Review scientific paper Pregledni znanstveni članek DOI: 10.32022/PHI32.2023.126-127.3 UDC: 1 Esposito:316.3 Gemeinschaft als Denkform Wie man Kant mit Fink, Nancy und Esposito sozialphilosophisch wendet Artur R. Boelderl Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchiv, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Bahnhofstraße 50, A-9020 Klagenfurt am Wörthersee, Österreich artur.boelderl@aau.at Community as a Form of Thinking. How One Turns Kant Towards Social Philosophy with Fink, Nancy, and Esposito Abstract In the times of nihilism, it is necessary to recall, with Roberto Esposito, the fact that, strictly speaking, in philosophy and its history, there is no other subject than community, insofar as everything that becomes the subject of philosophy can only phainomena 32 | 126-127 | 2023 become so because of the fact that there is community. That communality is a form of thinking or that the latter is constitutively communal, is another way of expressing what Emmanuel Levinas once put in the more succinct phrase that in consciousness one is always in two, even if one is alone. In order to explain the implications of this, I draw a line in my essay from Kant's Critique of Pure Reason (specifically, its "positive" definition of being as "merely the position of a thing" [B 626], which receives much less attention than its negative aspect emphasized in the same passage, according to which being is not a real predicate) to the readings of Kant by Eugen Fink, Jean-Luc Nancy, and the aforementioned Roberto Esposito, in order to arrive at an understanding of being as an exposition of the disposition of things in us, i.e., as community. Keywords: social philosophy, community, Immanuel Kant, categorical imperative, co-existence. Skupnost kot miselna forma. Kako s Finkom, Nancyjem in Espositom socialnofilozofsko zaobrniti Kanta 42 Povzetek V dobi nihilizma se z Robertom Espositom morda velja spomniti dejstva, da znotraj filozofije in njene zgodovine v strogem smislu ni nikakršne druge teme kakor skupnosti, kolikor lahko vse, kar je filozofska tema, postane takšno samo zaradi okoliščine, da skupnost obstaja. Da je skupnostnost forma mišljenja oziroma da je slednje konstitutivno skupnostno, je samo drug način, kakor izraziti tisto, kar je Emmanuel Levinas nekoč strnil v pomenljivo formulacijo: v zavesti je vsakdo vedno v dvoje, četudi je sam. Z namenom razjasnitve daljnosežnosti omenjene okoliščine v prispevku potegnem povezavo od Kantove Kritike čistega uma (in sicer, konkretno, od tamkaj zastavljene »pozitivne« definicije biti kot »zgolj pozicije neke reči« [B 626], ki je precej redkeje obravnavana kakor na istem mestu poudarjeni negativni aspekt, glede na katerega bit ni noben realen predikat) do interpretacij Kanta pri Eugenu Finku, Jeanu-Lucu Nancyju in Robertu Espositu, da bi tako prispel do razumevanja biti kot expozicije dispozicije reči v nas, se pravi, kot skupnosti. Ključne besede: socialna filozofija, skupnost, Immanuel Kant, kategorični imperativ, ko-eksistenca. Artur r. Boelderl 1. Exposition mit Esposito: Zum gemeinschaftlichen Charakter des Denkens Für den neapolitanischen Philosophen Roberto Esposito, der sein Buch mit dem bündigen Titel Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft (Esposito 2004; im Folgenden EC) ganz unter dem Einfluss, ja der Dankbarkeit und untilgbaren Schuld Jean-Luc Nancy gegenüber schreibt (vgl. EC, 7), ist ein Denken unabhängig von der Gemeinschaft nachgerade undenkbar: „Denken außerhalb der Gemeinschaft ist unmöglich, weil die Gemeinschaft mehr ist als der Gegenstand des Denkens, nämlich seine eigene Wurzel [...]" (EC, 97). Der Charakter des Denkens ist konstitutiv gemeinschaftlich (vgl. ebd.), woraus zugleich die für jede philosophische Unternehmung nicht geringfügige Konsequenz folgt, dass die Gemeinschaft, noch bevor wir sie ihrem Gehalt nach näher begrifflich fassen können, in jedem Fall „nicht einer der vielen möglichen Inhalte der Philosophie" ist noch auch eines ihrer Probleme, sondern deren Form (vgl. EC, 97 f.): Genau genommen gibt es nicht - und hat es in ihrer Geschichte nie gegeben - ein anderes Thema der Philosophie als die 43 Gemeinschaft, insofern alles, was Thema der Philosophie wird, es nur werden kann aufgrund oder besser infolge des Umstands, dass es Gemeinschaft gibt. Dass Gemeinschaftlichkeit die Form des Denkens sei bzw. dieses letztere als solches konstitutiv gemeinschaftlich, ist eine andere Art auszudrücken, was Emmanuel Levinas einmal in die prägnantere Wendung gebracht hat, im Bewusstsein sei man stets zu zweit, auch wenn man allein sei (vgl. Levinas 1995, 143). Jean-Luc Nancy selbst eröffnet seinen Grundlagentext Die undarstellbare Gemeinschaft mit einem Zitat des für ihn wie für Heidegger und zahlreiche andere Denker des 20. Jahrhunderts sehr bedeutsamen Dichters Friedrich Hölderlin (1770-1843) aus dessen Hymne Brod und Wein: „[...] immer bestehet ein Maß / Allen gemein, doch jeglichem auch / ist eignes beschieden, / Dahin gehet und kommt jeder, / wohin er es kann." Aus ihnen und aus ihrer vornehmen Position in Nancys Buch wird ersichtlich, dass es beim Versuch, Gemeinschaft zu denken, darum gehen muss, jenes Verhältnis von Allgemeinem („allen gemein") und Besonderem („jeglichem ist eignes beschieden") zu bestimmen, das antike Philosophen mit dem Begriff des Maßes zu fassen versuchten. Das phainomena 32 | 126-127 | 2023 Maß ist in gewisser Weise das Gegenkonzept zu dem, was die neuzeitliche Philosophie vor allem unter dem Begriff der Dialektik entwickelt hat, jenes Umschlags des einen ins andere mit dem Fluchtpunkt der Aufhebung beider Elemente in ein Ganzes, das den Motor der Hegel'schen und eines Großteils der nach-Hegel'schen Philosophie darstellt. Zwar unterscheidet auch das Maß zwischen zwei Größen und setzt diese zueinander in Beziehung, aber so, dass sie im Wege dieses In-Beziehung-Setzens nicht verschwimmen und sich auflösen, sondern getrennt bestehen bleiben. „Alles Seiende berührt alles Seiende, doch das Gesetz des Berührens ist Trennung", schreibt Nancy in seinem anderen großen Text singulär plural sein (Nancy 2004, 25; im Folgenden SPS), den er ebenfalls mit einem Hölderlin-Zitat einleitet: „Gut ist es, an andern sich zu halten, / denn keiner trägt das Leben allein" (aus der unvollendeten Hymne Die Titanen).1 Während das Maß solcherart das unvordenkliche Prinzip der Gemeinschaft ist, führt die idealistische Dialektik - als „Vorstellung einer ungeschiedenen Totalität" - „von vornherein über jedes Maß hinaus", so Nancy in dem mitunter übersehenen, seine Hauptwerke ergänzenden kleinen 44 Text Kalkül des Dichters. Nach Hölderlins Maß (Nancy 1997, 27; im Folgenden KD), und damit geradenwegs zu einer Mythisierung der Gemeinschaft in den Emblemen von Volk, Staat, Nation, Rasse. Denkt man das Verhältnis als das allgemein Negative zwischen zwei Besonderen im Blick auf deren Aufhebung, so hebt sich damit in eins das Verhältnis selbst auf, während es als Abstand bestehen bleibt, wenn man es als Berührung - Kontiguität, nicht Kontinuität (vgl. Nancy 2004, 25) - fasst: Die Poetik der Berührung verlangt [...] eine Distanz, denn genau sie macht das Wesen des Berührens aus. Berührtes und Berührendes unterscheiden sich. Berühren muß diskret sein, anders ist es nicht möglich. Fühlen ist nur möglich im Abstand, den das Angemessene vorgibt - einerseits Einklang und Zustimmung, andererseits Scham und diskrete Zurückhaltung, das eine des andern Maß. (KD, 28; kursiv i. O.) 1 Dasselbe Zitat spielt auch implizit eine tragende Rolle in einem von Jacques Derridas letzten Vorträgen; vgl. Derrida 2004, 50. Zu diesem Text Derridas vgl. Boelderl 2004. ÁRTUR R. BOELDERL Das Maß, welches „immer bestehet", wie Hölderlin festhält, ist kein anderes als das, was die Griechen den Logos nannten, es ist - mit seinen Synonyma „Rechnung", „Verhältnis", „Proportion" und eben „Kalkül", aber auch „Bruch" (zunächst im mathematischen Sinn) - die älteste Bedeutung des Logos, am deutlichsten erkennbar noch in den Fragmenten des Heraklit: „Der Mann gilt vor Gott als kindisch wie der Knabe vor dem Mann" (Fr. 79), was sich auch formalisiert schreiben lässt als Mann : Gott = Knabe : Mann; oder auch in jenem anderen bekannten Fragment: „Gott ist Tag - Nacht, Winter - Sommer, Krieg - Frieden, Übersättigung - Hunger [...]" (Fr. 67) (vgl. Boelderl 1995, 25-33). Die Verfahrensweise des Logos, bei Heraklit wie bei Hölderlins nicht von ungefähr so bezeichneter „Verfahrungsweise des poetischen Geistes", ist also undialektisch, wie uns wiederum Nancy erläutert: „Dieses Maß begrenzt nichts und gleicht nichts aus. Es hält sich nicht an den rechten Mittelweg. [...] [Es mißt] den Abstand, durch den das Ganze und die Einheit jeweils als Ganzes und als Einheit möglich werden." (KD, 27.) Nehmen wir den Faden des Anfangs wieder auf: Denken, um Denken zu sein, muss mit diesem Abstand rechnen, muss „an sein Außen rühren: 45 die Dichtung" (KD, 27) - oder die Gemeinschaft. „Kein Denken außerhalb der Gemeinschaft" besagt zugleich, kein Denken ohne „den räumlichen und zeitlichen Abstand, der notwendig ist, um Gleichheit