaffeebraune Eandmasse verwandelt. Jedes einzelne dieser kaffeebraunen Sandkörnchen zeigt sich unter der Lupe mit braunen Blatt« chen und Brocken derartig bedeät, daß von dem Mineral selbst nur wenig zu fehen ist. Behandelt man sie mit kochendem Wasser, so erhält man einen förmlichen Kaffeeaufguh-, die dünne braune Hülle löst sich von den Körnern ab und ihre mikroskopische Betrachtung lehrt, daß auch der Urwald aus Laubhölzern bestand. Urwald wie älterer Wald ziehen sick) unter den sie belagernden Dünen über die ganze Nehrung hin. Oft tritt der ältere Wald mit der von ihm übrig gebliebenen Humusfchicht offenbar zu Tage; an einzelnen Stellen, wo die Düne thalartig ausgeweht ist, zeigen in sich zurückkehrende Kreise und Ovale die ehemaligen Hügel und Rücken des alten Waldes an; in der Regel sieht der Beobachter aber nur lange bogen- und schlangenfärmige Streifen, über denen der neuere, unter denen der ältere Dünenfand liegt. Der Hochwald von Schwarzort ist nur eine Trümmer des jüngsten und dritten Waldes, der mit seinen Hauvtpartieen auch bereits untergegangen ist. Wo die Düne zum Stillstand gezwungen ist, wo sie sich mit einer Grasnarbe bedeckt hat, findet man unter einer Lage von Dünensand zunächst eine Schicht humosen Sandes und dann erst die Ueberreste des älteren Waldes und die des Urwaldes, die mit Holzkohle vermengte Humusschicht und die lafseebmune Sandschicht. Jene oberste etwa 3 Zoll mächtige Schicht humosen Sandes ist eben das Residuum des jüngsten, des dritten Waldes: und wenn nach etwa einem Jahrhundert die tückische Düne über den heute noch so stolzen Hochwald von Echwarz-ort hinweggegangen sein, ihn zerbrochen, erstickt, zerrieben haben wirb, wird auch von ihm nichts weiter zu entdecken sein als ein solcher Bodensatz. Uemento mori! 134 3. Kalifornien. Etwas „ReclleS". — Wie man Millionair wird. — Eine Flottille von Danipfbaaacrn. — Paternosterwelk. — „Keine Ruh bei Tag und Nacht". — Verweltliche Väume. — Verweltlich« Insecten im Belnsteinbaiiö. — Verweltliche Künstler. — Vernstcinlager. — 75,000 Pfund jährliche Ausbeute. — Was der Staat und die Provin; dabei gewinnt. — Schichtenwechsel. — Polizei-Studien. — Bernfleinweithe. — In der VernsteiN'Colouie. — Hölzern« Kasernen. — In der „Verghalle". — Illumination des Haffs. Äser und Leserinnen, welche meinen Schilderungen bisher gefolgt sind, werden mir vielleicht zugestehen, baß die Natur der Nehrung eine großartige, wechselvolle und abenteuerliche ist; aber trotzdem meinen: es sei und bleibe doch immer ein wüster unfruchtbarer armseliger Fleck Erde, und er biete thatsächlich nichts — Reelles. Um so mehr wird man sich verwundern, wenn ich jetzt zeige, baß er, ganz widersprechend dieser Meinung, ein wahres Kalifornien umschließt, reiche Schätze, die fast unerschöpflich fließen. Zwar wird hier nicht Gold gegraben, wohl aber ein Mineral, das unter Umständen dem Golde an Werth und Kostbarkeit wenig nachsteht. Es ist ein der preußischen Ostseetüste eigenthümliches Produkt, das ihr seit Jahrtausenden Weltruf verschafft hat, mit einem Worte — der Bernstein. Seit Jahrtausenden wirft die Ostsee diesen geheimnißvollen Stein an die Küste, besonders reichlich auf der Strecke von Danzig bis Memel, also auch an den Strand der Kurischen Nehrung, aber gerade hier war die Ausbeute keine besondere. Schon seit Jahrhunderten begnügten sich die Anwohner nicht mehr mit dem, was das Meer ihnen freiwillig in den Schooß warf, sondern man sing 185 an, den auf dem Rücken der Woge herantreibenden Bernstein zu schöpfen, ihn vom Seegrunde loszustechen, und namentlich an der Küste und im Innern des Landes auszugraben; Alles mit dem besten Erfolg, oft mit überraschenden großartigen Resultaten. Ein Spatenstich brachte oft Stücke von vielen Pfunden, im Werthe von 1000 bis 40,000 Thaler zu Tage. Alle diese Funde wurden aber verdunkelt, als man vor sechs Jahren ein neues Nernstemlager am Fuße der Nehrung entdeckte, das reichste und ergiebigste seit Men« schengedenten. Schon vorher hatte man an der jenseitigen Haffküste bei Pröluls nach Bernstein gegraben, aber die Ausbeute war so wenig lohnend, daß man die Gruben immer wieder eingehen ließ. Da kamen zwei Memeler auf den Gedanken, den Grund des Haffs selber erforschen zu wollen; sie theilten ihn den Fischern von Echwarzort mit und stellten diesen das Anerbieten, sich mit ihnen zur Hebung der verhofften Schätze zu verbinden-, Unkosten und Gewinnst sollten dann gemeinschaftlich gehen. Aber die Echwarzorter scheuten die Kosten und versprachen sich keinen Erfolg. Nun setzten die Beiden ihren Plan allein in's Wert, und bald sahen sie ihre kühnsten Erwartungen übertroffen. Es waren ein Kahnschiffer, Namens Stantien, und ein jüdischer Händler, Namens Becker; beide befanden sich damals in sehr heruntergekommenen Vermögensverhältnissen: — heute gelten sie schon für Millionaire. Eine gute Viertelstunde nördlich der letzten Häuser von Schwarz» ort, idyllisch am Rande des Hochwalds gelagert und längs dem Hassufer sich hinziehend, finden wir die Colonie des ostpreußischen Kaliforniens. Sie nimmt sich einfach genug aus, denn sie besteht nur aus etlichen Baracken, Schuppen, Werkstätten und Comptoirs; Alles von Holz schlicht und roh aufgeführt, lauter Nothbauten, nur um das erste Bedürfniß zu befriedigen. Um so imposanter erscheint die Flottille von Dampfbaggern, die kaum tausend Schritt vom Ufer entfernt, sich in voller Arbeit befinden. In Begleitung des Pfarrers und seiner beiden Damen kam ich in der Bernstein-Colonie an. Wir meldeten uns bei dem Geschäftsführer, einem Verwandten uud Namensvetter des Unterneh- 18b mers Stantien; und dieser ertheilte nicht nur auf das Vereitwilligste die erbetene Erlaubniß, sondern er lirß auch eine schmucke Jolle bemannen und uns auf dieser nach den Vaggern hinaus-rudern. Es sind gegenwärtig 12 an der Zahl, etliche großer, andere kleiner; und auf jedem arbeiten 10—25 Mann. Wir hü'lten bei einem Hauptbagger und kletterten hinauf. Ter alte Werkmeister, der hier als erster Veamter fungirt, führte uns selber umher. Er lommt, wie er sagte, höchst selten an's Land: er iht und schläft auf dem Fahrzeug, wo er seine eigene Kajüte hat und ein eigens dazu angestellter Koch ihm die Speisen bereitet. Nuter ihm stehen: 1 Maschinenmeister, 2 Baggermeister und die eigentlichen Arbeiter. Betrachten wir jetzt die Baggermaschine. Es ist ein sogenanntes Paternosterwert, eine Kette von Eimern, die im Kreise auf-und niedersteigen, den Haffgrund aufwühlen und ein Gemenge von Erde, Sand, Schlamm, Eprockholz und Bernstein heraufbringen und selber ausschütten. Ter Vagger rüät dabei nur um wenige Fuß vor und zur Seite, wird allmälig tiefer gestellt und bildet so eine grabenförmige Rinne. Man baggert bis 22 Fuß unterm Wasserspiegel; gewöhnlich nur 4 Fuß, bisweilen auch 19 bis 15 Fuß im Haffgrunde. Schon bei 1 bis 2 Fuß Tiefe bringen die Eimer vereinzelte Bernsteinstücke und Sprockholz, die stets zusammen vorkommen, zu Tage; je tiefer sie graben, desto größer wird die Ausbeute. Sind sie auf der Grenze der bernsteinhaltigen Sandschicht angelangt, so beginnt erst die eigentliche Arbeit. Die Eimern gehen von nun an leer in der gebildeten Rinne, erzeugen in derselben einen lebhaften Wasserstrom und schöpfen so Sprockholz und Bernstein, während der Sand zu Boden fällt. Zu diesem Zwecke sind zweierlei Arten von Eimern angebracht; gewöhnliche dichtgeschmiedcte wechseln mit gegitterten durchlöcherten ab; beide Arten graben zunächst die Rinne und bringen den Sand herauf; ist jene fertig, dann erzeugen die dichten Eimer vornämlich die Strömung, während die gegitterten vermöge des hindurch gehenden Stroms den Bernstein auffangen. 