überhaupt setzen zu können" (ebd.). Dieser Abstand - die Gemeinschaft - ist die Form des Denkens, „das, was der Gehalt nicht enthalten kann, was keine Vereinigung vereinen kann: das Eine des Ganzen, als Bruch, abgegrenzte Gestalt" (KD, 22; kursiv i. O.), undarstellbar, weil es jegliche Darstellung allererst ermöglicht. - „Ohne Differenz kann die Einheit keine Einheit sein", heißt es an wieder anderer Stelle (KD, 18), mit der Erläuterung, dass in der „Gemeinschaft" Unterscheidung notwendig sei: „Gemeinschaft und Verwandtschaft können nicht auf Vereinigung oder Verschmelzung basieren." (KD, 19 f.) Die Poetik des Kalküls oder der Genauigkeit entspricht einem Denken der ursprünglichen Differenz. Und sie denkt dieses Denken natürlich ganz streng als ursprüngliche Differenz des Denkens an sich. Was folglich auch bedeutet: sie ist ein Denken der Differenz nur unter der Voraussetzung, daß es eine ursprüngliche Differenz im Denken an phainomena 32 | 126-127 | 2023 sich gibt. Was weiter bedeutet: sie bestimmt sich selbst als Differenz an sich im ursprünglichen Denken - als Poesie. (KD, 20; kursiv i. O.) Diese Poesie des Denkens, „Denken als Poesie", „als das Andere des Denkens" (ebd.; kursiv i. O.), beschreibt jene konstitutive Gemeinschaftlichkeit des Denkens, von der Nancy in der Undarstellbaren Gemeinschaft handelt: Die Gemeinschaftlichkeit ist die Poesie des Denkens, auch in dem Sinne, dass sie das Denken - poietisch - hervorbringt. Das Gegenwärtig-Werden der Gemeinschaft in der Poesie bedeutet nicht deren Darstellung oder Repräsentation, die Poesie hat nicht (wie die Dichtung bei Hegel) die Funktion, das Denken - die Idee - äußerlich-sinnlich darzustellen, vielmehr setzt das Heraustreten des Geistes (sc. aus der Gemeinschaft) diesen in unmittelbaren und unvermittelbaren Gegensatz zu sich selbst und damit zu ihr (vgl. KD, 21). Der Geist, verstanden als Denken im Sinne einer Aufhebung der Gegensätze, stiftet nicht die Gemeinschaft, sondern verrät sie: „Was bleibet aber, stiften die Dichter" (Hölderlin, „Andenken") - nicht die Denker ... 46 Gehen wir aber einen Schritt zurück, an jene Stelle in der Undarstellbaren Gemeinschaft, an der Nancy erstmals auf das Problem der Singularität zu sprechen kommt. Dort heißt es: „Hinter der Frage des Individuums [...] müßte sich wohl die Frage nach der Singularität auftun. Was sind ein Körper, ein Gesicht, eine Stimme, ein Tod, eine Schrift - die alle nicht unteilbar, jedoch singulär sind?" (Nancy 1988, 21; kursiv i. O.; im Folgenden DUG.) Inwiefern „[d]iese Frage letztendlich die genaue Kehrseite der Frage [nach dem] Absoluten (wäre)" (ebd.), bleibt klärungsbedürftig. Auf der Hand liegt zunächst, dass Nancy von dem sprachlich angelegten Unterschied zwischen dem Individuum als dem einen Unteilbaren und dem Singulären als dem teilbaren Einen einen Großteil seiner Argumente für den sozialphilosophisch relevant gemachten ontologischen Unterschied zwischen beiden Begriffen ableitet. Zugespitzt ließe sich sagen, dass die Teilbarkeit geradezu das Einheitsprinzip der Singularität ist, während auf der anderen Seite das Einheitsprinzip des Individuums just dessen Unteilbarkeit ist. Beider Einheit ist also nicht dieselbe, oder anders gesagt: Das Eins-Sein des Individuums differiert vom Eins-Sein der Singularität, und zwar auf eine Weise, die jenes zur Einheit im Sinne einer Vereinheitlichung oder Totalisierung (z. B. in ÀRTUR R. BOELDERL Form einer Vergemeinschaftung der Individuen) drängt, dieses hingegen zur Pluralität im Sinne einer „Vereinzelung", die freilich ihrerseits nicht als (weitere) Dispersion oder Atomisierung der Einzelnen gedacht werden kann (das könnte nur unter der Prämisse, dass die Einzelnen Individuen seien, der Fall sein), sondern als jenes ursprüngliche Singulär-plural-sein, das für Nancy die Gemeinschaft oder das Zusammen-Sein ausmacht. Zusammensein gibt es nämlich nur zwischen Getrennten, ohne den Abstand „zwischen uns" als Singularitäten gibt es keine Bewegung, keine Neigung, kein clinamen, dessen anthropologisch-psychologische Erscheinungsform die Ekstase - das Hinausstehen der Singularität aus sich selbst - ist (vgl. DUG, 21 f.), und damit keinen Sinn. Der Sinn ist gewissermaßen ein Überschuss, der aus der Neigung resultiert. Alles spielt sich [...] unter bzw. zwischen uns ab: dieses „Zwischen" hat [.] weder eine eigene Konsistenz, noch Kontinuität. Es führt nicht von einem zum anderen, es bildet keinen Stoff, keinen Zement, keine Brücke. Vielleicht ist es nicht einmal richtig, von ihm als von einem 47 „Band" zu sprechen [...] Das „Zwischen" ist die Distanzierung und die Distanz, die vom Singulären als solchem eröffnet wird, und eine Art Verräumlichung des Sinns. Was nicht die Distanz des „Zwischen" hält, ist nichts als in sich verschmolzene Immanenz und sinnentleert. (SPS, 25)2 Dies deutet voraus auf Nancys wohl gewichtigsten Einwand gegen jede Form einer Mythisierung von Gemeinschaft im Sinne eines aus Individuen gebildeten Kollektivs oder auch einer den Individuen vorgängigen (und nur aus Zufall oder durch eigenes Verschulden verlorenen) Instanz - den Hinweis nämlich auf die Faktizität des Plural-seins der Singularitäten: „Ein einziges Seiendes ist [dem Begriff] nach ein Widerspruch." (SPS, 34) „Die Pluralität des 2 Am ehesten verständlich wird diese Rede von der „Verräumlichung des Sinns", wenn man sich dabei die weitreichenden philosophischen Implikationen (und zahlreichen Interpretationen) der sprachwissenschaftlichen, auf den Genfer Linguisten Ferdinand de Saussure zurückgehenden Erkenntnis der Genese des Sinns sprachlicher Zeichen aus der Differenz zwischen Signifikant und Signifikat vergegenwärtigt (vgl. Saussure 1967). phainomena 32 | 126-127 | 2023 Seienden steht am Grund des Seins" (ebd.; kursiv i. O.), denn: „Unser Mit-sein, als Zu-mehreren-sein, ist keineswegs zufällig, es ist keineswegs die sekundäre und aleatorische Zerstreuung eines primären Wesens." (Ebd.). Ein einziges Seiendes, vorausgesetzt, ein solches wäre überhaupt denkmöglich, wäre nichts als eine contradictio in adjecto, denn eins allein kann nicht sein (man kann nicht nur bis eins zählen),3 auch und gerade im Ursprung nicht, ist doch gerade dieser „in irreduzibler Weise plural" (SPS, 35). „,Sein ist kein Zustand, auch keine Eigenschaft, sondern jene Aktion/Passion, derzufolge das geschieht (,ist'), was Kant ,bloß die Position eines Dinges' nennt" (SPS, 34), und zwar in der Kritik der reinen Vernunft, B 626, worauf wir gleich zu sprechen kommen werden. Nancy hält demgegenüber jedenfalls unverbrüchlich daran fest: Keine Position, die nicht Dis-Position wäre, und in Korrelation dazu, wenn man das Aufscheinen betrachtet, das mit dieser Position und in ihr passiert, kein Erscheinen, das nicht zugleich Mit-Erscheinen [com-parution]4 wäre. Deshalb gibt sich der Sinn des Seins als Existenz aus, 48 das Bei-sich-außer-sich-sein, das wir darlegen, wir, „die Menschen", das wir so aber [...] für die Totalität des Seienden darlegen. (SPS, 35; kursiv i. O.) Behalten wir das im Hinterkopf, wenn wir uns im Folgenden dem Kantischen Denken zuwenden, auf das Nancy immer wieder Bezug nimmt (etwa in seinem 1983, also im selben Jahr wie die Erstfassung von La communauté désoeuvrée, erschienenen Buch L'impératif catégorique) und dem Roberto Esposito in seinem, Nancys, Geiste pauschal „gemeinschaftlichen Charakter" zuspricht (EC, 119). 3 „,Eins' unterscheidet das Ganze vom Ganzen", heißt es andernorts (KD, 19), und „(d)ies allein", das Ganze, „zählt eins, eins um eins, keine Verknüpfung, keine Addition, keine Summe, vielmehr Unterbrechung des Kontinuums, Wahrheit des Sinns, seine Ankunft, sein Ereignis" (Kursiv ARB). 4 In DUG wird comparution auch mit dem nicht unglücklich gewählten Neologismus „Komparenz" (als Parallelbildung zu Transparenz) wiedergegeben. Artur r. Boelderl 2. „Kanten": Zum „Gesetz der Gemeinschaft" vulgo Kategorischer Imperativ Es ist wohl keineswegs zufällig, dass sich die von Nancy zitierte Kant-Stelle im Kapitel „Von der Unmöglichkeit eines ontologischen Beweises vom Dasein Gottes" in der „Transzendentalen Dialektik" der Kritik der reinen Vernunft findet, in welchem Kant sich bemüht zu zeigen, dass und warum „der Begriff eines absolutnotwendigen Wesens [= Gottes] ein reiner Vernunftbegriff, d. i. eine bloße Idee sei, deren objektive Realität dadurch, daß die Vernunft ihrer bedarf, noch lange nicht bewiesen ist" (KrV, B 620), dass, mit anderen Worten, gegenüber der Tradition eines Beweises vom Dasein Gottes aus ontologischer Notwendigkeit heraus (von Anselm bis Descartes) mit der bloßen Denknotwendigkeit dieser Idee deren Sein keineswegs schon mitgesetzt ist, dass im Gegenteil, wer dies behauptet, einen Kategorienfehler begeht. Kants Argumentation kulminiert in der bekannten Festlegung, Sein sei - „offenbar", wie er sagt - kein reales Prädikat, also kein „Begriff von irgend etwas, was zu dem Begriffe eines Dinges hinzukommen könnte" (KrV, B 626). Für das 49 Verständnis von Kants Intention bei dieser Widerlegung des ontologischen Arguments für die Existenz Gottes zentral ist seine Charakterisierung dessen, worum es beim Versuch eines solchen Existenzbeweises eines höchsten Seins als des absolutnotwendigen Wesens eigentlich gehe: nämlich keineswegs um das positive Geschäft einer Erweiterung des Verstandes „auf neue Gegenstände", sondern ganz im Gegenteil um das wenn nicht rundheraus negative, so doch jedenfalls restriktive oder im Vollsinn der Kant'schen Verwendung dieses Worts kritische Geschäft einer „Begrenzung" desselben (vgl. KrV, B 620). Dieses kritische Geschäft einer Begrenzung des Verstandes (schon 1766, also 15 Jahre vor der Kritik der reinen Vernunft, hatte Kant in einer Streitschrift gegen den einflussreichen schwedischen Wissenschaftler, Philosophen und „Seher" Emanuel Swedenborg mit dem bezeichnenden Titel Träume eines Geistersehers5 Metaphysik als Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft bestimmt) mündet, wie man weiß, in einer Relegation 5 Darin kommt im Übrigen, von allen Werken Kants, der Ausdruck „Gemeinschaft" wörtlich am häufigsten vor. phainomena 32 | 126-127 | 2023 der Gottesfrage aus dem Bereich der theoretischen Vernunft und Verlagerung derselben in den Bereich der praktischen Vernunft; das „absolutnotwendige Wesen" ist für Kant eine notwendige Idee der praktischen Vernunft und kein möglicher Gegenstand theoretischer Erkenntnis. Während man diesem strategischen Sinn der negativen Wendung „Sein ist kein reales Prädikat" in der philosophischen Diskussion viel Augenmerk geschenkt hat, lenkt Nancy unsere Aufmerksamkeit auf jene weniger beachtete, ihm zufolge aber nicht minder bedeutsame Feststellung Kants, die er unmittelbar im Anschluss an jene negative Bestimmung des Seins trifft -darüber zwar, was das Sein gleichsam „positiv" sei: „bloß die Position eines Dinges" (KrV, B 626). Nancys an Heidegger und dessen Frage nach dem Sinn von Sein geschultes Ohr hört in diesem „bloß die Position eines Dinges" zum einen sofort die Kantische Fassung derjenigen Grundfrage der Philosophie, welcher Leibniz die Form „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?" verliehen hat und die Heidegger seinerseits mit der Rede vom reinen „Es gibt" / „Es gibt Sein" zu erneuern beabsichtigte, zum anderen erkennt er 50 darin aber auch den Ort der Gemeinschaft im Denken Kants. Keineswegs grundlos, so kann man mit Nancy behaupten, wechsle Kant an der folgenden Stelle vom Singular in den Plural: Wäre [im Falle der Rede vom „absolutnotwendigen Wesen"] von einem Gegenstande der Sinne die Rede, so würde ich die Existenz des Dinges mit dem bloßen Begriffe des Dinges nicht verwechseln können. [...] Wollen wir dagegen die Existenz durch die reine Kategorie allein denken, so ist kein Wunder, daß wir kein Merkmal angeben können, sie von der bloßen Möglichkeit zu unterscheiden. (KrV, B 628f.; kursiv ARB.) Das meint offenbar, dass ich sehr wohl die Kongruenz, ja Identität eines Dinges mit seinem Begriff anzugeben weiß, also dessen Existenz behaupten kann, indem ich ihm (als einem Gegenstand der Sinne) bestimmte Eigenschaften als sein Prädikat zuschreibe, wir hingegen außerstande sind, die Existenz als solche - ohne Prädikat gleichsam - auszusagen (= kategorein). Vielmehr besteht in dieser Unmöglichkeit nachgerade der Grund für die Artur r. Boelderl Notwendigkeit der Annahme von Kategorien (als Aussageformen), die uns die sinnvolle Rede ermöglichen. Einer allein kann nicht für sich und aus sich heraus sprechen (eine reine Privatsprache sei unmöglich, wie Wittgenstein gezeigt hat); in der Pluralität des „wir" bzw. „zwischen uns" gründet die Existenz. Hinter Kants Rede von der „Kategorie" verberge sich so gesehen die unabdingbare Gemeinschaftlichkeit der Existenz, die Gemeinschaftlichkeit als Form des Denkens vielmehr, um die es Nancy zu tun ist, und man kann diese Sichtweise bestätigt sehen durch folgenden Satz Kants, in dem dieser lapidar festhält, worin man ohne weiteres die unerhörte Grundeinsicht seines gesamten kritischen Projekts erkennen kann: „Unser Begriff von einem Gegenstande mag also enthalten, was und wieviel er wolle, so müssen wir doch aus ihm herausgehen, um diesem die Existenz zu erteilen." (KrV, B 629; kursiv ARB.) Dieses „unser" Herausgehen aus dem Begriff impliziert das plurale (wiederholte) Herausgehen des Ichs aus sich zugunsten einer „Rückkehr" zum ihm vorgängigen gemeinschaftlichen „Wir", welches Herausgehen im Falle empirischer Gegenstände als „Zusammenhang [des Begriffs] mit irgend einer meiner Wahrnehmungen" (ebd.) erfolgt, sich also im Prozess des Erkennens 51 (d. h. durch die theoretische Vernunft) gleichsam selbst neutralisiert, so dass das erkennende Ich sein Außer-sich-sein (= Plural-sein) verkennt oder schlicht nicht bemerkt, wohingegen es (das Herausgehen, sprich die Gemeinschaftlichkeit des Denkens) „für Objekte des reinen Denkens", so Kant, eine „Voraussetzung" bildet, „die wir durch nichts rechtfertigen können" (ebd.), die also undarstellbar bleibt. Die „bloße Position eines Dinges" ist daher, mit Nancy gelesen, niemals bloß die Position eines Dinges - weder eines Dinges noch eines Dinges -, sondern jene Dis-position der Dinge (Plural), die sich in und als unsere Ex-position vollzieht. Nur unter dieser Perspektive ist gewährleistet, was sich Kant von der Widerlegung der - theoretischen - Beweisbarkeit eines höchsten Wesens erwartet oder was er damit geleistet zu haben meint: nämlich die Begrenzung des Verstandes - durch den Aufweis der vorgängigen Gemeinschaftlichkeit des Denkens, in der dessen radikale Endlichkeit gründet, die zu extrapolieren und festzuschreiben der eigentliche Sinn des kategorischen Imperativs ist (der ihr - der Endlichkeit und damit der Gemeinschaft - insofern nachgeordnet ist). Diesen zu befolgen ist nämlich - in starkem Kontrast zu einer bestimmten phainomena 32 | 126-127 | 2023 Linie der Kant-Interpretation, die von der positiven (wenn auch vielleicht nur kontrafaktisch unterstellten) Befolgbarkeit des kategorischen Imperativs ausgeht (von den Neukantianern über Lucien Goldmann bis zu Apel und Habermas) -, wie Nancy, jener anderen Linie von Nietzsche über Heidegger und Lacan bis Derrida folgend, meint, schlechterdings unmöglich, ja lebensfeindlich.6 Hier zeigt sich eine der geläufigen Interpretation des kategorischen Imperativs - die einerseits die Zusammengehörigkeit desselben mit dem Subjekt, auf den er sich bezieht, behauptet (in der Form, dass es das Subjekt selbst sei, welches sich diesen Imperativ auferlege), und andererseits für die Nichtbefolgung des von diesem Imperativ instaurierten Gesetzes die Schwäche (die Leidenschaften oder, kantisch ausgedrückt, „Pathologien") des Subjekts verantwortlich macht - diametral zuwiderlaufende Deutung, die Roberto Esposito so zusammenfasst: Das Subjekt kann das Gesetz nicht so sehr deswegen nicht einhalten, weil es der Versuchung nicht widerstehen kann, es zu brechen, sondern weil 52 das Gesetz selbst - der kategorische Imperativ - nicht verwirklicht werden kann, da es nichts anderes vorschreibt als seinen eigenen Pflichtcharakter, da es keinen anderen Inhalt hat als die formale Verpflichtung, ihm zu gehorchen. [...] [S]eine gebieterische Kraft (beruht) gerade auf diesem Nicht-Gesagten. Genau dies bedeutet die Kategorizität des Imperativs: auf der einen Seite seine absolute, unbedingte, unanfechtbare Souveränität; auf der anderen seine apriorische Vorenthaltung jeglicher Möglichkeit der Erfüllung. [...] Wir können das Gesetz, das uns auferlegt ist, nicht erfüllen, weil ein solches Gesetz nicht von uns kommt. Es ist in keiner Weise ein Produkt des Subjekts, obwohl das Subjekt ihm unterworfen ist. (EC 115 f.; kursiv ARB.) Woher aber stammt der kategorische Imperativ, wenn er nicht vom Subjekt, vom Einzelnen herkommt? Als Imperativ indiziert er von seiner Form her bereits das von Nancy als „Grund des Seins" veranschlagte Zu-mehreren- 6 Vgl. Nietzsche (1969, 175), der den kategorischen Imperativ unverblümt als „lebensgefährlich" bezeichnet (zit. in EC, 117, Anm. 34). Artur r. Boelderl sein, freilich nicht in der Weise, dass es eine wie auch immer geartete Gemeinschaft von Individuen sei, die das Gesetz formuliere oder auch nur seine Einhaltung überwache - so denkt Kant nicht. Die Unmöglichkeit der Erfüllung des Gesetzes als einer gegenstandslosen Vorschrift verrät vielmehr dessen eigentlichen Gegenstand: dass wir in Wirklichkeit nichts gemein haben. „Nichts gemein haben" ist aber nun ganz und gar keine Bankrotterklärung der Humanitas oder der menschlichen Gemeinschaft in dem Sinne, dass daraus die abgrundtiefe Isolation der einzelnen Menschen, ihre absolute Atomisierung folgte; „nichts gemein haben" ist im Gegenteil die positive Behauptung einer Gemeinschaft des Nichts, derart, dass auf die Frage „Was haben wir gemein?" die Antwort nicht lauten kann: „Wir haben x (oder y) gemein (nicht aber z)", was unweigerlich zu Entzweiungen führt, sondern dass diese Antwort vielmehr schlicht „nichts" lautet, denn: Wir haben nichts gemein, wir sind gemein(sam). Unsere Gemeinsamkeit konstituiert keine Habe, sie „ist" vielmehr unser Sein, unsere Existenz. Sein istgemein(sam)-sein. Das ist es, was das Kantische Gesetz besagt: Die Grenze, die unser Sein teilt und es als Gemeinsam-Sein