187 Sand, SprockholZ und Bernstein werben aus den Eimern auf einen Steg ausgeschüttet und gleiten von diesem auf ein Eisen« sieb, das den Deckel eines kastenartigen Prahms ausmacht. Der Sand fällt durch die erbsengroßen Löcher des Siebs in den Prahm, Sprock und Bernstein bleiben zurück und weiden von den Arbeitern in ein Faß geschaufelt, und später von einander gesondert und ausgewaschen. Das ist im Großen und Ganzen das ebenso einfache wie rationelle und bewährte Verfahren bei der Bernsteinbaggcrei. Anfangs war nur ein einziger kleiner Handbagger vorhanden; er ist längst außer Gebrauch gesetzt, aber die Unternehmer bewahren ihn noch immer dankbar als eine Reliquie, denn er ist das Fundament ihres Glücks, er hat ihnen die Mittel erworben, ihr Wert fortzusetzen und ihm allmälig seine jetzige Ausdehnung zu geben. Im Laufe der Zeit kam ein Handbagger nach dem andern hinzu, wurden endlich alle in Dampfbagger umgewandelt. Die größten sind jetzt mit zwei Paternosterwerten versehen, und zu beiden Seiten d« selben schwimmt ein Prahm. Alle Prähme haben unter dem Verdeck große Luftkasten, so daß sie nie, wie es früher geschehen, sinken können. Man öffnet den Prahm ohne Gefahr unten am Boden und läßt den Sand herausfallen. Das Baggern ist eine schwere rauhe Arbeit, namentlich bei Regen und Sturm, wo die Leute beständig von den heraufschla« genden Wellen bespült werden. Sie erhalten jedoch einen ziemlich guten Lohn, der Mann für eine sogenannte Schicht von 8 Stunden 22'/, Sgr. Es wird nämlich vom ersten Frühjahr bis in den späten Herbst, so lange das Wasser offen ist, Tag und Nacht ohne Unterbrechung gebaggert. Alle 6 Stunden wird die Mannschaft abgelöst und durch eine andere Schicht ersetzt; sie hat nun 8 Stunden Nuhe und lommt erst dann wieder an die Reihe. Jeder Arbeiter ist also binnen 2 mal 24 Stunden 3 mal 8 Stunden beschäftigt, und sein Verdienst stellt sich auf etwa 1 Thlr. 4 Sgr. pro Tag, was für ostpreuhische Verhältnisse hoch genug ist. Der alte Werkmeister lieh uns von dem gewonnenen Bernstein verschiedene merkwürdige Stücke sehen. Sein Werth lichtet sich bekanntlich nach der Größe, Farbe, Durchsichtigkeit und Rein, 186 heit. Sr lommt in den kleinsten Brocken wie in Stücken bis zu mehreren Pfunden und fast in allen Farben uor. Von dem durchsichtigen behauptet der ganz helle ziemlich wasserklare den höchsten Preis, von dem undurchsichtigen aber der wolkige sogenannte kumst» farbige oder milchweiße. Sehr geschätzt ist auch derjenige, welcher Insectcn und andere kleine Thiere umschließt. Solche Stücke lassen es zweifellos, daß der Bernstein ein vorweltliches Produtt ist-, und auch die Naturwissenschafter glauben jetzt mit Sicherheit annehmen zu dürfen, daß er seine Entstehung einem Harz verdanke, das, äußerst dünnflüssig und schnell erhärtend, sich einst aus einem Baume ergoß, der, als noch Preußen ein dem Tropischen sich näherndes Klima hatte, hier und in einem großen Theile des heutigen Ostseebettes ungeheure Wälder bildete, welche zerbrochen und vergraben wurden, als von Norden her mächtige Fluthen, vielleicht mit Eismasscn vermischt, hereindrangen und gleichzeitig unser warmes Klima in ein kaltes umgewandelt wurde. Dieser Baum, wahrscheinlich eine Konifere, ist ebenso wenig mehr vorhanden als die in seinem Harze begrabene Thierwelt. Wenn das Harz unseres heutigen Nadelholzes Insekten umschließt, so sind deren Leiber verbogen, ihre Füße eingezogen und ihre Flügel zusammengerollt' während die -im Bernstein eingeschlossenen Thiere bis in die zartesten Theile wohl erhalten sind. Man sieht Springkäfer und Cicaden im Fortschnellen, Mücken in der Paarung, Spinnen, wie sie den Fliegen nachsehen. Die Kata-strophe muß also eine außerordentlich jähe, das Ausströmen und die Erhärtung des Harzes im Nu geschehen sein, bevor die gefangenen Thierchen von ihrem Schicksal noch eine Ahnung hatten. Unsere höchste Verwunderung erregt aber die Thatsache, daß unter dem hier gebaggerten Bernstein auch zahlreiche schon bearbeitete Stücke vorkommen. Und zwar unterscheiden sich diese Artefactc von allen sonst irgendwo gefundenen durch größere Kunst-losigteit, also durch höheres Alter. Viele Stücke sind nur der Länge nach durchbohrt, als ob sie auf eine Schnur gereiht gewesen; andere ähneln in ihrer stachen scheibenartigen Form großen Knöpfen und sind an der Hinterseite mit einer Art von Oese vere 169 sehen: noch andere, wahrscheinlich Brustverzierungen, sind von dreieckiger oder ovaler Form und zuweilen schon durch vunktirte Linien ausgeschmückt. Alle diese Gegenstände sind bereits möglichst glatt geschabt und theilweise durch langem Gebrauch völlig volirt. Auch flache Ringe wurden vereinzelt gefunden; das Merkwürdigste aber waren zwei menschliche Figuren in kurzer Jacke,, wahrscheinlich Götzenbilder und als Amulet getragen, wofür die Größe, 3'/2 Zoll, und vier passend angebrachte Löcher sprechen. Noch auffallender ist die große Menge halbfertiger Artefacte, die häufig eine von beiden Seiten erst begonnene Bohrung zeigen und im Uebrigen erst aus dem Gröbsten gefchniht sind. — Es drängt sich die Vermuthung auf, daß dieser verarbeitete Bernstein einem vorweltlichen Geschlechte entstammt, und daß auch die vorweltlichen Künstler, vielleicht mitten in ihrer Arbeit, von der gedachten Crdrevolution ereilt wurden. Doch lehren wir von solchen Vermuthungen zu unserm Gegenstande zurück. Die Hauptarbeit der Vagger bewegt sich nunmehr seit bereits fünf Jahren auf ein und derselben Stelle, und noch ist keine wesentliche Abnahme zu spüren. Das reiche Vernsteinlager befindet sich auf dem sogenannten Kornin g'schen Haken, einer sanften Bodenanschwellung in dem überhaupt stachen Haff. Falls es aber auch nächstens erschöpft werden sollte, werden die Unter« nehmer darum nicht in Verlegenheit gerathen, indem aller Wahrscheinlichkeit nach in diesem Gewässer noch mehre solcher Lager existiren. Was nun die Ausbeute betrifft, so werden auf die größeren Dampfbagger 30 Pfund, auf die kleinem 20 Pfund Bernstein für eine achtstündige Schicht gerechnet. Ist diese Pfundzahl von einenl Bagger überschritten, so erhält die Mannschaft eine kleine Prämie. Die Gesammtausbeute von allen zwölf Baggern betrug während des vergangenen Jahres, nämlich innerhalb etwa 30 Arbeitswochen, gegen 75,000 Pfund. Wie groß indeß auch der Gewinn der Unternehmer sein mag: der Staat findet bei der Bernsteinbaggerei gleichfalls feine Rechnung, und auch der Provinz tommt sie mehrfach ,u Gute. An den 190 Staat zahlen die Herren Becker und Stcmtien eine Pacht, die bis zum letzten Frühjahr 25 Thaler täglich betrug, seitdem aber wesentlich erhöht worden ist. Ferner haben sie es übernommen, täglich einen Mann zu den Culturarbeitcn im Tchwavzorter Walde zu stellen und das Fahrwasser im Hass ossen zu erhalten, eine Sache, die sonst der Negierung in jedem Jahr eine bedeutende Ausgabe kostete. Endlich schütten sie mit dem ausgebaggerten Sand zwei große Dämme ins Haff hinein, die als Winterhafen für ihre Vag' ger dienen und auch schon andern Fahrzeugen Zuflucht gewährteu-, und wodurch der Nehrung ein Vorland gewonnen wird, das selbstverständlich, ebenso wie der Grund und Boden, auf dem die Etablissements der Colonie errichtet sind, Eigenthum des Fiskus bleibt. Die Nernsteinbaggerei giebt wohl 500 Menschen Beschäftigung und Verdienst; die Arbeiter recrutiren sich von der Nehrung und über ganz Littauen; eine neue Quelle des Nationalreichthums fließt und verbreitet sich über die ganze Umgegend. Besonders ist das auf der Nehrung zu merken, wo der Wohlstand sich dmchgäugig gehoben; die guten Schwarzorte»- sind fast etwas übermüthig geworden, und überschreiten in den Anforderungen für ihre Produkte und Leistungen zuweilen die Grenze des Erlaubten. Der Tag neigte sich, da wir heimrudertcn. Die Soune ver-sanl bereits hinter den Dünenbergen, und die breite Wasserfläche des Haffs erstrahlte in ihrem Wiederschein. Die jenseitige fast eine Meile entfernte littauische" Küste erscheint wunderbar nahe gerückt, in dem dort längs dem Ufer sich hinziehenden Dörfchen ist jedes Haus durch den Reflex seiner Fensterscheiben zu erkennen, jeder Baum zeichnet sich in rothgelber Beleuchtung am Horizont ab; und mitten auf dem Spiegel des Haffs schaukelt und dampft die Flottille dcr Bagger, an welchen jede Stange, jede Kette, jeder Eimer wie durchsichtiges Bernsteingold erglänzt. Bald nachdem wir gelandet, erschallen vom Haff herüber die hellen Klänge einer Glocke. Sie wird auf dem Hauptbagger angezogen und giebt das Signal zum Schichtenwechsel. Fast in demselben Augenblick stoßen von sämmtlichen Baggern und gleichzeitig 191 vom Lande, hier wie dort, zwölf Voote ab. Jene führen die ab.-gelöste, diese die neue Mannschaft. Auf der Mitte des Weges begegnen, sie sich und grüßen einander mit lautem Hurrah! Schon ist die Dunkelheit eingebrochen, als jene die Dampfer erreichen, diese den» Ufer sich nähern, wo sie bereits die Aufsichtsbeamten mit Laternen in den Händen erwarten. Alle Boote müssen an einer bestimmten Stelle und immer eins nach dem andern landen. Die heraussteigendcn Arbeiter werden sofort in Beschlag genommen und Mann für Mann bis auf die Haut visitirt. Das Resultat ist gewöhnlich ein vergebliches, nur selten wird bei einem der Leute ein Stück Bernstein gefunden: trotzdem aber und obgleich jede Unterschlagung sofortige Entlassung nach sich zieht, wird, wie mich der Geschäftsführer leise versichert, täglich und regelmäßig gestohlen. Es giebt gewisse Verstecke und Manöver, die auch der strengsten Visitation spotten, und die Gelegenheit ist zu verlockend. Nachdem alle Leute durchsucht sind und sich bereits entfernt haben, wird das Ufer der Landungsstelle noch Schritt für Schritt und bis ino Wasser hinein abgeleuchtet und durchforscht, ob nicht irgendwo ein Stück Bernstein zu entdecken ist, das Hans oder Kunz etwa weggeworfen hat, um es sich später zu holen. Eine halb komische halb peinliche Praxis, werth des gewitUcsten Polizei-beamten. Der Pfarrer hatte sich inzwischen mit den Damen nach Hause begeben, ich aber durchwanderte an der Seite des Geschäftsführers noch die verschiedenen Gebäude. Im Magazin fanden wir die Arbeiter theilweise wieder. Jeder Vagger lieferte jei.t seine Ausbeute, sein Säckchen mit Bernstein, ab, der sofort gewogen wird, damit die betreffende Mannschaft weiß, ob sie die Prämie erreicht hat oder nicht. Im Magazin steht Faß an Faß, alle mit Bernstein gefüllt. In Zweischeffelsäcke gepackt, befördert ihn ein den Unternehmern gehöriges Dampfboot, das auch zum Transport der leeren und vollen Prähme dient, nach Memel, wo er in die Sortiranstalt tommt. Dort sind an langen Tischen 22 Sortirer hinter ihren Wagschalen beschäftigt, jeden Posten eingelieferten Bernsteins, der 1« nach und nach aus einer Hand in die andere geht, in 85 Sortimente zu sondern. Jedes Sortiment enthält mir Stücke von gleicher Farbe, gleicher Große und gleichartiger Masse. Tie Bern-steinfabrikanten sind hiernach in den Stand gesetzt, genau dasjenige Sortiment zu wählen, wao ihnen für die betreffenden Artikel am passendsten dünkt; während sie früher das Material in Stücken taufen mußten, wie fie gerade vorhanden waren, und oft bis 50 Prozent davon für ihre Zwecke gar nicht brauchen tonnten. Beispielsweise tostet ihnen jcht: ein Sortiment zu Pfeifen- oder Cigarrensvihen H. in feiner wolkiger Farbe ein Pfund von 9 Stück.......2ä Thaler, - 18........15 . - . 