bestimmt, kann weder annulliert werden (ihr Nichts ist nicht einfach nichts, sondern ein 53 Abstand, eine Differenz) noch überwunden (indem man versucht, das Nichts der Gemeinschaft durch inhaltlich ausgewiesene Platzhalter - wie den Geist, das Leben, das Volk - aufzufüllen). In diesem Sinn liegt „das Soziale" - die Exposition der Gemeinschaft, die Gemeinschaft als Exposition der Disposition der Dinge, man könnte (mit Esposito - und Eugen Fink, auf den wir noch zu sprechen kommen werden) auch sagen: die Welt - noch dem kategorischen Imperativ voraus, und zwar insofern, als jenes die undarstellbare „Materie" jener Relation bildet (vgl. EC, 101), deren Form dieser angibt bzw. vorschreibt. Man könnte sogar sagen, „daß die Gemeinschaft eins ist mit dem Gesetz" (EC, 101), schreibt Roberto Esposito und erläutert, der Kant-Lektüre Jacob Rogozinskis (1996) folgend: „Das Gesetz ist die Ordnung der Dinge in dem Sinne, daß es der nexus, der logos, die * Urform ist, welche sie zusammenhält. Es ist die Ur-Gebung der Welt als ,Gemein-Platz' der Menschen: das ursprüngliche *Es gibt, als welches das Verschiedene in Relation zum Anderen tritt und diese Relation beibehält." (Ebd.; kursiv i. O.) Man darf daher beim naheliegenden Versuch eines Anschlusses an Kant nicht, wie die meisten sozialphilosophischen Ansätze der Gegenwart phainomena 32 | 126-127 | 2023 dies tun, die Tatsache übersehen oder ignorieren, dass Kant, wenn er den „Gemeinsinn" in der Kritik der Urteilskraft als „Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d. i. eines Beurteilungsvermögens [...], welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes andern in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt" (KU, B 157), bestimmt, damit nicht die Rahmenbedingungen der in der „Transzendentalen Dialektik" der Kritik der reinen Vernunft durchgeführten „Begrenzung" des menschlichen Verstandes revidiert. Der von ihm hier als Möglichkeit in Aussicht gestellte sensus communis ist nur ein Reflex derselben unüberwindlichen Endlichkeit bzw. Grenze zwischen dem Gesetz und seiner Erfüllung, wie sie im kategorischen Imperativ zum Ausdruck kommt. Der in diesem Gemeinsinn angepeilte Sinn (sensus) teilt sich nicht mit (die Gemeinschaft ist nicht der Sinn), sondern zeigt lediglich formal die Richtung (sensus) an, aus welcher der Sinn kommt (nicht: wohin er geht) - von der Gemeinschaft her: Der Sinn ist die Mit-Teilung. Der Gemeinsinn verweist also nicht auf irgendeine wie auch immer transzendentale Intersubjektivität („in weltbürgerlicher Absicht"), die die Gewissheit des Urteils und damit 54 des Handelns des Einzelnen verbürgen könnte, er ist vielmehr jenes Nichts, welches verhindert, dass der Einzelne sein Urteil unter Berufung auf die gesamte Menschheit verabsolutieren kann. Auch der Gemeinsinn hat daher, ganz wie der kategorische Imperativ, keinerlei Gegenstand, sondern verankert eine formale Verpflichtung, wie unschwer aus den folgenden Ausführungen Kants zu ersehen ist. Der sensus communis nimmt auf die Vorstellungsart jedes anderen Rücksicht, [...] um gleichsam an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten, und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjektiven Privatbedingungen, welche leicht für objektiv gehalten werden könnten, auf das Urteil nachteiligen Einfluß haben würde. Dieses geschieht nun dadurch, daß man sein Urteil an anderer, nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urteile hält, und sich in die Stelle jedes andern versetzt, indem man bloß von den Beschränkungen, die unserer eigenen Beurteilung zufälliger Weise anhängen, abstrahiert: welches wiederum dadurch bewirkt wird, daß man das, was in dem Vorstellungszustande Materie, d. i. Empfindung ist, so viel möglich wegläßt, und lediglich Artur r. Boelderl auf die formalen [ich unterstreiche; ARB] Eigentümlichkeiten seiner Vorstellung [...] Acht hat. (KU, B 157; Herv., wo nicht anders verzeichnet, i. O.) Hier (beim Geschmacksurteil) wie dort (beim kategorischen Imperativ) ist die unermüdlich hervorgehobene Formalität der jeweiligen Bestimmung ein Indiz für den transzendentalen Charakter derselben, der nicht ohne Schaden (genauerhin und mit Nancy gesprochen: nur um den Preis der Mythisierung der jeweils beanspruchten Gemeinschaftlichkeit) übergangen werden kann, wie das überall dort der Fall ist, wo suggeriert wird, man könne „bruchlos von der Mitteilbarkeit [des vom Gemeinsinn gefällten Urteils bzw. der vom Gesetz aufgestellten Handlungsmaxime] zur Kommunikation und von dieser zur faktischen Gemeinschaft übergeh(en)" (EC, 125). Das hieße nämlich das Transzendentale - gegen Kants Intention - zu anthropologisieren (vgl. ebd.), das Undarstellbare (die Mitteilbarkeit) für darstellbar zu erklären (d. h. zur Mitteilung zu machen bzw. mit dieser zu verwechseln), dem Dass oder der Faktizität der Gemeinschaft des Seins (als transzendentaler Größe) das Was 55 oder die konkrete Gemeinschaft der existierenden Individuen unterzuschieben bzw. diese/s mit jenem/r zu verwechseln. Demgegenüber gilt es festzuhalten, dass „Mitteilbarkeit [wie Gemeinschaftlichkeit, ist man versucht zu konjizieren] ein Vernunftbegriff ist, dem ein empirisches Korrelat fehlt" (ebd.), was jedoch nicht die Unmöglichkeit von Mitteilung besiegelt, sondern im Gegenteil die Bedingung von deren Möglichkeit angibt, ganz so, wie die Undarstellbarkeit der Gemeinschaft deren Möglichkeit offenhält. (In diesem Zusammenhang ist es nicht uninteressant zu vermerken, dass Kant selbst die „künstlich", ja, wie Nietzsche meinte, unmenschlich scheinende, weil von allem Menschlichen pflichtgemäß abstrahierende „Operation der Reflexion" des Gemeinsinns als das natürlichste von der Welt bezeichnet [vgl. KU, B 159]; ob das auch so verstanden werden kann, dass dem dem sensus communis formal durchaus ähnlichen kategorischen Imperativ dieser Status der Natürlichkeit - eines „Naturgesetzes der Vernunft" - ebenfalls zukommt, wäre zu ergründen, würde sich aber durchaus nahelegen: Die Ent-menschung, die das Gesetz vorschreibt - die Abstraktion von allem Pathologischen -, wäre dazu angetan, die Vernunft auf jenes Nichts der Gemeinschaft, d. h. der Phainomena 32 | 126-127 | 2023 gemeinschaftlichen Existenz, zu stoßen, das von Anfang an die „Natur" des Menschen ausmacht und das Kant mit dem Bösen identifiziert, in welchem die Freiheit gründet. Das Gesetz formuliert die Maxime der menschlichen Freiheit, es exemplifiziert schon durch seine imperativische Form eine Relation „zwischen Menschen" oder „zwischen uns"; und diese Relation -das Verhältnis der Menschen untereinander - ist für Kant „niemals losgelöst von der Möglichkeit des Bösen" [EC, 102], mehr noch: Das Böse „ist die ,gemeinste' Art, in der die Verschiedenen in Verbindung treten" [EC, 101], die Menschen sind zum Bösen dis-poniert, insofern sie von Natur aus zur Ent-menschung neigen, und zwar zur Ent-menschung der anderen. Genau dieser will der kategorische Imperativ einen Riegel vorschieben, indem er dem Subjekt seine Selbst-Entmenschung vorschreibt; Kant verordnet der Menschheit gewissermaßen eine homöopathische Kur, treibt den Teufel mit dem Beelzebub aus, wie es so schön heißt, der „natürlichen" Entmenschung begegnet er mit der Annihilierung alles Menschlichen ...) Hieran lässt sich im Wege eines Abschlusses dieser Ausführungen zu Kant 56 unmittelbar anschließen. Dieser hätte den Weg zur Gemeinschaft also nicht, wie man gemeinhin annimmt, vom Subjekt aus gesucht, sondern vielmehr auf der radikalen Heterogenität zwischen einzelnem und Gemeinschaft insistiert, die ihnen zugleich ihren jeweiligen Sinn verleiht. Trifft es zu, dass das Individuum - der Mensch „im Naturzustand" - jenes ist, was existiert, „wie wenn der Andere nicht existieren würde" (EC, 113), so ist auch klar (und hier können wir darüber hinaus wieder an die oben angerissene Diskussion um Individuum vs. Singularität anknüpfen), dass das Individuum, statt (bewusst oder unbewusst) Teil der Gemeinschaft zu sein, dieser im Gegenteil entgegensteht. Die Auflösung/Nichtexistenz der Gemeinschaft ist die Bedingung der Möglichkeit des Individuums. Die Gemeinschaft ist keine „Vervielfachung der Subjektivität um eine unbestimmte Anzahl von Individuen" (ebd.) (= die oft beschworene Intersubjektivität), genauso wenig, wie das Individuum seinerseits bloß einen Teil der Gemeinschaft darstellt. Die Beschränktheit bzw. Endlichkeit der Menschen impliziert die Gemeinschaft als unmögliche: „Gerade mit Blick auf ihre Verwirklichung erweisen wir uns als hoffnungslos endlich." (EC, 118.) Es ist mithin genau jene Grenze zwischen endlich und unendlich, Immanenz und Transzendenz, die der kategorische Imperativ als Abstand formuliert Artur r. Boelderl und aufrechterhält, und die mit der Festschreibung der Unmöglichkeit der Gemeinschaft den Menschen zugleich auch in gewissem Sinn deren „Erfahrbarkeit" als Erfahrung dieser Grenze eröffnet, sprich: als Erfahrung des eigenen Unvermögens, ob individuell oder kollektiv, der Forderung des Gesetzes Genüge zu tun (nicht aus Schwäche, sondern aus Prinzip, nicht aus moralischer Verfehlung, sondern aus ontologischer Notwendigkeit) - Erfahrung