40 -.......10 « . , - 60 -.......6'/« - . , -100 -.......4 , , -200 - (zu Aufsähen auf ameri< lanische, sog. Vruuere-Holz-Pfeifen) ... 3 P. llar (durchsichtig), dieselben Sorten um 40 Prozent billiger: Sortimente rund, zu Korallen ä. in feiner Farbe (meist nach England) ein Pfund von 30 Stück.......10 Thaler, - - - 60 -.......6 - 100 -.......4 V. Dieselben Sorten tlar (meist nach Afrika) um 40 Prozent billiger. Die lange Reihe der übrigen Sorten geht hinab bis zu 4 Sgr. das Pfund (meist nur zum Räuchern und zur Vereitung von Bern-fteinsirniß und Bernsteinöl verwandt): während sich der Werth von ungewöhnlich großen und zugleich feinfarbigen, sogenannten Kabinets-stücken gar nicht berechnen läßt, da solche bei ihrer Seltenheit oft mit 400 bis 10,000 Thlr. bezahlt werden. Ueberhaupt giebt es wohl kaum ein anderes Rohprodukt von so großer Werthverschie-bmheit als den Bernstein. 193 Ebenso großartig wie die Vaggerei betreiben die Unter-nehmer auch den Absah des Bernsteins. Sie verkaufen ihn direct an in- und ausländische Fabrikanten bis nach Konstantinopel, Kalkutta, Hongkong, Bombay, Mexiko lc., wo sie überall Comman-diten nnd Agenten haben. Dadurch erzielen sie einen Mehrertrag von durchschnittlich mindestens 50 Prozent, der bei dem sonst üblichen schwerfälligen Zwischenhandel an dritte Personen und meistentheils sogar noch an das Ausland verloren geht. Doch wir sind noch in der Vernstein-Colonie. An die Bureaux nnd das Vernsteinmagazin stoßen andere Schuppen zur Aufbewahrung von Vorräthen und Gerüthschaften aller Art, sowie verschiedene Werkstätten, als Schmiede, Schlosserei, Drehstube, Tischlerei:c. Fast alle Utensilien und Reparaturen werden an Ort und Stelle gefertigt, mit alleiniger Ausnahme der Maschinentheile aus Eisenguß. Wir kommeil zu den Baracken oder Schlafstätten der Arbeiter. Es sind vier rohe lange Holzschuppen, in zwei Etagen und lauter Kämmerchen, für je zwei Mann, abgetheilt. Man muß billig erstaunen über die robuste Natur dieser Leute. Sie liegen wie die Hunde in engen halbdunkeln Löchern, wo sie nur sehr unvollkommen gegen Kälte und Nässe geschützt sind', sie liegen theilweise auf einer Schütte Stroh, theilweise auf der nackten Erde und bedecken sich mit ihren Kleidern. Gegenwärtig kochen sie vor den Thüren an verschiedenen Feuern, die malerisch durch die Nacht stackern, ihr Abendbrod, das meist aus einem Topf mit Kartoffeln besteht. Als „Zubiß" wird ihnen täglich '/, Quart Schnaps geliefert, und was sie sonst an Getränken und Lebensmitteln brauchen, können sie in der „Berg. halle" kaufen. — Es herrfcht bei uns eine strenge Disciplin, sagte der Geschäftsführer, und sie ist geboten: wie sollten wir sonst wohl diese Notte von 4 bis 500 Mann im Zügel halten! Jedes Versehen, jedes Vergehen wird unnachsichtlich bestraft'. Ungehorsam, Faulheit, Be trunkenheit mit Geldbußen; Feiern und Veruntreuung mit sofortiger Entlassung. Für jedes Stück Geräth oder Maschinentheil, welches etwa verschwindet oder umhergeworfen wird, machen wir immer 12 194 zwei Arbeiter verantwortlich und erreichen es dadurch, baß Jeder seinen Kameraden beaufsichtigt. — Sind sie oft gezwungen, Leute wegen Veruntreuung zu entlassen? fragte ich. — Leider sehr hausig! — Und werden die Entlassenen nicht wieder angenommen? — O gewiß! lächelte der Geschäftsführer. Nach einigen Tagen oder Wochen müssen wir die Hallunken wieder einstellen; wir würden sonst nicht (linen Mann behalten. Lie stehlen Alle! Den Äeschlus; des Tages machte ein Äesuch in der „Äerg-hallc", einer hölzernen Bude am äußersten <5'nde des Orts, die von dem Dnnenberg, an welchem sie steht, ihren Namen hat. Sie ist gewissermaßen das Casino der Bcrnstein-Colonie, denn sie enthält außer einem Laden, wo die verschiedensten Victualien und andere Waaren feilgehalten werden, zwei tleine Gastzimmer, eins für die gewöhnlichen Arbeiter und eins für die Aufsichtsbeamten. Wir fanden beide überfüllt und nur mit Mühe einen Platz, wo wir ein Glas Grogk genossen, das uns bei der rauhen Abendluft sehr wohl that. Als wir wieder hinaustraten, war es pechrabenschwarze Nacht; ich konnte nicht die Hand vor Augen sehen und mußte mich von dem Geschäftsführer nach dem Gasthause leiten lassen. Aber das Haff war wie illuminirt von den Laternen, welche die Vagger aushängen hatten; und das von ihnen herüberkommende Gebrause und Geschnaufe verkündigte uns, daß sie rastlos dein edlen Bernsteingolde nachspürten. 1V5 4. Mitten in der Wüste. Auf dem Keutellahn. — Das schöne IFischermäbchen. — Die Ichthyophagen. — PeiweN. Sprachiibungm. — Aermcr als arm. — Wie die Ditnen geboren werben, »andern und sterben. — Triebsandgeschichtcn. — „Und Nosz und Reiter sah man niemals wieder." — Ein verschüttetes Dorf nnd ein aufgedeckter Kirchhof. — Preil. — Nibden. Ich war fest entschlossen, meine Reise zu Lande fortzusetzen und suchte mir zu diesem Zwecke in Schwarzort einen Wagen oder ein paar Pferde zu miethen, aber man forderte so unverschämte Preise, daß ich darauf verzichten mußte und wieder meine Zuflucht zu einem Dampfer nahm, der von Memel herunterkam. Auf der „Terra", wie er sich nannte, segelte ich nun wieder die Dünenkette entlang und bat den Kapitän, er möge, sobald wir die Höhe von Nid den, dem nächsten Kirchdorf, erreichen, ein Boot heranrufen und mich absetzen. — Wenn nur Eins da sein wird! entgegnete er mir. Und die Kerle kommen nicht immer. Sie thun doch klüger, nicht bis Nidden zu warten, sondern Sie steigen da aus, wo sich zuerst eine Gelegenheit bietet. Nach einer Weile entdeckte er auch mit seinem scharfen Auge ein Segel, das wie ein Ball auf den hochgehenden Wogen tanzte, und zwischen ihnen von Zeit zu Zeit verschwand. Sobald wir ihm etwas näher kamen, ließ er eine weiße Fahne aufhissen, und es dauerte nicht lange, so versicherte er: der Iischerkahn habe das Zeichen schon bemerkt und folge ihm. Wirklich arbeitete sich das Boot durch Wind und Wellen, die ihm nicht günstig waren, heran, und ich konnte endlich zwei Personen auf ihm unterscheiden. Der 13* 196 Kapitän rief ihnen zu, nnd sie antworteten ihm, ohne daß ich eine Silbe davon verstand. — Die Leute sind aus Pernielt, erklärte er. Von dort ist's noch eine starte Meile bis Ridden; aber inachen Sie sich nur immer fertig. Wer weiß, ob Sie's heute noch einmal so gut treffen. Gesagt, gethan! Die Maschine wurde gestopft, das Boot legte sich an die Treppe und ich stieg mit meinem Handkoffer hin-nnter, wo mich ein ältlicher Mann in Empfang nahm. Ohne an mich ein Wort zu verlieren, stiesi er ab und sputete sich, mit seinem kleinen Fahrzeug aus dein gefährlichen Bereich des Dampfers zu entkommen. Ich fuchte nach einem trockenen Plätzchen, wo ich mich niederlassen oder wenigstens hinstellen konnte; doch vergebens. Das Wasser stand zollhoch in dem flachen Boot, und auch der Nand und eine Art Querbank troffen von dem Schaum der beständig herein-spritzenden Wellen. Ich vermochte mir nur zn helfen, indem ich meinen Koffer preisgab, ihn mitten in das Wasser stellte und dann als Sessel benutzte. Der Alte sah mir, während er mit dem Segel und den Netzen hantierte, halb neugierig halb spöttisch zu. Er hatte sich besser vorgesehen, denn er trug hohe bis an die Lenden reichende Stiefel, sowie eine Kappe und ein Wamms, beides von getheerter Leinewand, und die Wassertropfen leckten von dieser Rüstung ge-ziementlich nieder. Am Steuer saß ein halberwachsenes Mädchen; wie ich vermuthete, des Alten Tochter. Sie war barfuß und auch im Uebrigen nicht befonders warm gekleidet, schien sich aber trotzdem ganz behaglich zn fühlen. Ihr Anblick erinnerte mich an Heine's Fischer-müdchen aus den „Nordseebildern,". Zwar guckte aus dem groben Zeuge keine „zarte weiße", sondern eine braunverbrannte Schulter und sie war gleich den bloßen Armen noch etwas mager und eckig; aber die schlanke feine Gestalt mit dem zierlich geformten Köpfchen 197 versprach doch eine Schönheit zu werben. Ihre großen schimmernden Augen starrten mich unaufhörlich an, als ob sie sich uon ihrem Erstaunen über meine Erscheinung gar nicht erholen könne; und wenn ich sie anredete, öffnete sie nur lächelnd und lebhaft er-rötheud den kleinen Mund und zeigte zwei Reihen perlenförmiger blendend weißer Zähne. Auch ihr Vater beantwortete alle meine Fragen nur mit einem lächelnden Kopfschüttcln und einigen abgebrochenen Worten, die mir ebenso räthselhaft blieben, wie ihm die meinigen'; so daß ich die Hoffnung aufgeben mußte, mich mit ihnen zu verständigen. Plötzlich zeigte sich noch eine dritte Person. Unter dem Verdeck tam ein kleiner Junge hervorgckrochen, der wohl inzwischen ein Schläfchen gehalten hatte, denn er reckte die Arme gen Himmel und gähnte dazu erschrecklich, was sich um so possirlicher ausnahm, als er nur mit einem kurzen Hemde und einer grellbunten Weste bekleidet war. Dann ließ er die Augen umherschweifen, und als er mich erblickte, riß er sie noch weiter auf und drohte wie Lot's Weib zu erstarren. Erst da ich ihm einige Mal freundlich zunickte» kam er wieder zu sich, schlich nach einen: kastenartigen Behälter, worin die gefangenen Fische zappelten, ergriff einen fetten Bars und verfchlaug ihn mit allen Zeichen des Wohlgeschmacks, indem er nur die Gräten ausspie. Ich war geneigt, das für eine Verirrung des Kleinen zu halten und sah ihm staunend zu, doch der Alte belehrte mich eines Bessern, indem er gleichfalls einen Fisch ergriff und ihn in derselben Weise verspeiste. So war ich denn unter wirkliche Ichthyophagen gerathen, und sah mit eigenen Augen, was ich früher zweifelnd gehört hatte. Der Anblick dieses Mahls und das unruhige Haff machten mich fast seetrank, und ich sehnte mich nach dem Lande. Bald merkte ich jedoch, daß der Alte an Heimkehr noch gar nicht dachte, sondern ohne sich um mich zu bekümmern, hin und her kreuzte und seinem Gewerbe nachging. Vergebens deutete ich wieberholt auf die Nehrung, vergebens zeigte ich ihm ein Geldstück: er schüttelte nur wieder den Kopf und fuhr fort zu fischen. Was bl«eb nur 198 übrig, als mich ruhig in mein Schicksal zu ergebe»! Erst nachdem ich mehre Stunden ausgehalten und der Fischtasten ziemlich gefüllt war, lenkte das Voot dem Lande zu, wo es mit Hülfe einer hinzukommenden ältern Frau aufs Ufer geschoben, und der Fang in Sicherheit gebracht wurde. Ich befand mich also jetzt in Pcrwelt, und wie mich ein Blick überzeugte, in dem armseligsten Orte, den es auf der ganzen Nehnmg giebt. Nur Flugsand und Tünenbcrge, und uou ihnen belagert, sechs elende Holzhäuschcn, ^n denen zwei bereits so windschief stehen, daß sie jeden Augenblick einzufallen drohen. — Wirtlich soll die Regierung damit umgehen, die Einfassen zu nöthigen, ihre Heimath aufzugeben und sich irgend anderswo niederzulassen; aber wenn sie ihnen nicht eine Beihülfe gewährt, find die Leute wegen ihrer grenzenlosen Armuth dazu nicht im Stande. Natürlich ist von einem Wirthshaus hier nicht die Rede, und und so folgte ich, ohne eine Einladung abzuwarten, dem Alten und seiner Familie in ihre Wohnung-, was die Leute auch gar nicht zu verwundern schien. Man wies mich in ein ziemlich großes sehr dürftig ausgestattetes Zimmer, die Hausfrau brachte eine Schüssel mit Fischen herein, die aber diesmal, wenn auch nur auo dem Salze, gekocht waren, und bald saften wir Alle mit einander um den langen schmalen Tisch und genossen dankbar, was uns Gott be-scheert hatte-. denn auch ich verspürte in Folge der langen Fahrt auf dem Haff einen guten Appetit, und selbst das harte Speilen-brod, das die Zukost bildete, mundete mir nicht schlechter als meinen Wirthsleuten. Von Neuem machte ich Versuche, mich bei ihnen zu verständigen, und endlich gelang es mir einigermaßen. Indem ich immer wieder mit der Hand nach Süden wies und dazu das Wort „Nidden! Niddenü" wiederholte, begriff man wohl, daß ich nach diesem Dorfe wolle. Ner Alte nickte und das Mädchen lächelte-. dann schmähten sie eifrig unter einander. Augenscheinlich beriethen sie, wir mir zu helfen sei; und endlich mochte der Alte einen großcu Gedanken haben. Er redete zu dem kleinen Jungen, als ob er 199 ihm einen Auftrag gäbe, und dieser stellte sich erwartungsvoll vor mich hin, und als ich ihn nicht gleich verstand, zupfte er mich schüchtern ani Rocke, worauf es mir klar ward, das; ich mit ihm gehen sollte. Ich folgte ihm also zur Thüre Hinalls, und der Knabe, der noch immer in Hemde und Weste paradirte, wie das denn überhaupt sein gewöhnlicher Anzug war — führte mich nach einer Hütte, die unter diesen elenden Behausungen als die elendeste dastand. Nicht einmal ein Dach war vorhanden, sondern statt desselben nur die Seiwnnaueri! mit Holzsparren und getrocknetem Schilfrohr bedeckt. Das ganze Gebäude enthielt nur ein ungedieltes Gemach, und hier war weiter nichts zu erblicken als eine Feucrstelle mit wenigen alten Töpfen, eine alte Truhe, verschiedene Geräthe zum Fischen und in einer Ecke eine kastenartige Bettstelle. In dieser lag, mit dem Kopf auf einem Bund zusammengerollter Schiffsseile, und nur mit einem Segel bedeckt, ein Mann, etwa dreißig und etliche Jahre alt. Ich hielt ihn für krank, aber bei unserm Eintritt erhob er sich ein wenig, und nachdem er des Knaben Anrede vernommen, kroch er vollends von seinein Lager, wo er ein wenig geruht hatte, und stand nun, vollständig angekleidet, vor mir. Hier war mehr als Armuth, und doch sah der Mann kräftig und gar nicht bekümmert aus. — Sie wollen nach Nidden? fragte er mich-, denn er verstand Deutsch und sprach es auch ein wenig. Ich erkundigte mich, wie ich wohl dorthin komme. -^ Zu Fuß oder zu Bootl antwortete er lakonisch. Pferde giebt es hier nicht, nicht einmal eine Kuh. Ich war darauf gefaßt. Da ich aber den Weg zu Lande vorzog, fragte ich ihn, ob er mir wohl bis Nidden als Führer dienen und meinen Koffer tragen wolle; und nach einigem Zögern erklärte er sich dazu bereit. Es war nöthig, daß wir die Reise sofort antraten, damit ich noch vor Abend Nidden erreichte, denn in Perwelk hatte ich auf ein Nachtquartier nicht zu rechnen. Mein Führer brauchte nicht weiter Toilette zu machen, sondern er kam, wie er stand und ging, und als ich von meinen Wirthsleuten Abschied nahm, erfuhr ich wieder einmal, wie die meiste Gutherzigkeit und 200 größte Uneigennützigkcit stets bei der Armuth nwlint. Nach Pcr-welt waren Habsucht und Geldgier noch nicht gedrungeni nur mit Mühe konnte ich die Hausfrau bewegen, eine .Kleinigkeit für das Mittagsessen anzunehmen, sie schwatzte ein Langes und Vreites dagegen, und der iunge Fischer verdolmetschte mir, das? sie die Münze, welche ich ihr gegeben, entschieden zu gros; finde und sie gegen eine kleinere einzutauschen wünsche. Alle schüttelten mir herzlich die Hand und riefen mir, mich vor das Haus begleitend, noch mancherlei Grüsse nach. Wir nahmen den Weg zunächst längs dem Secstrande, und ich hatte wieder Gelegenheit, die Vildung und Formen der Dünen zu studiren. Sie verdanken alle ihre Entstehung der See, die unaufhörlich feinen Sand auswirft. Jede aufbäumende Welle führt ihn mit sich und lagert ihn da, wo sie zerstiebt, zu einem kleinen, Walle ab. Schon die nächste Woge durchbricht das Wällchcn und hinterläßt eine ähnliche Marke, und so fort. Der Wind treibt die Sandwälle landeinwärts, und im Vorschrciten wachsen sie lawinenartig zu Hügeln und Bergen an. Gleich hinter der Uferbank folgt, wie schon früher gesagt, eine unregelmäßige Reihe kleiner Vor-düncn, nur 15—20 Fuß hoch, und weit hinter ihnen die Hauptdüne, deren Höhe zwischen 70 und 200 Fuß schwankt. Tas Terrain zwischen Vor- und Hauptdünc ist mit sogenannten Kupstcn, größern und kleinern mit dünnen Sandgräsern bewachsenen Hügeln bedeckt, in den tiefern Stellen auffallend feucht und gewährt auf verschiedenen Strecken eine verhältnißmäsiig nicht schlechte Weide. Ten Fuß der in starker Böschung aufsteigenden Hauptdüne begleitet ein schmaler Streifen völlig ebenen Sandes; er trägt nicht das mindeste Grashälmchen und erscheint nur hie und da dunkelschwarz oder lauchgrün gefleckt. Betritt der unerfahrene Wanderer diesen Eandstreifen, fo vernimmt er ein leises Knirschen, als ob eine schwache Eisdecke breche; er tritt einen Schritt weiter und sinkt nun wirklich ein, tiefer und tiefer; oft kann er den Fuß nicht mehr herausziehen, denn die trügerische Ebene ist der gcfürchtetc Triebsand, von dem ich bald mehr erzählen will. 201 Blickt man von dieser Seite zur Hauptdüne hinauf, so bemerkt man, das; sie aus lauter Schichten aufgebaut ist, und diese Schichten sind oft so regelmäßig wie die Jahresringe eines Baumes; ja, Dr. Schumann, jener Gelehrte, der sich um die geognostische Erforschung der Nehrung ein großes Verdienst erworben hat, hält sie geradezu für Iahreöschichten. Jede von ihnen besteht nach seinen Untersuchungen aus einer zu oberst liegenden dünnen grünen ziemlich festen Lamelle uon Knollensand und einer dickern hellgrauen lockern Lage uon ^uarz- uud Feldspathkörnern. Da die Schichten, je tiefer sie liegen, desto weiter nach der See hin vortreten, bildet sich hier eine förmliche Treppe mit breiten niedrigen