ihrer eigenen Endlichkeit und damit in eins der Unmöglichkeit der Gemeinschaft. „Das ist es, was sie miteinander teilen: sie sind zusammengebracht durch die Unmöglichkeit der Gemeinschaft ..." (EC, 119.) Gerade die Liebe widerlegt diese Unmöglichkeit nicht, sondern bestätigt sie Nancy zufolge, indem sie „die unaufhörliche Un-Vollendung der Gemeinschaft dar(bietet)" (DUG, 83): „Sie exponiert die Gemeinschaft an ihrer Grenze" (ebd.; kursiv i. O.), bringt deren Unüberschreitbarkeit zur Erscheinung; sie, die Liebe, rührt vielleicht an die Gemeinschaft, aber sie setzt sie nicht ins Werk (die Gemeinschaft ist kein Werk der Liebe noch der Liebenden), die Gemeinschaft bleibt undarstellbar. Die Liebenden bilden die äußerste, aber keine äußerliche Grenze 57 der Gemeinschaft. Sie befinden sich an der äußersten Grenze der MitTeilung [sc. des Seins] [...] die Liebenden (bieten) der Gemeinschaft, mitten in ihr, ja in unmittelbarer Berührung mit ihr, das Äußerste der Komparenz (dar). Denn die Singularität, die jeder ist, teilt sie oder teilt sich im Augenblick ihrer Vereinigung mit. Auf der Grenze exponieren die Liebenden das Einander-Aus-gesetzt-Sein der singulären Wesen wie auch das Pulsieren dieser Exposition: die Komparenz, das Überschreiten und die Mit-Teilung. In ihnen oder zwischen ihnen [.] berührt die Ekstase, die Freude, ihre Grenze. (DUG 83; kursiv i. O.) Diese Bestimmung der Gemeinschaft als „Grenzbegriff" der Vernunft (von einer „Wiederholung der ,kantischen Grundlegung'" der Ethik durch Jean-Luc Nancy spricht Sascha Bischof [2004, Kap. 1.5.] in seiner lesenswerten Studie Gerechtigkeit - Verantwortung - Gastfreundschaft), ihre transzendentale Verortung sozusagen, ist zugleich der Grund, warum Nancy in scheinbarem Widerspruch zu anderen Festlegungen (wie z. B. derjenigen, wonach das Individuum dasjenige sei, was nach der phainomena 32 | 126-127 | 2023 Auflösung der Gemeinschaft übrigbleibe) gleichzeitig die Unzerstörbarkeit der Gemeinschaft behaupten kann: „Im Grunde können wir sie [die Gemeinschaft] überhaupt nicht verlieren." (DUG, 77.) Gerade das macht ja ihren ontologischen Charakter aus: „Die Gemeinschaft wird uns mit dem Sein und als Sein, lange vor all unseren Plänen, Vorhaben und Unternehmungen gegeben" (ebd.) - vor allem „Pathologischen" also, gleichsam von Geburt an, „angeboren" wiederum wie das Böse bei Kant -; denn: „Es ist uns nicht möglich, nicht zusammen-zu-erscheinen." (Ebd.) Da die Gemeinschaft in diesem Sinn eine Gabe - ja, die Gabe - ist, kann sie kein Werk sein, sprich: kein Menschenwerk, und Nancy zögert auch nicht, aus diesem Umstand den logischen Schluss zu ziehen, dass die Gemeinschaft damit eo ipso „die Transzendenz" ist (ebd.), der er jedoch gleichwohl nicht den Status einer Gottesgabe zuerkennt, sondern sie vielmehr von der Immanenz her zu denken versucht, und zwar als Aufbruch derselben oder, in seinen eigenen Worten, „Widerstand gegen die Immanenz (gegen die Einswerdung aller oder gegen die ausschließliche Leidenschaft eines 58 einzelnen oder einiger weniger ...)" (ebd.). Transzendenz, in diesem Sinne ontologisch (und nicht metaphysisch) verstanden, bezeichnete also einen gewissermaßen „unvordenklichen" Widerstand gegen die Immanenz, dessen „wir" auch in Extremsituationen gar nicht verlustig gehen können. Womit Nancy die unmittelbare sozialphilosophische bzw. im engeren Sinn politische Dimension seines Denkens der Gemeinschaft verdeutlicht: Mag die [konkret existierende] Gesellschaft auch noch so wenig gemeinschaftlich sein, so muß doch selbst noch in der sozialen Einöde eine winzige, vielleicht nicht mehr greifbare Spur von Gemeinschaft vorhanden sein. [...] Einzig die faschistische Masse tendiert in extremis dazu, die Gemeinschaft im Delirium einer leibhaftig gewordenen Einswerdung zu vernichten. Entsprechend ist das Konzentrationslager -das Vernichtungslager oder das Lager zur vernichtenden Konzentration - wesensmäßig Wille zur Zerstörung der Gemeinschaft. Wohl niemals aber, bis ins Lager selbst hinein, hört die Gemeinschaft ganz auf, diesem Willen Widerstand zu leisten. (DUG, 77.) Artur r. Boelderl „Die Gemeinschaft ist die Transzendenz" besagt daher nicht von ungefähr zugleich auch, dass die Gemeinschaft, „wenn man so will, das Heilige (ist): aber das Heilige, des Heiligen beraubt" (DUG, 76), ein Heiliges ohne Heiligkeit sozusagen, eine paradoxe bzw. nachgerade antinomische Formulierung, die keinen anderen Sinn hat als die „Natur" des der Gemeinschaft zugesprochenen Widerstandscharakters zum Ausdruck zu bringen. (In diesem Sinn „löst" das Stilmittel der aporetischen Formulierung gleichsam „literarisch" das Problem der Undarstellbarkeit der Gemeinschaft.) Warum Heiliges ohne Heiligkeit: Denn das Heilige - das Losgelöste, das Abgesonderte - erweist sich nicht länger als das, womit wir uns verzweifelt vereinen wollen, während es sich uns doch gleichzeitig entzieht; es erweist sich vielmehr, daß das Heilige aus nichts anderem als der Mit-Teilung der Gemeinschaft besteht. (DUG, 76.) Worum es also ginge, wenn wir mit Nancy die Gemeinschaft nicht als Werk, sondern als unendliche Aufgabe denken wollen (vgl. DUG, 78), wäre, 59 ihr unverlierbares Gegebensein gleichwohl nach dem Maß des Verlusts zu denken, der in der Rede von der Mit-Teilung der Gemeinschaft impliziert ist. Wenn ich etwas teile - einen Kuchen, sagen wir -, teilt sich das Ganze auf, geht verloren, ist aber doch zugleich erst durch dieses Aufteilen und Verlorengehen ein Ganzes gewesen (so wie sich erst durch das Aufteilen des Ganzen die Gemeinschaft derjenigen herstellt, die etwas zugeteilt bekommen haben, ohne dass sich die Teile wieder zu einem Ganzen zusammenfügen ließen). Das Bild vom Kuchen ist vielleicht nicht vollends unglücklich gewählt, weil Nancy selbst nicht von „Verlust" der Gemeinschaft spricht, sondern von deren „Aufzehren", was seine Argumentation rückbindet an die noch weiter klärungsbedürftige Frage nach den Singularitäten, denn wer oder was verzehrt hier? Doch immer jemand, näherhin ein Körper: „Eine Singularität ist immer ein Körper - und alle Körper sind Singularitäten ..." (SPS, 42.) Es gibt, schreibt Nancy, kein „mehr oder weniger heiliges Idealbild der Gesellschaft in der Gemeinschaft" (DUG, 81), also keine Gesellschaft, die ein außerhalb ihrer seiendes Vor- oder Urbild von Gemeinschaft besser oder schlechter als andere Gesellschaftsformen realisiere. Vielmehr sei die Gemeinschaft „in jeder Gesellschaft und in jedem phainomena 32 | 126-127 | 2023 einzelnen Augenblick [...] tatsächlich nichts anderes als ein Aufzehren des sozialen Bandes oder Gewebes - aber dies geschieht unmittelbar an diesem Band und folgt der Mit-Teilung der Endlichkeit der singulären Seienden" (ebd.; kursiv ARB.). Was auch immer existiert: Weil es existiert, ko-existiert es. [...] Eine Welt ist nichts der Existenz [Ä]ußerliches, keine äußerliche Hinzufügung anderer Existenzen: Sie ist die Ko-Existenz, die sie zusammen dis-poniert. [...] Kant zeigte, daß durchaus etwas existiert, da ich ja zumindest eine mögliche Existenz denke: Nun folgt aber das Mögliche auf das Wirkliche, und es existiert also schon etwas Wirkliches.7 Man sollte hier anfügen, daß diese Inferenz in Wirklichkeit auf einen Plural der Existenz schließen läßt: Es existiert etwas (zumindest „ich") und etwas anderes, zumindest das andere „ich", das sich ein Mögliches vorstellt, und auf das ich mich beziehe, wenn ich mich frage, ob etwas von der Art dessen, was ich als möglich denke, existiert. Es ko-existiert zumindest mehr 60 als ein „Ich". Was hier noch so weiterzuführen ist: Es existieren auch nicht nur Ichs, verstanden als Subjekte-der-Repräsentation, denn mit der wirklichen Differenz von zwei „Ichs" ist auch der Unterschied der Dinge im allgemeinen gegeben, zumindest mein Körper, und folglich mehrere Körper. (SPS 58; kursiv i. O.) Auch hier ist der Verweis auf Kant nicht zufällig und unterstreicht Nancys Intention einer Wiederholung der kantischen Grundlegung der Philosophie, hatte doch jener, worauf schon Lucien Goldmann 1945 hingewiesen hat, in seiner Anthropologie im Kapitel „Vom Egoism" festgehalten: „Dem Egoism kann nur der Pluralism entgegengesetzt werden, d. i. die Denkungsart: sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten." (Kant; zit. n.: Goldmann 1989, 10.) Nur hatte Kant im selben Atem- bzw. Schriftzug - und in eben diesem Umstand erkennt Nancy die Notwendigkeit einer Erneuerung der kantischen Grundlegung auf anderer Grundlage, nämlich der der Sozialontologie - die 7 In der Fußnote verweist Nancy auf Kant (1960, I, 3, § 4). ÀRTUR R. BOELDERL Behandlung dieses Unterschieds oder Verhältnisses zwischen „Egoism" und „Pluralism" ausschließlich in der Anthropologie verortet wissen wollen: Wenn nämlich blos die Frage wäre, ob ich als denkendes Wesen außer meinem Dasein noch das Dasein eines Ganzen anderer, mit mir in Gemeinschaft stehender Wesen (Welt genannt) anzunehmen Ursache habe, so ist sie [diese Frage] nicht anthropologisch, sondern blos metaphysisch. (Kant; zit. n.: ebd.) Für Nancy ist hingegen, anders als noch für Kant, klar, dass nach dem „Tod Gottes" - den er andernorts dadurch