Stufen. Die obere grüne Lamelle jeder Schicht ist so fest und glatt, daß der Wind über sie fortstreicht, ohne sie aufheben zu können; er greift dagegen mit Erfolg die senkrechten Abfälle der Treppenstufen an. Die Dünen wandern über die ganze Breite der Nehrung, und wie sie am Seestrande als winzige Wällchen geboren werden, so stehen sie riesengroß am Haffufcr, wo nun ihre allmälige Auflösung beginnt. Sie fließen ins Haff ab oder sie stürzen sich auch kopfüber hinein. Aber nicht nur die Dünen wandern von Westen nach ^sten, auch die Nehrung selbst schreitet in dieser Richtung vor, und dieseö Vorschreiten hat man seit den letzten drei Jahrhunderten auf circa 300 Ruthen berechnet. Was früher auf der -Haffseite lag, liegt heute an der See, oder ist bereits uon ihr verschlungen. Auch schon am Seestrande finden sich Tricbfandstrecken, sie sind jedoch unbedeutend und ungefährlich. Man sinkt hier höchstens 1 bis 3 Fuß tief ein, uud hat dann wieder festen Boden. Solche Stellen bilden sich bei hoher See, wo die Wogen weit auf den Strand getrieben werden und das Wasser hinter einem Sandwall stehen bleibt, um dann allmalig wieder zurück zu sickern. Die eigentlichen bodenlosen, weil wahrscheinlich schwimmenden Triebsandfelder trifft man dagegen im Innern der Nehrung, wie schon gesagt, dicht am Fuße der Dünen; und es sind daher diejenigen Stetten, welche die wandernden Sandberge 202 kürzlich verlassen und so bloßgelegt haben. Hieraus folgt, daß auch die Triebsandfelder wandern, hinter den Dünen herziehen: uud daft Stellen, die vor Jahren bodenlos waren, heute fest und sicher sind. Die alte Poststraße und auch der gewöhnliche Weg heutiger Reisender kommt nur au denjenigen Stellen, wo er von der.Hassans die Seeseite oder umgekehrt hinüberbiegt, in die Nähe der Tricbsandfelder. UnglüclMlle ereignen sich immer wieder, nicht nur von Fremden, die sich allein in die Dünen wagen, sondern auch bei Eingeborenen, wenn diese, um einen Richtwcg zn machen, von der eigentlichen Straße abweichen. Manches Fuhrwerk ist untergegangen, manches, indem noch rechtzeitig Hülfe kam, nur mit Lebensgefahr aufgegraben worden; oft mußte man den Wagen preisgeben, um nnr Pferde und Menschen zn retten; und ost war nicht einmal das möglich. Zu Anfang dieses Jahrhunderts versank zwischen Schwarzort und Memcl eine vierspännige Postchaise mit Pferden und Passagieren, und nie ist wieder eine Spur von ihr entdeckt worden. In den zwanziger Jahren versank die Tochter eines Beamten ans Memel vor den Augen ihrer Gespielinnen, nnd trotz aller Nachgrabungen, die man alsbald anstellte, ist ihr Leichnam nicht aufzufinden gewesen. Mancher Reisender blieb verschollen, bis er nach langen Jahren dnrch Zufall wieder zn Tage kam. So entdeckte ein alter Postillon in der Nähe von Sarkau bleichende Knochen, die der Wind freigeweht hatte. Er begann zn graben und legte das völlig unversehrte aufrecht stehende Gerippe eines Pferdes bloß, nnd neben ihm, genau in der Verlängerung des Thieres, das langgestreckte Skelett eines auf dem Gesichte liegenden Menschen, dessen Arme tief in den Sand gewühlt waren und die gräßliche Todesart bekundeten, welche den Reiter einst betroffen hatte. Er war, als das Pferd tiefer nnd tiefer einsank, über den Kopf desselben hinweggerutscht und mit den Händen voran ans die trügerische Triebsanddecke gefallen, die ihm keinen Stützpunkt mehr bot. Indem wir jetzt von der See- nach der Haffseite hinüberbogen, zeigte mir mein Führer verschiedene Triebsandstrecken, denen 203 ich mich behutsam näherte. Schon nach dem dritten Schritte durchstieß mein Stock die nur einige Zoll starke Rinde, und er sank bis zum Griff ein, ohne daß ich einen Widerstand fühlen konnte. Als ich zurücktrat, sah ich, wie das um meinen Fuß herausgequollene Wasser schnell verschwand, der Sand oben wieder zusammenfloß, und nach wenigen Augenblicken nicht mehr die geringste Nässe, nicht den geringsten Eindruck mehr «errieth. Nur wo das Terrain der Knusten auch an den tiefern Stellen schon etwas begraset ist, tann man sicher hinübergehen- und nach langer Trockenheit hält auch wohl die Decke der übrigen Stellen, die dann 6 bis 7 Zoll stark zu sein pflegt; jedoch ist's immer klüger, es nicht darauf ankommen zu lassen, indem das Versinken oft mit Blitzesschnelle erfolgt, ehe der Unglückliche auch nur noch Einen Schritt rück- oder seitwärts zu thun vermag. Als wir das Haffufer erreichten, bot sich mir plötzlich ein Anblick, der wieder einmal die Einöde in ihrer wilden Tragik zeigte. Rechts von uns stieg eine Sturzdüne himmelan, steil wie eine Mauer und wohl 200 Fuß hoch. Unter ihr liegt Karwai-ten begraben, eins der acht Dörfer, die erst in diesem Iahrhun-hundert von den Dünen verschüttet sind. Rhesa, Professor der Theologie zu Königsberg und als Uebersetzer Manischer Dichtungen bekannt, wurde hier geboren, und er hat den Ort, da seine Wiege gestanden, um 1797 in einem wehmüthigen Liede besungen. Es heißt „Das versunkene Dorf", und die ersten Verse lauten: Weil' o Wandrer hier und schaue die Hand der Zerstörung! Wenig Jahre zuvor, fah man hier blühende Gatten, Und ein friedlich Dorf mit frommen Wohnern und Hütten Lief vrm Wkld herab bis zu deS Meeres Gestade. Aber anjetzt. was siehst Du? Nur bloßen Voden und Sand. Wo Ist das friedliche Dorf, wo sind die blühenden Garten? Ach, dem Aug' entfällt hier eine Thräne der Wehnmth. Siehst Du dort die Ficht' und eine ärmlich« Hütte, Vor b«m Fall gestützt, mit grauem Moose bewachsen? Dies rilll ist der traurige Rest von Allem geblieben. Auch dieser Nest, das einzige .yüttchen und die letzte Fichte, sind jetzt schon ^ange unter dem Berg verschwunden. Nur die 204 Kirche wurde sserettet, aber sie steht heute in Schwarzort. Die letzten Vcwohuer bauten sich eine Achtelmeile südlicher an, und so entstand das auf einer kahlen Vorebcne liegende Fischcrdörfchen Preil, das uur zwölf Häuschen umfaßt und sich ebenso armselig ausnimmt wie Perwclk. Alle Dörfer auf der Nehrung, sowohl die verschütteten als die noch mit dem Sande kämpfcnden, sind am Haffufer erbaut worden, weil sie hier durch die Düucn gegen die ewigen Westwinde besser geschützt stehen, und wegen des Trinkwassers, das die Bewohner nur an dieser Seite finden. Von der Sturzdüne zieht sich ein Hügel zum Haff hinab. (5s ist der alte Kirchhof von Karwaitcn, auf dem anch die Preiler noch heute ihre Todten begraben. Aber welch' ein melancholisches Bild gewährt dieser kleine Friedhof. Keine Spur von Umzäunung, nicht einmal von Grabhügeln, die der Wind gleich wieder verweht. Man erblickt nur eine Anzahl kleiner Kreuze, die aus dem nackten Sande hervorragen, theilweisc auch schon bis zur Höhe des Querholzes verschüttet sind, theilweise nach allen Richtungen überhängen und umzufallen drohen. Um das Bild der Zerstörung vollkommen zu machen, schaut an der dem Winde zumeist ausgeseftteu Seite die dunkle Hälfte eines Sarges über dem Abgrund hervor, und nächstens mag es vollends niederstürzen. Der schreckliche Wind verschüttet die Lebenden und deckt die Todten wieder auf! Bald hinter Preil, wo wir uns nicht weiter aufhielten, be-ginnt das gefährlichste und großartigste Triebsandterrain der Nehrung, das sich '/, Meilen weit bis in die Nähe von Niddcn hinzieht. Es liegt ausnahmsweise zum größten Theil auf der Haffseite des hohen DünenkammZ, aber auch diese Ausnahme bestätigt nur wieder die Regel. Parallel mit der Dünenkette auf der Nehrung läuft uämlich eine andere, die bereits ins Haff gewandert ist und deren Sandmassen die Landzunge hier bis zu einer halben Meile Breite erweitert haben, so daß die große Triebsandebeue thatsächlich sich wieder seewärts der alten Dünen ausbreitet. Hier pflegen Reiter und Wagen, mögen sie auch häufig ungefährdet hinübertommen, dennoch nicht selten einzubrechen. Die 205 Nehrunger behaupten zwar, daß kein eingebornes Weidepferd den Triebsand betrete, und wirklich soll es, wie sehr der unerfahrene Reiter oder Fuhrmann es auch antreibt, in den meisten Fällen nicht dazu zu bewegen sein', aber dem Instinkt der Thiere ist doch nicht immer zu trauen. Es ist, wie ich später hörte, vorgekommen, daß sich der Boden beim schnellen Hinüberfahren, ohne zu bersten, vor und zwischen den Rädern fußhoch aufbog, sich in einer förmlichen Wellenbewegung befand, und mau fo die gefährliche Stelle glücklich passirte. *) Brechen die Pferde aber erst ein, fo sind sie gewöhnlich verloren, indem sie schnell tiefer und tiefer sinken uud in dem Sande wie eingemauert stehen, sich gar nicht mehr bewegen können. Trägt dann die Sanddccle noch die ^ast eines Menschen, so versucht man, sie auszugraben, und wenn man bis unter den Bauch gekommen, sie an einem um den Leib geschlungenen Strick herauszuziehen. Dies ist das einzige RettungZmittel, aber abgesehen davon, daß es die Retter selbst in Lebensgefahr bringt, nicht einmal immer von Erfolg, indem die Beine des Thieres oft so fest eingewurzelt sind, daß man beim gewaltfamen Anziehen sie .hm zerbricht. Doch da sind die letzten Ausläufer des kleinen Waldes von Nidden, der auf zwei Terrassen bis nahe an's Haff geht. ^er nach der Seeseite sich abdachende Hang der Dünenbergc .st w.eder völlig lahl und verschlingt alljährlich durch Aulage neuer und Wiederherstellung vernichteter Sandgrüserpflanzungen e.ne aniehn. liche Summe. Nidden ist eins der größten Dörfer auf der Nehrung es hat ein ahnliches Kirchlein wie Schwarzort, ein Pfarr- und ^chul-haus uud «ine Anzahl strohgedeckter Holzhütten, auf deren dxe eln ohne Ausnahme das Kurische Pferdcheu prangt. Ter nordUche Theil des Dorfs ist durch eine vorrückende Eeitendüne von dem VÄehnliche« berichtet auch Dr. G. Nerendt m stin« Mse «^ ^^ Nehrung« (Mpreußische Monatsschrift, Band 4); emen Aussatz, den :y S' «„ habe. 206 südlichen getrennt, in welchem ganz am Ende das „Gasthaus" liegt, ein freundliches durch seinen balkonartigen Vorbau, seine Holzverzierungen und seinen frischen lebhaften Anstrich schon uon ferne einladendes Gebäude. Hier dürfen wir rasten, denn Nidden liegt fast genau auf der Mitte der 15 Meilen langen Landzunge-, mitten in der Sand-wüste, die es südwärts wie nordwärts auf Meilenweite von der nächsten Ansiedlung der Menschen trennt. 