charakterisiert, dass damit jene Bewegung gemeint sei, durch die der Mensch immer wieder aufs Neue damit beginne, „den Menschen unendlich zu übersteigen" (Nancy 2002, 49; im Folgenden EFH) - Anthropologie, die Lehre vom Menschen, zu Metaphysik geworden sei und umgekehrt, oder vielmehr, dass Anthropologie und Metaphysik (bzw. Ontologie) ununterscheidbar voneinander geworden seien in dem Sinn, dass, wo vom Menschen die Rede ist, immer zugleich auch 61 von diesem Selbstüberstieg des Menschen - oder der Immanenz - auf das Nichtmenschliche - oder die Transzendenz - hin die Rede sein müsse, mit dem der Mensch - „wir" - unweigerlich in Gemeinschaft stehe: das Noch-nicht- und das Nicht-mehr-Menschliche, Gott und das Tier. Nancy legt damit in gewisser Weise jener Erkenntnis ein philosophisch-philosophiegeschichtliches Fundament (und verleiht ihr zugleich eine sozialphilosophische Pointe), die Georges Bataille auf seine nietzscheanische, zum Aphorismus neigende Art so formuliert hatte: „Gott ist nicht die Grenze des Menschen, sondern die Grenze des Menschen ist göttlich. Mit anderen Worten, der Mensch ist göttlich in der Erfahrung seiner Grenzen." (Bataille 2002, 141.)8 „Erfahrung der Grenze" heißt aber nichts anderes als Erfahrung des In-Gemeinschaft-seins mit anderen Individuen, der Ko-Existenz, die Grenze ist die Grenze des Individuums, jene stets fragile Ganzheit, deren Virtualität oder Vorläufigkeit sich nicht von ungefähr in sogenannten Grenzerfahrungen 8 Vgl. dazu allgemein Boelderl 2005, darin insbesondere Kapitel III: „,...die Grenze des Menschen ist göttlich' - Batailles ,kopflose' Religion". phainomena 32 | 126-127 | 2023 manifestiert, wiewohl sie nicht nur in diesen allererst erscheint, so als ob sie vorher nicht bestünde. „Fremde sind wir uns selbst", heißt es bei Julia Kristeva (1990), aber es sind - zum Glück oder Gott sei Dank, möchte man sagen -immer noch „wir", die wir uns selbst fremd sind, „wir" im Plural, den die Singularität impliziert. Man muss Nancy immer genau lesen; wenn er schreibt (s.o.): „Es ko-existiert zumindest mehr als ein Ich", dann heißt das sowohl, dass mehr als ein Ich existiert - nämlich mindestens zwei, mehr Ichs, „wir" -, als auch, dass mehr als ein Ich existiert - nämlich ein Du, ein Er, ein Sie, ein Es, ein Überich, ein Unbewusstes, ein Anderer, ein Fremder. Dass mit der wirklichen Differenz von zwei „Ichs" auch der Unterschied der Dinge im Allgemeinen gegeben sei - „zumindest mein Körper, und folglich mehrere Körper", erläutert Nancy -, will vor diesem Hintergrund besagen, dass der Körper nicht etwa nur eine ontische Größe darstellt, sondern vielmehr in sich bereits ontologisch verfasst ist, insofern er von sich differiert, eine Fremdheit gegenüber sich selbst darstellt, der sich die Heraufkunft des Ichs überhaupt erst verdankt (vgl. Gaddini 1998). Nancy hat diesem, wenn man so sagen kann, 62 Basistheorem seines Denkens - das sich bereits in seinen Arbeiten der 1970er Jahre findet, wenngleich noch in etwas verklausulierter Form - seit Beginn seiner persönlichen Leidensgeschichte im Gefolge einer Herzschwäche, die ihn 1989/90 dazu nötigte, sich einer Herztransplantation zu unterziehen, nolens volens eine gleichsam autobiographische Untermauerung verliehen, was man nur deshalb so sagen kann, ohne sich dem Vorwurf des Zynismus auszusetzen, weil er diese seine Selbstdeutung 1999/2000 mit der Veröffentlichung von L'Intrus gleichsam öffentlich gemacht hat. Mit der Kardinalfrage dieses kleinen Textes, die zugleich als leitendes Erkenntnisinteresse von Nancys Denken insgesamt und auch und vor allem seiner „sozialontologischen" Entwürfe gelten darf, unterstreicht Nancy einmal mehr die grundlegende Neuorientierung, auf die ein Denken der Gemeinschaft im Ausgang nicht vom - sich vergemeinschaftenden - Subjekt, sondern von der „Singularität" der „Körper", nicht vom Individuum resp. „Egoism" des allumfassenden Selbst - und sei's des Selbst als eines Anderen (Ricoeur 1996; vgl. Breuninger 1999) -, sondern vom Pluralismus der Welt als fremder (vgl. Sloterdijk 1993) aus ist. „Wie wird man für sich selber etwas, das man sich vorstellt?" (EFH, 15) - denn das ist es, was uns immer schon widerfahren ist, wie wir zuallererst Artur r. Boelderl ein Ich geworden sind, jenes Ich, was wir nun für Ursprung und Gewissheit unserer selbst halten: „[...] (wer, ,ich'? das ist genau die Frage, die alte Frage: wer ist dieses aussagende Subjekt, das dem Ausgesagten stets fremd bleibt und zwangsläufig als Eindringling erscheint, obwohl es ebenso zwingend als dessen Antrieb, Schalthebel oder Herz fungiert) [...]" (EFH, 9). Diese unheimliche Gemeinschaft des Ichs mit sich selbst als fremdem repräsentiert eine gewisse Radikalisierung dessen, was Kant in seiner Schrift „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" hellsichtig als die „ungesellige Geselligkeit" der Menschen eingeführt hatte, „d.i. den Hang derselben, in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist" (Kant 1968, A 392; zit. in: Ricoeur 1999, 26).9 Von daher könnte man ohne weiteres die Behauptung wagen, dass Nancys Vorstellung von der undarstellbaren Gemeinschaft, einer Gemeinschaft ohne Gemeinschaft, nicht zuletzt in ihrer paralogischen Form als contradictio in adjecto genau jene kantische Erkenntnis nuancierend wiederholt, wenn sie das Individuum als den unüberwindlichen - und damit unerlässlichen - Hemmschuh einer jeden 63 konkreten Gemeinschaft ausmacht. Communitas und immunitas hängen, wie sich am Problem des Fremden am deutlichsten zeigt, intrinsisch miteinander zusammen, um nicht zu sagen, sie hängen aneinander; die Gemeinschaft erstreckt sich bis ins Herz der Individuen, diese laufen stets Gefahr, sie - und damit sich - aufzulösen. Und so steht Nancys „Erfahrungsbericht" über sein Innerstes, den wir geneigt sind, als nur biographische Zusatzinformation ohne philosophische Relevanz abzutun, in denkbar direktem Zusammenhang mit seinem sozialphilosophischen Denken, ganz nach der wegweisenden Einsicht Paul Ricoeurs, die er in die Form der rhetorischen Frage bringt, „wie sich die Fremdheit nicht auf der Ebene der Lebensgeschichten widerspiegeln (sollte)" (Ricoeur 1999, 26), freilich nicht nur der Lebensgeschichten verschiedener Einzelner, sondern innerhalb der Lebensgeschichten jedes - ganz anderen -einzelnen. 9 Zu Nancys Kritik an dieser spezifischen Bestimmung Kants vgl. SPS, 75. phainomena 32 | 126-127 | 2023 Eine Fremdheit offenbart sich „im Herzen" des Vertrautesten - doch von Vertrautheit zu reden, ist zuwenig: im Herzen dessen, was sich nie als „Herz" zu erkennen gegeben hat. Bislang war das Herz fremd, weil es nicht einmal spürbar, nicht einmal gegenwärtig war. Von jetzt an läßt es nach, wird schwächer, und diese Fremdheit setzt mich in Beziehung zu mir selbst. (EFH, 17.) Sehr schnell [...] kann sich der andere als Fremder manifestieren: nicht als Frau, nicht als Schwarzer, nicht als junger Mann oder als Baske, sondern als der immune andere, der unersetzbare andere, den man dennoch ersetzt hat. Man spricht von einer „Abstoßung": Mein Immunsystem stößt das des anderen ab. (Das bedeutet, daß „ich" zwei Systeme „habe", zwei immune Identitäten.) (EFH, 31/33.) Wozu es mindestens kommt, ist dies: Identität gilt als Immunität, die eine geht in die andere über. Eine schwächen heißt auch die andere schwächen. Fremdheit und Fremdsein werden gemein und alltäglich. (EFH, 35.) 64 Ich bin offen geschlossen. [.] nie hat die Fremdheit meiner eigenen Identität, die mir doch stets sehr lebhaft bewußt war, mich mit solcher Schärfe berührt. „Ich" ist deutlich zum formalen Index einer nicht verifizierbaren und nicht spürbaren Verkettung geworden. Zwischen mir und mir hat sich immer ein Zeitraum erstreckt; doch jetzt ist da die Öffnung eines Einschnitts, das Unversöhnliche einer gestörten Immunität. (EFH, 37/39; Übersetz. jeweils mod. von ARB.) Auf diese Weise verdeutlicht die Grenzerfahrung des sich in seiner Existenz bedroht sehenden Individuums die nicht-individuelle, „ontologische" „Wahrheit" der menschlichen Existenz als Ko-Existenz, des Seins als Sein-inder-Gemeinschaft, welche die bereits zitierten Sätze aus singulär plural sein vergleichsweise abstrakt aussprechen: „Es existiert etwas (zumindest ,ich') und etwas anderes, zumindest das andere ,ich', das sich ein Mögliches vorstellt, und auf das ich mich beziehe, wenn ich mich frage, ob etwas von der Art dessen, was ich als möglich denke, existiert. Es ko-existiert zumindest mehr als ein ,Ich'." Dieses Mehr-als-ein-„Ich" ist nicht nur der andere, sondern der Fremde im beschriebenen Sinn, der undurchdringliche, undurchsichtige Fremde, der Artur r. Boelderl ich mir selbst - nicht zuletzt als Körper - immer auch bin. „Ich bin nichts von dem, was ich sein soll", heißt es an anderer Stelle in Der Eindringling, nämlich keine der dem einzelnen je und je zukommenden sozialen Rollen: „(Ehemann, Vater, Großvater, Freund)", wenn nicht „unter der sehr allgemeinen Bedingung [...] verschiedener Eindringlinge, die jederzeit meinen Platz im Verhältnis zum anderen oder in der Vorstellung des anderen einnehmen können" (EFH, 45/47; Übers. mod. von ARB). Im Zuge einer und derselben Bewegung entfernt sich das „ich", das absolut mein eigenes ist, auf eine unendliche Distanz (wohin geht es? Auf welchen Fluchtpunkt hin, von dem aus man noch sagen könnte, das sei mein Körper?) und dringt in eine Intimität ein, die tiefer ist als jede Innerlichkeit (jene uneinnehmbare Nische, von der aus ich „ich" sage ...). Corpus meum und interior intimo meo, beides zusammen, um sehr präzise zu sagen, daß [...] die Wahrheit des Subjekts in seiner Äußerlichkeit und seiner äußersten Exzessivität besteht: seiner unendlichen Exposition. Der Eindringling exponiert mich aufs äußerste. 65 (EFH, 47; Übers. mod. von ARB; kursiv i. O.) 3. Sozialontologie als „Ontologie der Ontologie": Fink mit Nancy Der Hinweis auf die (sozial-)ontologische Zusammengehörigkeit von KoExistenz und Exposition (Ausgesetztsein) erlaubt an dieser Stelle den Übergang zu Eugen Finks großer Vorlesung Existenz und Coexistenz. Grundprobleme der menschlichen Gemeinschaft, erstmals gehalten im Wintersemester 1952/53 an der Universität Freiburg im Breisgau und wiederaufgenommen ebenda im Wintersemester 1968/69, veröffentlicht 1987, zwölf Jahre nach Finks Tod (Fink 1987, im Folgenden FEC). Solcher Übergang dient zum einen der weiteren Erhellung des von Nancy vorgelegten Neuentwurfs eines Denkens der Gemeinschaft vom Mit-Sein des Daseins her und deckt zum anderen eine mitunter erstaunliche Korrespondenz zwischen diesem Denken und dem Ansatz des Husserl-Schülers Fink auf, dessen innerhalb der deutschsprachigen akademischen Philosophie vor allem gegenüber Heidegger weitgehend marginalisierter Position eine erst im Ansatz aufgearbeitete, zentrale Bedeutung phainomena 32 | 126-127 | 2023 für die französische Phänomenologie-Rezeption von Merleau-Ponty bis Derrida (und eben, wie die gegenständlichen Lektürebefunde nahelegen, auch Nancy) entgegensteht (vgl. bes. van Kerckhoven 2003 und Vetter 2003). In bemerkenswerter terminologischer wie inhaltlicher Nähe zu Nancy und auch zu dessen italienischem Exegeten Roberto Esposito gelangt Eugen Fink in besagter Vorlesung zu der Feststellung, dass das Problem der menschlichen Sozialität „aus dem allgemeinen Stil philosophischer Einzelfragen herausfällt" (FEC, 208). Nur wenn man Gemeinschaft als „ein bestimmtes Benehmen einer Menschengruppe" vorversteht, fällt ihre philosophische Behandlung in den Bereich der Anthropologie. Ein solches Vorverständnis sei zwar nicht falsch, aber doch nichts anderes als eine „unreflektierte Meinung" und damit zugleich eine „oberflächliche Wahrheit'" (ebd.), mit der sich nur jene „Flachköpfe" zufriedengeben, als die Fink an anderer Stelle in der nämlichen Vorlesung jene bezeichnet, die in der Tatsache, dass „Propheten, Dichter und Denker" sich und einander widersprechen, einen Beweis von deren Scheitern erblicken (FEC, 225). Die Flachheit des Denkens dieser Köpfe rührt von einer für sie 66 unumstößlichen Grundlage her, die Fink so charakterisiert: Zum oberflächlichen Meinen des Alltags gehört [...] die Ansicht, daß die Wahrheiten sozusagen in einer Ebene liegen, daß alles schlechthin auf „Ja" oder „Nein" gestellt sei, entweder „wahr" oder „unwahr" sein müsse, ein Drittes gebe es nicht. Es wird dabei ebenso der Seinsbegriff in einer nivellierten Weise gebraucht: alles, was ist, ist in ein und derselben Art; natürlich gibt es viele Arten von Dingen; dem jeweiligen Was-sein nach ist das Seiende mannigfaltig, - aber dem Ist nach ist alles einerlei; auch hier gibt es - sagt man - nur die Alternative: entweder ist etwas oder nicht; tertium non datur. Der Flachheit des Wahrheitsbegriffes entspricht so eine Flachheit des Seinsbegriffes. (FEC, 208; kursiv i. O.) Philosoph oder Philosophin ist der- bzw. diejenige, dem/der diese Flachheit nicht genügt, sondern dem die oberflächlichen Wahrheiten des Alltags fragwürdig werden (vgl. ebd.). „Dann kommt auch", so Fink, „das selbstverständliche Vorurteil ins Gleiten, der Mensch sei ein Ding unter den Dingen und die Gemeinschaft eine bestimmte Benehmensweise des ÀRTUR R. BOELDERL Menschen." (FEC, 209.) Für Fink wie für Nancy ist Gemeinschaft alles andere als ein „Befund", den es - beispielsweise mit den Mitteln der Soziologie -einfach nur zu erheben gälte, um in Erfahrung zu bringen, was Gemeinschaft nun eigentlich „sei". Weder wissen wir schon, was Gemeinschaft ist, etwa weil wir immer in Gemeinschaft mit anderen leben (das wäre wieder die oben gescholtene oberflächliche Wahrheit der bloßen Meinung), noch können wir ihrem „Wesen" dadurch auf die Schliche kommen, dass wir sie in ihren konkreten Erscheinungsformen wissenschaftlich messen und ermessen. Die „crux" der philosophischen Beschäftigung mit der Gemeinschaft liegt nicht in deren Andersgeartetheit gegenüber den restlichen Dingen der Welt, auch nicht - gleichsam methodologisch - darin, „daß wir nur in einer Gemeinschaft über Gemeinschaft sprechen können", dass wir also nicht die nötige Distanz zu ihr haben (zumal sie auch für Fink, wie wir sehen werden, eben selbst in gewisser Hinsicht diese Distanz „ist"): Denn „gerade die angeblich strengere Weise des Wahrseins, die sogenannte ,objektive' Erkenntnis als ,Gültigkeit für jedermann' [hat] einen inter subjektiven Sinnhorizont und [verweist] ihrer Möglichkeit nach schon auf menschliche Gemeinschaft" (ebd.). 67 Nun ist Gemeinschaft aber auch nicht schlichtweg Inter subjektivität, sofern diese den Gedanken eines nachträglichen Zusammenschlusses vorgängig bereits konstituierter, sozusagen „fertiger" Subjekte implizieren sollte. Denn gerade das sind sie nämlich nicht, die Subjekte: „fertig", abgeschlossen, „Individuen", unteilbare (Id-)Entitäten. „Die wesentlichere Aporie", so wiederum Fink, wesentlicher als jedes wirkliche oder mögliche Problem einer petitio principii in Sachen Denken der Gemeinschaft, „liegt im undurchsichtigen Seinscharakter des Menschen" selbst. „Das ,seinsverstehende' Wesen ist zugleich das sich mißverstehende Wesen. Nichts ist dem Menschen fremder als er [sich] selbst ..." (FEC, 209.) Und genau aus diesem Grund habe die „,Ontologie' ihre Stätte im Menschen" (ebd.): Es sei ontologisch oberflächlich und naiv, das Seinsverständnis dieses sich selbst gleichsam per definitionem undurchsichtigen Menschen „als ein weiter nicht mehr ableitbares Urphänomen" anzusetzen, als eine Gabe Gottes oder der Natur, als wäre die menschliche Vernunft ein Ding wie der lange Hals der Giraffe und die Giftzähne der Schlange (vgl. ebd.). In diesem Sinne die Frage nach der „Ontologie der Ontologie" zu stellen phainomena 32 | 126-127 | 2023 (wie Fink dreißig Jahre vor dieser Vorlesung bereits die Frage nach der Phänomenologie der Phänomenologie aufs Tapet und damit seinen Lehrer Husserl in argumentative Schwierigkeiten gebracht hatte), führt geradewegs zur Sozialontologie, deren Erkenntnisinteresse insofern darin besteht zu klären, „von woher der Mensch im Verstehen steht". Sozialontologie macht die Seinsweise des Menschen zum Problem, indem sie sich in Abhebung von der traditionellen Metaphysik und Ontologie verbietet, den Menschen methodisch als unhintergehbares Fundament jeder Ontologie anzusetzen; ihr Ansatz liegt nicht „bei einem ,gegebenen und in seiner Gegebenheit phänomenologisch beschreibbaren Seienden", also nicht „bei uns selbst" (FEC, 209), sondern, wie wir aus dem Kontext konjizieren können, bei etwas nicht (oder nicht in diesem Sinn) Gegebenem: der Gemeinschaft. „Gemeinschaft" heißt hier für Fink - und die Nähe zu Nancy ist, wie gesagt, auffällig - „die Paradoxie, daß ein Seiendes sein Wesen' nicht in sich selber hat, [...] sondern selbsthaft, d.h. bei-sich ist, indem es außer-sich ist" (ebd.; kursiv i. O.). Und Fink beeilt sich, die mit dieser Erkenntnis im 20. 68 Jahrhundert sich abzeichnende radikale Wandlung im Verständnis des Seins und des Menschen entsprechend hervorzuheben: Während sonst das Verhältnis etwas ist, worin eine Substanz zu anderem in Bezug steht, - während sonst das pros ti ein abgeleitetes kategoriales Moment an der ousia darstellt - kommt beim Menschen das „Verhältnis" in einen ganz anderen Rang. Paradox formuliert: gerade das Verhältnis ist sein substantielles Wesen. (FEC, 210; kursiv i. O.) Mit anderen Worten, das Wesen des Menschen besteht - eine Erkenntnis Nietzsches (dem Fink eine eigene Studie gewidmet hat; vgl. Fink 1992), deren Konsequenzen vor allem von Heidegger gezogen worden sind - darin, dass er „nicht eigenständig in sich [ruht]" (FEC, 211), sondern in bestimmter Hinsicht „exzentrisch" (Hölderlin) ist, ek-sistiert (Heidegger), man könnte mit Nancy auch sagen: insofern er exzessiv ist. Sein Verhältnis zu sich ist „primär ein Verhältnis' [...] zum raumgebenden, zeitlassenden Walten von Welt" (ebd.). Als „das am meisten selbstische Lebewesen, das vereinzelt ist und auch noch um seine Vereinzelung weiß" kann der Mensch nur bestimmt werden, Artur r. Boelderl indem er über sich bzw. man über ihn hinausgeht (ebd.), ihn übersteigt. Dieses „ÜberdenMenschenhinausgehen" (sic!; ebd.) führt zur Gemeinschaft, zur Pluralität der Existenz: Coexistenz, zum Mit-sein: [...] das „Mitsein" ist nicht eine existenziale Struktur, die