207 5. Die Vase. Sturm in ben Dlinen. — Umgekehrte Wasserfalle. — Chaos von Sand und Finsterniß. — Endlich beritten. — Optische Täuschung. — Alt-, Neu- und wieder Alt-Pillloppen. — Lettisch und deutsch. — Die Diluvialiusel im Alluvialmeer. — SteinbrUcke im Hass. — Zwölfjähriger Sturm. — Das „Majorat von Rossitten". — Vier verschüttete Dörfer. — Lin veruagetteö Dorf. — Wo See und Hass sich lilssen. — Vogclstimmen. — Vaum-stumpfgespcnster und ein unterseeischer Wald. — Poesie und Prosa, Nomantil und Hunger. — Wüste und Badeort. — Das Schicksal der Nehrung. — Durch Vernichtung zum hohem Leben. Äm die Nehrung in ihrer wilden Schönheit und schreckhaften Erhabenheit kennen zu lernen, muß man sie im Aufruhr der Elemente sehen, wenn Meer und Sturm wie wahnsinnige Riesen gegen sie ausstehen, sie zu zerreiben, zu verschlingen drohen. Und der Anblick dieses Schauspiels ward mir vergönnt. Als ich gegen Abend noch einen Spaziergang längs dem Hassllfer von Nidden unternahm, sing der Himmel an sich zu beziehen, und unzählbare Schaaren von Seemöven flogen mit gellendem Geschrei über das Haff. Es ist das ein untrügliches Zeichen des nahen Seesturms, und auch die Sonne verkündigte ihn, indem sie in einer blutrothen Glorie unterging und die zerrissenen Wolken in grelle fleckige Tinten tauchte. Und was mit mir Jedermann erwartete, geschah. Schon in der Nacht,, da ich in dem mächtigen aus Krähenfedern gestopften Himmelbett des Gasthauses lag, weckte mich ein starker Wind, und als ich mich Morgens erhob, war er zum Sturm augeschwollen, der das ganze Gebäude in seinen Fugen wanken und knarren lisß, und wie ein Unhold durch die Dorfsgasse heulte. Gleich nach dem Frühstück ging ich hinaus und wieder an das Hasfufer. Unaufhörlich wallte der Sand über die Sturzdünen 208 hinab: in der Feme sahen die Sandmassen wie Wolken aus, die aus den Bergen aufstiegen, um sich in mäßiger Höhe wieder aufzulösen. Am Abhang der Düne saß ein Steinadler, den gesenkten ilopf ihr zugekehrt, schwingen und Schweif in die Höhe gehoben. Erst als ich ihm auf Schußweite nahe gekommen, machte er sich auf, unwillig, wie es schien, über die Störung. Noch etliche Male ließ er sich forttreiben, wobei er sich nie über die Düne erhob; die Masse des Gefieders mochte ihm hinderlich sein. Bald folgten Möwen uud Enten, die an, Ufer saßen, in Schaaren von Hunderten und Tausenden. — Neberhaupt muß man billig erstaunen über die Anzahl dieser Vögel, die sich überall auf der Nehrung finden. Angenommen, daß nur jede Möwe täglich '/, Pfd. Fische verzehrt, so gäbe das für den Tag eine Summe von Centnern, die gewiß die Ausbeute sämmtlicher Fischer am ganzen Hass weit übertrifft. Um die See zu fehen, erstieg ich die gegen 200 Fuß hohe Hauptdüne, wo ich mich nur mühsam aufrecht erhalten konnte. Das Meer hatte die Farbe des schwarzbewölkten Himmels angenommen, es schien Land und Himmel verschlingen und sich selber vernichten zu wollen: so mächtig thürmten sich die Wogen anf, so wild stießen die klaffenden Nasserberge gegen einander und so laut donnerten sie gegen den schmalen Landstrich, den ich jeden Augenblick überfluthet zu sehen wähnte. Oft schien das ganze Meer nur ein weißschäumender Gischt, die ganze Nehrung nur eine aufwirbelude Sandwolte. Zuweilen ließ sie sich aber anch wieder fast ihrer ganzen Länge nach übersehen, hob sich scharf und deutlich von Meer und Himmel ab, zwischen denen sie wie ein weißleuchtender Blitz oder auch wie eine weißschimmernde Riesenschlange auftauchte, um dann plötzlich in Dunkelheit und Wogengraus zu versinken. Obwohl sich das ganze Meer in empörtem Zustande befand, so ließ sich doch eine Scheidelinie ziehen zwischen dem brandenden überall schäumenden Streifen nächst dem Lande und der hohen See, deren tiefes Dunkel durch eine wechselnde Neihe weißer Bände/aufgehellt wurde. Eine» merkwürdigen Gegensatz zu dem empörten Meer bildete das Hass: inmitten dieses allgemeinen 8ftÄ Aufruhrs lag es wellenlos und völlig ruhig da. Die Dünen hatten ihre schützende Hand über das Hafj gebreitet und ließen den Sturm nickt herankommen. Mich aber, der ich ihm auf dem Tünenkamm so dreist zu trotzen wagte, drohte er hinabzuwerfeu, und fo stieg ich lieber selbst hinunter, wo die längs dem Strande sich fortziehenden Vordünen mich gegen seine Wuth etwas schützten. Ten Sand freilich betam ich aus erster Hand, sowohl von der Vor- als Hauptdüne. Die ganze Luft war mit feinem fliegenden Sand angefüllt, er drang mir in Augen, Nase und Mund, und ich athmete ihn ein. Aber das Seltfamste war doch, ihn an der sanft geneigten Ebene dcr Hauptdüne hin ausfliesten zu sehen. Tausende uon Sand-Bächen, nur etwa zwei bis drei Fuß breit, oft mit einander communicirend und sich dann wieder trennend, strömten bergan. Wo alte mit Grasnarben durchzogene Dünenreste hervorragen, staut sich bisweilen dcr Sand, woltcnartig aufwirbelnd oder wie ein umgekehrter Wasierfall gen Himmel steigend, wobei denn die dunkle Kuppe für kurze Zeit unsichtbar wird. Wirft der aufwirbelnde Sand sich vor eine helle Wolke, so erscheint er wie brauner Nauch. Dann brachte dcr an Starte zunehmende Sturm heftig schlagenden Hagel, der spater mit Regen wechselte. Das wilde Wetter paßte zu der wilden Umgebung; zu den Dünenbergen, die sich wie Trümmer zerfallener Burgen ausnahmen; zu den hie und da freigewehtcn und Iw!l> aufgedeckten sogenannten Heidengräbern, wo allerhand Knochen, Haus- und Waffengeräth zum Vorschein kommen. Hagel, Sturm, Regen verursachten einen verworrenen Lärm, aus dem sich das Tosen dcr See nicht mehr heraushören ließ. Es wurde düster, so daß sich die lange Wellenlinie des mächtigen kahlen Landrückens uon dem dunklen Himmel kaum noch abliob. Wo die Vordünen eine Lücke ließen, leuchtete noch der Schaum der Wellen auf; dann folgten fast unwiderstehliche Sturmstöße, und ich sah nichts mehr als ein Chaos von Sand und Finsterniß. Schon fürchtete ich die Richtung verloren zu haben, 14 210 da stolperte ich über ein junges Bäumchen nnd erreichte nach wenigen Schritten die Plantage von Nidden. Endlich hatte ich gefnnden, was ich brauchte: zwei kleine muntre Pferdchen, echte Nehrunger; eins für mich und das andere für meinen zugleich mit den Thieren angeworbenen Begleiter, der mich bis Nossitten bringen follte. Es hatte Stunden getostet, die Pferdchen auf der entfernten Weide einzufangen' dao für mich bestimmte war mit einem alten Sattel und dem nothwendigsten Riemenzeug ausgerüstet! während mein Cicerone, ein 10 jähriger langaufgeschossener Bursche, nur auf einem zusammengelegten Gctteide-sack sah und statt des Zaums einen hänfenen Strick in der Hand hielt. Dem stürmischen Tage war ein kühler aber heller Morgen gefolgt, und lustig trabten wir längs der Seeschälung. Vor uns trippelten Strandläufer, kleine grüubraune zierliche Vögel, und weitab auf dem längs der ganzen Nehrung meist sehr stachen See-gnmde standen fischend große braune Möwen. Links ab biegend sah ich auf dem Anberge der Düne wiederum sehr deutlich, daß der Kamm der Nehrung zur Zeit des alten Waldes viel niedriger gewesen und mchre hundert Schritte näher dem heutigen Seestrande gelaufen, das; somit die Landzunge allmülig höher geworden und nach Osten fortgeschritten ist. Während wir mm quer durch das Tünengebirge ritten, ich ganz sorglos mit träumerisch umherschweifenden Blicken, stutzte mein Klepper plötzlich wie vor einer Maucr, und der Bursche stieß einen lauten Warnungsschrei aus. — Was giebt's denn? fragte ich verwundert. — Sehen Sie denn nicht? erwiderte er. Sehen Sie nicht das große Loch vor Ihren Füßen? — Zurück oder Sie stürzen hinunter! Ich rieb mir die von dem grellen Sonnenlicht und dem weißleuchtenden Sande flimmernden Augen, aber ich sah nur eine fast völlig ebene Flüche mit schwacher Einsenkung in der Mitte. 211 Ich meinte, der Junge wolle mich narren. Um mich zu überzeugen, ergriff er einen in der Nähe liegenden trockenen Zweig und steckte ihn vor der Stelle, da wir hielten, in den Sand. Dann ließ er auch mich absteigen, und die Pferde am Zügel leitend, machte er Rechtsum und führte mich in verschiedenen Krümmungen eine Schlucht hinunter. Hier angelangt, blickte ich empor, und fah nun in hoher Höhe den Stock fast senkrecht über mir stehen. Er stand am Rande eines wohl 150 Fuß tiefen ganz steil abfallenden Abgrundes, von dem mich oben nur noch ein paar Schritte getrennt hatten. Die blendend weiße Farbe des Sandes und das grell von ihm abprallende Sonnenlicht hatten mich die steile Seitenwand völlig übersehen, sie als eine horizontale Ebene mir erscheinen lassen. Es ist dies eine optische Täuschung, welche die einförmige Umgebung erzeugt; eine der Gefahren, an denen die Wüste so reich ist. Die eingeborenen Pferde lassen sich bei Tage nie, wohl aber in der Nacht täuschen, gleichviel ob es völlig dunkel oder Mondlicht ist. Ein Geistlicher, der früher anf der Nehrung angestellt war, erzählte mir, daß er bei einer nächtlichen Fahrt durch die Dünen mit Pferd und Wagen in einen solchen Abgrund gestürzt und nur durch ein wahres Wunder gerettet worden sei. Indem wir jetzt das Hassufer erreichten, näherten wir uns einer am Fuße der Sturzdüne ganz einsam stehenden Kiefer. Sie bezeichnet die Stelle, wo Neu-Pillkoppen gestanden, ein auch erst in diesem Jahrhundert verschüttetes Dörfchen. Als das etwa eine halbe Meile weiter gelegene alte Pillkoppen verfandete, banten sich die geflüchteten Bewohner hier an. Aber auch Neu-Pillkoppen ward von der Düne begraben, und man gründete auf derselben Stelle, wo Alt-Pilltoppen gestanden, und die inzwischen wieder freigeweht dalag, das heutige, also bereits das dritte Pillkoppen. Ihre Todten dagegen begraben die Leute noch immer auf dem Kirchhofe des einstigen Neu-Pillkoppcn bei der einsamen Kiefer. Das heutige Pillkoppen liegt in einem Durchriß der an 200 Fuß hohen Dünenkette, nordwärts und südwärts von den himmelanstrebenden Eandbergen eingeschlossen und belagert; unter- 212 scheidet sich aber durch schmuckes Aussehen gar vortheilhaft uo>, den andern Fischerdörfern. Die bunten Fensterladen, die kleinen Verzierungen an Haus und Hof, namentlich die Einzäunung der Gehöfte, die sonst fast durchgängig fehlt und den Ansicdluugcn auf der Nehrung etwas Oedes und Wüstes verleiht — alles das deutet auf eine verhältnißmäßigc Wohlhabenheit. In der That haben die Leute die beste Fischerei-. sie können sie, bequemer als die Bewohner der anderen Orte, sowohl auf dem Hass als in der See ausüben, da nur eine sanfte Anschwellung das Dörfchen von dem Meere trennt. Dazu besitzen sie in nächster Nähe eine hübsche Weide für Pferde und Vieh; eine Annehmlichkeit, die auf der Nehrung nicht hoch genug anzuschlagen ist, und deren sich außer ihnen nur noch die Rossiter erfreuen. Pillkoppen gehört nebst der ganzen südlichen Nehrungshälfte schon zum Kreise Fischhausen, während die nördliche Hälfte unter dem Landrath des Memeler Kreises steht. Diese Eintheilung ist leine zufällige oder willkürliche, sondern namentlich mit Rücksicht auf die Sprache vorgenommen: uon Schwarzort bis Nidden wird nämlich noch lettisch, uon Pilltoppen ab dagegen nur deutsch gesprochen. Nachdem wir die Pferde und uns selber etwas erfrischt hatteu, ritten wir fürbaß. Wie auf der 4 Meilen langen Strecke uon Schmarzort bis Nidden nur die ärmlichen Fischerhütten uon Perwelt und Preil anzutreffen sind, so ist auch auf dem 3 Meilen langen Wege uon Nidden bis Nossiten das Dörfchen Pillkoppen der einzig bewohnte Ort. Dazwischen nur Wasser und Sand. Ein um so köstlicheres Labsal für Auge und Herz gewahrt das endliche Auftauchen uon Rossitten; sein Anblick dünkt uus noch märchenhafter als das plötzliche Erscheinen des Hochwaldes von Schwarzort. Schon °, Meile davor sehen wir, am Hasfufer trabend, uon Zeit zu Zeit die längs dem Seestrande sich hinziehende Plantage mit dem dunkeln Grün ihrer Erlen und Fichten zwischen den dnuor liegenden vlendeno weißcn Sandgehängen durchschimmern, verschwinden uud wieder troswoll grüßen. Und jetzt betteten wir das Dorf, die einzige wirkliche Oase in der 15 Meilen 213 langen Wüste. Eine Menge stattlicher Häuser und Scheunen, aus Bäumen und Gebüsch freundlich hervorblickend, uon Obstgärten umschlossen; dahinter fruchtbare Wiesen und höher gelegene Aeckcr, zum Theil sogar mit Weizenboden; nnd im Vordergründe eine große weite Bucht des Haffs, ivo eine ganz ansehnliche Flottille uon sogenannten Keuteltahnen schaukelt. Alles das stellt sich den trunkenen Blicken dar. Rossilcn ist der größte, freundlichste und wohlhabendste Ort auf der ganzen Landzunge. Hier residirt auch der Beherrscher von Haff und Nehrung, der die verschiedensten Aemter in seiner Person vereinigt, denn er ist Oberfisch-, Nenl- und Postmeister. Das ganze Leben in Rossiten unterscheidet sich naturgemäß uon den, in den übrigen Dörfern. Die Einwohner sind mehr Ackerbauer als Fischer, denn jene Aecker und Wiesen breiten sich fast eine halbe Meile lang auo. Hinter ihnen zieht sich längs dem Seestrande und der Vordünc die erwähnte Plantage hin, welche südwärts vom Torf bei den sogenannten Korallenbergen beginnt und wohl über anderthalb Meilen lang ist. Ueber dieser schattigen wohlangebau-len Oase, wo sogar Linden, Weißdorn, Haseln und Rosen grüßen, vergißt man die Wüste. Aber das Eiland ist auch eine wirkliche Diluvial-Insel inmitten des alluuianischen Sandmeeres, und sie eristirte lange vorher, ehe die Landzunge mit ihren Dünen sich bildete. Das erkennt auch der Laie sofort an dem soliden lehmigen und mit erratischen Blöcken bestreuten Boden. Die größten derselben bilden einen geschlossenen etwa 150 Schritte breiten Zug, der nordöstlich bis ans Haff fortstreicht und hier eine unübersehbar lange Muschelbank unterbricht. Was die Tradition behauptet, hat die Wissenschaft bereits erwiesen: Einst bildete Rossiten die Spitze einer andern dillllNlttNflhell Landzunge, die sich von der jenseitigen littauischen Küste quer durch das heutige Haff bis an die See hinzog. Sie wurde von dem Memel-strom, der bisher seine Hauptmündung weit südlicher hatte, durchbrochen, und das nun insulare Rossiten verlandete einerseits mit dem famländischeu Festlande: 314 andererseits bildete sich durch Reaction der Ostsee gegen die jetzt nach Nordwesten gerichtete Strömung des Riemen und de^ Haffs ein weiterer Zug von Nossiten bis Sandkrug. So entstand eine neue vorwiegend allllvianische Landzunge, die heutige Nchruug. Der Beweis dafür ist ein Steinlager, das von der nordöstlichen Spitze Rossittens auf dem Grunde des Haffs bis nach der jenseitigen Mtcmischen Küste, bis zu der Wmdenburger Ecke fortläuft. Die Fischer fühlen cs auf dem Grunde des Haffs mit ihren langen Stangen, und bei niedrigem Wasserstande tritt es auf Ruthenweite uackt und blos; hervor. Wenn östliche Winde wehen, ist die steinige Küste von Nossitten allgemein gefürchtet. Das Memeler Dampfboot geht an solchen Tagen, um nicht auf die Steine zu gerathen, wohl eine Meile weit vorüber, und die sonst stattfindende direkte Verbindung mit Memel oder Königsberg ist dann aufgehoben, indem die Fischer mit ihren Booten sich nicht hinauswagen. Uebrigens ist die Strandküste von Rossitten nicht weniger gefährlich als die Hafftüste. Auch dort zeigt sich das Steinlager, geht gleichfalls noch eine Strecke weit in die See hinein, und bringt manchem Schiff Verderben und Untergang. Nach der Sage hat sich die große Hassrevolution im 12 ten Jahrhundert vollzogen, in Folge eines Sturmes, der zwölf Jahre aus demselben Himmelsstrich wehte. Thatsache ist's, daß, als die deutschen Ordensritter im 13. Jahrhundert nach Preußen kamen, die Nehrung sich schon gebildet hatte. Doch war sie damals reich bewaldet, wohlangebaut und stark bevölkert; erst später stiegen die Dünen aus dem Meere und begruben Wälder, Felder und Dörfer. Nahe dem Steinriff am Strande soll ein Schloß gestanden haben, die Zwingbnrg, wo der berüchtigte „Strandvogt von Rossitten" sein böses Wesen getrieben. In diesem angeblichen Schlosse läßt auch E. T. A. Hoffmann seine Spukgeschichte „Das Majorat von Rossitten" spielen. Sicherer ist's, daß sich auf der Nordost-spihe ein Ordensschloß erhoben, dessen Trümmer nun im Haff liegen. Heute warnt hier eine laternenartige Leuchte den Schiffer »or den Steinblöcken. 