überhaupt zum Dasein als Dasein gehört; der Mensch ist wesenhaft ein Plural, und nicht deswegen, weil es faktisch zweieinhalb Milliarden gibt dieser sonderbaren „ungefiederten Zweibeiner". [...] Das Menschenwesen ist pluralisch, weil es gebrochen ist in den Dual von Mann und Weib, weil Zeugen und Gebären ihm zugehört, Kämpfen, Töten, Sterben, weil Tod und Liebe seine elementaren Realitäten sind. (FEC, 211 f.; kursiv i. O.)10 Das will sagen, dass sich die Gemeinschaftswelt des Menschen nicht auf ein Einheitsprinzip im Sinne einer Unteilbarkeit (s. o.) reduzieren lässt (vgl. FEC, 214). „Solange methodisch in der Sozialphilosophie der Hinblick auf die Einheit führt [oder von dieser aus auf das Soziale gerichtet wird] und diese Einheit überdies an dem Modell der Einsheit eines Seienden, eines Dinges 69 bestimmt wird" (ebd.), wird die kantische „bloße Position" der Seienden, sprich: das Sein, nicht als Dis-position erkennbar - jene „Dimension der Spannungen, der Gegensätze, der Widersprüche", deren „Spiel" (ein Grundmotiv der Fink'schen Philosophie; vgl. Fink 1960) die Welt ausmacht (vgl. ebd.). Vor dem Hintergrund dieser Unvordenklichkeit des Mit-seins des Daseins, ja einer fraglosen Identität oder Selbigkeit von Existenz und Coexistenz im geschilderten Sinn resümiert Fink seine Überlegungen dahingehend, dass Gemeinschaft nicht „rein immanent beschrieben" werden könne, weil sie „primär eine Weise des InderWeltseins (sic!)" sei (FEC, 217), und er präzisiert diese Weise des Gemeinschaftlich-in-der-Welt-Seins des 10 Fink fährt im Übrigen, ein Argument antizipierend, dem Derrida später seinerseits eine ganze Studie gewidmet hat, an dieser Stelle fort: „Mannsein oder Weibsein ist jeweils nicht ein faktischer Charakter, den das im Wesen neutrale Dasein aufgrund einer zufälligen Naturbestimmtheit annimmt, den man bei einer prinzipiell ontologischen Betrachtung beiseite lassen könnte. Im Gegenteil: sie sind entscheidende ontologische Wesenszüge der menschlichen Existenz. Auch die Tiere gatten sich, zeugen und gebären, kämpfen und töten, bilden Rudel, Schwärme, Herden. Und doch sind sie nie gemeinschaftlich' [...]." (FEC, 212; kursiv i. O.) Vgl. Derrida 1988. phainomena 32 | 126-127 | 2023 Menschen postwendend und in äußerster Übereinstimmung mit Nancy: „Und zwar eine solche, die als ,Mitteilung' verstanden werden müsse." (Ebd.) Finks Erläuterungen, was er sozialontologisch unter diesem ja nicht von vornherein sich aufdrängenden Terminus „Mitteilung" versteht, erhellen mit einem Schlag auch Nancys Verwendung desselben Begriffs: Das Wesen der Mitteilung ist ein Sich-teilen-in ...; aber ein derartiges Sichteilen, daß das, worin man sich teilt, durch die Teilung nicht zerstückt, zerteilt und aufgeteilt wird; im Gegenteil: das Teilenin-Welt ist gerade die Grundweise des Miteinanderseins. Gruppen, Gemeinschaften, Völker haben je ihre eigene „Welt", einen Sinnbereich, in welchem die Zugehörigen leben, worin sie sich verstehen. Ohne dieses Moment des gemeinsamen Sinnfeldes ist menschliche Gemeinschaft überhaupt nicht zu bestimmen, nicht abzugrenzen vom tierischen Rudel, Schwarm usf.. [Sic!] Aber der so das Menschentum als solches durchziehende Sinn ist keineswegs nur ein einheimisches Moment, 70 keine anthropologische Struktur; „Sinn" hat das Menschenleben nicht von sich aus; es steht im Sinn, weil es angegangen ist von dem ZeitRaum des Seins, weil ihm von der Welt selbst der Sinn zugeschickt wird. Das Sinnfeld des menschlichen Daseins gründet in der Weltoffenheit -und somit alle zwischenmenschliche Gesellung in der Urgesellung von Kosmos und Mensch. (FEC, 217; kursiv i. O.) Etwas prosaischer, oder jedenfalls weniger pathetisch und insofern etwas zeitgemäßer ausgedrückt findet sich derselbe Gedanke bei Nancy, der in aller Kürze festhält: „[...] ,der Sinn' [...] [ist] der entblößte Name unseres Mit-ein-ander-seins. Wir ,haben' keinen Sinn mehr, weil wir selbst der Sinn sind [...]" (SPS, 19). Bei all dem gilt es freilich nicht aus den Augen zu verlieren, dass dieser Sinn, der wir sind, zunächst und vor allem eines ist: undurchsichtig, opak, alles andere als klar. Das ist mehr als nur eine strategische Vorsichtsmaßnahme, um der durch diese scheinbare Identifikation von Sinn und „wir" für ein oberflächliches Denken ermöglichten Megalomanie eines mit dem pluralis majestatis sich ausgestattet glaubenden Subjekts zu wehren. Die Undurchsichtigkeit oder Opazität des Sinns „ist" vielmehr ontologisch dessen Artur r. Boelderl Welthaltigkeit oder Korporealität, die das „Geheimnis" der Gemeinschaft ausmacht (vgl. FEC, 218). Gerade der Versuch zu begreifen, was menschliche Gemeinschaft ist, so Fink, kann an diesem Geheimnis nicht vorbeigehen (vgl. ebd.), welches die „Fremdheit" der Welt darstellt - oder vielmehr nicht „darstellt": [...] wie das Sehen [...] ja nicht nur solches sieht, das auch durchlichtet und durchsichtig ist [...], sondern ankommt bei solchem, das undurchsichtig dem Blick widersteht und gerade in seiner Verschlossenheit gesehen wird [Fink nennt den „Erdboden", wir können mit Nancy hier ohne weiteres auch an den „Körper" als solchen denken], so vermag das Denken auch das Geheimnis in seinen Blick zu nehmen. [...] [D]as Denken gewinnt seine äußerste Möglichkeit hart am Unausdenklichen. Die Welt ist zugleich offen und verschlossen, entborgen und verhüllt, vom scharfen Schnitt der Unterschiede zerrissen und gleichwohl heil, eins und unversehrt; sie ist das Feld der Vereinzelung und auch Ur-Einheit. [...] [S]ie ist die ungeheuerlichste 71 Gegenspannung und Gegenwendigkeit. [...] [S]tärker als die sichtbare Harmonie, sagt Heraklit, ist die unsichtbare. (Fr. 54) Das meint nicht etwa den Unterschied zwischen einer sinnfälligen und einer geistigen Harmonie. Vielmehr steht die ganze Welt des Erscheinens (mit der in ihr waltenden Harmonie) im Spannungseinklang mit dem abwesenden „Urgrund", der nie erscheint. (FEC, 218; kursiv i. O.) Dieser abwesende Urgrund, der nie erscheint, sich also nicht darstellt und nicht darstellbar ist, scheint für Fink die ontologische Grundkategorie der Gemeinschaft zu sein, jene Fremdheit, in der wir uns selbst gegenüber stehen, wenn „ich" „mich" „mir" vorstelle - ein „Grund", der freilich just eins nicht oder nicht mehr ist, nämlich „Grund" im Sinne von causa, Ursprung, aus dem etwas „gesprungen" wäre. Die undarstellbare Gemeinschaft ist von daher auch nicht Heimat, von der aus man in die Fremde aufbrechen und zu der man hernach wieder zurückkehren könnte wie in einen sicheren Hafen; in ihr und zu ihr finden wir uns vielmehr exponiert, „ausgesetzt", wie Fink einmal mehr in unheimlicher terminologischer Nähe zu Nancy anstelle des Phainomena 32 | 126-127 | 2023 Heidegger'schen „geworfen" sagt: „[...] das Heimatliche hat das Fremde nicht außer sich, draußen, am Rande ... Das Heimatliche enthält gerade immer und auch in seiner innigsten Art das Fremde in sich; allerdings wird diese ,Mitgift' zumeist nicht beachtet, so daß man erschrickt, wenn plötzlich das Unheimliche mitten im Heimischen aufbricht [...]" (FEC 220), was im Übrigen recht genau der Freud'schen Charakterisierung des Unheimlichen entspricht, die Lacan in Kombination mit entsprechenden Auslegungen Heideggers in Sein und Zeit für die psychoanalytische Theoriebildung und Praxis fruchtbar gemacht hat (vgl. Freud 1995, Sturm 1999). „Das, was allgemein-ontologisch als ,Aussetzung' verstanden werden muß, nämlich die Vereinzelung, gilt ihm [sc. dem Menschen] als ein heimischer Wesensort [...]" (FEC, 221). Was die so verstandene Aussetzung, also die Individuierung, Individuum-Werdung des Menschen aber ex-poniert, ist nichts anderes als dessen Singularität und damit zugleich das Mit-sein: „Das Sein selbst ist uns gegeben als der Sinn', schreibt Nancy, „weil der Sinn selbst als Teilen des Seins ist": „Das Sein kann nur als Mit-ein-ander-seiend sein, wobei es im Mit und als das Mit 72 dieser singulär-pluralen Ko-Existenz zirkuliert"; den Menschen fällt daher die Aufgabe zu, dieses Teilen und die Zirkulation zu exponieren, „indem sie ,wir' sagen" (SPS, 20 f.; kursiv i. O.) Konkret impliziert diese Aufgabe -heideggerianisch gesprochen: diejenigen zu sein, die ihr Sein zu sein haben - eben jenen Aufbruch der Immanenz, in der wir uns als Individuen befinden, jenen Widerstand oder Abstand gegenüber uns selbst, der das Nichts zwischen uns (entre nous) spürbar macht, das sich der Erscheinung entzieht, obwohl es „da" ist: „Wir müssen uns das, was uns schon zu ,uns' gemacht hat - heute, jetzt, hier - erneut aneignen, das Wir einer Welt, die ahnt, daß sie keinen Sinn mehr hat und dieser Sinn aber ist." (SPS, 22; kursiv i. O.) Diese Einsicht, dass die Welt der Sinn ist, stünde aus Nancys Sicht - weniger jenseits als vielmehr ganz im Diesseits des Nihilismus, ohne ihm zu erliegen - auch für einen möglichen guten Sinn der Globalisierung, frz. mondialisation, was man ja zu Deutsch wörtlich auch als Weltwerdung der Welt wiedergeben könnte (vgl. Nancy 2003). ÀRTUR R. BOELDERL Bibliography | Bibliografija Bataille, Georges. 2002. „Die Göttlichkeit des Lachens." 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