215 Bei Rossitten erreicht die Nehrung ihre größte Breite, welche hier über eine halbe Meile beträgt, doch zusehends sich ver» ringert. Auch die Diluvialinsel ist gefährdet. Die größere südwestliche Hälfte ist schon lange vom Dünensande bedeckt, und noch stetig wird die Oase kleiner und kleiner. Denn während das Haff von der einen Seite an dem fruchtbaren Boden nagt und nur die Steinmassen als Marken der früheren Grenzen übrig gelassen hat, drohen von der Seeseite her die Sturzdünen der hohen Vruch-berge, die nur eine Kette kleiner Teiche noch trennt, mit dem alle Cultur vernichtenden Flugsande. Soeben habe ich, weiter wandernd, die Oase verlassen; kaum trennen mich tausend Schritte von ihr, aber wie ich mich umwende, um ihr noch einen Abschiedsblick zuzusenden, ist sie bereits verschwunden. Von dem saftigen Grün, von den Feldem und Wiesen, Hausen: und Gärten ist Nichts mehr zu entdecken; wieder umfängt mich die Wüste. Vor mir zieht sich der lange halmlose Sandrücken der jetzt nur noch 100 Fuß hohen Tünenberge hin. Rechts, gegen die See, stehen die letzten Ausläufer der Kiefernschonung von Rossitten, lillks öffnet sich ein schmaler Durchblick auf die Fläche des Haffs. Vor diesem Durchriß, hart am Fuße der sanft aufsteigenden Höhe und erst vor Kurzem wieder freigeweht, zeigen sich die Spuren zweier ehemaligen Hausstellen; noch ist die Lage der Schwellen und der das Fundament bildenden Balken zu er« kennen, während der Vordergrund mit menschlichen Schädeln und Knochen besäet ist. Wieder ein untergegangenes Dorf, wieder ein aufgedeckter Kirchhof! Hier stand Kunzen, ein blühender Ort mit einer Kirche und vierzig Bauerhöfen i ein Wald von Eichen, Erlen und Linden zog sich bis Rofsitten hin. Im Jahre 1836 siedelten die letzten Bewohner dorthin über, die Kirche war schon früher nach Rofsitten verlegt worden. sis Kaum cine Meile weiter ruben unter den „Weiften Bergen" in kurzer Entfernung uon einander drei andre Dörfer. Ueberall deckt der Wind Mallerreste, glasirte und buntbemalte Topfscherben, Nägel und Angelhaken, das verschiedenste Haus- und Fischcrgeräth auf. Ueberall läßt die Wüste errathen, wie dicht bevölkert die Nehrung einst gewesen sein muß. Die vor Echwarzort beginnende etwa 10 Meilen lange Hauvtdünc hört als solche bereits in der Gegend von Nossitten auf, und wird von da ab durch einzelne wenig zusammenhängende Eandberge ersetzt, die zwei Meilen weiter gleichfalls endigen, worauf der Nest der Nehrung den Charakter der Vbene annimmt. Von den fünf eigentlichen Dörfern, welche sich noch auf der Landzunge befinden, ist Sarkau das letzte und unter ihnen das armseligste. Dazu erscheint es wie todt und ausgestorbcn. Die Thüren und Fenster der elenden Hütten, welche mitten im Sande liegen und vergebens unter einigen dünnbelaubtcn Weidenbäumen Schatten suchen, sind zum größten Theile mit Brettern kreuzweise vernagelt, und die Häuser wirklich verlassen. Ihre Bewohner sind die Fischernomaden der Nehrung. Vor acht Tagen hatte ich sie in der Nähe des Sandtrugs getroffen, wo sie mit Weib, Kind und Vieh unter Zelten camvirten lind ihrem Gewerbe nachgingen. Nur emige alte schwache Leute sind zurückgeblieben, welche den Ihrigen von Zeit zu Zeit Holz und Brod nachsenden, und im Uebrigcn die Behausungen bewachen: was allerdings höchst überflüssig ist, da es bei der nackten Arinuth der Leute fast nichts zu stehlen giebt. Früher wareil sie eigentlich nirgends seßhaft, sondern zogen fortwährend auf der Nehrung hin und her-, erst seit den dreißiger Jahren haben sie sich zwangsweise hier angebaut, wozu die Regierung ihnen das Holz schenkte. Jenseits des Dorfs liegt ganz vereinsamt die Kirche, gleichfalls vou den vier auf der Nehrung befindlichen Gotteshäusern das dürftigste und gebrechlichste. Im Innern sieht man zwei Kanzeln, eine nach der Haffseite und eine nach der Seeseite zu. Der Prediger besteigt sie nach Maßgabe des gerade wehenden Windes; er muß den Wind im Rücken haben, da ihm sonst der durch das 217 hölzerne Gebäude dringende feine Sand in die Augen stäubt. Der Sand weht beständig herein und bedeckt schon zollhoch den Boden. Der Pfarrer von Nossilten besorgt auch zugleich die hiesige Gemeinde, die jedoch während acht Monate im Jahr für ihn so gut wie gar nicht existirt. Erst wenn die Sartaucr im Spätherbst heimkehren, kommt er herüber, um die inzwischen nöthig gewordenen Kindtaufen und Trauungen auf einmal vorzunehmen. Während des Winters findet alle vierzehn Tage hier Gottesdienst statt. Wie die Nehrung bei Rossitten ihre größte Breite erreicht, so ist sie nördlich uon Sarkau am schmälsten. Kaum tausend Schritte nur um wenige Fuß den Wasserspiegel überragenden Sandbodens trennen an dieser Stelle die beiden großen Gewässer. Schon mehrfach hat bei Eturmsiuthen die See hier ins Haff übergeschlagen, und trotz der schon frühzeitig angelegten und sorgsam unterhaltenen Schutzdünen ist ein völliger Durchbruch zu befürchten. Das aber wäre der Anfang vom Ende, damit begönne die Zertrümmerung der Nehrung. Noch südlicher und ebenso einsam wie die Kirche liegt der Krug von Sarkau, wo ein einkehrender Fremder heute zu den Seltenheiten gehört. Vine Strecke weiter folgt die alte verfallene Posthalterei, deren unförmlicher geschwärzter Schornstein gespenstisch aus den zuguterleht noch durch einen Brand zerstörten Ruinen aufragt, gleichsam ein grotesker Meilenstein der ehemaligen Poststraße nach Memel; und nun beginnt ein Wald, der den Rest der Nehrung einnimmt, sich 1 ^ Meilen weit bis Kranz erstreckt. Er enthält Kiefern, Rothtannen, Birken und Erlen, ist aber nicht dicht genug, um dem Eindringen des Sandes genügenden Widerstand zu leisten, daher denn auch von der Seeseite her bedeutende Hügel hereingeweht sind und viele Bäume bereits bedeckt haben. Während ich längs dem Strande wanderte, wurde ich nicht selten von einer kleinen Gabelschwanz-Möwe umkreist, die weit hörbar ist durch ihr scharf ausgestoßenes „Kirrrre! Kirrrre!" Mein steter Begleiter war der kleine Strandlaufer, der immer und immer „Uit! Uit!" rief. Von Zeit zu Zeit ließ auch über mir ein Falle sein schrilles „Fei! Fei!" vernehmen. 15 IIS Mitten im Walde und wieder nahe dem Hafsufer liegt dic Försterei Grenz; und diese Lichtung war noch uor 300 Jahren eine der wenigen kahlen Stellen auf der Nehrung, alles Ucbrige bewaldet und angebaut; während heute das umgekehrte Verhältniß stattfindet. Zwischen Earkau und Kranz befand sich damals die berühmte Falkenhcide, wo eine Menge der schönsten Falken gefangen wurden. Tie Hochmeister des deutschen Ordens benutzten sie als Geschenk an fremde Fürsten, namentlich au solche, welche den angekauften Reihnwem zollfrei durch ihr Gebiet pasfircn ließen. Eine Meile vor Kranz fällt das Seeufer steil ab. Unter dem jetzigen Walde, der nur eine sehr schwache Humusschicht gebildet hat, lagern, wie sich hier deutlich erkennen läßt, wieder die Schichten des altem Waldes und des Urwaldes. Der ältere Wald zeigt noch eine Reihe von Baumstümpfen, die wie Gespenster aussehen, und dem Wanderer wunderliche Geschichten aus vergangenen Tagen erzählen. Auch auf dem Seegrunde stehen noch viele solcher Stümpfe; sie ragen gegen die Oberfläche des Wassers hinauf und sind sämmtlich durch die Macht der Wellen oben halbkugelförmig abgerundet. Mit dem Vorrücken der Nehrung von Westen nach Osten sind auch bewaldete Strecken bis an die Uferlinie und endlich bis unter die Wellen gerathen. Und jetzt haben wir das Ende der merkwürdigen Landzunge erreicht. Als Pendant zum Sandkruge auf ihrer Spitze stehen hier an der südlichen Grenze, wo Wald und Nehrung aufhören, aber noch von den Bäumen halb verdeckt, drei kleine elende fensterlose Buden, die den bezeichnenden Namen Lausendorf führen. Die Kranzer Nadegäste spazieren oft hierher und können das Stück Waldromantik nicht genug bewundern. Sie sehen nur die male-risch hervorblickenden Hütten, ohne daran zu denken, daß hinter ihnen arme Holzschlägerfamilien Sommers wie Winters ihr erbärmliches Dasein stiften. Und wie man aus dem belebten geschäftigen Memel unmittelbar in die Wüste tritt, ebenso tritt man an diesem entgegengesetzten Ende der Nehrung unmittelbar aus der Wüste wieder in 319 eine großstädtische mit allem Comfort, Luxus, sogar Raffinement ausgestattete Welt. Aus der Sarkauer Forst kommt man in die zierlichen Anlagen der Plantage und aus dieser in die mit modernen Villen und Hotels geschmückten Gassen von Kranz. Es ist das bedeutendste Seebad an der ost- und westpreußischen Küste und allsommerlich wohl von 2000 Fremden besucht. Dieser Contrast trat mir lebhaft vor die Seele, als ich eine Stunde später an der langen Tafel des großen Logirhauses saß, inmitten der schönen geputzten Damen und feinen duftenden Herrchen. Ich vergaß meine Umgebung und überließ mich den Erinnerungen an die Nehrung. Wieder beschäftigte mich die Frage nach ihrer Zukunft, nach ihrem Schicksal. Ist es eine bereits untergehende oder eine erst entstehende Welt? Wird sie eine Beute des Meeres werden, oder umgekehrt nebst dem Haff verlanden? Verschiedene Gelehrte behaupten das Letztere, und ich will lieber ihnen als ihren Gegnern glauben. Sie behaupten: die unaufhörliche Neubildung und Wanderung der Dünen in das Haff sei schon der Anfang der Verlandung. Wenn all' die Eandmassen über die Fläche des Haffs sich vertheilt haben werden, werbe daraus ein neues Vorland entstehen, das von den Strömen der Mcmel und Deime in mannigfachen Windungen durchschlängelt und von ihrem Schlick alljährlich befruchtet, dem Menschen als erstes Geschenk üppige Wiesen bringen werde. Die anscheinende Zerstörung sei also in Wahrheit die Heranbildung eines Höheren und Größeren. Druck von I> Rtylander in Tilsit. «um, Druck von I. Reyländer.